Читать книгу Kurze Morde, kurzer Prozess: Krimisammlung - Alfred Bekker - Страница 10
Operation Supermarkt Reiner Frank Hornig
ОглавлениеManchmal verstand ich meinen Onkel Wally einfach nicht.
„Schön und gut, Kleinvieh macht bekanntlich auch Mist. Aber warum suchen wir uns nicht einfach ein paar fette Brieftaschen heraus und verschwinden dann, um noch woanders abzusahnen?“ wollte ich wissen. „Wäre das nicht besser, als den ganzen Tag mal hier zehn Dollar, mal dort zwanzig, und dabei ständig Angst haben zu müssen, ertappt zu werden? Wenn die hier doch die Bullen rufen, Wally, sitzen wir in diesem dämlichen Supermarkt fest wie zwei Mäuse in der Falle.“
Wally Klepper warf mir einen abschätzigen Blick zu. Dann lehnte er sich lässig an ein Regal zwischen Haarwuchsmittel und Rasiercreme und sagte fürs erste nichts. Vielleicht war es gar nicht so einfach, seinen arbeitslosen Neffen zum Greifer auszubilden.
„Steuben-Supermarkt bietet auf zwei Etagen auf 4200 Quadratmeter etwa 186 Tausend verschiedene Artikel an“, dozierte er, „zu Tiefstpreisen, wie sie in ganz Kalifornien nirgendwo anders mehr angeboten werden. Die Steuben-Leute locken damit stündlich etwas über tausend Käufer an. Jeder fünfte davon, also täglich Zweitausend, platziert seine Geldbörse so, dass sie für uns leicht sichtbar ist und auch leicht zugänglich. Davon ist jeder Zweite so blöde und merkt nichts, wenn wir uns ein oder zwei Scheinchen davon herausnehmen. Multipliziert mit im Schnitt zwanzig Mäusen macht das für jeden für uns beiden pro Tag…“
Wahrscheinlich verstand sich Onkel Wally ebenso gut auf Marktanalysen wie Steubens Manager.
„Und die moralische Seite?“ erkundigte ich mich zaghaft, nachdem auch ich mich vergewissert hatte, dass niemand unsere kleine Fachsimpelei belauschte.
„Der Supermarkt zieht doch den Leuten das Geld aus der Tasche, nur eben nicht so wörtlich, wie wir es verstehen, Reiner.“
„Weiß Gott!“ meinte ich und griff unbemerkt in die Tasche eines Strohwitwers. Aber ich konnte Onkels Optimismus nicht so recht teilen. Für mich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie uns ertappten.
Würden wir also ganze Börsen mitgehen lassen“, zog ich meine Schlussfolgerung aus seiner Lektion, „schlügen die Opfer sofort Alarm, und wir könnten draußen im Kalten weiterarbeiten?“
„Exakt!“ Wally strahlte übers ganze Gesicht. Ich wusste, dass ihm die Verwandtschaft über alles ging.
„Aber da wir die Dinger wieder zurückstecken, welches nervöse Huhn merkt schon an der Kasse bei all der Aufregung, die einem die heutigen Preise bescheren, dass ihm ein paar Scheine fehlen? Man könnte ja genauso gut zuhause weniger eingesteckt haben, oder?“
Eine aufgetakelte Biene steuerte ihr Wägelchen auf uns zu. Während Wally sie etwas ablenkte, indem er sie fragte, was nun besser sein, Hühnchen mit oder ohne Knochen in Tomatensauce, ertastete ich rasch ihre Börse im Einkaufskorb und machte sie um zwei Scheinchen leichter. Im Vorübergehen nickte ich ihr dankend zu. Aber natürlich fasste sie mein Lächeln falsch auf und erwiderte es in einer schamlos einladenden Art.
„Videoüberwachung gibt‘s bei Steuben nicht“, belehrte mich Onkel ein paar Opfer später. „Wer zu den Preisen hier einkauft, klaut doch schon, wenn er an der Kasse bezahlt. Nur vor dem Personal musst du dich in acht nehmen. Die haben für uns wenig Verständnis.“
Ich nahm zwei Dosen Tuborg aus dem Regal und warf sie in unser Alibi, den Einkaufswagen. Er füllte sich allmählich, doch unsere Manteltaschen platzten ebenfalls bald aus den Nähten vor lauter knisternden Dollarscheinen.
Gegen Mittag leerte sich der Markt etwas, und wir verschwanden in einer Mustertoilette in der Sanitätsabteilung, wo wir unsere bisherige Ausbeute zählten. Wir kamen zusammen auf über viertausend Dollars! Wahrscheinlich hatte Onkel Wally doch recht mit seiner Kleinvieh-Theorie.
Während Wally gerade eine alte Dame erleichterte, die mit ihrem für meine Begriffe etwas zu verzogenen Enkel beschäftigt war, betrachtete ich staunend die niederen Preise und fragte mich ernsthaft, wie die Steuben-Leute da noch etwas verdienen konnten.
In der Elektroabteilung machte ich Wally auf eine gefärbte Blondine aufmerksam. „Die mit dem Hängemantel…“
Er warf einen kurzen Blick auf die Dame. „Was hat sie genommen?“
„Einen Damenrasierapparat samt den zugehörigen Batterien. Und jetzt einen automatischen Lockenwickler. Anscheinend hat sie sich eine große Tasche ins Mantelfutter genäht.“
„Pass gut auf!“ raunte er mir ins Ohr, steuerte auf die Diebin zu und zeigte ihr kurz seinen Leseausweis der Stadtbibliothek.
„Hausdetektiv“, sagte er knapp. „Und dies ist der Assistent des Managers. Würden Sie bitte mit uns ins Büro kommen, Madame?“
Sie riss weit die Augen auf. „Können wir das nicht irgendwie regeln?“ gab sie alles kleinlaut zu. „Mein Mann darf nicht… Sie verstehen doch…?“
Unser Verständnis war ihr je einen Hunderter wert, und während sie ihre Beute wieder ins Regal zurückstellte, betrachtete ich ihre ‚Manteltasche‘ näher. So etwas würde meinem Trenchcoat gewiss auch stehen, dachte ich, als mir Onkels Grundsätze wieder einfielen. Dann eben nicht.
Den Nachmittag verbrachten wir draußen, wo wir auf dem Kundenparkplatz etwas frische Luft schnappten. Man sollte nicht glauben, wie viel Leute noch zusätzlich Bares in ihrem Handschuhfach aufbewahren…
Kurz vor Ladenschluss – ich hatte Wally gerade vorgeschlagen, allmählich aufzubrechen – gab es dann plötzlich vorne an den Kassen einen großen Tumult. Leute kreischten, Kinder weinten, und heisere Frauenschreie erstarrten in der stickigen Luft. Vorsichtig spähte ich zwischen Artischockengläsern und Senfgurken zu den Kassenschaltern, wo ich drei maskierte Gestalten ausmachen konnte. Flink eilten sie mit mehreren Plastiktüten von Kasse zu Kasse.
Um den Ernst ihrer Aktion zu demonstrieren, gaben sie Warnschüsse zur Decke hin ab, wo zwischen bunten Preisschildern die Aufschrift ‚Rabattmarken leider nur auf Bargeld!‘ prangte.
„Wetten, dass da kein einziger Scheck in den Kassenschubladen liegt, Wally? Die Steuben-Leute fordern einen solchen Coup doch geradezu heraus!“
Kopfschüttelnd packte ich ihn am Ärmel. „Los jetzt, Onkel, lass uns endlich das Weite suchen. Sind die Cops erst einmal hier, kommt da keiner mehr raus!“
Zuerst glaubte ich, mein Onkel sei auf der Suche nach einem Notausgang. Doch als er mich in einen Raum mit der Aufschrift ‚Nur für Personal‘ drängte, kamen erste Zweifel in mir auf.
Ich traute einfach meinen Augen nicht! Seelenruhig setzte er sich an einen Schreibtisch und häufte unsere Sore zu einem großen Berg an!
„Mensch Wally, Onkelchen“, rief ich aus. „Draußen wimmelt es nur so von Bullen, und du hast nichts besseres zu tun, als unsere Ausbeute zu zählen?!“
Ich war entsetzt.
Mein Entsetzen wollte nicht abbrechen, als ein hagerer Mann mit Hornbrille den Raum betrat und sich mir als ‚Mr. Marconi, Manager‘ vorstellte!
Ich versuchte, an ihm vorbei nach draußen zu gelangen, doch Wally schüttelte nur den Kopf und begann, unser sauer verdientes Bares in eine Liste einzutragen.
„Mein Neffe ist nicht ungelenk“, meinte er dann zu Marconi. „Sie sollten ihn auch einstellen. Das heißt, falls du Lust hast, Reiner.“ Er sah mich ebenso fragend an wie ich ihn fassungslos.
„Heißt das, du arbeitest hier als fest angestellter Taschendieb? Das gibt doch alles keinen Sinn!“
Mr. Marconi nickte freundlich.
„Aber natürlich“, versicherte er mir. „Ohne Leute wie Mr. Klepper könnten wir unsere Tiefstpreise auf Dauer niemals halten, ohne selbst drauf zu legen. Sogar der vierteljährliche inszenierte Kassenüberfall, wie Sie ihn heute sehen konnten, trägt zur Finanzierung unseres günstigen Warenangebotes bei. Schließlich sind wir ja versichert.
Man muss sich heute schon etwas einfallen lassen, will man mit den anderen Märkten konkurrieren können.“
„Und wenn Wally lieber in die eigene Tasche arbeiten möchte?“
Onkel lächelte nur. „Ich bekomme ja vollste Rückendeckung von der Direktion, jede Menge Urlaub, ein dreizehntes Monatsgehalt… Und nicht zuletzt mit der Zeit eine gewisse Loyalität zu meinem Arbeitgeber.“
Der Manager fügte hinzu: „Und die Aussicht auf Rente ist in diesen Zeiten auch nicht von Pappe, finden Sie nicht, Mr. Hornig?“
Als ich tags darauf im Büro meine Lohnsteuerkarte abgab, meinte Marconis Sekretärin höflich: „Hoffentlich gefällt es Ihnen, für Steuben Supermarkt zu arbeiten.“
Ich nickte nachdenklich. „Wissen Sie, obwohl ich weiß Gott kein Gegner dieser westlichen Wirtschaftsordnung bin, frage ich mich manchmal doch, wohin das alles noch führen soll…“
ENDE