Читать книгу Private Ermittler - 2000 Seiten, 16 Krimis in einer Sammlung - Alfred Bekker - Страница 26
9. Kapitel Der Mörder
ОглавлениеAndreas Gerath klingelte ungeduldig an der Tür zur Wohnung seines Bruders.
Till öffnete und verzog das Gesicht zu einem freudlosen Grinsen, als er sah, wer ihn da zu so später Stunden noch einen Besucht abstatten wollte. „Ach, Sie sind es, Berringer. Und mein braver Bruder Andreas. Welch eine Überraschung. Aber da das Haus schon voll bis unters Dach ist, habe ich nichts gegen weitere Gäste. Immer hereinspaziert.“
Sie folgten Till in die chaotische Mischung aus Atelier und Wohnung, in der dieser angehende Künstler lebte. Berringer schloss die Tür.
Sie waren tatsächlich nicht die Einzigen, die auf die Idee gekommen waren, Till Gerath in dieser Nacht einen Besuch abzustatten: Regina Gerath und die wie stets ganz in Weiß gekleidete Maja waren ebenfalls anwesend.
„Nanu, das gibt ja ein richtiges Familientreffen hier“, sagte Andreas sarkastisch.
„Ich nehme an, die Polizei hat Sie über das informiert, was im Königpalast geschehen ist“, sagte Berringer in dem Versucht, in die Situation von allen familiären Feindseligkeiten zu befreien.
„Ja, das ist richtig“, bestätigte Regina Gerath.
„Und jetzt findet hier eine Art Familienrat statt, zu dem ihr mich natürlich nicht eingeladen habt“, sagte Andreas Gerath. „Pech, dass ich hier ungefragt auftauche!“
„Hör auf, Andreas!“, schalt ihn seine Mutter. „Die Sache ist viel zu ernst für solche Mätzchen!“
„Ja, das finde ich auch“, meinte er. „Habt ihr schon darüber entschieden, wie ihr den großen Kuchen aufteilen wollt, den ihr jetzt erwarten könnt?“
„Das musst du gerade sagen!“, versetzte Maja und hob angriffslustig das Kinn.
„Schleimst dich im letzten Moment noch bei Papa ein, gerade noch rechtzeitig, bevor er abnippelt, nur um dich wieder ins gemachte Nest zu setzen!“ Andreas Geraths Gesicht wurde dunkelrot, und er ballte die Hände zu Fäusten. Für Berringer war klar, dass der junge Mann kurz davor stand, die Kontrolle zu verlieren.
„Was wisst ihr denn schon? Ihr habt ja immer nur von dem gelebt, was die Firma abgeworfen hat, aber nie etwas dazu beigetragen!“, schnauzte Andreas zurück. „Ich aber schon! Okay, ich gebe zu, dass Papa und ich ein paar sehr tief greifende Differenzen hatten, aber mir war immer an der Firma gelegen, und ich wollte dafür sorgen, dass sie an die nächste Generation weitergegeben wird. Euch ist das alles gleichgültig. Euch kümmert es doch nicht, wenn das, was Papa aufgebaut hat, vor die Hunde geht. Hauptsache, ihr könnt eure kurzfristigen Geldprobleme lösen!“
„Hör jetzt auf, Andreas!“, sagte seine Mutter erneut. Sie war aufgestanden und griff sich mit einer Hand an die Stirn. „Unsere Nerven liegen blank, und wir haben noch ein paar aufwühlende und sehr unschöne Tage vor uns! Die Polizei wird uns befragen, wir alle werden vielleicht vor Gericht aussagen müssen, und auch die Medien werden uns nicht in Ruhe lassen. Denn das könnt ihr mir glauben: Wenn ein Mann wie Peter Gerath in der Öffentlichkeit ermordet wird, in einem Eishockeystadium und auf so kaltblütige Weise, dann machen die Pressefritzen eine Story daraus, ob es nun eine ist oder nicht. Wie die Geier werden sie sich darauf stürzen. Sie werden die ganze Geschichte auseinanderpflücken, Mutmaßungen anstellen, Verdächtigungen aussprechen, und sie werden in der Vergangenheit jedes Einzelnen von uns nach schmutziger Wäsche wühlen und jeden Krümel Dreck, jede Verfehlung, jede Schwäche, jede noch so kleine Schandtat ins Licht der Öffentlichkeit zerren, um daraus einen Skandal zu zimmern und jeden von uns als sittenlos und verkommen darzustellen!“ Sie wandte den Kopf und musterte Berringer.
„Allerdings frage ich mich, was Sie hier eigentlich noch wollen.“
„Ich erfülle den Auftrag meines Klienten.“
„Ihr Klient ist tot!“, erinnerte sie ihn mit Nachdruck. „Ihr Auftrag ist beendet, und Sie bekommen Ihr Geld, sobald die erbrechtlichen Fragen geklärt sind. Aber Sie können davon ausgehen, dass Ihre Forderungen befriedigt wird.“ Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.
„Sie können gehen, Herr Berringer!“, sagte Regina Gerath dann unmissverständlich.
„Mein Auftrag ist nicht beendet“, widersprach Berringer, „und mein Klient lebt noch!“
Alle – bis auf Andreas Gerath – starrten ihn fassungslos an.
„Ich habe ihn engagiert“, erklärte Andreas Gerath nach ein, zwei Sekunden des entsetzen Erstaunens. „Ich will einfach wissen, wer Vater auf dem Gewissen hat.“
„Es scheint jemand zu sein, der Kampfsport betreibt“, stellte Berringer fest. „Peter Gerath wurde auf gleicher Weise ermordet wie Frank Severin.“
„Bravo! Das deutet ja wohl auf mich hin!“, rief Till Gerath und klatschte demonstrativ in die Hände. „Aber mich hatten Sie ja von Anfang an auf dem Kieker.
Weil Sie glauben, dass eine unkonventionelle Existenz von Natur aus auch immer zum Verbrechen neigt. Das ist es doch, was Sie denken, oder? Wer Regeln bricht, bricht auch Gesetze! Die typische Weltsicht eines deutschen Spießers, der am liebsten mit dem Rasenmäher alles auf gleiche Höhe schneiden will. Wer herausragt, hat Pech gehabt. So einfach ist das für Sie.“
„Am Tatort wurde ein Mann gesehen, dessen Beschreibung perfekt auf Sie passt“, wandte Berringer ein.
„Nur Pech, dass ich nicht dort war! Ich habe zum fraglichen Zeitpunkt eine Performance durchgeführt! Dafür gibt es etwa zweihundert Zeugen, die genau verfolgen konnten, wie ich Katzenurin auf eine Leinwand aufgetragen hab und anschließend Aquarellrot darin verlaufen ließ!“
Während Regina und Maja Gerath angewidert das Gesicht verzogen und Andreas Gerath ungläubig den Kopf schüttelte, zeigte sich Berringer völlig ungerührt und schlug vor: „Vielleicht geben Sie mir Namen und Anschrift des Veranstalters. Damit ich das überprüfen kann.“ Dann wandte er sich an Regina Gerath. „Wo waren Sie zum Zeitpunkt des Mordes?“
„In Haus Oberkassel. Den ganzen Abend, bis mich ein uniformierter Polizist darüber in Kenntnis setzte, was geschehen ist.“
„Natürlich waren Sie allein.“
„Ja.“
„Und Sie, Maja?“
Die Frau in Weiß starrte ihn aus aggressiv blitzenden Augen an. „Sie haben kein Recht, mich irgendwas zu fragen!“
„Nein, das nicht.“
„Na, sehen Sie!“
„Aber bis die Polizei Sie befragt, werden Sie sich etwas ausdenken müssen, das Hand und Fuß hat. Nun ...“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht sind Sie ja aus diesem Grund alle zusammengekommen.“
„Das ist unverschämt!“, schrie Regina Gerath.
„Tut mir leid“, sagte Berringer. „So bin ich nun mal. Ich will Sie auch nicht länger stören.“ Er wandte sich an Andreas. „Ich nehme an, Sie kommen von hier aus allein nach Hause, oder?“
Am nächsten Morgen verschlief Berringer. In dieser Nacht plagten ihn keine Träume, und das war schon mal ein gutes Omen für den Tag, fand er.
Das Handy klingelte und sorgte dafür, dass er vollständig wach wurde. Es war Vanessa.
„Wo bleibst du, Robert?“
„Bin ja schon unterwegs.“
„Wieder verschlafen, was?“, sagte sie schnippisch.
„Deshalb hatte ich dich ja gebeten, mich rechtzeitig zu wecken“, murrte er. Dann wollte er wissen: „Schon was rausgefunden?“
„Ich hab dir alles herausgesucht, was über Gerndorf und die damalige Pleite seiner Firma zu erfahren war. Im Internet fand sich noch einiges darüber. Es gab damals einen Prozess um Patentrechte. Aber das solltest du dir selbst ansehen.“
„Ich bin gleich da!“, versprach Berringer.
Wenig später stieg er in den Wagen und fuhr Richtung Detektei. Es hatte zu schneien begonnen, aber der Schnee blieb nicht liegen. Typisches Schmuddelwetter. Der Himmel war Grau in Grau.
Als Berringer in sein Büro trat, kaute er noch auf einem Croissant herum, das er auf dem Weg gekauft hatte. Jede Menge Ausdrucke lagen auf seinem Schreibtisch. Er überflog die zusammengestellten Artikel.
„Frank Severin war Angestellter bei Gerndorf, bevor Geraths Avlar Tex ihn abwarb“, stellte Vanessa fest. „Der jahrelange Prozess drehte sich um den Vorwurf, Severin habe ein kurz vor der Patentierung stehendes Faserprodukt gestohlen, das dann von Avlar Tex zum Patent angemeldet wurde.“
„Wie ist der Prozess ausgegangen?“, fragte Berringer.
„Offenbar ist Gerndorf irgendwann das Geld ausgegangen, um weiterzuprozessieren.
Außerdem konnte er wohl keine Beweise vorlegen, die das Gericht überzeugt hätten.
Und die Anwälte der Gegenseite werden sich auch einiges ausgedacht haben, um die Sache zu verzögern.“
„Seine Frau müsste doch mehr darüber wissen“, meinte Berringer. „Sie war in diesen Jahren noch in der Firma tätig, hat ihr Mann erwähnt.“
„Selbst wenn sie etwas wüsste, würde sie dir nichts sagen, Robert.“
„Vermutlich hast du recht.“
„Ich hab bereits angefangen, diese Internetberichte nach Namen zu durchforsten.
Namen von Mitarbeitern oder anderen Beteiligten von damals. Vielleicht kann man dem ein oder andere ein paar Informationen entlocken.“
„Zehn Jahre ist es her, dass der Prozess endgültig niedergeschlagen wurde“, stellte Berringer nach einem Blick auf die Unterlagen fest. „Im Jahr darauf ging Gerndorf pleite.“
„Innerhalb eines so langen Zeitraums ziehen natürlich viele um. Aber ein paar findet man vielleicht noch im aktuellen Krefelder Telefonbuch, dachte ich.“
„Eine gute Idee“, stimmte Berringer zu. Er blickte auf. „Wo ist eigentlich Mark?“
„Beim Amtsgericht.“
„Wieso?“
„Um Gerndorf zu finden.“
Berringer sah Vanessa Karrenbrock mit großen Augen an und runzelte dann die Stirn.
„Habe ich was mit den Ohren, oder bin ich gedanklich noch nicht in deiner Geschwindigkeitsklasse angekommen?“
„Das macht das Alter, Robert. Mit achtzehn ist die Intelligenz am höchsten, danach nimmt sie kontinuierlich ab.“
„Bei mir war das anders. Ich hab mit achtzehn 'ne Ehrenrunde auf dem Gymnasium gedreht, und ein Jahr später ging’s dann.“
„Wie von allein?“
„Na ja, nicht ganz. Aber fast.“
Vanessa schnappte sich das Telefon. „Also Mark meinte, dass so einer wie Gerndorf seine Gewohnheiten vermutlich nicht so schnell ändern wird. Auf gut Deutsch: Der hat in den letzten Jahren nirgendwo Miete gezahlt, warum sollte er jetzt damit anfangen?“
„Und bei diesem Fernholz ist er bereits lange genug nicht mehr gesehen worden, sodass man vielleicht annehmen kann, dass er bereits irgendwo anders wieder als Mietpreller auftritt und einen Prozess am Hals hat“, kombinierte Berringer.
„Genau.“
„Gute Idee“, sagte er zum zweiten Mal an diesem Morgen.
„Außerdem habe ich in einem Internetforum für Mietnomaden-Geschädigte eine Suchanfrage gestartet. Mal sehen, ob sich darauf jemand meldet.“
„Na, dann haben wir noch ein Eisen im Feuer. Ich habe mir überlegt, mich mal in diesem Modellsegelclub umzuhören. Severin und Gerndorf schienen beide diesem Hobby zu frönen.“
„Und ansonsten können wir ja immer noch alle fünfhundert Birgit Meyers im Großraum Düsseldorf, Krefeld, Duisburg abklappern. So hieß die Ex-Freundin doch, oder?“
„Ja.“ Berringer atmete tief durch. „Sind das wirklich fünfhundert?“
„Grobe Schätzung. Also allein in meinem Bekanntenkreis heißen schon zwei so.“ Berringer fuhr zum gerichtsmedizinischen Institut. Dr. Wiebke Brönstrup war mit ihren Untersuchungen bezüglich des Todes von Peter Gerath noch nicht fertig, sodass ein endgültiger Bericht noch nicht vorlag. Aber es gab bereits erste Erkenntnisse. „Es lässt sich eine große Übereinstimmung zum Mord an Frank Severin feststellen“, erläuterte sie. „Der Täter war eher etwas kleiner, wahrscheinlich Linkshänder – und diesmal haben wir DNA von ihm: Es fanden sich Hautschuppen unter den Fingernägeln des Opfers. Außerdem haben wir die Faserspur von einem Kleidungsstück, das nicht zu der Kleidung gehört, die er trug.“
„Das bedeutet, man könnte den Täter eindeutig identifizieren“, sagte Berringer hoffnungsvoll.
„Vorausgesetzt, man hat ihn.“ Sie sah ihn offen an. Im ersten Moment wollte er diesem Blick ausweichen, aber dann fühlte er sich wie hypnotisiert. „Sehen wir uns in nächster Zeit noch mal, Robert?“
„Gern.“
„Ich finde es schön, dass wir uns wiedergetroffen haben. Aber es ist manchmal nicht so ganz einfach mit dir.“
Berringer lächelte milde. „Mit dir auch nicht.“
„Weißt du, dass du mit Bettina gleich eine Familie gegründet hast, das war nicht so leicht zu verarbeiten. Ich hab mich immer gefragt, was mit mir nicht gestimmt hat und warum du der anderen gleich gibst, was ich eigentlich von dir wollte.“ Schweigen. „Wahrscheinlich rede ich jetzt eine Menge Unsinn.“ Berringer widersprach nicht.
„Mir ist was aufgefallen“, sagte er.
„So?“
„Du nennst mich nicht mehr Berry.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, das wäre so etwas wie ein Neuanfang.“
„Wenn du das so siehst.“
Vanessa meldete sich bei Berringer. Sie hatte die Adresse eines ehemaligen führenden Mitarbeiters der Gerndorf GmbH ermitteln können: Dr. Dr. Ingomar Ferenczy – ein Name, der am ganzen Niederrhein wahrscheinlich nur ein einziges Mal vorkam.
„Ferenczy hat damals im Prozess als Zeuge ausgesagt“, berichtete Vanessa. „Er hat später an der Uni Düsseldorf gelehrt, wie ich im Internet herausfinden konnte. Jetzt ist er in Pension. Er wohnt im Krefelder Stadtteil Hüls. Warte, ich geb dir die Adresse durch. Ich habe übrigens schon mal dort angerufen, um deinen Besuch anzukündigen.
Ich hoffe, das war dir recht“
Ingomar Ferenczy bewohnte einen schmucken Bungalow mit Flachdach. Seine Frau führte Berringer ins Wohnzimmer.
„Mein Mann kommt gleich. Er ist im Keller und bastelt an seinem Modellsegelboot.“
„Scheint hier in der Gegend ein weit verbreitetes Hobby zu sein“, stellte Berringer fest.
„Früher hat er sogar an Regatten teilgenommen. Aber heute tut er sich diesen Stress nicht mehr an und betreibt das nur noch zu seinem Vergnügen. Ein Sport für erwachsene Kindsköpfe, wenn Sie mich fragen.“
Frau Ferenczy servierte Berringer einen Kaffee, der so dünn war, dass man das Blümchenmuster im Inneren der Tasse sehen konnte. Berringer war jedoch höflich und trank ihn trotzdem. Schließlich erschien Ingomar Ferenczy, ein stattlicher Mann von Mitte sechzig. Das Haar war schlohweiß, aber noch immer voll, der Bart grau durchwirkt, sein Händedruck war sehr kräftig.
„Sie sind also ein richtiger Detektiv?“
„Ja.“
„Ihre Mitarbeiterin hat bereits angerufen. Eine patente Frau, wie mir scheint.“
„Ich bin zufrieden mit ihr.“
„Sie wollen etwas über die Gerndorf-Pleite erfahren, war das richtig?“
„Ja. Und über die Hintergründe des Patentstreits, der offenbar damit zu tun hatte.“ Ferenczy machte eine wegwerfende Handbewegung. „Der Gerndorf war schon eine tragische Figur. Ich habe noch lange Kontakt zu ihm gehalten, aber irgendwann ist das dann abgerissen. Heute soll er ein ziemlich wunderlicher Kauz sein, der so ziemlich alle sozialen Bindungen hinter sich abgebrochen hat und in seiner eigenen Welt lebt. Aber das weiß ich nur vom Hörensagen. Aus irgendeinem Grund wollte er irgendwann nichts mehr mit mir zu tun haben.“ Er zuckte die breiten Schultern. „Mag der Teufel wissen warum, ich habe ihm nichts getan und ihm auch keine Patente geklaut.“
„Wie Severin.“
Ferenczys Gesicht wurde ernst. „Ja, wie Severin. Wir waren damals eine junge, aufstrebende Firma. Ich war der Älteste im Team, die anderen deutlich jünger. Das ist so zwanzig Jahre her. Es ging steil bergauf. Die ersten Produkte, die wir auf den Markt brachten, waren Renner. Für die damalige Zeit richtige Hightech-Fasern –
heute natürlich Abfall. Der Fortschritt ist rasend geworden, kann ich Ihnen sagen.
Gerade auf diesem Gebiet. Wenn Sie da nicht Schritt halten und ständig mit neuen Innovationen auf den Markt kommt, dann gehen Sie unter.“
„Aber mit der Gerndorf GmbH ist noch etwas anderes schiefgelaufen, nicht wahr?“ Ferenczy nickte. „Severin war der kreative Kopf des Teams. Er hat die Neuerungen vorangetrieben wie kein anderer. Wir haben oft beim Modellsegeln am Elfrather See beieinander gestanden, unsere Boote gelenkt und dabei Ideen ausgetauscht. Sie verstehen, wie ich das meine: Man wirft sich gegenseitig die Bälle zu, und plötzlich ist was Großartiges geboren. So war das damals. Dann wurde Severin abgeworben.
Wir hatten gerade ein Projekt beinahe bis zur Patentreife gebracht, aber dann brachte es Avlar Tex heraus, Severins neuer Brötchengeber. Das war natürlich sehr verdächtig, aber die Gerichte sahen das anders. Gerndorf ging mit Pauken und Trompeten unter.“
„Ist daran wirklich die ganze Firma zugrunde gegangen? Warum hat man nicht etwas Neues entwickelt?“
„Wir standen vor dem Durchbruch. Die Gerndorf GmbH wäre für Jahre Marktführer in einem ganz speziellen Segment gewesen. Das konnte Matthias einfach nicht verwinden.“
„Wahrscheinlich hätte er sich besser mit den Gegebenheiten abgefunden“, mischte sich Frau Ferenczy ein. „Dann wäre vielleicht nicht alles den Bach runtergegangen.
Aber der Gerndorf, das ist einer, der sich schlecht trennen kann.“
„Ja, nachdem er Insolvenz anmelden musste, hat ihn seine Frau verlassen. Danach hat er noch ein paar Jahre in einer Seidenstickerei gearbeitet, fragen Sie mich nicht, was genau. Aber es ist nicht so einfach, sich wieder unterzuordnen, wenn man es gewöhnt ist, der Chef zu sein.“
„Das kann ich gut nachvollziehen“, meinte Berringer.
„Er ist dann immer seltsamer geworden. Ich habe ihn mal in einer völlig vermüllten Wohnung besucht. Da lebte er mit einer Frau zusammen, die wohl auch nicht die richtige Partnerin für ihn war.“
„Ich glaube, seine Allergie wurde dann auch sehr schlimm“, ergänzte seine Frau. Sie sah ihren Gatten fragend an. „Hat er nicht mit dem Modellsegeln und der Jagd aufhören müssen, weil er sich mit seiner Pollenallergie kaum noch vor die Tür wagen konnte?“
„Das stimmt“, bestätigte Ingomar Ferenczy.
„Matthias Gerndorf war Jäger?“, hakte Berringer nach, der sofort hellhörig geworden war.
„Als ich ihn in dieser vermüllten Wohnung traf, da war das Einzige, worum er sich liebevoll gekümmert hatte, seine Jagdwaffen. Die standen blitzblank geputzt im Gewehrschrank. Alle tipptopp.“
„Wissen Sie, ob er Links- oder Rechtshänder war?“
„Linkshänder, da bin ich mir ganz sicher. Einmal hatte er sich bei einem Karate-Bruchtest die Hand gebrochen und konnte sechs Wochen nicht schreiben, daran erinnere ich mich noch. Er wollte immer, dass ich mal mit ihm zum Training gehe, aber das war nichts für mich.“
„Ich war auch dagegen“, erklärte seine Frau. „Das ist ja auch viel zu gefährlich. Mein Mann war damals schon nicht mehr der Jüngste.“
„Ja, und dann diese schrillen Schreie, die gingen mir auf die Nerven.“
„Wo sich Matthias Gerndorf aufhält, wissen Sie nicht zufällig?“
„Nein, tut mir leid.“
Berringer fuhr zum Krefelder Polizeipräsidium und suchte Björn Dietrich in dessen Büro auf.
„Wir haben eine neue Theorie, was den Mord im Königpalast betrifft, Berry!“, begrüßte ihn der Kommissar.
„So?“
„Jürgen Rüger, der Bodyguard von SAFE & SECURE, hat sich noch mal gemeldet.
In seiner ersten Aussage uns gegenüber hat er gesagt, dass zuletzt ein junger Mann mit gelockten Haaren den Toilettenbereich verlassen hätte.“
„Das hatte er mir auch erzählt.“
„Aber er meint sich jetzt daran zu erinnern, dass danach doch noch jemand von dort gekommen ist.“
„Und?“
„Jemand, den er gar nicht weiter beachtet hat. Ein Mann im weißen Kittel und mit Gummihandschuhen.“
„Ein Toilettenmann. Gibt’s ja auch ab und zu.“
„Ja, aber auf diesen Toiletten und an diesem Abend war ausschließlich eine Frau zuständig.“ Er grinste Berringer an. „Du hast sie ja, glaub ich, auch kennengelernt.“ Dann wurde er wieder ernst. „Außerdem hat jemand eine Kittelgarnitur entwendet.“
„Gibt es eine Beschreibung des Mannes?“
„Es gibt inzwischen sogar ein Phantombild.“ Björn Dietrich zog an seiner Zigarette, drückte sie im Aschenbecher aus und holte das Phantombild aus dem Druckerfach, um es Berringer vorzulegen.
Dieser glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
„Gerndorf!“, stieß er hervor.
Dietrich starrte ihn an. „Bist du dir sicher?“
Berringer nickte heftig. „Aber ja.“
„Das ist 'n Ding, oder?“
„Von meiner Seite gibt es übrigens auch ein paar Neuigkeiten“, sagte Berringer, nachdem er diese Neuigkeit verwunden hatte.
„Da bin ich aber mal gespannt!“
Doch in diesem Augenblick klingelte Berringers Handy, und so kam der Detektiv zunächst einmal gar nicht dazu, von den bisherigen Ermittlungsergebnissen der Detektei zu berichten.
Vanessa war am Apparat. „Es hat sich jemand im Forum der Mietnomadengeschädigten gemeldet.“
„Die Adresse!“, forderte Berringer ohne Umschweife.
Eine dreiviertel Stunde später hielten mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei vor einem dreistöckigen Mietshaus in Krefeld-Uerdingen. Kurz darauf trafen auch Dietrich und Kleppke mit einem zivilen Dienstwagen ein. Berringers Mitsubishi war der letzte.
Die Polizisten legten Kevlarwesten an. Dietrich reichte auch Berringer eine. „Hier –
ist besser so!“
„Ich weiß.“
Die Einsatzkräfte sicherten die Ausgänge des Hauses. Dietrich und eine Gruppe uniformierter Beamte liefen die Treppe hinauf, und Berringer folgte ihnen.
Wenig später nahmen sie links und rechts von Gerndorfs Wohnungstür Aufstellung, für den Fall, dass der Gesuchte bewaffnet war und durch das Türblatt schießen würde.
Dietrich klingelte. „Herr Gerndorf, sind Sie zu Hause?“ Zunächst erfolgte keine Reaktion. Dietrich klingelte ein weiteres Mal. „Hier ist die Kriminalpolizei. Machen Sie die Tür auf!“
Ein Schuss krachte, ein zweiter folgte unmittelbar danach. Die Projektile schlugen durch die Holztür und rissen zwei daumengroße Löcher. Auf der anderen Seite des Flurs blieben sie im Mauerwerk stecken.
„Zugriff!“, befahl Dietrich und riss seine Dienstpistole hervor. Mit einem Tritt wurde die Tür geöffnet. Der Polizist, der sie aufgebrochen hatte, huschte blitzschnell zur Seite. Die anderen Beamten blieben links und rechts der Tür in Deckung, spähten vorsichtig um den Türstock und zielten mit ihren Pistolen in die Wohnung.
Matthias Gerndorf stand da, ein Jagdgewehr mit Zielfernrohr in den Händen. Als er sah, dass mehrere Pistolenmündungen auf ihn gerichtet waren, trat er erschrocken ein, zwei Schritte zurück und hob dabei ruckartig den Lauf des Gewehrs, sodass die Waffe nicht mehr zur aufgebrochenen Tür wies.
„Waffe weg und Hände hoch!“, rief einer der Polizisten.
Gerndorf zögerte.
Da waren die Beamten bereits bei ihm und entwanden ihm das Gewehr. Handschellen klickten. Gerndorf ließ es widerstandslos geschehen.
Berringer betrat das Ein-Zimmer-Apartment und sah sich um, während Kleppke dem Gefangenen erklärte, dass er verhaftet sei.
„Es passt alles zusammen“, sagte Björn Dietrich, als Berringer ihn ein paar Tage später in seinem verrauchten Büro besuchte. „Die DNA-Spuren unter Geraths Fingernägeln stammten von Matthias Gerndorf. Und die Projektile, mit denen zuvor auf Gerath und seine Pferde geschossen worden war, wurden mit Gerndorfs Jagdgewehr abgefeuert.“
„Dann sind diese Leute, denen Andreas Gerath 500.000 Euro schuldete, nur Trittbrettfahrer gewesen.“
„In gewisser Weise ja. Aber es war Commanecis Bande natürlich recht, ein Mittel in der Hand zu haben, mit dem man Gerath senior eventuell trotz dessen Widerspenstigkeit unter die Knute zwingen konnte. Und das Rollkommando auf der BOOT war auch von Commaneci angeheuert worden.“
„Was ist mit Severin? Wird man diesen Mord auch mit Gerndorf in Verbindung bringen können?“
„Wir haben Gerndorfs Bild veröffentlicht, und inzwischen haben wir mehrere Zeugen gefunden, die ihn um die Tatzeit herum am Elfrather See gesehen haben. Er hat seine Opfer sehr genau beobachtet, verfolgte sie regelrecht und blieb dabei gekonnt im Hintergrund. Übrigens ist Gerndorf geständig. Ein psychologisches Gutachten ist bereits in Auftrag gegeben. In den Vernehmungen hat er immer wieder über seinen Hass gegen Peter Gerath und Frank Severin gesprochen. Er hat sich regelrecht in diese Emotionen hineingesteigert und langsam aber sicher den Bezug zur Realität verloren. Er lebte in seiner eigenen Welt.“
Berringer nickte. „Und in dieser Welt ist er der Vollstrecker jener, die die Justiz nicht verurteilen konnte.“
„In der Realität ist er nur ein Mörder.“
Dietrich zündete sich eine frische Zigarette an. Die dritte schon, während sie miteinander sprachen.
Berringer beugte sich etwas nach vorn. „Was ist mit Commaneci und seinen Leuten?
Hat da jemand ausgesagt?“
„Nein. Bis auf den Kerl, den du auf der BOOT geschnappt hast, schweigt die Bande wie ein Friedhof zur Geisterstunde.“
„Gibt es irgendwelche Hinweise auf die Eminenz?“
„Nein. Und ich würde mir in dieser Hinsicht auch nicht mehr allzu viele Hoffnungen machen, Berry.“
„Tut mir leid, diese Akte werde ich niemals schließen“, erklärte Berringer.
„Niemals!“
ENDE
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ALFRED BEKKER