Читать книгу Private Ermittler - 2000 Seiten, 16 Krimis in einer Sammlung - Alfred Bekker - Страница 14
2. Kapitel Herzblut – Pferdeblut
ОглавлениеBerringer verabredete sich telefonisch mit seinem Ex-Kollegen Björn Dietrich von der Kripo Krefeld. Er fuhr rechtzeitig los und war bereits in der Innenstadt, als sein Handy klingelte. Es war Dietrich. Er musste noch kurz weg, der Termin verschob sich um eine Stunde.
„Tut mir leid, Berry.“
„Schon gut.“
Gar nichts war gut. Berringer nutzte die Stunde, um im CaféIN an der Ecke Marktsraße/Königstraße einen Espresso mit ein paar Tropfen Zitrone zu trinken. Das CaféIN hatte sich die italienische Lebensart auf die Fahnen geschrieben und pries sich darüber hinaus als eine „Apotheke“ der besonderen Art an: So wurde dort zum Beispiel Espresso mit Zitrone als Mittel gegen Kopfschmerzen verordnet.
Wenn ich hier öfter hingehe, werde ich noch medikamentenabhängig, dachte Berringer und bestellte sich noch eine zweite Tasse.
Eine Stunde später befand sich Berringer im obersten Stock des Polizeipräsidiums.
Berringer klopfte. An der Tür des Büros standen Name und Dienstrang eines Kriminalbeamten: Kriminalhauptkommissar Björn Dietrich ― Kripo Krefeld.
„Herein!“, rief eine heisere Stimme von drinnen.
Berringer trat ein. Björn Dietrich saß hinter seinem Schreibtisch, und Berringer konnte nur die obere Hälfte des Kopfes sehen, da die untere vom Computerbildschirm verdeckt wurde. Zigarettenrauch hing in der Luft. Dietrich war schon damals, während ihrer gemeinsamen Dienstzeit, ein Kettenraucher gewesen.
Offensichtlich hatte er sich dieses Laster nicht abgewöhnen können.
Dietrich wollte etwas sagen, musste sich aber erst einmal räuspern. Es war der vertraute Klang einer chronisch gewordenen Bronchitis.
Ich wundere mich, dass er damit noch die Fitness-Tests schafft, dachte der Detektiv.
Rauch ...
Feuer ...
Berringer erkannte alarmiert, dass seine Gedanken abzudriften drohten. Obwohl durch das halb geöffnete Fenster ein kühler Luftzug ins Büro wehte, spürte er plötzlich Hitze auf seiner Haut.
Es ist 14 Uhr 30, hämmerte er sich ein, ich befinde mich im Zimmer 112 des Polizeipräsidiums der Stadt Krefeld, am Nordwall ...
Dietrich stand auf. Er war groß, einen halben Kopf größer als Berringer. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, wedelte mit der Linken den Rauch weg und strich sich danach mit einer fahrigen Geste das gelockte, etwas wirre und inzwischen schon mit leichtem Grau durchsetzte Haar aus der Stirn.
„Hallo, Berry, altes Haus! Was zieht dich mal wieder hierher?“ Ein oder zwei Mal hatten sich die beiden gesehen, seit Berringer aus dem Polizeidienst ausgeschieden war. Die lange gemeinsame Zeit während der Ausbildung und anschließend in der Düsseldorfer Polizei hatten ein Vertrauensverhältnis entstehen lassen, bei dem jeder wusste, dass er sich auf den anderen notfalls blind verlassen konnte. Daran hatte sich auch nichts geändert, nachdem Dietrich nach Krefeld gewechselt war, auch wenn das natürlich zur Folge gehabt hatte, dass der Kontakt immer sporadischer wurde.
„Na, wie laufen die Geschäfte?“, fragte Dietrich.
„Ich kann nicht klagen.“
„Ich schon. Du hast ja vielleicht in der Zeitung davon gelesen. Das Weihnachtsgeld wurde gekürzt, das Urlaubsgeld gestrichen, die Personaldecke weiter ausgedünnt ―
aber am Ende soll die gleiche Leistung stehen.“
Berringer lächelte milde. „Zumindest über diese Dinge brauche ich mich jetzt nicht mehr zu ärgern.“
„Aber anderswo wird das Geld zum Fenster rausgeworfen!“
„Tja, so ist das eben ...“
„Nur ein Beispiel aus der jüngsten Zeit, Berry: Die uniformierten Kollegen haben neue Dienstwaffen und auch neue Holster bekommen. Aus Sicherheitsgründen, wie es so schön heißt. Was man nicht bedacht hat, ist Folgendes: Holster und Pistole sind jetzt so breit, dass bei den meisten Kollegen – und damit meine ich jetzt wirklich nicht nur die Beleibteren! – die Sicherheitsgurte in den Dienstfahrzeugen nicht mehr um die Hüften der Beamten passen!“ Dietrich schüttelte den Kopf.
Er griff zu seiner Zigarettenschachtel, wollte den nächsten Glimmstängel herausziehen, legte die Schachtel dann aber wieder zur Seite.
Hat also nicht vergessen, dass ich Nichtraucher bin!, dachte Berringer.
„Jetzt steht das Land Nordrhein-Westfalen vor der Wahl, entweder die ganzen neuen Pistolenholster in den Müll zu schmeißen oder in sämtliche Polizeidienstwagen längere Sicherheitsgurte einzubauen, was auch nicht so ganz billig ist. Denn das wären dann Sonderausführungen, wie du dir denken kannst. Du kannst wirklich froh sein, mit diesem Laden nichts mehr zu tun zu haben.“
„Ich wäre damals gern geblieben“, sagte Berringer. „Mal abgesehen von dem Stress, der überall von oben nach unten weitergegeben wird, habe ich meinen Beruf geliebt.
Aber es ging einfach nicht mehr.“
„Ja, ich weiß ...“, murmelte Dietrich.
Nein, dachte Berringer, alles weißt du nicht.
Erinnerungen stiegen in ihm auf. Erinnerungen an ein ziemlich unangenehmes Gespräch mit seinem damaligen Vorgesetzten, Kriminaloberkommissar Heinz Kürten, der gemeint hatte, dass Berringer mit seiner posttraumatischen Belastungsstörung allenfalls noch eingeschränkt diensttauglich wäre.
Himmel, er hatte ja auch recht gehabt, auch wenn Berringer das damals nicht hatte wahrhaben wollen.
Björn Dietrich wusste nichts von den Flashbacks, die Berringer heimsuchten. So nahe standen sie sich nun auch wieder nicht. Außerdem war Berringer der Meinung, dass ihm Menschen, mit denen er zu tun hatte, unbefangen entgegentreten sollten. Das Mitleid anderer lehnte er ab. Er musste mit seinem Problem allein fertig werden. Sein Verstand musste einigermaßen im Gleichgewicht bleiben, damit das schwankende Schiff seiner verwundeten Seele nicht kenterte. Das konnte ihm niemand abnehmen.
Berringers Blick glitt zur Fensterfront. Man hatte vom Polizeipräsidium aus einen hervorragenden Rundumblick über Krefeld, was vor allem daran lag, dass die meisten Häuser nicht besonders hoch waren. Erstaunlich viele Grünflächen unterbrachen die Gebäudefronten. Man konnte den Eindruck gewinnen, sich in einer bebauten Parklandschaft zu befinden.
Das Grün kaschierte zumindest aus der Ferne die vielen schmutzigen Ecken der Stadt. Selbst das Bayerwerk am Rhein war aus dieser Entfernung erst auf den zweiten Blick als Industriebetrieb zu erkennen. Ansonsten ragten nur einige wenige markante Höhen aus diesem flachen Wohn- und Industriepark heraus. Der Wasserturm zum Beispiel – oder Krefelds höchstes Gebäude, das Hochhaus Bleichpfad mit seinen dreiundzwanzig Stockwerken.
Berringer wedelte mit den Händen, um den Rauch zu vertreiben, und unterdrückte einen Hustenreiz.
Dort draußen gelten strenge Abgasnormen für die Schlote!, dachte er. Aber hier, im Zentrum der Rechtschaffenheit, kann man fast ersticken, ohne dass jemand was dagegen tut.
Die Fenster konnte man natürlich nicht öffnen.
Das hat wahrscheinlich Methode!, ging es Berringer durch den Kopf. Jeder Verdächtige, der hier mehr als eine Stunde gefangen gehalten wird, glaubt wahrscheinlich ersticken zu müssen und gesteht dann jedes Verbrechen – die, die er selbst begannen hat, und ein paar andere gleich mit -, nur damit er wieder an die frische Luft geführt wird.
„Der Kerl, der deine Familie auf dem Gewissen hat, sitzt lebenslänglich“, sagte Dietrich. „Ich weiß, dass das kein Trost ist, aber wenn du mal daran denkst, dass wir in anderen Fällen die Täter niemals gefasst haben ...“ Er zuckte mit den Schultern.
„Gerade bei Auftragsmorden ist das normalerweise sehr schwer.“ Roman Dinescu.
Es verging kein Tag, an dem Berringer nicht an diesen rumänischen Lohnkiller dachte, der die Autobombe gelegt hatte. Berringer hatte damals zu einem Team gehört, das gegen eine mafiaähnliche Organisation ermittelt hatte. Eigentlich war die Bombe für ihn gewesen, das war ihm durchaus bewusst. Aber das machte es nicht gerade leichter, den Schmerz zu ertragen.
„Kommen wir zur Gegenwart“, meinte Berringer. „Ich arbeite derzeit für einen gewissen Peter Gerath. Ich denke, du weißt, wer das ist.“ Björn Dietrich nickte. „ Der Gerath!“
Da war sie wieder, diese hochherrschaftliche Kombination aus Artikel und Namen.
„Richtig.“ Berringer nickte. „ Der Gerath. Der Boss von Avlar Tex.“
„Es wurde zweimal auf ihn geschossen, beide Mal daneben, nur sein Pferd hat es erwischt“, fasste Dietrich den Fall in wenigen Worten zusammen. „Wir arbeiten an der Sache. Doch anscheinend hat Herr Gerath kein große Vertrauen in die Polizei.“ Berringer grinste. „Wundert dich das? Ich meine, wo eure uniformierten Kollegen doch jetzt entweder ohne Pistolenholster oder ohne Wagen die Bürger schützen müssen.“
Björn Dietrich lächelte dünn. „Vielleicht nehmen sie ja erstmal die alten Holster, um die Einsatzfähigkeit sicherzustellen“, sagte er mit einem leicht beleidigten Unterton.
Achtung! Spaßgrenze erreicht!, hieß das für Berringer. Offenbar war es in Ordnung für Dietrich, die Anschaffung der neuen Holster als Absurdität darzustellen – aber die Einsatzbereitschaft der Polizei generell in Frage zu stellen, das ging wohl zu weit.
Gedankenfreiheit gab es eben nur im Grundgesetz und solange man schwieg. Sobald man den Mund aufmachte war man den unterschiedlichsten Zensursystemen unterworfen. In diesem Fall war es nicht die politische Korrektheit, sondern die polizeiliche. Die zu beachten hatte Berringer wohl in den Jahren, in denen er inzwischen schon nicht mehr im Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen war, vergessen.
Also zurück zu Peter Gerath, dachte Berringer mit einem inneren Seufzer.
„Der Mann schien mir große Angst zu haben, als er bei mir im Büro war“, berichtete er.
Dietrich verschränkte die Arme vor der Brust. „Die hat er wohl auch zu Recht. Es gibt derzeit in dieser Gegend eine Organisation, die offenbar Schutzgelder von Textilunternehmen erpresst. Wer nicht pariert, wird in die Mangel genommen. Man verprügelt ihn. Das ist dann zuerst nur ein Denkzettel. Beim zweiten Mal aber wird der zahlungsunwillige ›Kunde‹ krankenhausreif geschlagen. Es kann auch sein, dass die Werkshalle angezündet wird.“
„Aber bisher wurde noch niemand getötet“, stellte Berringer fest.
„So ist es. Die Brüder sind rabiat, aber wenn es sich irgendwie vermeiden lässt, bringen die niemanden um. Das würde auch nur Aufsehen erregen und dafür sorgen, dass noch intensiver gefahndet wird.“
„Wenn ich Gerath richtig verstanden habe, dann ist von ihm bisher noch gar kein Geld gefordert worden. Er glaubt, dass er erst weich gekocht werden soll.“
„Ausgeschlossen ist das nicht, aber eigentlich entspricht es nicht der Herangehensweise dieser Bande.“
„Was wisst ihr bisher über diese Organisation?“
„Sie soll von Rumänien aus geleitet werden. Wir wissen, dass es eine Scheinfirma in Liechtenstein gibt, an die verdächtige Zahlungen geleistet werden. Die Firma heißt HansaCor und ist in hundertprozentigem Besitz einer deutsch-rumänischen Import/Export-Firma, die seit langem im Fokus der Ermittlungen hinsichtlich Geldwäsche und dergleichen steht.“
„Wie heißt diese Import/Export-Firma?“, fragte Berringer.
„Garol ImEx.“
„Bukarest und Düsseldorf, oder?“
„Ja, stimmt.“
Berringer schnipste mit den Fingern. „Die spielte doch auch seinerzeit eine Rolle, als dieser Roman Dinescu ...“ Er sprach nicht weiter, schluckte und sah Dietrich dann direkt an. „Du warst doch damals noch bei uns, bei unserem Team, als wir gegen die
›Eminenz‹ ermittelten.“
„Ja, den Anfang habe ich noch mitbekommen.“
Die „Eminenz“ – das war der Kopf jener Organisation, für die auch Dinescu mutmaßlich gearbeitet hatte. Man hatte nie ermitteln können, wer die „Eminenz“ gewesen war, geschweige denn ihr den Prozess machen können. Es war immer das Gleiche. Die kleinen Handlanger wurden erwischt und verurteilt, aber den großen Fischen gelang es widersinniger Weise immer wieder, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen.
Berringer hatte der Gedanke, dass sich jener Mann, der letztlich für den Tod an seiner Familie verantwortlich war, nicht nur weiterhin auf freiem Fuß befand, sondern auch wahrscheinlich munter seinen illegalen Geschäften nachging, einfach nicht losgelassen. Sein Vorgesetzter hatte ihm damals verboten, sich weiter mit dem Fall zu beschäftigen, und zunächst hatte er dazu auch nicht die Kraft gehabt. Der Prozess gegen Dinescu hatte sich hingezogen und war für Berringer eine einzige Qual gewesen. Das Urteil hatte allerdings alles andere als einen Schlusspunkt gesetzt.
Nicht für Berringer.
Nur der Handlanger war zur Rechenschaft gezogen worden, und der Name des eigentlich Verantwortlichen wurde nicht einmal in den Prozessakten erwähnt.
Denn Dinescu schwieg.
Eisern.
Er wusste, weshalb. Vielleicht fürchtete er um das Leben von Angehörigen, falls er etwas über seinen Auftraggeber verriet.
Berringer hatte sich schließlich mehr oder minder damit abgefunden, dass es einfach keine Möglichkeit gab, an Dinescus Auftraggeber heranzukommen, und dass es vielleicht besser war, sich mit der Gegenwart zu beschäftigen, anstatt in der Vergangenheit zu versinken.
Nun aber ...
Es ist nur ein Strohhalm, sagte er sich. Nicht mehr ...
„Ich möchte mehr über Garol ImEx wissen!“, verlangte Berringer mit einer Vehemenz und Entschlossenheit, die Dietrich etwas zurückzucken ließ.
„Wir stehen noch ganz am Anfang, Berry. Und diese Firma ist vielleicht dubios, aber sie spielt bei der Sache wohl eher eine Nebenrolle.“ Kühlen Kopf bewahren, versuchte sich Berringer zur Ordnung zu rufen. Die Fakten analysieren. Stur und akribisch. So kommt man am weitesten. Alles andere bewirkt nur, dass man sich das Hirn vernebelt und das Offensichtliche übersieht ...
„Mit welcher Waffe wurde auf Gerath geschossen?“, fragte er. Berringer kam es vor, als ob sich sein Mund ganz automatisch bewegte. Jahrelange Berufsroutine als Ermittler – ob nun im Polizeidienst oder als Privatschnüffler. Das war es, was ihn in diesem Augenblick erst einmal rettete.
„Es war ein Jagdgewehr.“
„In beiden Fällen?“
„Ja.“
„Wurden Patronenhülsen gefunden?“
„Ja, am Tatort des ersten Attentats, in dem kleinen Waldstück, von dem Herr Gerath angab, von dort aus beschossen worden zu sein.“
Berringer trat an die Fensterfront. Der Blick schweifte über die Krefelder Innenstadt.
Ein Heißluftballon hing tief über dem Wasserturm, ein zweiter deutlich höher in der Nähe des Königpalasts. Eine große Altbierbrauerei war der Sponsor.
„Dass ein Jagdgewehr verwendet wurde, spricht nicht dafür, dass ein professioneller Killer der Täter ist“, meinte Berringer schließlich. „Und die Patronenhülsen hätte der sicher aufgesammelt.“
„Das hat mich auch gewundert“, gestand Dietrich.
„Könntest du dir auch in Geraths persönlichem Umfeld jemanden vorstellen, der seinen Tod wünscht – oder ihn vielleicht einfach nur demütigen will?“
„Wie gesagt, wir stehen noch ganz am Anfang, Berry. Tatsache ist, dass wir in dieser Mafiasache nicht weiterkommen, weil da eine Mauer des Schweigens ist. Und was Gerath angeht, so hat er zwar selbst die Vermutung geäußert, dass es diese Organisation auf ihn abgesehen hätte, aber ich habe auch bei ihm das Gefühl, dass er mir nicht alles gesagt hat. Da sind einfach noch zu viele Widersprüche.“
„Vielleicht lassen die sich ja aufklären.“
„Berry!“ Dietrich schaute Berringer direkt an. „Ich habe nichts dagegen, wenn wir zusammenarbeiten. Du kennst den gesetzlichen Rahmen, in dem du dich bewegen darfst. Du kennst ihn zumindest besser als die meisten anderen, die in dem Gewerbe tätig sind. Die glauben, dass sie schon Detektiv sind, wenn sie nur den Gewerbeschein in der Tasche haben. Na ja, das ist bei dir anders, Berry. Ich brauche dir also keine langen Vorträge zu halten ...“
„Dann lass es am besten auch!“, fuhr ihn Berringer in die Parade.
„Schon gut.“ Dietrich hob eine Hand. „Ich möchte, dass du mich umgehend informierst, wenn du etwas herausgefunden hast.“
„Sofern das den Interessen meines Auftraggebers nicht zuwiderläuft – ja.“
„Ich weiß nicht, weshalb es dessen Interesse zuwiderlaufen sollte, am Leben zu bleiben.“
„Ich meine ja nur.“
Dietrich nickte leicht. „Schön, dass wir uns da so einig sind, Berry.“ Er griff erneut zur Zigarettenschachtel. Björn Dietrichs Phase der Nikotinabstinenz schien vorbei zu sein. Mit etwas unter zehn Minuten hatte sie ihre maximale zeitliche Länge erreicht.
Berringer verzog das Gesicht und sagte: „Ich lass dich jetzt rauchen, Björn. Wir haben ja alles besprochen.“
„Nichts für ungut, Berry.“
„Ich melde mich.“
„Wehe, wenn nicht!“
Bevor seine Hände vor Nikotingier anfangen zu zittern, dachte Berringer, gehe ich besser.
Er wandte sich in Richtung Tür, hörte das Knipsen des Feuerzeugs und war erleichtert darüber, die Flamme nicht sehen zu müssen.
Berringer war froh, wieder frei atmen zu können.
Am Nordwall, an dem auch das Polizeipräsidium lag, befand sich passender Weise auch eine Haft- und Untersuchungsanstalt, sowie der Sitz des Land- und des Amtsgerichts.
Verhaftung, Verhör und kurzer Prozess in erster und zweiter Instanz in ein- und derselben Straße, dachte Berringer. Sparte eine Menge Spritgeld ...
Um zu seinem Wagen zu gelangen, musste er durch den Stadtgarten. Der Parkplatz, auf dem er den Wagen abgestellt hatte, befand sich un der Nähe des Arbeits- und Sozialgerichts am Preußenring.
Seit Roman Dinescus Verurteilung wollte ihn Berringer in der Haft besuchen und zur Rede stellen. Soweit er erfahren hatte, erhielt der Lohnkiller in den Diensten der mysteriösen „Eminenz“ keinerlei Besuch von Angehörigen. Es wären also genug Termine frei gewesen. Gegen Dinescus Willen war das natürlich nicht möglich, aber bislang hatte Berringer noch nicht mal bei ihm anfragen lassen.
Immer wieder hatte er das vor sich hingeschoben.
Am Anfang hatte er natürlich viel Arbeit mit dem Aufbau seiner Detektei gehabt. Es erforderte schon ein gehöriges Maß an Energie, sich als Selbstständiger zu etablieren.
Berringer hatte das zunächst unterschätzt. Andererseits konnte er im Nachhinein eigentlich von Glück sagen, eine Aufgabe gehabt zu haben, die ihn voll und ganz ausgefüllt und nur wenig Zeit zum Nachdenken gelassen hatte. Denn nichts war verheerender für die innere Stabilität als Grübelei. Der Gedanke daran, dass seine Frau und sein Kind noch hätten leben können, wenn er im Wagen gesessen hätte und nicht sie ... Dass dies alles gar nicht passiert wäre, hätte er sich nicht für jene Sonderabteilung freiwillig gemeldet, die der „Eminenz“ hatte zu Leibe rücken sollen ...
Gedanken, Überlegungen, Mutmaßungen, die Berringer konsequent zu unterdrücken versuchte.
Einmal die Woche ging er zu seinem Psychiater. Dort hatten diese Dinge Platz. Dort konnte er den inneren Dämonen etwas Freigang gewähren, wenn auch in einem eng umgrenzten Gehege.
Berringer erreichte seinen Wagen, einem unscheinbaren Mitsubishi Carisma in graumetallic. Ein Wagen, an den man sich nicht erinnerte, der aber auch keine lahme Ente war – also wie geschaffen für jemanden, der Observationen durchzuführen hatte.
Er fuhr los und fädelte sich in den Verkehr auf dem Preußenring ein, der nach kurzer Zeit den Namen wechselte und dann Frankenring hieß, da meldete sich sein Handy.
Berringer hatte vergessen, es in die Freisprechanlage zu stellen, und während der Fahrt war das schlecht möglich.
Also nahm er den Apparat ans Ohr.
Jetzt nur keine Polizeistreife!, dachte er.
„Hier Berringer.“
„Hallo.“
„Wer ist da?“
„Vanessa. Erkennst du meine Stimme nicht?“
„Was ist los?“
„Ich rufe hier vom Rahmeier-Hof an.“
„Hast du schon was herausgefunden?“
„Und ob. Du glaubst nicht, was sich hier gerade abspielt!“ Der Tag ist klar und kalt. Dichtes Unterholz bietet perfekte Tarnung. Das Zielfernrohr wird justiert.
Dampfende Pferde im Fadenkreuz.
Der Puls rast.
Und die Gedanken auch.
Irgendwann muss jede Rechnung beglichen werden, jede Schuld gesühnt, jedes Verbrechen aufgedeckt und jedes Versäumnis ausgeglichen werden. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Herz um Herz. Und dieses Herz kann man an alles Mögliche hängen.
An eine Idee, eine Religion, eine Erfindung oder an Menschen.
Auch an diese schnaubenden Gäule auf der vor Frost starrenden und mit Raureif bedeckten Weide.
Der Finger legt sich um den Abzug.
Der Knöchel wird weiß.
Richtig treffen, davon hängt alles ab.
Gibt es Gerechtigkeit?
Ja.
Gibt es Frieden?
Im Angesicht von Gräbern.
Vielleicht ...
Die Schüsse folgen dicht aufeinander. Ein Wiehern, so hell wie Kinderschreie. Ein Gedanke hämmert im Kopf. Es gibt keine Unschuld. Nirgendwo.
Der Lauf senkt sich.
Training ist alles!
Fast eine Dreiviertelstunde brauchte Berringer, um sich durch Krefeld zu quälen, doch sein Navigationssystem führte ihn zuverlässig zum Rahmeier-Hof.
Der Raum zwischen dem Haupthaus und den Stallungen war bereits zugestellt mit Fahrzeugen, sodass Berringer mit seinem Wagen wieder ein Stück zurücksetzen musste, um ihn am Rand der schmalen Straße abzustellen, die auf dem Hof mündete.
Er stieg aus.
Ein schwerer Güllegeruch hing in der Luft. Der Winter war lang und hart gewesen, und nun musste wohl alles auf die Felder, was sich in den Silos angesammelt hatte.
Berringer verschlug es fast den Atem. Selbst die Industrieschlote in Krefeld rochen besser.
Vanessa hatte ihn bereits entdeckt. Sie lief auf ihn zu.
„Das hat ja lange gedauert!“ Es klang vorwurfsvoll, wie sie das sagte.
„Tut mir leid, ich kann eben nicht fliegen“, knurrte er. „Mein Gott, dieser Gestank ...“
Sie lächelte. „Manche Leute bezahlen viel Geld dafür, um so etwas schnuppern zu dürfen. Reiterferien oder Ferien auf dem Bauernhof nennt man das.“
„Da kann ich auch gleich Ferien an der Kläranlage buchen“, maulte Berringer.
Vanessa stemmte die Hände in die Hüften. „Meine Güte, so eine Großstadtpflanze bist du? Keine deftige Brise gewöhnt, was? Ich dachte, die Leute in deinem Alter haben als Kinder noch Baumhäuser gebaut, anstatt am Computer zu sitzen wie die Kids von heute!“
Berringer ging nicht darauf ein. Stattdessen schloss er den Wagen ab und schritt auf den Hof zu. Menschenleer war der – und dafür voller Autos. Einzig und allein ein angeketteter Hund bellte sich die Seele aus dem Leib.
„Die sind alle da hinten auf der Weide“, sagte Vanessa.
„Die Polizei auch?“
„Ja. Und der Veterinär und noch ein paar Leute mehr, die was zu sagen haben.“ Vanessa atmete tief durch und legte etwas an Tempo zu, um mit Berringer Schritt halten zu können.
Gemeinsam suchten sie sich einen Weg durch das Blechkarossenlabyrinth auf dem Hof, umrundeten schließlich das Hauptgebäude und gelangten dann zur Weide.
Polizisten in Uniform waren überall zu sehen. Mehrere Pferde lagen regungslos im Gras. Auf einer abgezäunten Nachbarweide waren etwa zwei Dutzend weitere Pferde unterschiedlicher Rassen zu sehen. Sie wirkten alle ziemlich nervös, soweit Berringer das beurteilen konnte. Ein Mann in Reitstiefeln und Steppweste und eine Frau versuchten sie zu beruhigen.
Berringer stieg durch den einfachen Drahtzaun, indem er den oberen der beiden gespannten Drähte mit einer Hand nach oben zog. Dann ging er auf das am nächsten gelegene reglos im Gras liegende Tier zu. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass es nicht mehr lebte.
Ein Polizist in Uniform kam auf Berringer und Vanessa zu. Er hob abwehrend die Hand, fuchtelte damit gebieterisch herum. Man musste kein Gestik-Experte sein, um zu verstehen, was er meinte. Berringer weigerte sich einfach, es zu begreifen.
„Was machen Sie hier?“, fuhr ihn der Uniformierte erbost an. „Sie können hier nicht einfach so hin.“
„Mein Name ist Berringer. Ich bin Privatdetektiv, und dies hier ist meine Mitarbeiterin.“
„Ja, wir hatten bereits das Vergnügen, Frau Karrenbrock, nicht wahr?“, schnarrte der Uniformierte und betonte dabei das „Frau Karrenbrock“ auf eine Weise, die sofort klarmachte, dass da eine Begegnung der genervten Art stattgefunden hatte.
Vanessa errötete leicht. Diplomatie war eben nicht ihre Stärke.
Berringer musste schmunzeln, als er sich vorstellte, wie sie versucht hatte, den drögen Uniformträger mit ihrem burschikosen Charme einzuwickeln. Da waren wohl zwei gänzlich verschiedene Kommunikationswelten aufeinander getroffen, die keinerlei Schnittmenge ergab.
„Ja“, sagte sie knapp und wandte sich an Berry. „Ist nicht so günstig gelaufen, glaube ich.“
Der Polizist wedelte noch einmal mit den Armen, und sein Gesicht zeigte einer Stirnfalte strenger Entschlossenheit. „Also bitte, gehen Sie jetzt! Sie behindern hier eine polizeiliche Ermittlung. Wenn Sie etwas zu dem Fall zu sagen haben, dann sprechen Sie bitte später mit dem Einsatzleiter.“
„Es ist nicht zu glauben!“, maulte Vanessa. „Nur, weil er eine Uniform trägt, denkt er...“
„Ist schon gut, wir werden hier nichts kaputtmachen“, unterbrach Berringer seine Mitarbeiterin. „Es ist nur so: Wir führen für Herrn Gerath private Ermittlungen durch.“
„ Der Gerath?“, fragte der Polizist.
„Eben jener“, bestätigte Berringer. „Herr Gerath hat hier Pferde auf dem Hof, und vor kurzem wurde auf ihn während eines Ausritts in der Umgebung geschossen. Jetzt frage ich mich, ob bei dem, was sich hier ereignet hat, vielleicht ein Zusammenhang zu unserem Fall besteht.“
Bevor der Polizist antworten konnte, rief ein Mann in Zivil: „Das geht schon in Ordnung!“ Er näherte sich mit schnellen Schritten und klappte gerade sein Handy zu.
„Lassen Sie ihn durch!“
„Wie Sie wünschen!“, murmelte der Uniformierte etwas pikiert.
Berringer ging auf den Mann in Zivil zu. Vanessa folgte ihm, nachdem sie den Uniformierten noch mit einem triumphierenden Blick bedacht hatte.
Der Mann in Zivil trug ausgebleichte Jeans und nur noch einen zurückweichenden Haarschatten auf dem Schädel.
„Berry, wie geht’s?“
Berringer runzelte die Stirn. „Arno?“, fragte er. „Arno Kleppke?“
„Ja, genau!“ Kleppke fuhr sich mit der Hand über die Glatze. „Du hast mich nicht erkannt, was? Als wir uns das letzte Mal sahen, hatte ich noch Haare.“
„Richtig.“
„Aber es wurden einfach immer weniger, und nur mit ein paar widerspenstigen Fusseln da oben wollte ich auch nicht herumlaufen.“ Berringer lächelte. „Dann lieber eine radikale Rasur, was?“
„Glatze ist im Moment hip, das muss ich ausnutzen.“ Berringer grinste. „Gut für dich, dass wir nicht mehr in den wuscheligen Siebzigern leben.“
„Das kannst du laut sagen.“
Kleppke warf einen Blick auf Vanessa. Ein Blick, der Berringer sofort verriet, dass seine Mitarbeiterin auch Kleppke schon unangenehm aufgefallen war. Also erklärte er rasch, dass er Privatdetektiv sei und Vanessa für ihn arbeite. An Vanessa gerichtet sagte er: „Arno und ich waren zwei Jahre auf derselben Wache. Ist schon eine ganze Weile her.“
„Du kennst auch wirklich Hinz und Kunz“, sagte Vanessa mit einer Mischung aus Anerkennung und Verwunderung.
„Bei der Polizei schon.“
„Ich habe gehört, dass du dich selbstständig gemacht hast“, sagte Kleppke. „Hat richtig die Runde gemacht, und so mancher hat sich wahrscheinlich gewünscht, selbst auch den Mut dazu zu haben.“
Ich habe es nicht freiwillig getan, dachte Berringer. Aber er hatte keine Lust, sich mit Arno Kleppke darüber zu unterhalten. Jedenfalls nicht auf dieser Weide. Vielleicht mal später, bei einem Bier.
„Muss doch traumhaft sein“, schwärmte Kleppke, „so selbstständig, ohne irgendeinen idiotischen Vorgesetzten – und ohne Pistolenholstern, mit denen der Hintern zu breit für den Gurt wird.“
„Von der Geschichte hab ich schon gehört“, sagte Berringer.
„Na ja, mit solchem Schwachsinn brauchst du dich ja nicht mehr herumzuärgern.“
„Selbstständigsein heißt, ich arbeite ständig und selbst. Ich weiß nicht, ob das wirklich das ist, wovon du träumst, Arno.“
Kleppke lachte. „Nichts für ungut, Berry!“
Berringer sah die Chance gekommen, endlich das Gespräch von seiner eigenen Person abzulenken – und erwischte zielsicher das erstes Fettnäpfchen des Tages.
„Was bist du denn jetzt, Arno?“
„Kriminalhauptkommissar. Ja, guck nicht so. Ich hätte auch sagen können: Immer noch Kriminalhauptkommissar - das hätte es vielleicht etwas Treffender zum Ausdruck gebracht.“ Kleppke machte eine wegwerfende Handbewegung. „Von Beförderungsstau und dem ganzen Mist brauche ich dir ja nichts zu erzählen, oder?
Aber lassen wir das, sonst ärgere ich mich nur zu sehr. Meine Devise ist: Sei immer nett zu deinem Magengeschwür, dann ist es auch nett zu dir!“
„Ich arbeite für Peter Gerath“, sagte Berringer.
„Den Besitzer der erschossenen Pferde ...“
„Ja.“
Kleppke schüttelte den Kopf. „Ich habe schon viel erlebt, aber noch nicht so etwas.
Jemand hat – vermutlich mit einer Jagdwaffe, aber da müssen wir noch die Laboruntersuchungen abwarten – aus dem Wald dort hinten auf die Tiere geschossen und sie der Reihe nach niedergestreckt. Seltsamerweise nur Pferde eines einzigen Besitzers.“
„Das heißt, der Täter hat genau gewusst, welche Pferde Peter Gerath gehörten.“ Arno Kleppke nickte und kratzte sich an seinem Kahlkopf. „Ja. An einen Zufall glaube ich jedenfalls nicht.“
„Ich würde gerne mit der Hofbesitzerin sprechen – eine Frau Petra Rahmeier.“
„Das würde ich auch gern, aber die ist zunächst mal damit beschäftigt, sich um die anderen Pferde zu kümmern.“ Kleppke deutete auf den Mann und die Frau auf der Nachbarweide. „Ich habe nichts dagegen, dass du dich in die Sache reinhängst Berry, doch das wird sich wohl noch was hinziehen. Aber dass man als Ermittler Geduld braucht, das ist für dich ja wohl kaum etwas Neues, oder?“ In diesem Augenblick meldete sich Kleppkes Funkgerät, das in der Brusttasche seines Long Jacketts steckte.
Am Waldrand, von wo aus der Pferdemörder die Schüsse abgegeben hatte, stand ein Polizist in Uniform und winkte Kleppke zu.
„Wir haben Patronenhülsen gefunden“, kam die verzerrt klingende Meldung aus dem Funkgerät.
„Ich bin gleich da“, gab Kleppke zurück. Er wandte sich an Berringer. „Ich wette, das willst du dir ansehen“
„Unbedingt.“
Berringer ging ein paar Schritte hinter Kleppke her und fiel dann immer weiter zurück. Vanessa ging neben ihrem Chef und schließlich begriff sie, dass er sich mit ihr unterhalten wollte, ohne dass Kleppke davon etwas mitbekam.
„Sag mal, was hast du hier eigentlich angestellt?“
„Keine Ahnung. Ich hab nur mit Nachdruck versucht, an Informationen zu gelangen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Könnte sein, dass dein Kumpel Arno das als lästig empfunden hat.“
„Wenn du ihn auch gleich geduzt hast, ganz bestimmt.“
„Ich habe aber auch kurz mit jemandem sprechen können, der hier als Stallbursche arbeitet. Er heißt Max Penckenhorst.“
Berringer deutete zur Nachbarweide. „Ist das der Typ, der gerade Frau Rahmeier so aufopferungsvoll darin unterstützt, die anderen Gäule zu beruhigen?“
„Ja, das ist er. Netter Typ.“
„Konnte er auch irgendetwas sagen, das uns weiterbringt?“
„Er meinte, dass jemand schon sehr gut mit den Verhältnissen hier vertraut sein müsste, um genau zu wissen, wem welche Pferde gehören. Und es wurden ja nur die Tiere von Herrn Gerath erschossen.“
„Das trifft auf Max Penckenhorst doch auch zu, würde ich sagen.“
„Ja. Und auf die Besitzerin. Aber welches Motiv sollten die haben?“
„Ich verdächtige die beiden nicht“, wehrte Berringer ab. „Aber der Täter könnte sich bei ihnen die nötigen Informationen geholt haben.“
„Oder er hat sich selbst hier umgeschaut.“
„Was bedeuten würde, dass er ein Gast gewesen sein muss, sonst wäre er aufgefallen.“
Sie holten Kleppke kurz vor dem Waldrand wieder ein. Etwa ein Dutzend Beamte waren damit beschäftigt, dort jeden Quadratzentimeter abzusuchen. Ein paar Patronenhülsen waren sichergestellt worden.
Kleppke telefonierte mit Kriminalhauptkommissar Dietrich und wenig später war klar, dass zumindest das gleiche Kaliber bei dem Angriff auf Gerath verwendet worden war.
„Wer macht so etwas?“, fragte Vanessa. „Tiere erschießen, die niemandem was getan haben. Das ist doch ... irre!“
„Na ja“, entgegnete Berringer, „auf Menschen zu schießen finde ich mindestens genauso schlimm.“
Vanessa wusste nicht, wie ernst er das meinte. Dann aber nickte sie und sagte: „Auch mit dieser Tat hier wollte man Gerath treffen.“
„Ich weiß nicht, wie sehr Peter Gerath mit seinen Pferden emotional verbunden war ...“, sagte Berringer und wollte noch fortfahren.
Aber Vanessa fiel ihm ins Wort. „Dieser eiskalte Typ? Ich glaube nicht, dass der überhaupt mit irgendetwas emotional verbunden ist ― außer vielleicht mit seinem Bankkonto!“
„Ein hartes Urteil“, stellte Berringer fest.
„Ein wahres Urteil. Ohne Berufungsinstanz, würde ich sagen.“
„Und trotzdem könnte es sein, dass du dich irrst, liebe Vanessa.“
„So?“
Berringer nickte. „Kann doch sein, dass er nur nach außen hin so kühl wirkt und unnahbar wirkt.“
„Nicht wieder dieses Klischee!“ Vanessa verdrehte die Augen. „Harte Schale, weiche Birne – oder wie meinst du das?“
„Ich meine“, sagte Berringer, „dass er seine Emotionen vielleicht auf seine Tierchen hier konzentriert hat. Die sind ja auch zumeist wesentlich umgänglicher als Menschen.“
„Pferde? Ich bitte dich!“ Vanessa schüttelte den Kopf. „Das ist doch nicht dein Ernst!“
„Noch kennen wir beide Gerath zu schlecht, um das beurteilen zu können.“
„Auch wieder wahr. Trotzdem, ich bin bei diesem Typ anderer Ansicht.“ Berringer schaute sich um. Er sah den Polizisten einige Augenblicke lang dabei zu, wie sie mit einer bewundernswerten Geduld und viel Akribie den Waldboden absuchten. Das Unterholz war recht dicht. Mit etwas Glück war der Täter irgendwo hängen geblieben, hatte etwas verloren oder eine andere Spur hinterlassen, die ihn am Ende vielleicht überführte. So wie die Patronenhülsen.
Nein, dachte Berringer, ein Profi war das nicht. Eher jemand, der etwas demonstrieren wollte. Jemand, der Gerath zeigen wollte, wie klein und machtlos er war. Der Täter wollte beweisen, dass er alles tun konnte, was ihm beliebte, und in jedem Moment die Macht hatte, Gerath das Leben zu nehmen, wenn es ihm gefiel.
Berringer machte zwei Schritte nach vorn, bog die Zweige eines Busches zur Seite, um ins Unterholz vorzudringen.
Arno Kleppke pfiff ihn zurück. „Moment, Berry! Das geht zu weit!“
„Ich wollte doch nur ...“
„Hier wird jeder Quadratzentimeter erst genauestens unter die Lupe genommen, bis hier jemand was zertrampeln darf. Es ist schon großzügig, dass ich dich hier am Tatort herumrennen lasse.“
Berringer hob die Hände. „Schon gut, Arno.“
„Mann, Berry, du kennst doch das Geschäft!“
Die Ermittlungen am Tatort zogen sich hin.
Natürlich war Peter Gerath sogleich verständigt worden. Doch der befand sich auf einem Meeting. Zumindest ließ er das Arno Kleppke ausrichten.
„Vielleicht solltest du dich mit ihm unterhalten“, witzelte Arno Kleppke, an Berringer gewandt. „Vielleicht redet er ja anschließend mit mir, wenn du ihm zunächst mal großartige Erfolge bei deinen Ermittlungen versprichst.“
„Das Problem ist nur, dass ich diese Versprechungen im Moment noch nicht halten kann“, entgegnete Berringer.
Die toten Tiere wurden abtransportiert, und danach beruhigten sich die Pferde auf der Nachbarweide. Petra Rahmeier und ihr Stallbursche Max Penckenhorst sorgten dafür, dass sie nacheinander zu den Stallungen geführt und in ihre Boxen untergebracht wurden.
Berringer hörte interessiert zu, wie Kleppke anschließend die Reitstallbesitzerin befragte.
„Hat sich jemand nach Herrn Peter Gerath und seinen Pferden erkundigt?“
„Nicht, dass mir das aufgefallen wäre.“ Petra Rahmeier, eine sportlich wirkende Mittvierzigerin, schüttelte den Kopf. Sie stand noch sichtlich unter Schock. Berringer verstand sie gut. Die Sache mit den ermordeten Pferden würde morgen in jeder lokalen Zeitung stehen und wahrscheinlich auch überregional über die Medien verbreitet werden. Das war natürlich alles andere als eine gute Reklame für den Rahmeier-Hof, obwohl dessen Besitzerin und ihr Personal nicht das Geringste dafür konnten, dass die Pferde auf der Weide erschossen worden waren.
„Wir brauchen eine Auflistung aller Gäste, die in den letzten Wochen bei Ihnen waren“, sagte Kleppke.
„Das lässt sich machen. Allerdings kann ich mir wirklich nicht vorstellen, dass darunter jemand sein könnte, der Pferde kaltblütig abknallt.“ Petra Rahmeier schüttelte den Kopf, noch immer fassungslos, und bedeckte kurz mit ihrer rechten Hand die Augen. Sie unterdrückte ein Schluchzen und biss sich auf die Lippen.
Berringer beobachtete, wie Max Penckenhorst im Stall verschwand.
„Warte hier und hör gut zu“, wandte er sich an Vanessa.
„Was ist denn?“
„Ich bin zu einem Vier-Augen-Gespräch mit Max Penckenhorst verabredet.“
„Ach, könntest du mich das nicht machen lassen?“, fragte Vanessa, und Berringer sah den schwärmerischen Glanz in ihren Augen.
Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“
„Chef-Sache?“
„Ja.“
„Herr Penckenhorst?“, fragte Berringer, als er den Stall betreten hatte.
Max Penckenhorst war gerade damit beschäftigt, mit einer Forke altes Stroh aus einer leeren Box in eine Schubkarre zu laden. Irgendwo schnaubte ein Pferd.
„Was wollen Sie?“, fragte Penckenhorst in einem Tonfall, der alles andere als freundlich war. Er wirkte angespannt und gereizt. Der Tod von Tieren ging vielen Menschen näher als das Ableben eines Mitmenschen. Berringer machte diese Erfahrung nicht zum ersten Mal.
„Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.“
„Ich habe doch vorhin schon Ihren Kollegen alles erzählt. Und dann war da noch diese Schnepfe, die so aufdringlich war. Schätze, die war von der Presse.“ Berringer nahm an, dass er damit Vanessa meinte, und enthielt sich jeden Kommentars. „Herr Penckenhorst, es gibt da einfach so viele Ungereimtheiten, dass Sie wohl nicht umhin kommen, die ganze Sache noch ein dutzend Mal zu erzählen.“ Penckenhorst verzog das Gesicht, stellte die Forke zur Seite und lehnte sie gegen die Boxenwand. Dann krempelte er sich die Ärmel seines Hemdes hoch. Er hatte beeindruckende Muskeln. Auf dem rechten Unterarm war ein Löwe tätowiert, auf dem linken ein Tiger.
„Seit wann arbeiten Sie hier?“, fragte Berringer.
„Seit einem halben Jahr etwa.“
„Gefällt Ihnen der Job?“
„Die Bezahlung könnte besser sein.“ Er zuckte mit den Schultern. „Allerdings habe ich kaum was an Zeugnissen oder dergleichen vorzuweisen, in sofern bin ich froh, überhaupt 'nen Job gefunden zu haben.“
„Ich verstehe.“
„Zuvor bin ich bei einem Zirkus mitgefahren. Und davor hatte ich einen Job als Automaten-Bestücker. Aber stellen Sie sich das bitte nicht als spannend vor.“ Berringer musste lächeln. „Wenn Sie es sagen ...“
„Aber um was Interessantes machen zu können, hätte ich mich in der Schule mehr anstrengen müssen ...“ Penckenhorst runzelte die Stirn. „Was wird das hier? Eine Fragestunde über mich, oder worauf wollen Sie hinaus, Kommissar ...?“
„Mein Name ist Berringer“, stellte sich der Detektiv vor, ohne auf den „Kommissar“ einzugehen.
„Und meinen Namen haben Sie sich gleich gemerkt, was?“
„Ja.“
„Weil ich tatverdächtig bin?“
Berringer schüttelte den Kopf. „In meinem Job hat man ein gutes Namensgedächtnis.
Andernfalls sollte man sein Geld besser anderweitig verdienen.“
„Verstehe ...“
„Ich will Ihnen nichts ans Zeug flicken, Herr Penckenhorst. Keine Sorge.“ Berringers Lächeln wirkte entwaffnend. Er hoffte zumindest, dass es dies tat. „Ich will nur ein paar Antworten. Also entspannen Sie sich.“
„Drei unserer Pferde sind erschossen worden. Wie soll ich mich da entspannen? Wer weiß, was dieser Irre als nächstes tut?“ Penckenhorst atmete tief durch. Er trat an eine andere Boxen. Ein Rappe steckte seinen Kopf hervor. Penckenhorst tätschelte den Hals des Tieres, aber das Pferd spürte wohl, wie nervös der Mann war. Es schnaubte und wich zurück.
Tiere kann man nicht betrügen, dachte Berringer.
„Fragen Sie schon!“, forderte Penckenhorst.
„Sie kennen Herrn Gerath sicher persönlich. Schließlich kommt er einmal die Woche zum Reiten her.“
„Ja. Und er besitzt - besaß - bis vor kurzem insgesamt vier Pferde. Dabei hat er zuletzt immer nur Laura geritten, weil die am ruhigsten war. Ich denke, das lag an seiner Bandscheibe.“
Berringer hob die Augenbrauen. „Sie kannten ihn also ganz gut.“
„Ich war öfter hier im Stall, wenn er sich um seine Tiere gekümmert hat. Ich weiß nicht, was er sonst für ein Mann ist, aber für Tiere hat er ein Gespür, das muss man ihm lassen.“
„Was waren das für Pferde? Besonders wertvoll oder ...“
„Der Mann hat genug Geld und schmeißt auch gern damit um sich. Das sihet man schon am Sattelzeug und an seiner Ausrüstung. Und die Tiere waren auch vom Feinsten. Er hat mir mal was von seiner Firma und all dem Stress erzählt und dass er hier jedes Mal so richtig auftanken könnte ... Na ja, so blabla halt.“
„Wieso blabla?“
In Penckenhorsts Augen blitzte es. „Wenn ich nur einen Bruchteil von dessen Schotter hätte, ich würde mich nicht auf einem Reiterhof in der Nähe der ach so idyllischen Industrieruine Krefeld erholen, sondern was richtig Geiles machen. Ab nach Rio oder so was.“
„Hat Herr Gerath mal geäußert, dass er sich bedroht fühlt?“ Max Penckenhorst wirkte auf einmal nachdenklicher. Er kratzte sich erst am Kinn, dann im Nacken und anschließend noch mal am Kinn. „Ehrlich gesagt, ich hab immer gedacht, dass er ein bisschen paranoid ist.“
„Wieso?“
„Es braucht nur ein Wagen auf den Hof fahren, dann will er von mir immer gleich wissen, wer das ist, selber aber nicht an die Stalltür gehen. Außerdem erkundigt er sich ständig, ob jemand nach ihm gefragt oder sich an seinen Pferden vergangen hat.“ Max Penckenhorst zuckte mit den Schultern. „Ich meine, wir haben hier auch Familien mit Kindern, die auf dem Rahmeier-Hof Urlaub machen. Da bleibt es nicht aus, dass die Kids mal die Pferde streicheln, oder? Vor allem Mädchen sind ganz wild auf die Vierbeiner. Die meisten kann man sogar zum Ausmisteten und Striegeln anstellen. Das machen die richtig gut. Nur an Geraths Pferde durfte ich ausdrücklich niemanden ranlassen. Nur geschultes Fachpersonal, wie er sich immer auszudrücken pflegt.“ Er lachte heiser. „Wenn der wüsste, dass ich vor ein paar Monaten von Pferden nur wusste, dass sie vier Beine haben und man einen Sattel draufsetzen kann.“
„Ich gehe davon aus, dass der Täter, der die Pferde getötet hat, identisch ist mit der Person, die vor knapp zwei Wochen schon einmal auf Herrn Gerath schoss und dabei sein Pferd Laura tötete.“
Max Penckenhorst nickte. „Das klingt für mich absolut logisch“, meinte er. Berringer hat das Gefühl, dass sein Gegenüber inzwischen etwas Vertrauen gefasst hatte und offener geworden war.
Dem Detektiv kam die langjährige Erfahrung zugute, die er bei Befragungen in seinen Polizeijahren hatte sammeln können.
„Der Täter muss genau gewusst haben, welche Pferde Gerath gehören“, sagte er. „Er muss sich hier bestens ausgekannt haben.“
„Also jemand wie ich“, erwiderte Max Penckenhorst, dessen Lächeln dabei gefror.
„Wollen Sie mir also doch was anhängen. Sie sind genau so ein mieser Bulle wie ...“ Er verstummte.
„So ein mieser Bulle wie wer?“
Penckenhorst zögerte.
„Reden Sie, Herr Penckenhorst“, forderte Berringer. „Ich kriegs ja so oder so heraus.“ Penckenhorst nickte widerwillig. „Vor ... vor drei Jahren ... da war ich mal in so eine Sache verwickelt. Tut hier nichts weiter zur Sache. Ich war kurzzeitig Türsteher einer Diskothek. Es gab da eine kleinere Rangelei, bei der jemand zwei Zähne verloren hat.
Die Sache wurde mir angehängt, dabei war es nur Selbstverteidigung.“
„War das in Krefeld?“
„In Düsseldorf. Kennen Sie das Baby Love in der Kurzen Straße?“
„Klingt vom Namen her ein bisschen so, als wäre das nicht ganz meine Altersklasse.“
„Da würde ich nicht sagen. Es ist immer gerammelt voll dort, aber ich glaube, die meisten kommen nicht wegen der grottigen House-Musik, sondern weil Campino von den Toten Hosen da ab und zu hinkommt und das Tanzbein schwingt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Sagt man zumindest. Bevor ich das mal miterleben konnte, hatten die mich schon gefeuert.“
Berringer seufzte innerlich. Ein paar Jahre nicht mehr im Polizeidienst und an keiner Razzia mehr beteiligt – und schon war ihm der Überblick über das Düsseldorfer Nachtleben offenbar total abhanden gekommen.
Laut sagte er: „Was soll’s, Herr Penckenhorst. Geradlinige Erwerbsbiographien sind ohnehin selten geworden, da sind Sie keine Ausnahme.“ Er war sich nicht sicher, ob sein Gegenüber diese Bemerkung tatsächlich als witzig empfand, deshalb war es wohl das Beste, gleich die nächste Frage anzuschließen. So kam Max Penckenhorst gar nicht erst auf den dummen Gedanken, dass Berringer ihn vielleicht blöd anmachen wollte.
Die zwei Zähne, die bei der so genannten kleinen Rangelei vor dem „Baby Love“ Penckenhorsts angeblicher Selbstverteidigung zum Opfer gefallen waren, fasste Berringer als Warnung auf. Der Kerl verstand möglicherweise keinen Spaß.
„Hat sich in letzter Zeit irgendwer verdächtig intensiv für Gerath oder seine Pferde interessiert?“, fragte er.
Penckenhorst nickte. „Da war vor zwei Monaten so 'n Typ hier, der wollte die Laura kaufen. Laura war ja ein Island-Pferd, und genau so eins wollte er haben. Frau Rahmeier hat ihm die Adresse von Herrn Gerath gegeben, aber ihm gleich gesagt, dass es sinnlos ist, beim Besitzer anzufragen.“
„Wissen Sie noch den Namen?“
„Nee. War ein unscheinbarer Typ. Halbglatze, mittelalt. Und ein Gesicht, das man sich nicht merkt.“
„Haben Sie ihn noch mal wiedergesehen?“
„Nein. Aber da fällt mir ein ...“
Er zögerte, biss sich auf die Lippen, und plötzlich bildete sich eine tiefe Furche auf seiner Stirn.
„Na los, raus damit!“, forderte Berringer. „Auch, wenn Sie denken, dass Ihre Beobachtung ohne Belang ist – für mich könnte sie wichtig sein.“
„Vor drei Wochen war eine Frau hier, die sich nach Gerath erkundigt hat. Sie ist sofort wieder weggefahren, nachdem ich ihr gesagt habe, dass Gerath nicht auf dem Hof und auch nicht bei den Pferden sei. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“ Berringer runzelte die Stirn. „Was?“
„Na ja, dass sich eine Frau für ihn interessiert, die gerade halb so alt ist wie er. Sie hätte seine Tochter sein können.“
„Wie sah sie aus?“
„Blondes, langes Haar, gut gebaut ... Aber das Auffälligste an ihr war die weiße Kleidung.“
„Vollkommen weiß?“
„Ja. Weiße Hose, weiße Steppjacke. Und was sie darunter trug war auch weiß.
Außerdem hing ihr ein Amulett aus Holz um den Hals. Sah schon ziemlich abgedreht aus.“
In diesem Moment wurde die Tür zum Stall aufgezogen.
Es war Kleppke. In seinem Gefolge befanden sich uniformierte Kollegen.
„Herr Penckenhorst?“, fragte Kleppke. „Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Max Penckenhorst runzelte die Stirn. „Was wird hier eigentlich gespielt?“ Er wandte sich an Berringer. „Jetzt sagen Sie nicht, dass ich den ganzen Sermon noch mal Ihrem Kollegen erzählen muss!“
Kleppke bedachte Berringer mit einem tadelnden Blick.
„Kollege?“, echote er.
„Ich denke, ich muss dann mal“, meine Berringer und verdrückte sich in Richtung Stalltor.
Irgendwie musste er sich an Kleppke vorbeidrücken. Ein Königreich für eine Tarnkappe!, dachte er. Aber die waren irgendwie aus der Mode gekommen und wohl ein Opfer des textilen High-Tech-Fortschritts geworden, wie ihn Peter Geraths „Avlar Tex“ forcierte.
Kleppkes Augen wurden schmal. Der Blick, mit dem er Berringer bedachte, hätte einen Mann mit schwächerem Herzen töten können. „Ich denke, wir unterhalten uns nachher noch, Berry!“
Berringer zuckte mit den Schultern. „Ich kann doch nichts dafür, wenn jemand, mit dem ich nur ein kleines Schwätzchen halten möchte, die falschen Schlüsse zieht.“ Kleppkes Lächeln wirkte so dünn wie der zurückweichende Haarschatten auf seiner Glatze. „Wie wär's damit: Du könntest so ein Missverständnis richtig stellen!“
„Ein Polizist muss das. Ich nicht.“
„Hau nicht ab, bevor wir das nicht geklärt haben!“ Max Penckenhorst stemmte die Fäuste in die Hüften. „Könnte mir jetzt vielleicht mal jemand erklären, was hier eigentlich los ist?“
Berringer sah zu, dass er schleunigst ins Freie kam.
Er nutzte die Gelegenheit, um noch mit Frau Rahmeier zu sprechen.
Die Frau in Weiß war ihr ebenfalls aufgefallen. Aber abgesehen davon, dass sie weiß gekleidet gewesen war, hatte Petra Rahmeier von ihr nicht viel behalten. „Max hat das geregelt. Sie hatte es sehr eilig und ist dann davongebraust. Ich kenne mich mit Autos nicht so aus, aber der Wagen, den sie fuhr, gehörte ins Museum. Vielleicht auch besser auf den Schrottplatz. Der Wagen klang wie 'n Panzer. Da weiß ja sogar ich, dass wahrscheinlich der Auspuff hin ist.“
„Und was ist mit dem Typ, der Geraths Laura kaufen wollte?“
„Der war wirklich hartnäckig und hat sich auch nach den anderen Pferden erkundigt, die Gerath bei uns ...“ Sie brach ab und schüttelte dann energisch den Kopf. „Nein, das kann nicht sein“, sagte sie. „Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber diesem unscheinbaren Mann traue ich nun wirklich nichts Böses zu.“
„Haben Sie einen Namen oder seine Nummer?“
„Er nannte sich Meyer.“
„Ach, Meyer“, sagte Berringer. „Nicht Schmitz, sondern Meyer, ja?“
„Ja, Meyer.“ Frau Rahmeier wirkte pikiert. „Wie mein Name, nur ohne ›Rah‹.“
„Mit ›e-i‹ oder mit ›y‹?“
Sie grinste ihn frech an. „Ja, Rahmeier mit ›e-i‹.“
„Ich meine den anderen Meyer, den ohne ›Rah‹.“
„Ob Sie's glauben oder nicht, aber darüber haben wir uns nicht unterhalten.“ Berringer nickte. „'türlich nicht. Entschuldigen Sie die dummen Fragen.“
„Aber er hat mir tatsächlich seine Nummer hinterlassen“, sagte Frau Rahmeier und klang auf einmal versöhnlich. „Für alle Fälle.“
Berringer kam es vor, als wolle sie ihm damit ein Trostpflästerchen schenken.
„Dann hätte ich die gern“, bat er.
„Gehen wir ins Haus, dann gebe ich Sie Ihnen.“
„Haben Sie Gerath davon erzählt?“
„Ja.“
„Und?“
„Er hat mir eingeschärft, nie wieder irgendjemandem Auskünfte über ihn oder seine Pferde zu geben. Verkaufen würde er sie sowieso nicht. Unter keinen Umständen. Das sei so, als würde man seine Freunde verkaufen, sagte er.“ Berringer war erstaunt. Wer hätte Peter Gerath ein so hohes Maß an Sentimentalität zugetraut?
„Ein armer Hund“, murmelte er.
„Wer? Gerath?“, fragte sie irritiert.
„Wenn einer nur Tiere als Freunde hat, ist er nicht zu beneiden, meinen Sie nicht?“
„So kann man es natürlich auch sehen ...“
Später musste sich Berringer noch das Lamento von Kleppke anhören. „Hör zu, Berry, es gibt Regeln, die eingehalten werden müssen. Wenn ich dir etwas Freiraum gelassen habe, dann deswegen, weil ich dachte, du hältst diese Regeln ein. Aber das war offenbar ein Irrtum.“
Selbst die Telefonnummer des mysteriösen Pferdeliebhabers namens Meyer, die Berringer ihm gab, konnte Arno Kleppke nicht wirklich besänftigen.
„Die Nummer solltet ihr überprüfen“, fand Berringer. „Ich habe es gerade schon mal versucht.“
„Und?“
„Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar, heißt es.“
„Wenn es ein Prepaid-Handy ist, sehen wir alt aus, aber wenn es unter Vertrag läuft, bekommen wir heraus, zu wem die Nummer wirklich gehört.“ Arno Kleppke wandte sich zum Gehen.
„Arno!“
„Was ist noch?“
„Du könntest Danke sagen.“
Arno Kleppke machte stattdessen eine wegwerfende Handbewegung.
Berringer wandte sich an Vanessa. „Wir machen für heute Feierabend. Sei morgen pünktlich im Büro.“
„Ich hatte bisher immer den Eindruck, du bist so ein harter Hund, der sich in einen Fall verbeißt und nicht locker lässt, bis er ihn aufgedröselt hat.“ Vanessa wirkte etwas enttäuscht. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
„Heute haben wir genug für den Tagessatz getan“, meinte Berringer.
„Wie du meinst - Berry! So nennen dich doch deine Freunde, oder?“
„Aber nicht mein Hilfspersonal“, versetzte Berringer lakonisch.
Auf dem Rückweg nach Düsseldorf erhielt er einen Anruf von Mark Lange.
„Ich habe mich unter ehemaligen Delos-Kollegen umgehört. Einer arbeitet jetzt als Sicherheitskraft bei Avlar Sport – das ist eine Tochterfirma von Geraths Avlar Tex, die sich auf Fasern für Sport- und Outdoorkleidung spezialisiert hat. Er ist zwar erst seit drei Monaten dabei, aber ihm kommt der ganze Laden bereits mächtig spanisch vor. Bist du auf dem Weg ins Büro, dann kann ich dir dort die Einzelheiten erzählen.“
„Nein, ich wollt heute nicht mehr ins Büro. Ich schlage vor, wir treffen uns im Ohme Jupp. Ich hab nämlich noch nichts gegessen und ziemlichen Kohldampf.“
„In Ordnung.“
Als Robert Berringer im „Ohme Jupp“ an der Raringer Straße eintraf, wartete Mark Lange dort bereits seit einer ganzen Weile. Vor ihm stand ein halbleeres Glas Altbier.
Berringer setzte sich.
Das „Ohme Jupp“ war eine gemütliche Szenekneipe mit Bistroküche. Berringer frühstückte dort ab und zu, wenn nicht gerade ein Klient in seinem Büro wartete.
Manchmal war er auch abends hier, hing seinen Gedanken nach, beobachtete die Leute und hörte ihren Gesprächen zu.
Berringer bestellte ein Sandwich und einen Cappuccino.
Mark Lange hob das Glas und meinte: „Du trinkst jetzt noch Cappuccino?“
„Ja.“
„Du stammst nicht hier aus Düsseldorf? Gebürtig meine ich?“
„Nee.“
„Sieht man.“
„Wieso?“
„Du trinkst kein Alt. Genau das macht dich hier zum Ausländer.“ Berringer lächelte mild. „Und so was muss ich mir nach über zwanzig Jahren, die ich nun schon in dieser Stadt lebe, sagen lassen!“
„Alt oder Kölsch ― das ist ein Unterschied, der ist noch wesentlicher als evangelisch oder katholisch, hat mein Vater immer gesagt.“
„Dem will ich nicht widersprechen.“
„Ich wette, du kommst aus Köln. Und weil es hier kein Kölsch gibt, trinkst du lieber gar kein Bier, anstatt es mal mit Alt zu versuchen.“
„Falsch.“
„Wenn du schon nicht direkt aus Köln kommst, dann aber auf jeden Fall aus einem Ort, der südlich der Grenze zwischen Alt und Kölsch liegt. Sagen wir mal ...“
„Ich trinke überhaupt nichts mehr“, sagte Berringer. „Jedenfalls nichts, wo Alkohol drin ist. Weder Alt noch Kölsch.“
Mark Lange sah Berringer an, als hätte er ein exotisches Tier vor sich. „Das ist jetzt aber nicht wahr, oder?“
„Doch. Oder arbeitest du nicht für jemanden, der kein Bier trinkt?“ Mark Lange atmetet tief durch und wog skeptisch den Kopf. „Na, in Anbetracht der Situation auf dem Arbeitsmarkt will ich da mal eine Ausnahme machen“, sagte er schließlich und grinste. „Aber wenn ich das vorher gewusst hätte ...“
„Ich stamme aus dem nördlichen Münsterland“, sagte Berringer. „Lengerich, eine Kleinstadt zwischen Münster und Osnabrück. Da gibt’s wenigstens den Karneval nur in einer auf erträgliches Maß abgeschwächten Form und ...“ Mark Lange unterbrach ihn, indem er mahnend den Zeigefinger hob und drohte:
„Jetzt aber mal vorsichtig, Chef. Ein Wort gegen den Karneval ...“
„Den Kölner oder den Düsseldorfer?“, fragte Berringer grinsend.
Mark Lange tat verwundert. „Haben die in Köln einen Karneval?“ Beide lachten sie.
Die Bedienung kam und stellte Berringer das Sandwich und den Cappuccino hin.
Vom Cappuccino nahm Berringer einen kräftigen Schluck und aß zuerst den beigelegten Keks.
„Du wolltest mir was über ein Tochterunternehmen von Geraths Avlar Tex erzählen.“ Mark Lange nickte. „Ja. Avlar Sport hat ein eigenes Sportlabel und scheint in den Geschäften gut vertreten zu sein. Sie produzieren auch für große Supermarktketten, die Sportswear als Sonderangebote raushauen. Mein Ex-Kollege Rüdiger war dort die letzten drei Monate Nachtwächter, und den Job will er natürlich behalten.“
„Weswegen wir mit seiner Aussage nicht zur Polizei gehen könnten.“
„Er würde Stein und Bein schwören, mich nicht zu kennen.“
„Wie auch immer, was hat dir dieser Rüdiger so Interessantes erzählt?“
„Da kommen nachts LKW-Ladungen mit Ware, die ein paar Tage gelagert wird, bevor sie wieder jemand abholt. Das Geschäft läuft über einen rumäniendeutschen Import/Export-Kaufmann, der in der Szene einschlägig bekannt ist.“
„Hat dieser Rüdiger einen Namen fallen lassen?“
„Commaneci.“
„Ferdinand Commaneci?“, fragte Berringer. „Der Besitzer von Garol ImEx, Bukarest und Düsseldorf?“
„Das war der Name, ja.“
„Das bedeutet, unser biederer Herr Gerath ist vielleicht tiefer in diese Mafiageschäfte verwickelt, als er uns glauben machen wollte.“
„Avlar Sport wird von einem gewissen Frank Severin geleitet, der dort den Geschäftsführer gibt und wohl ziemlich nach Belieben schalten und walten darf, solange keine Verluste eingefahren werden“, berichtete Mark Lange. „Übrigens hat Rüdiger neulich mal mitgekriegt, wie Severin von ein paar der Typen, die die Lastwagen fahren, ziemlich übel unter Druck gesetzt wurde. Aber Severin tat anschließend so, als wäre nichts gewesen.“
„Klingt, als wäre da eine Spur in unserem Fall.“
„Noch was ist seltsam: Die Ware, die nachts angeliefert wird, passt überhaupt nicht zur Produktpalette, sagt Rüdiger.“
„Und was ist das für Ware?“
„Billig-Trikots, T-Shirts und Jogginganzüge.“
„Also nichts mit High-Tech-Edelfasern?“
Mark Lange schüttelte den Kopf. „Chemisch gefärbte Baumwolle, die ausläuft, wenn man schwitzt. Sagt Rüdiger.“
„Hat dieser Rüdiger denn überhaupt Ahnung von solchen Sachen?“ Mark Lange schüttelte den Kopf. „Rüdiger nicht. Er hat das aber von einem Kollegen, der Bescheid weiß.“
Also auch wieder nur Hörensagen, dachte Berringer. Wie bei dem bekannten Spiel
„Stille Post“. Einer flüsterte dem anderen was zu, und nach ein paar Stationen hat sich die Botschaft schon so verändert, dass sie mit der ursprünglichen Aussage nichts mehr gemein hat.
Berringer nahm sich sein Sandwich vor. Es schmeckte vorzüglich. „Vielleicht werden wir diesen Herrn Severin einfach mal fragen müssen“, meinte er.
„Rüdiger glaubt übrigens, dass Frau Gerath ein Verhältnis mit Severin hat.“ Berringer blieb fast der Bissen im Hals stecken. „Wie – und das erzählst du mir jetzt erst?“
Mark Lange machte eine wegwerfende Handbewegung, trank sein Alt aus und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. „Mehr als ein Gerücht ist das nicht. Ein Kollege hat Rüdiger erzählt, dass er die beiden mal in einer offenbar vertraulichen Situation gesehen hätte. Aber erstens war das wohl doch nicht so eindeutig und zweitens ist das ...“
„... Hörensagen vom Hörensagen“, vollendete Berringer.
„Richtig“, bestätigte Mark Lange. „Ist also fraglich, ob man darauf irgendetwas bauen sollte.“
„Ich habe schon aus viel windigeren Sachen was gebaut, das hinterher auch vor Gericht noch standhielt“, hielt Berringer dem entgegen. „Wie auch immer – es ist jedenfalls eine interessante Information.“
Das Fernglas wird justiert und scharf gestellt. Diesmal kein Fadenkreuz.
Zu sehen ist eine der Villen im Krefelder Stadtteil Bockum.
Ein Heim wie eine Festung.
Die Villa
Der Gerath.
Das passt zusammen.
Der Blick auf die Terrasse ist frei. Es brennt Licht.
Jetzt wartest du.
Die Dämmerung setzt ein.
Sind wir nun endlich vereint in dem Gefühl, dass das Universum ungerecht ist?
Vereint im Hass auf jemanden, der Schicksal spielte?
Du wartest auf eine Reaktion.
Das Licht im Erdgeschoss wird abgedimmt. Da ist etwas Blaues, Flackerndes, Flimmerndes. Ein Fernseher.
Das ist nur der Anfang des Schreckens.
Aber du wirst dich entscheiden müssen.
Länger leiden lassen oder kurzer Prozess.