Читать книгу Private Ermittler - 2000 Seiten, 16 Krimis in einer Sammlung - Alfred Bekker - Страница 8
ALFRED BEKKER Eine Kugel für Lorant
ОглавлениеEin Krimi von der Waterkant
Sämtliche Personen dieses Romans und manche Örtlichkeiten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zwischen im Roman vorkommenden und tatsächlich existierenden Personen sind ausdrücklich nicht beabsichtigt, Bezüge zu realen Orten jedoch gewollt.
A.B.
1.
Gretus Sluiter zuckte zusammen. Für einen kurzen Moment glaubte er, in der Finsternis eine schattenhafte Gestalt hinter dem Töpferladen hervortauchen zu sehen. Aber Sluiter war sich nicht sicher.
Jetzt mach dich nicht verrückt, da war nichts!, sagte er sich.
Er atmete tief durch und strich sich über das schüttere graue Haar.
Dann gähnte er, wandte sich in Richtung des 'Großen Meeres'. Nebel kroch über das spiegelglatte Wasser dieses etwa auf halbem Weg zwischen Emden und Aurich gelegenen Binnensees. Es war dunkel und kalt. Ein sternklarer, tiefer Himmel wölbte sich über das Wasser.
Gretus Sluiter beugte sich nieder, um die Vertäuung seines Jollenkreuzers zu überprüfen. Alles in Ordnung.
Vor einer Viertelstunde hatte ihn jemand zu Hause angerufen und behauptet, dass etwas mit dem Boot nicht stimmte.
Der Anrufer hatte sich als Meerwart ausgegeben.
Sluiter kannte den Meerwart des Großen Meeres nur flüchtig. Er hieß Benno Folkerts und betrieb neben seiner landschaftspflegerischen Tätigkeit auch noch das sogenannte 'Meerwarthaus', ein direkt am Wasser gelegenes Restaurant.
Sluiter versuchte sich an die Stimme des Anrufers zu erinnern, ihren Klang in sein Gedächtnis zurückzurufen.
Aber letztlich kannte er Folkerts einfach nicht gut genug, um hunderprozentig sicher sein zu können, dass der Meerwart wirklich der Anrufer gewesen war.
Soon Schiet!, ging es Sluiter ärgerlich durch den Kopf. Da hat dich wohl einer auf den Arm genommen...
Sluiter atmete tief durch.
Er stieg auf das Boot, wollte jetzt ganz sicher gehen und überprüfte auch das Schloss der Kajüte. War alles dicht.
Drei Wochen bis Ostern. Sluiter war immer einer der Ersten im Jahr, die ihr Boot in den Hafen legten. Er wollte die Saison so weit wie möglich auskosten. Und jetzt, da er sich das neue Boot zugelegt hatte, galt das ganz besonders.
Sluiter ließ den Blick noch einmal über das Hafenbecken schweifen, in dessen glatter Wasseroberfläche sich die Sterne spiegelten. In der Ferne waren die Lichter von Emden zu sehen. Im nahen Schilf quakten die Frösche. Dunkle Schatten tanzten dort.
Sluiter blickte auf die Leuchtanzeige seiner Armbanduhr. Vielleicht konnte er im nahen Meerwarthaus noch ein Bier trinken, bevor er nach Hause fuhr. Und wenn nicht dort, dann in der zwanzig Meter entfernt gelegenen Konkurrenz mit der Bezeichnung 'Landhaus'.
Er stieg wieder an Land.
Ein übler Scherz, das war alles, dachte er.
Sluiter ging an der Uferbefestigung entlang, bog dann in Richtung des Töpferladens ab. Früher war die Hafenbucht eine Badeanstalt gewesen, deren Betrieb der Gemeinde wohl letztendlich zu teuer geworden war. Jedenfalls gab es immer noch das Gebäude mit den Toiletten und Umkleidekabinen. Ein Teil davon beherbergte nun einen Töpferladen. Um den Rest bemühte sich der Yacht-Club seit zehn Jahren vergebens. Sluiter wusste als Schriftführer davon ein Lied zu singen. Von der Gemeinde gab es zu dieser Sache immer dieselbe Auskunft: Es existierten Pläne, die Badeanstalt wieder einzurichten. Deshalb wolle man das Gebäude nicht veräußern.
Diese angeblichen Pläne würden wohl auf ewig Pläne bleiben, denn ihre Verwirklichung hätte vorausgesetzt, dass die dem Gebäude vorgelagerte, ziemlich sumpfige und nach jedem Regenguss knöchelhoch unter Wasser stehende Wiese zu einer richtigen Liegewiese hätte saniert werden müssen. Und dazu fehlte einfach das Geld.
Jetzt war die Bucht aufgeteilt zwischen dem Yacht-Club und dem Seglerverein, zwei Institutionen, die im Grunde dasselbe betrieben: Liegeplätze für Segelboote verwalten und zuteilen.
Der Seglerverein hatte darauf bestanden, dass sein Teil der Hafenbucht abgezäunt wurde und neuerdings wollte er auch Gebühren für die Benutzung der Slippanlage erheben, die in seinem Teil des Beckens lag.
Aber so ist das eben, dachte Sluiter. Die Natur ist knapp, und das bedeutet, dass um jeden Quadratzentimeter verbissen gekämpft wird: Segler, Angler, Surfer, Kanufahrer, Naturschützer... Jede Gruppe steckte ihre Claims ab und bewachte sie eifersüchtig.
Amüsiert erinnerte sich Sluiter an den Antrag eines Kanu fahrenden Ratsherren, der allen Ernstes gefordert hatte, eine Geschwindigkeitsbegrenzung für Segler und Surfer einzuführen.
Sluiter ging mit Storchenschritten über die tiefe, sumpfige Wiese, um dann hinter dem Töpferladen wieder auf einen festen Weg zu gelangen. Die Nässe machte Sluiter nichts. Er trug Gummi-Stiefel.
Sluiter erreichte die gepflasterte Fläche um den Töpferladen herum.
Er erstarrte.
Sein Blick fixierte einen Punkt an der rotgeklinkerten Mauerecke. Jetzt, im fahlen Mondlicht, wirkte das Mauerwerk fast grau.
Da war doch etwas...
Oder jemand!
Im Sommer gab es manchmal Probleme mit betrunkenen Jugendlichen, die über die Boote turnten. Aber im Moment hätten die sich nur die teuren Nike-Turnschuhe versaut.
Sluiter blieb stehen.
Er zögerte.
Der unermüdliche Meerwart, der hier nach dem Rechten sah? Oder einer der beiden ehrenamtlichen Hafenmeister, die die Bootclubs bestellt hatten?
Wohl kaum, dachte Sluiter.
"Hallo?", fragte er laut. "Ist da jemand?"
Nur ein paar Blesshühner antworteten ihm mit ihren charakteristischen Lauten.
Du siehst schon Gespenster!, ging es ihm dann durch den Kopf. Er trat vor.
Eine nur als schattenhafter Umriss sichtbare Gestalt kam hinter der Mauerecke hervor. Dunkel hob sie sich ab.
Sluiter stutzte.
"Moin!", sagte er, weil ihm nichts besseres einfiel, und er andererseits das Gefühl hatte, mit seinem unbekannten Gegenüber irgendwie in Kontakt treten zu müssen.
Sluiter blinzelte.
Der Unbekannte trat näher. Er trug Gummistiefel, die bei jedem Schritt watschende Geräusche machten.
Sluiter selbst sorgte mit seinem Schatten dafür, dass das Mondlicht kaum etwas von dem Gesicht des Unbekannten beleuchtete. Lediglich das hervorspringende Kinn war deutlicher zu sehen. In der Mitte befand sich ein Grübchen.
Der Mann blieb stehen.
Er hielt etwas Längliches in der Hand. Eine Tasche hing ihm über der Schulter.
Was will der Kerl hier?, dachte Sluiter. Um diese Zeit! Angeln ohne Angelschein? Soll mir egal sein, Hauptsache, er macht sich nicht an den Booten zu schaffen.
Man konnte gar nicht misstrauisch genug sein, was das anbetraf, so fand Sluiter.
Ein Segelboot war für nicht wenige Leute einfach ein Anlass, ihren Neidgefühlen hemmungslos nachzugeben. Einer, der sich ein Boot leisten konnte, war reich, so das Vorurteil. Niemand beachtete, dass der Bootsbesitzer vielleicht einen schäbigen Gebrauchtwagen fuhr, um sich sein Hobby leisten zu können.
Sluiter kam der Gedanke, dass es sich vielleicht um den Anrufer handeln konnte...
"Schöner Abend heute, was?" meinte Sluiter.
Er erhielt keine Antwort.
Ein unbehagliches Gefühl machte sich in Sluiters Magengegend breit.
Er trat einen Schritt zur Seite, um an dem Unbekannten vorbeigehen zu können. Doch dieser machte die Bewegung mit, versperrte ihm nun erneut den Weg, und Sluiter spürte plötzlich den Puls bis zum Hals schlagen.
Mit dem Blutdruck hatte er schon seit Jahren seine Probleme gehabt. Meiden Sie Stress, hatte er die Worte seines Arztes im Ohr. Treten Sie kürzer, suchen Sie sich ein beschauliches Hobby....
Hatte er getan.
Aber gegen die Art von Stress, die die Anwesenheit dieses Unbekannten verursachte, gab es kein Mittel.
"Was wollen Sie?", fragte Sluiter diesen nun. Jetzt erkannte er, dass der längliche Gegenstand in den Händen seines Gegenübers keine Angel war, sondern ein massives Ruderholz.
"Gretus Sluiter?", vergewisserte sich der Unbekannte.
Eiskalt klang die Stimme.
Ein Schauder überlief Sluiter.
"Sie haben mich angerufen, oder?", kam es zwischen seinen Lippen hindurch. Sluiter bekam dabei kaum die Zähne auseinander.
Er zermarterte sich das Hirn über eine einzige bohrende Frage: Hatte er diese Stimme irgendwann schon einmal gehört?
"Lassen Sie mich vorbei!", forderte Sluiter dann.
Ein leichtes Vibrieren klang in seinen Worten mit. Ein Vibrieren, das seine Angst verriet.
"Nein."
Die Erwiderung klang wie ein Urteil.
Der Unbekannte fasste das Ruderholz mit beiden Händen und schlug zu.
Sluiter wich zur Seite.
Der Schlag traf ihn schmerzhaft an der Schulter. Ein weiterer Hieb folgte unmittelbar darauf und traf ihn am Kopf.
Sluiter stöhnte auf, sank auf die Knie. Ihm war schwindelig. Er fasste sich an den Kopf. Blut rann ihm zwischen den Fingern hindurch.
Undeutlich sah er den Unbekannten noch einmal ausholen.
Das Ruderholz traf ihn voller Wucht an der Stirn.
Mit einem platschenden Geräusch fiel Sluiter in das unter Wasser stehende Gras.
Dort blieb er reglos und in einer eigenartig verrenkten Haltung liegen. In seinen starr gewordenen Augen spiegelte sich das Mondlicht.
Der Mörder legte das Ruderholz auf den sumpfigen Boden. Die Tasche, die ihm über der Schulter hing, schob er zurück. Dann fasste er Gretus Sluiter bei den Armen und zog ihn über die Liegewiese. Einmal setzte er zwischendurch ab, ehe er sich den Rest der Strecke vornahm. Schließlich erreichte er die Stelle, an der Sluiters Boot lag.
Die Leiche legte er auf der etwa einen Meter fünfzig breiten befestigten Zone direkt am Ufer ab. Seine Tasche ebenfalls. Er löste die Vertäuung des Bootes, um es näher ans Ufer heranzuziehen. Er machte es erneut fest. Die Außenhaut schabte jetzt an der scharfen Uferkante. Aber wenn er die Leiche an Bord bringen wollte, konnte er keinen weiten Spagat-Schritt auf das Boot machen.
Der Mörder lud sich Sluiter über den Rücken und stieß ihn dann mit aller Kraft ins Boot hinein. Hart schlug Sluiters Kopf auf dem Boden auf. Blut sickerte heraus, lief über den Polyester-Boden. Ein Fuß hatte sich im Netz der Reling verfangen.
Der Mörder atmete tief durch.
Etwas fehlt noch!, dachte er.
Er wandte sich seiner Tasche zu, holte eine Boßel-Kugel aus Hartholz daraus hervor und warf sie Sluiter hinterher. Sie rollte durch die entstandene Blutlache.
Dann löste der Mörder die Taue und gab dem Jollenkreuzer einen Stoß mit dem Fuß.
––––––––
2.
Lorant tickte mit den Fingern auf dem Lenkrad seines Mitsubishi Carisma herum und folgte dabei dem Takt der swingenden Jazzmusik, die aus den Lautsprechern der Stereoanlage kam. 'Cantaloupe Island' von Herbie Hancock. Nicht in der Rap-Fassung aus den Neunzigern, die lange als Titelmelodie einer Talkshow gedient hatte, sondern das Original des Meisters selbst. Lorant kannte das Stück in- und auswendig. Seine Finger bewegten sich wie auf einem Piano. In Gedanken spielte er es mit. Der Jazz war Lorants große Leidenschaft. Er liebte diese freieste aller Musikformen, die zum Großteil aus der Spontaneität des Augenblicks heraus entstand. Kein Jazz-Stück wurde jemals zweimal auf dieselbe Art und Weise gespielt. Lorant hatte selbst einmal davon geträumt, als Jazzmusiker Karriere zu machen. Immerhin war er ein passabler Pianist geworden. Der Höhepunkt seiner Karriere war ein Auftritt in Kölner 'Subway' gewesen. Auf zwei CDs, die unter einem kleinen Label herausgekommen waren, hatte Lorant mitgespielt. Aber zum Glück hatte Lorant früh genug erkannt, dass sein Talent wohl nicht dazu ausreichte, um in die Fußstapfen von Miles Davis, John Coltrane oder Thelonius Monk zu treten und Jazzgeschichte zu schreiben. Es reichte allenfalls, um sich hin und wieder als Barpianist etwas dazu zu verdienen. Und so war Lorant den sicheren Weg gegangen.
Den vermeintlich sicheren Weg.
Zwanzig Jahre Polizeidienst hatte er hinter sich.
Schließlich hatte er frustriert den Dienst quittiert. Immer wieder hatte er mit ansehen müssen, wie leichtfertig in Mordfällen ermittelt wurde. Er hatte das auf die Dauer nicht ertragen können. Und als schließlich seine Frau unter mysteriösen Umständen verschwunden war, Umständen, die ein Tötungsdelikt sehr nahe legten, hatte dies das Fass zum Überlaufen gebracht. Er hatte den Dienst quittiert, sich als Barpianist durchgeschlagen und sich schließlich als Privatdetektiv selbstständig gemacht. Sein Spezialgebiet waren Tötungsdelikte, bei denen die Justiz längst aufgegeben hatte. Oder solche, die zunächst gar nicht als das erkannt wurden, was sie in Wahrheit waren: Morde.
Was damals mit seiner Frau geschehen war, hatte Lorant trotz aller Bemühungen niemals vollständig herausfinden können. Ein ungelöster Fall, der an seiner Seele nagte, wann immer er daran dachte. Die Bilder würden sich wohl niemals aus seinem Gedächtnis löschen lassen. Das sonnendurchflutete Hotelzimmer, die Blutflecken auf dem Boden.
Für einen kurzen Moment kniff Lorant die Augen zu.
Es hat keinen Sinn!, ging es ihm durch den Kopf. Es hat einfach keinen Sinn!
Das Zusammenkneifen der Augen war eine Art Ritual, um diese Bilder aus seinem Bewusstsein zu verbannen. Zumindest zeitweise. Tagsüber klappte das auch ganz gut. In der Nacht war das etwas anderes. Vor Albträumen gab es keinen Schutz. Das hatte Lorant in den letzten Jahren oft genug erfahren müssen.
Zwar waren sie in den letzten Jahren weniger geworden, aber sie hatten nie ganz aufgehört.
Lorant nahm die Autobahnabfahrt Emden-Nord. Sechs Stunden Fahrt lagen hinter ihm, eine davon hatte er im Stau verbracht, gleich nachdem er Köln verlassen hatte.
Jetzt musste er nur noch die Adresse seiner Auftraggeberin finden, die in Forlitz-Blaukirchen, einem kleinen Dorf in Südbrookmerland, wohnte.
Lorant nahm die B270 Richtung Aurich.
Das Land war so platt, wie man es immer behauptete. Man konnte bis zum Horizont sehen. Die Wolken türmten sich zu eigenartigen Gebilden auf. Lorant hatte den Eindruck von Weite. Fast so, als ob man sich an der Küste befand und auf das offene Meer blickte.
Auf der rechten Seite befanden sich in regelmäßigen Abständen martialisch anmutende Warnschilder.
Eines zeigte einen Sensenmann mit grinsendem Totenschädel.
"Ich fahre mit!", stand darunter.
Ein anderes zeigte eine Reihe von nebeneinandersitzenden Geistern. Darunter stand: Tempo 140 - wir warten schon!
Offenbar wurde auf dieser, von Bäumen umsäumten Allee viel zu schnell gefahren. Hier und da machten verwitterte Holzkreuze auf die Opfer der letzten Jahre aufmerksam. Lorant fuhr vorschriftsmäßig siebzig. Ein BMW A4 drängelte von hinten, betätigte die Lichthupe und setzte schließlich ohne Rücksicht auf einen aus Auricher Richtung heranbrausenden Truck zum Überholmanöver an.
Lorants Adrenalinspiegel stieg. Er bremste ab. Der A4 scherte vor ihm ein. Der Truck donnerte vorbei, betätigte dabei seine Hupe, die den Klang einer Fußballtröte hatte. "Ich heiße Manni", stand vorne auf der Truckhaube. Damit war wohl der Fahrer und nicht der Motor gemeint. Aber offenbar hatten weder Manni noch der BMW-Fahrer sich je die Plakate mit Verstand angesehen. Und das, obwohl sie vermutlich häufiger hier vorbeifuhren, denn beide hatten Auricher Kennzeichen.
Lorant seufzte hörbar.
Shock in the morning before breakfast!, erinnerte er sich an den Ausspruchs seines Englischlehrers, der das immer gesagt hatte, wenn er jemand ohne Hausaufgaben erwischte. Lorant hatte das ziemlich oft zu hören bekommen.
Immerhin waren jetzt seine grüblerischen Gedanken wirkungsvoll davongejagt. Lorant war wieder ganz im Hier und Jetzt. Trotzdem nahm er die Baseballkappe vom Kopf, weil er anfing zu schwitzen. Seit die Haare weniger wurden, ging er ohne das Ding nicht mehr in die Sonne.
Auf der linken Seite fiel Lorant eine Kirche auf.
Kurz nach dem Ortsschild Suurhusen.
Lorant stutzte.
Der Kirchturm hatte eine so beträchtliche Neigung, dass man eigentlich erwarten konnte, ihn innerhalb weniger Augenblicke niederstürzen zu sehen.
Lorant fuhr etwas langsamer.
Er verengte die Augen, nahm die Sonnenbrille ab.
So was gibt's doch nicht!, dachte er. Der Turm stellte ein Gebilde dar, das allen bekannten Gesetzen der Schwerkraft irgendwie völlig zu widersprechen schien. Und doch stand er. Wie der schiefe Turm von Pisa.
Lorant schüttelte leicht den Kopf.
War sicher kein besonders angenehmes Gefühl, in unmittelbarer Umgebung dieser Kirche zu wohnen, immer in der Gefahr, dass der Turm niederging.
Die Villen, die direkt nebenan standen, waren schmuck herausgeputzt. Offenbar rechnete keiner der Besitzer damit, sein Anwesen in absehbarer Zeit auf Grund eines niederstürzenden Kirchturms in wesentlichen Teilen renovieren zu müssen.
Lorant fuhr weiter, beschleunigte wieder etwas. Fast auf hundert. Den wartenden Geiern zum Trotz.
Bevor ich den Fall hier erledigt habe, werde ich auf jeden Fall ein Foto von dieser Kirche machen!, ging es ihm durch den Kopf. Wer weiß schon, wann ich das nächste Mal hier her komme!
Lorant fuhr an der Bedekaspeler Marsch vorbei.
Schließlich erreichte er ein Hinweisschild, auf dem "Großes Meer" stand.
Auf der Wegbeschreibung, die ihm vorlag, war allerdings nicht angegeben, in welche Richtung die Abzweigung mit diesem Hinweis ging.
Lorant wunderte sich darüber, dass das Hinweisschild nach rechts zeigte. Es widersprach seinem Raumgefühl. Ganz grob gesehen hatte er Emden im Süden und Aurich im Norden. Gleich, in welche Richtung man fuhr, man kam in Ostfriesland immer irgendwann zur Küste, es sei denn man fuhr nach Süden oder Osten.
Diese Abzweigung ging Richtung Osten.
Lorant nahm sie trotzdem.
Meine Güte, dass die hier schon auf die Küste des Jadebusens bei Wilhelmshaven hinwiesen! Das wunderte den Detektiv doch sehr.
Die Straße war schmal, hatte einen separaten Radweg und zog sich wie ein Strich durch die Landschaft. Zu beiden Seiten gab es die charakteristischen Entwässerungsgräben. Hin und wieder stand ein einsames Haus mitten in der Landschaft.
Dann erreichte er ein Ferienhausgebiet.
Tempo 30-Zone.
Lorant erinnerte sich an das Plakat mit den wartenden Geiern und hielt sich dran.
Eine sehr schmale Brücke führte über einen Kanal, dahinter befanden sich reetgedeckte Häuser und ein Parkplatz. Weiter entfernt waren die Campingwagen eines nahen Zeltplatzes und das offene Wasser zu sehen.
Lorant fuhr auf den Parkplatz, stieg aus.
Sein Hintern war ihm von der stundenlangen Sitzerei fast eingeschlafen. Der leichte Wind, der vom Wasser her wehte, wirkte erfrischend. Die beiden reetgedeckten Häuser sahen aus wie Gaststätten. Meewarthaus nannte sich das eine, Landhaus das andere. Konkurrenz belebt das Geschäft, dachte Lorant. Er schlug die Wagentür zu, ging in Richtung Ufer. Segelboote lagen in einer Hafenbucht. Man konnte Tretboote ausleihen. Einige Surfer waren auf dem Wasser. Ihre Segel wirkten wie Schmetterlingsflügel.
Es war ein Tag mit klarer Sicht.
Und so konnte man das andere Ufer ziemlich gut sehen.
Dies war nur ein kleiner Binnensee, schätzungsweise fünf Quadratkilometer groß.
Wieso müssen die hier nur so übertreiben, wo sie doch die echte Küste vor der Haustür haben!, ging es Lorant kopfschüttelnd durch den Kopf.
Er ließ den Blick zwischen Landhaus und Meerwarthaus schweifen und entschied sich dann für das Meerwarthaus.
Bevor er zu seiner Auftraggeberin ging, beabsichtigte er noch etwas essen und eine Tasse Kaffee trinken. Schließlich wollte er einen einigermaßen wachen Eindruck machen.
Er ging zum Meerwarthaus, passierte den Eingang.
Ein großer, breitschultriger Mann mit kantigem Gesicht stand hinter dem Tresen. Das Kinn war ziemlich spitz, der untere Teil seines Gesichts hatte die Form eines Vogel-V.
"Moin", sagte der Mann hinter dem Tresen.
"Guten Tag", erwiderte Lorant und offenbarte sich dadurch gleich schon als Auswärtigen. "Eine Tasse Kaffee hätte ich gerne und irgendwas zu essen."
"Hier ist die Karte, junger Mann!"
Der Mann hinter dem Tresen reichte Lorant ein in Kunstleder gebundenes Exemplar. Junger Mann, hatte er gesagt. Lorant versuchte sich daran zu erinnern, wann zuletzt das jemand zu ihm gesagt hatte. Musste schon ziemlich lange her sein. Der gönnerhafte Unterton darin missfiel Lorant. Außerdem war der Mann hinter dem Tresen vermutlich sogar jünger als Lorant. Zumindest, wenn man nach dem Anteil der grauen Haare ging.
Lorant entdeckte eine Urkunde an der Wand. "Hiermit wird Herr Benno Folkerts zum Meerwart des Großen Meeres bestellt", stand dort unter anderem zu lesen.
Lorant deutete mit dem Finger darauf.
"Sind Sie das?"
"Jau, dat bin ik!", bestätigte der Mann hinter dem Tresen. Er grinste dabei.
"Wieso nennt sich dieser kleine See eigentlich Großes Meer? Ist doch ein bisschen übertrieben? Da könnte sich ja jede Talsperre im Sauerland mit größerem Recht Meer nennen."
Folkerts lachte kurz auf.
"Sie sind nicht von hier, was?"
"Nein."
"Junger Mann, dann hören Sie mir mal gut zu."
"Bin gespannt."
"Hier in Ostfriesland heißt ein geschlossenes stehendes Gewässer Meer. Aber das, was die Auswärtigen unter einem Meer verstehen, das heißt bei uns die See."
"Ah ja."
"Darum heißt es ja auch Nordsee hier bei uns und nicht Nordmeer."
"Nein, das Nordmeer ist ja auch bisschen woanders."
"Eben!"
"Noch eine Frage."
"Junger Mann, es gibt hier so einen Wettbewerb für die Touristen, der nennt sich Friesen-Abitur, da können Sie dat alles lernen."
Lorant schüttelte den Kopf.
Er lächelte mild.
"Nein, es geht nur um den Weg."
"Wo wollen Sie denn hin?"
"Forlitz-Blaukirchen. Ich habe kein Schild mehr gesehen."
"Junger Mann, Forlitz-Blaukirchen ist auch keine Großstadt. Fahren Sie einfach die Straße weiter, dann können Sie es nicht verfehlen."
"Danke."
"Keine Ursache."
Lorant warf einen Blick in die Karte, entschied sich nach kurzem Überlegen für ein Schwarzbrot mit Krabben. "Bringen Sie es mir an den Tisch dahinten", wies er den Meerwart an.
"Kein Problem, junger Mann!"
Wenn du noch einmal junger Mann sagst, passiert was!, durchzuckte es Lorant, obwohl ihm natürlich insgeheim klar war, dass überhaupt nichts passieren würde. Selbst dann nicht, wenn Meerwart Folkerts noch zwanzigmal junger Mann zu ihm sagte.
Während Lorant zum Tisch ging, hörte er, wie der Meerwart seinen Essenswunsch auf Plattdeutsch in die Küche hinüberrief.
Lorant setzte sich. Der Tisch, den er sich ausgesucht hatte, stand direkt am Fenster. Man konnte auf das Meer hinausblicken. Auf das Meer im ostfriesischen Sinn des Wortes.
Die Tür öffnete sich, und ein Mann in Gummistiefeln trat ein. Er schien den Meerwart gut zu kennen.
"Moin!"
"Moin, moin!"
"Dat is ein moie Weer, Benno! So ein Wetter hatten wir lange nicht."
"Letztes Jahr um diese Zeit hatten wir Frost, Harm."
"Jau, ich weiß wohl."
"Nächste Woche soll schon wieder alles anders werden."
"Ach, was die im Radio so erzählen, das trifft doch für uns hier an der Küste nie zu."
Harm beugte sich jetzt etwas über den Tresen. Benno Folkert goss ihm einen Korn ein.
"Hör mal, was ist eigentlich wegen der Sache mit Gretus Sluiter noch passiert?"
"Liest du keine Zeitung, oder was?"
"War zwei Wochen in Urlaub, Benno!"
Benno Folkert sprach jetzt ebenfalls in gedämpftem Tonfall. "Also, soweit ich weiß, ist der Fall abgeschlossen. Die Polizei war noch mal hier, hatte alle möglichen Leute gefragt."
"Aber ist wohl nix bei 'rausgekommen, wat?"
"Nee. Gretus ist wohl mit seinem Boot rausgefahren und hat den Mastbaum vor den Kopf gekriegt."
Lorant spitzte die Ohren.
Seine Auftraggeberin war Bernhardine Sluiter aus Forlitz-Blaukirchen. Die Mitinhaberin mehrerer Geschäfte in Emden hatte Zweifel daran, dass der Tod ihres Mannes tatsächlich ein Unfall gewesen war. Für die Justiz schien der Fall jedoch inzwischen mehr oder weniger den Weg auf den großen Aktenstapel gefunden zu haben.
Benno Folkerts sagte leise: "Also, was ich mich frage, ist, wieso Gretus an dem Abend überhaupt rausgefahren ist. Es war saukalt. Wirklich saukalt und außerdem gab es fast keinen Wind. Dazu stockdunkel. Niemand ist so bescheuert und fährt dann hinaus."
"Jau, da sagst du was!", stimmte Harm zu.
"Außerdem frage ich mich, wieso Gretus rausgefahren ist, ohne das Segel hochzuziehen!"
"Ja, aber wenn die Polizei das meint!"
"Man steckt da ja nicht drin!"
"Ich denke, die werden nicht gerade bei dir vorbeigekommen sein, um dir die Akten zu zeigen!"
Benno Folkerts schüttelte den Kopf, nahm sich selbst einen Korn. "Nee, das nun allerdings nicht!"
Eine weibliche Stimme schrillte aus der Küche.
Lorant konnte nicht verstehen, was sie sagte. Erstens sprach sie plattdeutsch, zweitens verhallte ihr Klang auf Grund der akustischen Gegebenheiten im Küchenbereich zu sehr. Machten wohl die gekachelten Wände.
"Ja, ich komme!", rief Benno Folkerts zurück und Lorant ahnte schon, dass es irgendwie um sein Krabbenbrot ging.
Folkerts verschwand.
Lorant bedauerte, dass das Gespräch zwischen Harm und dem Meerwart damit fürs Erste zu Ende war.
Einige Augenblicke später kehrte Folkerts in den Schankraum zurück, balancierte einen Teller auf der linken Handfläche und eine Tasse Kaffee in der Rechten. Er stellte beides schließlich vor Lorant auf den Tisch.
"Wollen Sie dazu auch noch etwas anderes trinken als Ihren Kaffee?", fragte der Meerwart dann. Man konnte die Verachtung, mit der er das Wort Kaffee aussprach, deutlich heraushören. Ein Getränk für zivilisierte Leute ist das in seinen Augen wohl nicht, überlegte Lorant.
"Nein danke", erwiderte Lorant.
"Naja, muss ja jeder selber wissen."
"So ist es."
Folkerts wollte sich schon wieder zum Gehen wenden, als Lorant ihn fragte: "Kannten Sie ihn gut, diesen Gretus Sluiter?"
Benno Folkerts Augen verengten sich etwas.
Er fixierte den auswärtigen Lorant mit einem schwer zu deutenden Blick. Verwunderung war auf jeden Fall darin zu lesen. Aber vielleicht auch noch ein paar andere, weniger freundliche Nuancen, die Lorant in diesem Augenblick nicht näher analysieren wollte. "Was is?", fragte er zurück. "Na, der Mann, von dem Sie gerade am Tresen sprachen. Gretus Sluiter."
"Was wissen Sie davon?"
"Ich habe von der Sache gehört."
Benno Folkerts zuckte die Achseln. "Wahrscheinlich ist er einfach nur unvorsichtig gewesen", sagte er. "Ich habe ihm mal geholfen, als sein Boot im Schilf feststeckte..."
"Wie kann so etwas denn passieren?"
"Da hatte er auch nicht aufgepasst."
"Ach so!"
Lorant nahm einen Happen von dem Krabbenbrot. Die Krabben waren frisch. Jedenfalls glaubte Lorant das herauszuschmecken.
Benno Folkerts blieb noch bei ihm am Tisch stehen, musterte seinen Gast mit einem nachdenklichen Blick.
"Wieso interessiert Sie das eigentlich? Sind Sie von der Presse?"
"Nein, nein. Wie gesagt, ich habe nur davon gehört."
"Sie wollen nach Forlitz-Blaukirchen?"
"Ja, und?"
"Dorthin, wo Sluiters Witwe wohnt."
"So ein Zufall!"
"Ich glaube nicht an Zufälle."
"Ihre Krabben schmecken jedenfalls gut!"
"Na, wenigstens etwas, womit ich Ihnen helfen konnte, junger Mann!"
Mit diesen Worten ging er zurück zum Tresen.
"Wer ist dat denn?", hörte man Harm leise fragen.
"Was weiß ich. Einer von der BILD-Zeitung oder so."
"Da kommt ihr hier ganz schön ins Gerede, was?"
"Ach, was soll's!"
"Aber wenn du Glück hast, Benno, dann ist dein Lokal hier in der Zeitung. Mit Bild und allem. Das ist doch 'ne Riesenwerbung."
Folkerts beugte sich etwas vor, nachdem er Harm noch einen Korn nachgeschüttet hatte. "Und wenn ich Pech habe", vollendete er Harms Äußerung, "dann ist statt dessen ein Foto vom Landhaus drin in der BILD-Zeitung!"
––––––––
3.
Lorant fuhr weiter Richtung Forlitz-Blaukirchen.
Hinter einer Biegung trat er auf die Bremse. Die Reifen des Carisma quietschten. Das ABS verhinderte das Schlimmste. Der Wagen kam zum Stehen. Ein Mann stand mitten auf der Fahrbahn, schwenkte eine Fahne.
Etwa zwei Dutzend weitere Personen standen auf der Straße. Einige von ihnen hielten Flaschen in der Hand. Unter johlender Anteilnahme der Allgemeinheit wurden tennisballgroße Kugeln über den Asphalt gerollt.
Oh nein, das hat mir gerade noch gefehlt!, ging es Lorant durch den Kopf.
Vom Nationalsport der Friesen hatte er schon gehört.
Boßeln nannte sich das und in dem Fernsehbericht, den Lorant in grauer Vorzeit mal darüber gesehen hatte, wurde das so dargestellt, als ob es sich um eine Art norddeutsche Version des französischen Boule-Spiels handelte. Natürlich wie in Deutschland üblich in Vereinen organisiert und streng in Wettbewerbe mit Hartholz- oder Gummikugeln getrennt.
Ob es denen, die auf dieser Straße herumstanden, wirklich in erster Linie um irgendeinen sportlichen Ehrgeiz ging, bezweifelte Lorant angesichts der offenbar feucht-fröhlichen Stimmung, die unter den Teilnehmern herrschte.
Lorant hupte.
Schließlich könnten die ja mal ein bisschen Platz machen!, dachte er.
Einige der Boßel-Spieler drehten sich um. Flaschen und Pinnchen wurden gehoben und dem Auswärtigen freundlich zugeprostet. Irgendwo brandete Gelächter auf.
Der Fahnenschwenker trat von der Seite her an Lorants Wagen heran, tickte dann mit den Fingern gegen die Seitenscheibe.
Offenbar will der was von mir!, schloss Lorant und ließ per Knopfdruck die Scheibe hinunter.
"Ich will da durch!", sagte Lorant ziemlich direkt und ohne Schnörkel. Manchmal sollte man die Dinge eben auf den Punkt bringen, ging es ihm durch den Kopf.
Sein Gegenüber schien genauso zu denken.
Er antwortete trocken: "Nee, dat gait nich!"
"Ey, wie?"
Lorant war etwas irritiert und machte einen Gesichtsausdruck, der das auch ohne weitere Worte hinreichend zum Ausdruck brachte.
Der Fahnenschwenker, ein rotgesichtiger, sommersprossiger Mann, von dem man annehmen konnte, dass er wohl auch schon einige der Schnappspinnchen hinuntergestürzt hatte, schluckte jetzt und machte ein sehr konzentriertes Gesicht. Das musste er auch, denn er versuchte jetzt hochdeutsch zu sprechen. Offenbar nicht seine Muttersprache.
"Sie können hier nicht durch."
"Wieso nicht?"
"Sieht man doch: Hier wird geboßelt."
"Und wie lange dauert das?"
"Wir ziehen hier die Straße entlang."
"Wahrscheinlich mit einem halben Stundenkilometer oder so."
"Oder so, ja."
"Können Sie den Leuten da nicht mal sagen, dass sie für'n Moment Platz machen und die Kugeln wegräumen? Ich bin ja auch schnell durch."
"Mitten im Wettbewerb?"
Lorant atmete tief durch.
Jetzt hatte er den Weg bis Forlitz-Blaukirchen beinahe gefunden und dennoch führte wohl kein Weg daran vorbei, so kurz vor dem Ziel wieder umzukehren.
Und das wegen ein paar Boßel-Spielern.
Von der Tatsache gar nicht zu reden, dass Lorant um ein Haar in die Gruppe hineingefahren wäre. So einen Unsinn sollte man verbieten!, ging es ihm durch den Kopf. Allerdings musste er zugeben, dass er auch um einiges zu schnell gewesen war.
Einer aus der Boßel-Schar kam mit seiner Flasche Klaren auf Lorants Wagen zu, trat dann an das Seitenfenster heran und hielt die Flasche hoch. In der anderen Hand hielt er ein Pinnchen.
"Auch ein Söipke?"
"Wie?"
"Etwas zu trinken", sagte der Mann mit der Flasche gestelzt. Die Prinz Heinrich-Mütze war ihm etwas in den Nacken gerutscht. Ein übler Schluckauf machte ihm zu schaffen.
"Nein danke", maulte Lorant.
"Jo, selber Schuld", erwiderte der Mützenträger und goss sich selbst ein 'Söipke' ein. Todesmutig stürzte er den Inhalt des Pinnchens in einem Zug den Rachen hinunter. Gleich anschließend musste er aufstoßen.
Der Fahnenträger grinste.
"Wer nich will, der hat schon, was?"
"So isses!"
"Eigentlich gar nicht das richtige Wetter zum Boßeln. Wenn's draußen kälter ist, wird einem auch nicht so warm vom Söipke!"
"Ich dreh dann wohl besser", meinte Lorant.
"Jo!"
"Jo!"
Die beiden sagten dieses Wort mit einer Verzögerung von einer Viertelsekunde, was einen ganz eigentümlichen Kurzkanon ergab.
"Und wie komme ich nun nach Forlitz-Blaukirchen?"
Der Fahnenträger erklärte es Lorant. Der Mann mit der Prinz Heinrich-Mütze wäre dazu vermutlich auch gar nicht mehr in der Lage gewesen. Er musste erneut aufstoßen, so dass Lorant den ersten Teil der Erklärungen des Fahnenträgers akustisch verpasste.
"....rück zur Hauptstraße, dann ein paar Kilometer weiter Richtung Aurich. Schließlich links ab. Da geht's von der anderen Seite nach Forlitz-Blaukirchen."
"Danke."
"Keine Ursache."
Wär ja auch noch schöner!, dachte Lorant grimmig. War ja schon ärgerlich genug, dass er auf Grund dieser blödsinnigen Kugelschmeißerei einen Umweg machen musste.
Der Mann mit der Prinz Heinrich-Mütze hob die Flasche. "Nicht doch ein Söipke?"
"Wiedersehen!"
"Tschüss!"
Lorant setzte den Wagen zurück und versuchte ihn dann zu drehen. Auf der schmalen Straße war das trotz des engen Wendekreises gar nicht so einfach. So nahe es ging, fuhr Lorant mit dem Heck an den Graben heran.
Als er es schließlich geschafft hatte, die Kühlerhaube des Carisma in die entgegengesetzte Richtung zeigen zu lassen, trat er das Gaspedal voll durch.
Aus der Stereoanlage waren jetzt die ersten, sehr charakteristischen Akkorde des Miles Davis-Klassikers SO WHAT zu hören. Lorant mochte die in einem mittleren Tempo gespielte Originalfassung am liebsten, die auf dem Album KIND OF BLUE verewigt worden war. In Gedanken spielte Lorant den Klavierpart mit. Die Finger der rechten Hand zuckten dabei, tickten auf den Lederbezug des Lenkrads. Die Linke brauchte er, um das Steuer auf Kurs zu halten. Wer saß damals eigentlich Piano?, fragte Lorant sich. Bill Evans? Gut möglich.
Etwa eine Viertelstunde später erreichte Lorant Forlitz-Blaukirchen.
Seine Klientin wohnte in einem der typischen rot verklinkerten Häuser.
Nur, dass das Haus der Sluiters in allem etwas größer und besser ausgestattet wirkte, als man es sonst hier antreffen konnte. Schon das Grundstück hatte mindestens die doppelten Ausmaße eines gewöhnlichen Bauplatzes. Selbst, wenn man einrechnete, dass Baugrundstücke in einem Flachlandgebiet immer etwas größer schienen als in Landstrichen mit bergigem Charakter.
Lorant parkte seinen Carisma in der Einfahrt, stieg dann aus.
Die Baseballkappe ließ er im Auto.
Sein Longjackett ebenfalls. Er steckte sein Handy in die Innentasche seines Fischgrät-Jacketts, dass vermutlich schon genauso viele Jahre auf dem Buckel hatte wie die verschossene Jeans, die er dazu trug.
Immerhin waren die Turnschuhe neu.
Fünf Schritte hatte Lorant in Richtung Eingangstür hinter sich, als ein Hundeknurren ihn erstarren ließ.
Eine gewaltige Dogge schoss hinter der Garage hervor. So groß, dass ein Shetland-Pony dagegen wie ein Hund ausgesehen hätte.
Mit hängenden Leffzen rannte das gewaltige Tier auf Lorant zu, riss dann das gewaltige Maul auf.
"Stop!", ertönte ein knappes, aber unmissverständliches Kommando, ausgestoßen von einer unzweifelhaft weiblichen Stimme. "Tasso, Stop!"
Tasso, die Dogge, stoppte tatsächlich.
Einen Meter von Lorants Fußspitzen entfernt setzte sie sich hin und knurrte auch nicht mehr. Aber das Tier beobachtete den Fremden, der es gewagt hatte, das Sluiter'sche Grundstück zu betreten.
Eine Frau in den Fünfzigern kam hinter dem Haus hervor. Sie hatte aschblondes Haar. Lorant schätzte ihre Größe auf nicht mehr als ein Meter fünfundsechzig. Höchstens. Sie wirkte sehr zierlich, trug Jeans, Pullover und Gartenhandschuhe.
"Sind Sie Frau Sluiter?", fragte Lorant.
"Die bin ich."
"Lorant mein Name. Wir haben telefoniert."
"Ah, ja."
Lorant deutete vorsichtig auf die Dogge. "Ich habe ja grundsätzlich nichts gegen Hunde, aber der hier ist mir doch etwas zu groß."
"Entschuldigen Sie, Herr Lorant. Aber Tasso ist ganz lieb. Der macht nix."
DER MACHT NIX - ein geflügeltes Wort. Wie oft hatte Lorant das schon gehört? Besonders in den Jahren, als er noch bei der Polizei gewesen war. DER MACHT NIX! Welcher Hundebesitzer sagte das nicht? Die Zahl der Briefträger, die vergeblich auf diesen Satz vertraut hatten, musste Legion sein. Seit während seiner Polizeijahre mal ein Verdächtiger seinen Dackel auf ihn gehetzt und dieser ihm dann übel in die Wade gebissen hatte, hatte Lorant sich eigentlich vorgenommen, diesem Satz nicht mehr zu trauen. Nie wieder. Andererseits wäre jeder Polizist, der es gewagt hätte, sich gegen einen Hund mit der Dienstwaffe oder einem gezielten Karatetritt zu verteidigen vom gesellschaftlichen Ansehen her vermutlich auf eine Stufe mit Kinderschändern und Politikern abgesunken. Und da überlegte sich jeder FREUND UND HELFER schon sehr genau, ob er etwas gegen vierbeinige Gesetzesbrecher unternahm oder sich nicht doch besser beißen ließ. Von Postboten oder Privatpersonen, die ja keinen vergleichbaren Amtsbonus besaßen, einmal ganz abgesehen.
Frau Bernhardine Sluiter ging auf Lorant zu, zog sich dabei einen Gartenhandschuh aus und reichte dem Detektiv die Hand.
"Ich bin froh, dass Sie da sind, Herr Lorant."
"Ich auch."
"Wie soll ich das verstehen?"
"War gar nicht so einfach, hier her zu gelangen."
"War die Beschreibung nicht gut, die ich Ihnen gegeben hatte?"
"Doch. Aber zwischendurch wurde ich aufgehalten. Ich brauche Ihnen ja wohl nicht zu erklären, was 'Boßeln' ist..."
Bernhardine Sluiter lächelte matt.
"Nee, das brauchen Sie mir wirklich nicht zu erklären." Sie atmete tief durch, seufzte dabei. "Mein Mann hat diesen Sport bis zum Exzess betrieben." Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. "Alles nur ein Vorwand, um sich ordentlich einen hinter die Binde kippen zu können, würde ich sagen, aber ein bisschen Spass muss der Mensch ja haben."
Spass mit Doppel-ss anstatt ß.
Jedenfalls sprach Bernhardine Sluiter das Wort so aus.
"Wir haben ja hier schon keinen Karneval!"
"Und Sie finden, dass Boßeln ein adäquater Ersatz ist?"
"Gott sei Dank wird das noch nicht im Fernsehen übertragen."
"So wie KÖLLE ALAAF!"
"Genau."
Lorant lächelte etwas gequält. "Glauben Sie mir, das kommt auch noch. Irgendein Privatsender findet sich auch dafür!"
"Kommen Sie doch mit ins Haus, Herr Lorant, damit wir alles besprechen können."
"Nichts dagegen, aber..."
Frau Sluiter schien Lorants Gedanken gelesen zu haben. Jedenfalls folgten ein paar knappe Kommandos, die den Hund dazu veranlassten, sich zu entfernen. Er trottete in Richtung der Garage und ließ sich davor nieder.
"Sie sehen..."
"...der macht nix."
"Genau. Und vor allen Dingen hört er auf's Wort."
Lorant folge Bernhardine Sluiter. Sie gingen am Haupteingang des Hauses vorbei, betraten die kurzgeschorene Rasenfläche. Der Boden war dunkel, tief, und voller Wasser. Frau Sluiter führte Lorant zur Terrasse.
"Halten Sie diesen Hund aus Sicherheitsgründen oder aus Tierliebe?", fragte Lorant.
"Beides. Allerdings im Verhältnis 90 zu 10 zu Gunsten der Sicherheit."
"Fühlen Sie sich derart bedroht?"
"Mein Mann und ich haben..." Sie stockte, biss sich dann auf die Lippe. "Ich rede von meinem Mann immer noch so, als würde er noch leben. Manchmal denke ich, dass er nach Hause kommt. Tasso denkt das übrigens auch. Er springt plötzlich auf, läuft schwanzwedelnd zur Tür, wenn er was gehört hat..."
Als Bernhardine Sluiter die angelehnte Terrassentür öffnete, sah Lorant ihr Gesicht für einen kurzen Augenblick aus dem Profil. Ein trauriger Ausdruck kennzeichnete ihre Züge in diesem Moment. Ein Ausdruck der Trauer, der jedoch nur kurz sichtbar blieb und einem unverbindlichen, etwas gequält wirkenden Lächeln wich.
Eine Frau, die sich sehr gut zu kontrollieren vermag!, erkannte Lorant. Sie will ihre Emotionen nicht zeigen. Jedenfalls nicht mir gegenüber. Aber ist das so schwer zu verstehen? Ich bin ein Fremder, der in ihre Welt eindringt. Und in nächster Zeit werde ich sogar ziemlich indiskret in dieser Welt herumschnüffeln müssen. In einer Welt, die bis vor kurzem noch völlig in Ordnung schien und in die jetzt der Tod getreten ist. Der gewaltsame Tod, nicht das schicksalhafte, unabwendbare Ableben eines geliebten Angehörigen, mit dem man sich abfinden muss.
Lorant glaubte zu verstehen, was in seinem Gegenüber vor sich ging.
Du hast das alles selbst durchgemacht, dachte er. Sei nicht zu ungeduldig mit ihr.
Die Witwe führte Lorant ins Haus.
Lorant ließ den Blick schnell durch das mit ziemlich klobig wirkenden Polstermöbeln ausgestattete Wohnzimmer schweifen. Gelsenkirchener Barock, dachte Lorant. Das hatte sich inzwischen wohl national gesehen durchgesetzt, über alle regionalen Grenzen hinweg.
"Setzen Sie sich doch, Herr Lorant."
"Danke."
"Möchten Sie etwas trinken?"
"Kaffee."
"Tut mir leid, ich habe keine einzige Bohne da. In diesem Haus trinkt niemand Kaffee. Wie wäre es mit Tee?"
"Nein, lieber nicht."
Lorant setzte sich mitten auf das Sofa. Er wandte den Kopf zu den Fotos hin, die da an der Wand hingen. Das erinnerte Lorant an einen Ahnenschrein. Vergilbte Schwarzweißfotos von Groß- und Urgroßeltern. Ein Hochzeitsfoto der Sluiters. Daneben ein Foto, das offenbar auch Gretus Sluiter zeigte. Es musste allerdings mindestens zwanzig Jahre später aufgenommen worden sein.
"Das ist - war - mein Mann!", sagte Bernhardine Sluiter mit tonloser Stimme.
Lorants Blick glitt nach links.
Noch ein Hochzeitsfoto.
Der junge Mann darauf hatte durchaus Ähnlichkeit mit Gretus Sluiter in jungen Jahren.
"Mein Sohn Ubbo und seine Frau Rena."
"Aha, ja..."
"Daneben unsere Enkelkinder."
Lorant warf kurz einen Blick auf das Bild, das zwei Jungs zeigte, die dem ermordeten Gretus unverkennbar ähnlich sahen. Der Detektiv schätzte sie auf neun und elf Jahre. "Tragen die denn auch so etwas eigentümliche original-friesische Namen?"
Bernhardine Sluiter schüttelte den Kopf.
"Nee, sie heißen Kevin und Marvin."
"Klingt selbst für meine Ohren nicht friesisch."
"Nee, echt nicht!"
Eine Pause entstand. Bernhardine Sluiter rieb etwas verlegen mit den Handflächen über die Oberschenkel, ehe sie schließlich zu sprechen begann. "Wie ich Ihnen am Telefon bereits sagte, geht es um den Tod meines Mannes. Jemand hat hier angerufen und sich als Meerwart des Großen Meeres ausgegeben."
"Benno Folkerts."
"Ja. Sie kennen ihn?"
"Flüchtig." Lorant zuckte die Achseln. "Ich habe ein Krabbenbrot bei ihm gegessen."
"Der Benno hat nichts damit zu tun, da bin ich mir ganz sicher. Da hat Gretus irgendjemand hereingelegt."
"Was hat Ihr Mann Ihnen über den Inhalt des Telefongesprächs gesagt?"
"Dass etwas mit dem Segelboot wäre, das wir am Großen Meer liegen hätten. Gretus ist natürlich gleich losgefahren. Wir haben nicht viel darüber sprechen können. Ich muss gestehen, ich war auch ziemlich beschäftigt. Wissen Sie, wir haben insgesamt drei Geschäfte in Emden, und ich mache die Buchhaltung für alle drei und..."
"Kurz und gut: Sie hatten Stress!"
"Ja, so kann man es ausdrücken." Sie holte tief Luft. Nicht zum ersten Mal, wie Lorant auffiel. Als ob ihr eine zentnerschwere Last auf der Brust liegt und ihr das Atmen schwer macht, überlegte er. Für Sekunden war wieder dieser Ausdruck unendlicher Traurigkeit in ihren Zügen. Aber diese winzige Zeitspanne reichte Lorant aus, um ihn wiederzuerkennen.
Der Tod ihres Mannes hat diese Frau wirklich zutiefst erschüttert!, war Lorant überzeugt.
"Jedenfalls fuhr er dann weg. Es war schon dunkel. Mein Gott, er kam nicht mehr zurück." Sie schluckte. "Ich bin schließlich ins Bett gegangen und dachte, dass Gretus vielleicht noch einen trinken gegangen ist. Am nächsten Morgen war er immer noch nicht da..." Sie schluckte erneut. Die Ader an ihrem Hals pulsierte. Es schien sie auf das Äußerste anzustrengen, über dieses Thema zu sprechen. "Ich habe dann die Polizei verständigt. Es war kaum Mittag, da wurde er in seinem Segelboot gefunden." Frau Sluiter wischte sich kurz über die Augen. "Wenden Sie sich an Hauptkommissar Meinert Steen bei der Kripo in Emden. Der hat jede Menge Fotos vom Tatort in seinen Akten. Ich habe darauf bestanden, sie mir anzusehen. An Gretus' Kopf klaffte eine Wunde. Entweder ist er so gestoßen worden, dass er auf dem Boden aufschlug, oder er hat einen Schlag mit irgendetwas abbekommen. Ein Fuß hing noch im Netz der Reling. Wie er so da hing... Mein Gott, ich sehe jede Nacht dieses Bild vor mir. Rena, meine Schwiegertochter, meint, ich müsste in Psychotherapie. Aber dafür habe ich doch gar keine Zeit. Wir haben drei Geschäfte, wie ich ja schon mal erwähnte, und die müssen weitergeführt werden. Schließlich habe ich ja eine Verantwortung gegenüber unseren Angestellten und kann mich nicht einfach so hängen lassen."
"Sie gehen von einem Fremdverschulden beim Tod Ihres Mannes aus?"
"Ja."
"Ihre Anhaltspunkte dafür?"
"Erstens der Anruf."
"Und zweitens?"
"Das Segel war nicht hochgezogen, es war kein Wind und es gab keinen Grund für meinen Mann, mit dem Boot hinauszufahren. Der Jollenkreuzer wurde im Schilf gefunden, kam also gar nicht aus der Hafenbucht heraus."
"Sie meinen, jemand hat Ihren Mann mit einem Anruf zum Großen Meer gelockt, beim Boot auf ihn gelauert, ihn erschlagen und dann das Boot auf den See hinaustreiben lassen."
"Das wäre eine Möglichkeit, ja."
"Und die Polizei?"
Bernhardine Sluiter lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Gesichtsausdruck bekam einen sehr harten Zug um die Mundwinkel. "Offiziell abgeschlossen ist der Fall noch nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass die Ermittlungen im Sande verlaufen werden. Zumal mir Kommissar Steen seine ganz persönliche Meinung bereits in einem Gespräch klipp und klar mitgeteilt hat."
Lorant hob die Augenbrauen, fingerte dabei einen Notizblock aus der Seitentasche seines Jacketts heraus und suchte in der Innentasche nach einem Stift. Er fand einen blauen Kuli.
"Wie lautete Hauptkommissar Steens Meinung?"
"Er geht von einem Tod durch Unfall aus."
"Was ist mit Benno Folkerts, dem Meerwart? Ist er befragt worden?"
"Sie meinen wegen des Anrufes."
"Genau."
Bernhardine Sluiter lachte bitter auf. "ICH habe ihn befragt und er hat mir gegenüber natürlich abgestritten, meinen Mann angerufen zu haben. Ehrlich gesagt glaube ich ihm auch. Die beiden kannten sich flüchtig und soweit ich weiß, hat Benno Folkerts nicht den geringsten Grund, meinem Mann schaden zu wollen."
Sie machte eine kleine Pause, ehe sie fortfuhr. "Sie haben mir Ihre Preisliste ja bereits am Telefon genannt und auf Ihrer Homepage ist sie ja auch nicht zu übersehen..."
"Ich muss auch leben."
Sie lächelte matt. "Sie missverstehen mich. Es ist mir völlig gleichgültig, was es kostet! Finden Sie heraus, warum mein Mann sterben musste. Ich will mich nicht mit diesen lauen Ausreden der Polizei begnügen, die doch letztlich nur schwer die Ratlosigkeit verbergen können, die da herrscht. Was immer Sie für richtig halten -—veranlassen Sie es bitte."
"Ich brauche eine formelle Auftragsbestätigung von Ihnen. Warten Sie, ich habe ein Formular vorbereitet."
Lorant holte es in zweifacher, schlecht gefalteter Ausführung aus der rechten Innentasche heraus und legte es ihr vor, gab ihr dann den Kuli dazu. Sie unterschrieb, ohne es zu lesen. Lorant steckte ein Exemplar wieder ein. Das andere überließ er seiner Klientin.
"Am Telefon hatten Sie mich um eine Adressenliste aller Angestellten, Verwandten und Bekannten gebeten", sagte Bernhardine Sluiter dann.
"Richtig. Die würde mir viel Zeit ersparen."
"Ich habe sie für Sie vorbereitet."
Bernhardine Sluiter erhob sich, ging zu einem Sekretär aus dunklem Holz, öffnete eine Schublade und holte ein Kuvert heraus.
Einen Augenblick später überreichte sie es Lorant. "Wenn Sie weitere Angaben brauchen, setzen Sie sich bitte mit mir in Verbindung."
"Gut."
"Wo kann man Sie erreichen?"
"Über Handy. Die Nummer steht auf der Auftragsbestätigung, die ich Ihnen gegeben habe."
"Haben Sie schon eine Unterkunft, wo Sie übernachten werden?"
"Bei Beate Jakobs in der Bedekaspeler Marsch. Jedenfalls habe ich mich da angemeldet." Der Grund dafür, dass Lorant diese Unterkunft ausgesucht hatte, war einfach der, dass sie am billigsten war.
Bernhardine Sluiter lächelte mild. "Beate Jakobs hat jahrelang nur fünfundzwanzig D-Mark pro Nacht genommen. Wie viel sie seit der Euro-Umstellung verlangt weiß ich nicht, aber im Preis ist ein hervorragendes Frühstück mit drin."
"Um so besser."
Lorant erhob sich. Es war alles besprochen. Jedenfalls dachte Lorant das. Frau Sluiter schien jedoch noch irgendetwas auf dem Herzen zu haben. Sie druckste etwas herum, bevor sie es schließlich herausbrachte. "Ich weiß nicht, ob da ein Zusammenhang zum Tod meines Mannes besteht, aber..."
Sie brach ab.
Lorant hob die Augenbrauen.
"Nur zu, Frau Sluiter. Wenn Sie irgendeinen Verdacht haben, jemanden kennen, der vielleicht ein Motiv für einen Mord haben könnte, dann sollten Sie es mir jetzt sagen. Selbst wenn es sich nur um vage Vermutungen handeln sollte."
Bernhardine Sluiter nickte.
"Also gut. Wir haben in letzter Zeit ein paar Mal Probleme mit einer Gang von Russlanddeutschen gehabt, die versucht haben, Schutzgeld zu erpressen."
Lorant wurde hellhörig.
"Kennen Sie diese Leute?"
"Einige ja."
"Haben Sie die Polizei eingeschaltet?"
"Ja. Es gab ein paar vorläufige Festnahmen und Verhöre."
"Die Sache verlief im Sand, nehme ich an."
"Verstehen Sie nun, warum ich der hiesigen Kripo nicht allzu viel zutraue?"
"Allerdings."
"Naja, jedenfalls war seitdem Ruhe, was diese Gang betrifft."
"Wie lange ist die Geschichte her?"
"Ein halbes Jahr. Es wäre ja möglich, dass von denen einer ziemlich sauer war und sich gerächt hat."
"Ich danke Ihnen für den Hinweis. Sagen Sie, wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen?"
Frau Sluiter zuckte die Achseln.
"GELBE SEITEN DEUTSCHLAND. Die sind heute doch in jedem Software-Paket dabei, das es beim Kauf eines Computers gibt. Detektive gibt es natürlich wie Sand am Meer. Aber nur einer hatte ungeklärte Tötungsdelikte als Spezialgebiet angegeben."
"Verstehe."
"Gibt es so viele davon, dass jemand wie Sie davon leben kann?"
"Wie Sie sehen—ja! Und die Leute, die sich an mich wenden, stellen wahrscheinlich nur die Spitze eines Eisberges dar. Allerdings gibt es für einen Privatdetektiv finanziell lukrativere Gebiete. Security Consulting für große Firmen und so was."
"Und warum haben Sie sich dann DIESEM Gebiet zugewandt?"
Lorant lächelte dünn.
"Vielleicht unterhalten wir uns ein anderes Mal über dieses Thema."
"Natürlich."
Frau Sluiter brachte Lorant zur Tür. Diesmal zur Haustür. Sie kamen dabei durch einen schmalen Flur. An den Wänden hingen Fotos und Urkunden. In einer Vitrine standen mehrere kleine Pokale.
Lorants Blick blieb daran haften.
"Ja, da sehen Sie, wie intensiv sich mein Mann für seinen Boßel-Verein engagierte. Daneben sponserte er auch noch Kickers Emden mit Bandenwerbung und spendierte dem Yacht Club das Clubhaus."
"Ihr Mann hatte was übrig für den Sport."
"Ja, das hatte er", murmelte Bernhardine Sluiter mit belegter Stimme. "Das hatte er wirklich. Waren auch alle in Regimentstärke auf der Beerdigung angetreten... Die Feuerwehrkapelle hat dazu gespielt..." Tränen glitzerten in ihren Augen.
Wird Zeit, dass ich jetzt gehe, dachte Lorant.
––––––––
4.
Das Gasthaus von Beate Jakobs lag in der Bedekaspeler Marsch, direkt an einem Kanal, der wenige hundert Meter später ins Große Meer mündete. Das 'Gasthaus Jakobs' hatte einen eigenen Bootsanlegesteg, so dass man bei einem Bootsausflug anlegen und Zwischenstopp machen konnte.
Beate Jakobs war eine agile ältere Dame mit faltigem Gesicht und zu einem Knoten gebundenem grauen Haar. Der Schankraum glich eher einem Wohnzimmer als einer gewöhnlichen Kneipe.
Als Lorant eintrat, saßen ein paar Skatbrüder vor dem Kamin und droschen Karten.
"Wie lange werden Sie bleiben, Herr Lorant?", fragte Beate Jakobs.
"Ich weiß es noch nicht genau. Aber wenn Sie wollen, bezahle ich eine Woche im Voraus."
"Nee, das ist nicht nötig. Ich betreibe dieses Haus schon so lange und bin noch nie von einem Gast geprellt worden. Und solange das nicht geschieht, habe ich auch keinerlei Grund, meinen Gästen zu misstrauen."
"Eine sehr noble Einstellung."
"Auf eins muss ich Sie gleich hinweisen. Auf den Zimmern gibt es kein Fernsehen. Das Klo ist am Ende des Ganges."
"Kein Problem."
"Wissen Sie ich könnte ja umbauen und der Üki -—eigentlich heißt er ja Heinrich—-, das ist mein Schwiegersohn, der arbeitet bei der Touristik-Zentrale. Der Üki liegt mir schon seit Jahren in den Ohren, ich soll die Zimmer renovieren lassen und alles auf modern aufmotzen. 'Dat gaait so nich!', hör ich ihn immer reden und ich sag dann: 'Dat gaait doch!' Schließlich habe ich in all den Jahren nie Schwierigkeiten gehabt, die Zimmer voll zu kriegen und warum soll ich da irgendetwas verändern!"
"Da haben Sie sicher Recht."
"Also, dass wir vor dreißig Jahren hier fließend Wasser eingeführt haben, dass sehe ich ja heute ein, dass das notwendig war. Aber ich finde, man muss den Luxus auch nicht übertreiben."
"Ich brauche nur ein Bett zum Schlafen und 'ne Steckdose für den Rasierapparat. Dann bin ich schon zufrieden."
"Na, dann is' ja gut!"
Lorants Zimmer lag im Obergeschoss.
Die Wirtin ließ es sich nicht nehmen, es dem Detektiv persönlich zu zeigen. Man hatte eine fantastische Aussicht. Immerhin lag es hoch genug, um über die vorgelagerten Schilf-Areale bis zum Großen Meer blicken zu können.
Das Wasser glitzerte in der Sonne.
Inzwischen war etwas mehr Wind aufgekommen.
Surfer schwebten Schmetterlingen gleich über die Wasseroberfläche.
"Prima", sagte Lorant.
Das Zimmer selbst wirkte sehr vollgestellt. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Sofa, ein dicker, klobiger Kleiderschrank... Wahrscheinlich war die Hälfte des Mobiliars überflüssig. Lorant vermutete, dass es nur deswegen hier stand, weil sich die Besitzerin nicht davon trennen konnte und keinen anderen Platz hatte, um es unterzubringen.
"Da, auf der anderen Seite vom Großen Meer soll einer in seinem Boot umgekommen sein", meinte Lorant, in der Hoffnung, von seiner Gastgeberin den neuesten Klatsch über die Geschichte zu erfahren.
"So, haben Sie auch schon von der Sache gehört."
"Ja, war doch erst kürzlich."
"Also ich bin mit der Mutter von Gretus Sluiter zusammen zur Schule gegangen."
Tja, manchmal ist die Welt verdammt klein, dachte Lorant.
"Ich weiß noch, dass die Heike -—also Gretus Mutter -—so viel Kummer mit dem kleinen Gretus hatte. Irgendeine Darminfektion hat ihn als kleinen Knirps ganz dünn werden lassen. Und wenn man dagegen sieht, wie rund er zuletzt war! Aber ich habe den Verdacht, dem Gretus sein Bauch kam mehr vom Trinken."
"Jemanden, der so einen Hass auf ihn gehabt haben könnte, um ihn umzubringen, wissen Sie nicht zufällig?"
Beate Jakobs stemmte die Arme in die Hüften.
"Herr Lorant, wo denken Sie hin! So was passiert hier nich'!" Sie seufzte hörbar schüttelte dann den Kopf. "Der Gretus war immer schon ein bisschen döspaddelig. Ich hab noch kurz vor Heikes Tod, als sie schon ganz schlecht darniederlag mit ihrem Krebs, da habe ich zu ihr gesagt: Heike, watt mutt dein Junge soon großes Boot fahren? So einen Jollenkreuzer! Der ist doch viel zu groß für ihn, das kann so ein Mann, dessen beste Jahre nun inzwischen wohl auch schon vorbei sind, gar nich' bewältigen! Was glauben Sie, was für Kräfte dabei wirksam werden, wenn der Wind so richtig ins Segel haut und der Mastbaum herumschlägt?"
Der Redefluss der Wirtin wäre mit Sicherheit noch lange nicht abgeebbt, aber in diesem Augenblick rief jemand aus dem Schankraum etwas hinauf.
"Wir unterhalten uns ein andermal", sagte Beate Jakobs und rieb die Handflächen über das weiße Hauskleid aus Perlon, das schon fast museumsreif war. Ist wahrscheinlich genauso alt wie die Wasserleitung, dachte Lorant. Also dreißig Jahre. Immerhin hatte Frau Jakobs seitdem offenbar ihre Figur gehalten, denn die Knöpfe gingen gut zu, ohne dass es spannte.
Sie verließ den Raum.
"Ja, ich bin ja schon da!", rief die Wirtin die Treppe hinunter.
Lorant ließ sich in den plüschigen Sessel fallen. Die Federn waren mehr oder weniger durchgesessen. Lorant sank sehr viel tiefer ein, als er erwartet hatte.
Was jetzt?, dachte er, holte dabei das Kuvert aus der Innentasche, das ihm Bernhardine Sluiter gegeben hatte. Die Namens- und Adressenliste.
Er öffnete den Umschlag, faltete das eng von beiden Seiten beschriebene Blatt auseinander. Sehr akkurat hatte Frau Sluiter das gemacht. Sie hatte eine ziemlich kleine, sehr genaue Handschrift. Die Handschrift einer Pedantin, dachte Lorant. In Bezug auf die Liste konnte ihm diese Eigenschaft seiner Klientin nur von Nutzen sein.
Heute werde ich niemandem mehr einen Besuch abstatten!, dachte Lorant. Aber vielleicht kann ich mir ja noch den Tatort ansehen.
Und Morgen?
Seine erste Adresse war mit Sicherheit die von Kriminalhauptkommissar Meinert Steen.
Lorant hoffte, dass Steen einigermaßen kooperativ war und ihn nicht als lästige private Konkurrenz betrachtete. Revierdenken war immer etwas ziemlich Unproduktives. Aber leider musste man immer wieder damit rechnen, wenn man sich mit ungeklärten Todesfällen beschäftigte.
Lorant schloss die Augen.
Das Gesicht seiner Frau erschien vor seinem inneren Auge. Ihr Lachen. Ihr langes, dunkelblondes Haar. Die blauen Augen.
Lorant schluckte.
Deinen Mörder habe ich nicht finden können.
Leider.
Der Witwe von Gretus Sluiter sollte es besser gehen als ihm. Dafür würde er sorgen. Seine Hände krampften sich zusammen, ballten sich zu Fäusten. Er atmete regelmäßiger. Die Vergangenheit ist nicht mehr zu ändern, dachte er. Die Zeit ist eine verfluchte Einbahnstraße, und es hat keinen Sinn, da den Geisterfahrer spielen zu wollen...
Die Akkorde von BESAME MUCHO klangen aus dem Background seines Bewusstseins. Er mochte die mit einem Augenzwinkern gespielte Version, die Michel Petrocchiani auf seinen Solo-Livekonzerten gespielt hatte. Lorants Finger lösten sich aus ihrer Verkrampfung. Sie zuckten, begannen dann auf der Sessellehne herumzuticken. Ein wirksames Mittel gegen trübe Gedanken. Die Musik wurde lauter, rückte mehr in den Vordergrund. Lorant konnte sich ihrem Sog nicht entziehen. Er wollte es auch gar nicht. Denn, wenn er den Harmonien und Melodieläufen gedanklich folgte, dann war sein Kopf unfähig dazu, sich in der Vergangenheit zu verlieren. Eine wirksame Methode, um einen klaren Verstand zu bekommen, um alles los zu werden, was auf der Seele lastete und Lorant daran hinderte, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Auf den Augenblick kommt es an, dachte er.
Die Gegenwart existiert.
Die Vergangenheit ist ein Konstrukt der Erinnerung.
Die Zeit ist eine Illusion des menschlichen Geistes.
Drei Gedanken, die für Lorant so etwas wie einen Rettungsanker darstellen.
Der Augenblick, das waren die Akkorde von BESAME MUCHO. Sonst nichts. Und über diesen Akkorden und dem furchtbar traurigen Thema begann Lorant jetzt zu improvisieren. Seine Finger tanzten über imaginäre Tasten. Sein Gesichtsausdruck wirkte eigenartig entrückt, entspannte sich jetzt sogar etwas.
Die Augen blieben geschlossen.
Lorant war in SEINER Welt.
Einer Welt aus Tönen und Rhythmus.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, so hätte er ewig dort bleiben können.
––––––––
5.
"Ma, ich weiß nicht, ob es richtig war, diesen Detektiv zu engagieren!", sagte Rena Sluiter. Sie war eine attraktive Frau, Anfang dreißig, hatte langes, blondes Haar, das sie aufgesteckt trug. Die Jeans und der sehr enge Pullover, den sie trug, zeichneten die geschwungenen Linien ihrer perfekten Figur exakt nach.
Bernhardine Sluiter betrachtete die Attraktivität ihrer Schwiegertochter nicht unbedingt mit Wohlgefallen. Das lag weniger daran, dass sie der Jüngeren die Jugend und Anziehungskraft neidete. Nein, über diesen Punkt war sie schon seit langem hinweg. Es war die Tatsache, dass ihr Sohn Ubbo von Renas Proportionen so fasziniert gewesen war, dass ihm einige wesentliche Aspekte an Renas Charakter völlig entgangen waren.
So zumindest sah Bernhardine Sluiter die Situation.
Sie hielt Rena für kaltherzig und narzisstisch.
Eine egoistische Person, die in Bernhardines Augen keinen Familiensinn kannte und sich bei ihrem Ubbo ins gemachte Nest gesetzt hatte. Friseurin war Rena gewesen, als Ubbo sie kennen gelernt hatte. Dann hatte sie kurz in einer Boutique gejobbt. Sie hatte keinen Sinn für das Geschäft, so wie Bernhardine. Schon deswegen hatte Bernhardine immer gefunden, dass sie nicht die richtige Frau für ihren Ubbo war.
Aber Bernhardine war klug genug gewesen, nicht zu versuchen, Rena ihrem Sohn auszureden. Sie wusste, dass sie gegen Renas Vorzüge letztlich kein Argument hatte. Und ihr Mann Gretus hatte sie wohl auch kaum objektiv betrachten können. Ganz im Gegenteil. Er hatte seiner hübschen Schwiegertochter nichts abschlagen können. Immerhin hatte Bernhardine es geschafft, Renas Einfluss in der Familie einigermaßen klein zu halten. Rena war eine gewisse Durchtriebenheit zu eigen, aber die war glücklicherweise noch nicht gleichbedeutend mit wirklicher Intelligenz. So sah Bernhardine das jedenfalls.
Bernhardine saß ruhig im Sessel, beugte sich etwas vor und goss die Milch in den Tee. Dann wartete sie geduldig ab, bis sich der weiße Fleck verbreiterte und schließlich die gesamte Oberfläche des Tees einnahm.
"Was hast du dagegen, wenn der Tod deines Schwiegervaters gründlich aufgeklärt wird?", fragte Bernhardine.
Ihre Stimme klirrte wie Eis.
Eine dunkle Röte überzog Renas Gesicht.
"Ma, das ist Aufgabe der Polizei!"
"Die hat bis jetzt ihren Job nicht allzu gut gemacht, wie du zugeben musst!"
"Und dieser...dieser..."
"Lorant heißt er."
"Dieser Lorant, meinst du, macht das besser?"
"Mehr als Hauptkommissar Steen kann er auch nicht verbocken, liebes Kind."
LIEBES KIND - das klang aus Bernhardines Mund in diesem Augenblick fast wie Ironie.
Rena war das keineswegs entgangen.
"Wer sollte Pa denn umbringen?"
"Das werden wir ja sehen. Irgendjemand hat es getan. Und ganz gleich, wer es ist oder aus welchem Grund er es getan hat, ich will, dass er der Gerechtigkeit zugeführt wird!"
"Ma! Das will ich doch auch!"
"Hört sich für mich aber nicht so an."
Aus dem Flur waren Kinderstimmen zu hören. Ein schepperndes Geräusch folgte.
Irgendetwas war umgefallen.
Aber Bernhardine Sluiter beschloss, sich darüber nicht zu ärgern. Selbst wenn es die teure Vase auf der Kommode war. Jetzt wollte sie sich darüber einfach nicht aufregen. Das ist der Vorteil, wenn man echte Probleme hat, dachte sie. Man bekommt wieder einen Blick für die Proportionen. Mein Mann ist ermordet worden und das ist im Moment alles, worüber ich mich aufregen werde.
Bernhardine Sluiter atmete tief durch, führte die Teetasse zum Mund und nahm einen Schluck. Sie schluckte mit der Tee/Milch-Mischung auch einen Teil ihres Ärgers über Renas schlecht erzogene Jungs hinunter.
Nicht mal das hat sie richtig hingekriegt!, dachte Bernhardine bitter. Die Sprüche ihrer eigenen Großmutter fielen Bernhardine wieder ein. Sprüche, die davon handelten, dass Schönheit verging, der Charakter aber blieb.
Ubbo hatte auf die Einwände, die Bernhardine damals sehr vorsichtig ihm gegenüber vorgebracht hatte, einfach nicht hören wollen. Jetzt hatte er die Frau, die er verdiente.
Zwei Jungs rannten ins Wohnzimmer hinein. Etwa elf und neun Jahre alt. Der Jüngere trat dem Älteren vor das Schienbein. Dieser scheuerte seinem jüngeren Bruder umgehend eine. Beide schrieen und beschuldigten sich lauthals.
"Dieser verfickte Hurensohn hat meine Pokémon-Karten in die Hundescheiße gesteckt!", rief der Kleinere.
"Ja, und du blöder Wichser, was hast du gemacht? Na sag's schon, du Arsch!"
"Schluss jetzt!", fuhr Bernhardine dazwischen. Sie war aufgesprungen. Die Jungs starrten ihre Oma an. "Ich will keinen Ton mehr hören!" Bernhardine wandte sich an Rena. "Dass du es den Jungs durchgehen lässt, dass sie so reden!"
"Das lernen sie in der Schule!"
"Das lernen sie, weil du es zulässt!"
"Ma, jetzt hör auf, dich in meine Erziehung einzumischen!"
"Von was für einer Erziehung redest du denn?"
"Jedenfalls lasse ich meine Kinder selbstständiger aufwachsen, als du es bei deinem Ubbo getan hast!"
"Ach, ja?"
"Sie sind auf jeden Fall keine Muttersöhnchen, sondern..."
"Mutterficker!", zischte der Kleinere seinem Bruder zu und fletschte dabei die Zähne wie man es eigentlich eher von der Dogge der Sluiters erwartet hätte.
"Ich will so etwas hier nicht mehr hören!", rief Bernhardine.
"Misch dich nicht ein!", rief Rena zurück.
"Ach, aber du darfst dich umgekehrt sehr wohl in meine Sachen einmischen und mir vorschreiben, ob ich einen Detektiv engagiere oder nicht!"
"Mach doch, was du willst, Ma!"
Rena wandte sich ihren Kindern zu, die interessiert dem Streit der beiden Frauen gelauscht hatten. "Wollt ihr jetzt etwas essen?"
"Nee!"
"Kein Hunger."
"Wollt ihr denn jetzt wenigstens eure Spielsachen zusammenräumen, damit wir nach Hause fahren können?"
"Nee!"
"Ey Scheiße, kein Bock!"
Bernhardine verdrehte die Augen. "Wenn du sie so fragst, wirst du es wohl selber machen müssen!", sagte sie an Rena gewandt.
"Wollt ihr denn vielleicht noch ein bisschen rausgehen, damit ich mich mit Oma unterhalten kann?"
"Wieso denn?"
"Keine Lust."
"Wir bleiben hier, sonst tritt Marvin mich dauernd!"
"Und Kevin muss die Pokémon-Karten aus dem Scheiße-Haufen rausholen, dieser Pisser!"
"Selber Pisser!"
"Schwule Sau!"
"Raus jetzt!", brüllte Bernhardine.
Marvin und Kevin starrten ihre Oma an. Dann verschwanden sie durch die Tür. Kaum waren sie im Flur, da fing der Streit wieder an. Bernhardine machte die Tür hinter ihnen zu.
"War das jetzt eine Kostprobe deiner Super-Pädagogik, Ma?", fragte Rena mit beißendem Unterton. Sie lehnte sich gegen die Kommode.
Bernhardine atmete tief durch. "Nein, ich konnte es einfach nicht mehr aushalten." Ihre Stimme bekam einen belegten Klang. "Fast dreißig Jahre waren Gretus und ich zusammen und jetzt holt ihn mir irgendjemand einfach weg. Das stecke ich nicht so einfach weg."
Rena näherte sich ihrer Schwiegermutter, berührte leicht ihre Schulter. Aber Bernhardine zuckte zurück. Nein, zuviel Nähe von dieser Frau konnte sie unmöglich ertragen. Eine Gänsehaut überlief sie. Ein kaltes Herz hast du, Rena!, durchzuckte es sie. Warum sieht das nur niemand? Warum hat Ubbo es nicht gesehen? Nur, weil du große Augen machen kannst und immer dafür sorgst, dass deine prallen Brüste gut zur Geltung kommen?
Bernhardine kochte innerlich.
"Vielleicht solltest du doch mal mit jemandem reden, Ma. Mit jemandem, der mehr davon versteht und das professionell macht."
"Du redest von einem Psychologen."
"Ma, du sagst das, als ob..."
"Früher nannte man so einen doch Irrenarzt, oder nicht?"
"Ma!"
"Ja, guck mich nicht so an. So is' es doch!"
Eine quälend lange Pause entstand.
Bernhardine verschränkte die Arme vor der Brust, blickte hinaus in den Garten. Tasso, die Riesendogge, trottete auf die gläserne Terrassentür zu, versuchte sie mit der Nase zu öffnen. Bernhardine half dem Riesenviech, bevor es damit anfangen konnte, am Türrahmen herumzukratzen.
Der Hund kam herein, lehnte sich gegen Bernhardines Hüfte.
"Ma, wir müssen noch eine andere Sache miteinander besprechen."
"So?"
"Ja, ich weiß, du bist mit Gretus' Tod innerlich beschäftigt und da ist nicht viel Platz für andere Gedanken..."
"Wie gut du meine Gedanken kennst, Rena!" Bernhardines Tonfall troff nur so vor Spott. Nimm dich zusammen!, wies sich die Witwe selbst zurecht. Was soll denn diese Bitterkeit, dieser Zynismus? Er zerfrisst dich am Ende nur selbst.
"Das Leben geht weiter, Ma!"
"Ja, das vergesse ich schon nicht!"
"Ma, dein Mann wollte die FF-Boutique kaufen... Ich bin jetzt noch mal darauf angesprochen worden. Es müssen da jetzt endlich Nägel mit Köpfen gemacht werden!"
"Vorerst habe ich mit den Geschäften, die bereits im Familienbesitz sind, genug zu tun", sagte Bernhardine ausweichend.
"Ma, ICH würde mich doch um die Boutique kümmern. Du weißt, das war immer mein Traum."
"Geschäfte betreibt man nicht, um sich Träume zu erfüllen, sondern um Geld zu machen, mein Kind!"
"Gretus wollte es so!"
Bernhardine wirbelte herum.
Ihre Augen wurden schmal.
Die Nasenflügel bebten leicht.
Ihre Stimme war kaum mehr als ein leises, drohendes Wispern.
"Gretus ist tot! Und wie du selbst gesagt hast, geht das Leben weiter, meine liebe Rena!" Bernhardines Blick ruhte auf Renas festen Brüsten und in Gedanken fügte sie noch hinzu: Zu deinem Unglück bin ich ja gegen die Wirkung deiner beiden Hauptargumente ziemlich immun, liebe Schwiegertochter!
Rena schluckte.
"Was soll das heißen?"
"Dass vorerst an so eine große Investition nicht zu denken ist, Rena."
"Das ist nicht dein Ernst!"
"Das ist mein Ernst!"
"Und Ubbo? Hast du das schon mit ihm besprochen?"
Bernhardine verzog das Gesicht. Ein hartes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. "Du magst ihn ja für ein Muttersöhnchen halten, Rena. Aber rechnen kann er!"
––––––––
6.
Lorant fuhr zum Tatort. Er hatte sich den Weg auf der Karte genau angesehen. Diesmal bog er nicht auf den Parkplatz zwischen Landhaus und Meerwarthaus ab, sondern fuhr ein Stück weiter. Eine Abzweigung führte zu einem Campingplatz. Der Schlagbaum, der sonst den Zugang zum Meer für Fahrzeuge versperrte, war oben. Lorant passierte ihn, fuhr bis zu einer Art Wendehammer. Dort stellt er den Wagen ab.
Ein Fahrrad- und Spazierweg zog sich parallel zum Ufer des Großen Meeres durch Schilfareale, dann weiter in Richtung Meerwarthaus.
Links befand sich der Hafen des Campingplatzes, zu dem auch eine ins Meer hineinragende Halbinsel und ein Stichkanal gehörten. Das verrostete Tor war offen.
Ein paar Surfer schoben ihre Bretter auf Rädern zur Halbinsel. Der Wind hatte spürbar zugenommen. Und er war eisig, passte überhaupt nicht zu dem Sonnenschein, der den ganzen Tag geherrscht hatte.
Rechts befand sich jene Hafenbucht, die sich zwei Segelclubs teilten, wie die Aushänge in einem Schaukasten überdeutlich machten.
Eine Karte machte die Aufteilung klar.
Das Tor war geschlossen.
Die Sonne stand bereits ziemlich tief, hatte sich rot-orange verfärbt und spiegelte sich im glitzernden Wasser. Ein einmaliges Farbenspiel. Wie auf einer Postkarte!, dachte Lorant. Ein Ort, viel zu schön, um zu sterben. Und zu morden! Aber offenbar hatte jedes Paradies seine Schlange. Eine Naturkonstante gewissermaßen.
Lorant ging am Zaun entlang, der das Gelände abschirmen sollte. An den Zaun schloss sich ein Flachdachgebäude an, dem seine Vergangenheit als Sanitär- und Umkleidehaus einer Badeanstalt deutlich anzusehen war.
Im hinteren Teil des Gebäudes war eine Töpferei untergebracht.
Ein Mercedes war über den Spazierweg bis direkt vor die Töpferei gefahren.
Ein grauhaariger, bärtiger Mann, dessen Frisur an die zerzauste Haarpracht eines Wikingers erinnerte, war damit beschäftigt, Kisten aus dem Kofferraum des Wagens heraus ins Innere der Töpferei zu transportieren.
Neben der Töpferei gab es einen freien Durchgang zum Hafengelände.
"Moin!", sagte der Töpfer.
"Hallo!", erwiderte Lorant.
"Kann man hier durch oder kriegt man dann Ärger?", fragte Lorant.
Der 'Wikinger' starrte Lorant etwas verwirrt an.
"Ey, wie meinst du das denn?", fragte er.
Ein Ex-68er!, dachte Lorant. Leicht zu identifizieren an der höflichen und etwas distanzierten Anrede 'ey', kombiniert mit dem Vertrauen schaffenden 'du', selbst bei völlig fremden Personen.
Lorant deutete in Richtung Wasser.
"Da will ich hin!", sagte er.
"Na, warum gehst du dann nich'?"
"Dann werde ich mal gehen!"
"Tu das. Aber die Wiese steht fast ganz unter Wasser. Keine Gummistiefel dabei?"
"Nein."
"Selber Schuld."
Blöder Sack!, dachte Lorant und passierte den ungefähr zwei Meter breiten Durchgang neben der Töpferei. Als der gepflasterte Bereich aufhörte, stand er wenig später bis zu den Knöcheln im Wasser, sank dabei förmlich in den Schlamm ein. So ein Mist!, dachte er und spürte dabei die Feuchtigkeit in seine Turnschuhe hineinkriechen. So hatte er sich das nicht vorgestellt.
Er fragte sich, warum noch niemand auf die Idee gekommen war, hier Reis anzupflanzen. Lorant erinnerte sich an Reportagen über Südostasien, in denen man mit Reisbauern mit riesigen Strohhüten hinter ihren gewaltigen Zebu-Ochsen her knietief durch das auf ihren Reisfeldern stehende Wasser stapfen sah.
War das nicht eine landwirtschaftliche Alternative für Norddeutschland?
Schließlich gab es in der EU doch Rindfleischberge und Milchseen. Aber von einem Reisüberschuss hatte Lorant noch nie etwas gehört.
Liegt wahrscheinlich am schlechten Wetter, dass man das hier nicht macht!, ging es ihm durch den Kopf.
Beim jedem seiner Schritte entstand ein watschendes Geräusch.
Der 'Wikinger' war mit seinen Packarbeiten offenbar fertig. Jetzt stand er neben dem Eingang seines Töpferladens und beobachtete Lorant.
"Hab' ich ja gesagt!", stieß er hervor, als Lorant sich umdrehte.
Lorant lag eine ziemlich ätzende Erwiderung auf der Zunge, aber dann wurde seine Aufmerksamkeit durch etwas anderes abgelenkt.
Durch einen winzigen leuchtend blauen Punkt.
Und der passte irgendwie farbmäßig nicht in diese Wiese mit ihrem sattgrünen Gras und dem dunklen, mit Schlamm gesättigten Wasser.
Lorant bückte sich, griff in die Matsche und holte einen Kugelschreiber aus der Brühe.
"Na, Gold gefunden?", lachte der 'Wikinger'.
"Ja, so etwas ähnliches", murmelte Lorant und betrachtete den Kugelschreiber genauer. Er drehte ihn herum, wischte mit dem Zeigefinger die Matsche weg. SLUITER BOOTS- UND SEGELBEDARF NESSERLÄNDER STRASSE 34 XXXX EMDEN war darauf gedruckt worden. Die Postleitzahl von Emden war allerdings nicht mehr zu lesen, weil dort die äußere Farbschicht abgeblättert war.
Lorant stapfte zurück zu dem 'Wikinger', zeigte ihm den Stift.
"Hier ist vor kurzem jemand ums Leben gekommen, der so hieß, nicht wahr?", fragte Lorant.
"Wieso interessiert dich dat denn? Polizei?"
"Nein. Privatdetektiv."
Lorant kramte in seinen Jackentaschen herum, suchte nach seinem Ausweis.
"Nich' gut sortiert, wa?"
"Hier!", hielt Lorant ihm seine eingeschweißte Karte entgegen. Irgendwelche legalen Befugnisse waren damit in Deutschland zwar nicht verbunden, aber in der Regel machte Lorant damit großen Eindruck. Die Macht des Fernsehens war eben letztlich doch stärker als die des Bürgerlichen Gesetzbuches und seiner Bestimmungen.
Lorant nahm dem 'Wikinger' den Kugelschreiber wieder aus der Hand.
"Das ist ein Beweisstück!", meinte der Haarige. "Das musst du den Bullen geben!"
Sieh an, dachte Lorant. In Wahrheit also doch ein Spießer! Wie tröstlich.
"Das mache ich auch."
"Also der Sluiter, der ist dahinten auf seinem Boot umgekommen."
"Welches ist es denn?"
"Der rotweiße Jollenkreuzer."
"Der, an dem JERRY dransteht?"
"Ja."
"Wieso nannte Gretus Sluiter sein Boot JERRY?"
"Was weiß ich? Vielleicht ist er JERRY COTTON-Leser!"
"Und ich dachte immer, Segler benennen ihre Boote nach ihren Frauen, um sie gnädig zu stimmen."
"Warum gnädig stimmen?"
"Weil sie so viel Zeit auf dem Boot und so wenig mit ihren Frauen verbringen."
Der Wikinger machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ey, du redest 'nen Quatsch!" Dann deutete er hinaus zu den Booten. "Am besten du fragst mal Ihno Carstens, den Hafenmeister vom Yachtclub. Dahinten siehst du ihn an seiner Jolle herumschrauben. Der Ihno muss den Toten gut gekannt haben. Schließlich waren sie im selben Yacht-Club."
"Und Sie? Sind Sie nicht im Yacht-Club?"
"Ey, nix für ungut, abba mit deinem 'Sie' gehst du mir auf die Eier!"
"'Tschuldigung, war keine Absicht."
"Also ich bin nich' im Yacht-Club, sondern bei der Konkurrenz auf der anderen Hafenseite."
"Ach so."
Lorant betrachtete noch einmal kurz den Kugelschreiber. Die Witwe scheint recht gehabt zu haben, dachte er. Die Ermittlungen waren offenbar nicht sonderlich sorgfältig durchgeführt worden.
Sonst hätte man den Kuli einfach nicht übersehen dürfen.
Wahrscheinlich hatte man gar nicht danach gesucht.
Lorant sah sich um, ließ den Blick schweifen. Was, wenn Gretus Sluiter nicht auf oder an seinem Boot starb, sondern genau hier?, dachte er. Ein Schlag auf den Kopf, Sluiter sank zu Boden, der Täter schleifte ihn davon und dabei verlor er den Stift.
So konnte es gewesen sein.
Lorant war gespannt darauf, was sein staatlich-bezahlter Kollege Kriminalhauptkommissar Meinert Steen dazu sagen würde, wenn er ihn darauf ansprach.
––––––––
7.
Lorant ließ den 'Wikinger' hinter sich, stapfte durch die nasse Wiese auf das Boot von Gretus Sluiter zu. Inzwischen lag es längst wieder an seinem Liegeplatz. Schräg gegenüber am Ausgang des Hafenbeckens befand sich ein Schilf-Areal. Dort war die JERRY offenbar steckengeblieben. Das verwunderte nicht. Bereits aus der Entfernung war anhand der Wellenbrechung zu sehen, wie flach es dort sein musste.
Ein paar Liegeplätze weiter montierte ein ziemlich kahlköpfiger Mann an seinem Boot herum. Er war gerade damit beschäftigt, eine Ankerwinde zu befestigen.
Als er Lorant bemerkte, musterte er ihn misstrauisch.
"Mein Name ist Lorant, ich bin Privatdetektiv und ermittle im Fall Sluiter."
Der Mann runzelte die Stirn. Er erhob sich, wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab.
"Ja, und?"
"Sie sind Ihno Carstens, der Hafenmeister?"
"Jooo."
"Angeblich sollen Sie Gretus Sluiter gut gekannt haben."
"Gretus war eine Zeitlang Schriftführer bei uns im Yachtclub, als ich zweiter Vorsitzender war."
"Privat kannten Sie ihn nicht?"
"Natürlich kannte ich ihn privat. Aber..."
"Aber was?"
"Ich dachte, es stünde jetzt fest, dass Gretus verunfallt ist?"
"Für seine Witwe steht das überhaupt nicht fest."
Ihno Carstens schluckte. "Tja, ich meine ja nur. Meinert sagte so etwas letztens..."
"Sprechen Sie von Meinert Steen? Kriminalhauptkommissar Meinert Steen?"
Carstens nickte hastig. "Ja, genau!"
"Ist der auch im Yacht-Club?"
"Hören Sie, was wollen Sie eigentlich? Sie schnüffeln hier herum, stellen Fragen, die..."
"..die Ihnen schon zu nahe gehen? Tut mir leid, ich wollte nicht indiskret sein. Es ist nur so: Angeblich soll Sluiter an oder auf seinem Boot gestorben sein. Aber ich habe dahinten bei der Töpferei einen seiner Kugelschreiber gefunden und frage mich jetzt, ob er nicht auch dort zu Tode gekommen sein könnte." Lorant zuckte die Achseln. "Darüber mache ich mir eben so meine Gedanken."
"Na, dann denken Sie mal schön..."
"Sagen Sie, Sie kennen nicht zufällig jemanden, der ein Motiv gehabt haben könnte, Gretus Sluiter umzubringen?"
Ihno Carstens' Gesicht wurde starr. "Niemand, den ich kenne, würde so etwas tun!", behauptete er.
Lorant zuckte die Achseln.
"Jemand HAT es aber getan, Herr Carstens."
Er wandte sich herum, ging in Richtung des Liegeplatzes der JERRY. "Vielleicht sehen wir uns ja nochmal und unterhalten uns etwas ausführlicher!", rief er Carstens zu, bevor er dann mit einem weiten Schritt an Bord des Jollenkreuzers ging. Es war nicht ganz leicht, über die Reling zu klettern. Mit dem Klettverschluss eines Turnschuhs blieb er im Netz hängen.
"Was machen Sie?", rief Carstens.
"Ich sehe mich um!"
"Dürfen Sie das denn?"
"Frau Sluiter bezahlt mich sogar dafür!"
Lorant ließ den Blick schweifen. Die Polizei hatte die JERRY vermutlich gründlich unter die Lupe genommen. Hoffentlich gründlich genug!, dachte Lorant. Auf Blutspuren oder Fingerabdrücke brauchte er jetzt nicht mehr zu hoffen. Dazu war auch schon viel zu viel Zeit vergangen. Und das überaus feuchte ostfriesische Wetter hatte eine gewissermaßen reinigende Wirkung.
Sluiter wandte sich dem Kajüteneingang zu.
Das Schloss war leicht mit einer Kreditkarte zu öffnen.
Im Inneren herrschte Chaos. Segelzeug, eine Anglerhose, zwei lange Ruder für den Fall einer Flaute, ein geöffneter Werkzeugkasten.
Lorant stieg hinab.
An der Wand hing ein Barometer, daneben eine Meerjungfrau aus Messing. Das Innere war mit Holz ausgetäfelt.
Auf dem Boden fiel Lorant eine Kugel auf.
Eine Boßel-Kugel, wie er inzwischen aus eigener leidvoller Erfahrung wusste.
Lorant nahm sie in die Hände.
Die Kugel bestand aus Hartholz.
Wieso hat er dieses Ding nur mit auf sein Boot genommen?, fragte sich Lorant und ließ sich mit der Kugel im Arm auf das Polster der Sitzbank nieder.
Es muss einen vernünftigen Grund dafür geben!, durchzuckte es ihn. Er zermarterte sich förmlich das Hirn darüber. Im Geist hörte Lorant die swingende Basslinie von SO WHAT. Mit dem linken Fuß trat er die betonten Taktzeiten mit, während seine Finger auf der Hartholzkugel herumtickten.
Es musste eine Erklärung geben!
Aber da war eine andere Stimme in ihm, die ganz anderer Ansicht war.
Hat es für das Verschwinden deiner Frau eine Erklärung gegeben, Lorant?, fragte diese Stimme. Das unerklärbare Chaos ist der Normalzustand der Welt, Lorant! Vergiss das nicht!
Lorant schloss für einige Sekunden die Augen.
Jetzt nicht, dachte er. Jetzt bitte nicht diese Gedanken.
––––––––
8.
Am nächsten Morgen frühstückte Lorant in Beate Jakobs' Lokal. Wie bei Oma zu Besuch!, dachte Lorant. Nur der etwas überdimensionierte Schanktisch erinnerte daran, dass man sich in einem Gasthaus befand. Dieser Schanktisch war mit seinen abgerundeten Formen ganz im Stil der Siebziger. Wahrscheinlich genauso alt wie die Wasserleitung und der Kaugummiautomat, der an der Wand hing.
Der Kaffee war ziemlich dünn, aber ansonsten war das Frühstück genau nach Lorants Geschmack.
Mohnhörnchen, Brötchen, ein weich gekochtes Ei und Aufschnitt.
"Ich gebe ja zu, dass ich nich' allzu oft Kaffee koche!", meinte Beate Jakobs. "Wenn Sie Tee genommen hätten, dann hätten Sie den so richtig nach Friesen-Sitte serviert gekriegt. Aber bei uns im Haus trinkt niemand Kaffee."
"Ist alles in Ordnung, Frau Jakobs."
"Wenn Sie wollen, können Sie die Zeitung haben. Hat mein Schwiegersohn schon gelesen -—ist aber noch alles drin."
"Gerne."
Beate Jakobs ging hinter den Tresen, holte die wieder zusammengefaltete Zeitung und reichte sie Lorant. "Mein Schwiegersohn hat sie auch bestimmt nich' auf'm Klo gelesen, sondern in der Küche."
Lorant lächelte.
"Ich werde sie trotzdem lesen. Danke."
"Es wäre allerdings schön, wenn Sie sie ebenfalls wieder zusammenfalten würden. Ich habe nämlich zur Zeit noch einen anderen Gast. Kommt aus'm Ruhrgebiet. Der steht allerdings immer erst sehr viel später auf und..."
"...und der soll auch noch alles lesen können."
"So is' es!"
"Kein Problem."
Lorant schob das Mohnhörnchen in den Mund, biss ein Stück davon ab und begann zu kauen, während Beate Jakobs in der Küche verschwand.
Lorant schlug die Zeitung auf.
Eine Schlagzeile lautete:
KICKERS EMDEN: LEISTUNGSTRÄGER SOLLEN BLEIBEN!
Lorant blätterte weiter.
ALTE FLIEGER UND ALTE AUTOS, hieß es da. JAGDGESCHWADER 71 'RICHTHOFEN' IN WITTMUND VERLIERT SICHERUNGSSTAFFEL UND HOFFT AUF STAB, lautete der Untertitel. Und weiter: 'Für die Gebäude ist so wenig Geld da, dass womöglich die Sporthalle geschlossen werden muss. Eine schlechte Nachricht auch für Zivilisten, denn die Halle wird auch von Vereinen genutzt.' Auf dem zum Bericht gehörigen Foto lächelte der Standort-Kommodore zwar, aber das Zitat, mit dem er wiedergegeben wurde, wirkte eher besorgniserregend: 'In den letzten zwei Wochen mussten drei Mal Flugübungen unterbrochen werden, weil das vorgeschriebene vierte Feuerwehrauto ausfiel. Es ist ein Trauerspiel.'
Unter diesen Bedingungen macht so ein Kommodore-Job wohl auch keinen Spaß mehr!, dachte Lorant. Gut, dass der Kalte Krieg vorbei ist!
Dann fiel dem Detektiv eine kleine Meldung am Rand auf.
LEICHE MIT BOßEL-KUGEL IM ARM
Lorant war wie elektrisiert.
'Auf der an der A 28 in der Nähe von Oldenburg gelegenen Autobahnraststätte Huntetal wurde die Leiche eines Mannes entdeckt. Der Tote war in einen Teppich eingewickelt worden und muss so die letzten Wochen in einem Gebüsch hinter der Leitplanke bei der Ausfahrt gelegen haben. Da die Leiche keine Papiere bei sich trug und laut Polizeisprecher Barstrup vom Dezernat für Tötungsdelikte starke Spuren der Verwesung aufwies, konnte der Mann bislang nicht identifiziert werden. Als Todesursache werden Schläge auf den Kopf angegeben. Im gerichtsmedizinischen Institut Bremen versucht man jetzt, die genaue Todeszeit zu ermitteln sowie eine plastische Rekonstruktion des Gesichtes zu erstellen, um eine Identifikation zu ermöglichen. Rätsel gibt der ermittelnden Mordkommission auch eine Boßel-Kugel auf, die mit dem Opfer zusammen in den Teppich eingerollt war.'
Lorant blickte auf, vergewisserte sich, dass Beate Jakobs nicht gerade in diesem Moment in den Schankraum zurückkehrte.
Auch wenn ich mir den Zorn dieser liebenswürdigen alten Dame und ihres Gastes einhandele -—diesen Artikel brauche ich!, ging es ihm durch den Kopf.
Er nahm die Seite aus der Zeitung, faltete sie und steckte sie ein. Den Rest sortierte er sorgfältig.
Schritte von der Treppe waren zu hören.
Ein Mann Mitte dreißig betrat gähnend den Schankraum. Er trug Jeans und ein Sweatshirt. Die dicken Ringe unter seinen Augen sprachen dafür, dass er nicht viel Schlaf bekommen hatte.
"Moin!", knurrte er und setzte sich an jenen Tisch, den Beate Jakobs für ihn gedeckt hatte. Er schob sich die Ärmel seines Sweatshirts hoch. Die Unterarme waren tätowiert. Drachen im chinesischen Stil, mit großen Augen und schlangenähnlicher Flammenzunge.
"Ich dachte, Sie kämen aus dem Ruhrgebiet", begann Lorant ein Gespräch.
Der Tätowierte blickte auf.
"Häh?"
"Na, weil Sie 'Moin' gesagt haben."
"Ja, aber das sagt man hier doch so."
Er rieb sich die Augen, lehnte sich zurück und stierte Lorant dann völlig entgeistert an. "Woher wissen Sie, dass ich aus dem Ruhrgebiet komme?"
"Ihr Autokennzeichen", log Lorant.
"Was reden Sie für'n Quatsch! Ich habe überhaupt kein Auto!"
"Ach, nein?"
"Ich bin mit dem Motorrad hier!"
"Naja..."
Der Tätowierte deutete Richtung Tresen. "Hat die Alte wieder rumgequatscht, woll? Furchtbar ist das. Die kann einfach ihren Mund nicht halten. Wenn ich mal meine Maschine verkaufen will, sag' ich's am besten einfach ihr! Wetten, ich hätte innerhalb eines halben Tages ein Dutzend Kunden hier vor der Haustür stehen? Wetten?"
"Brauchen wir nicht. Ich glaub's auch so."
Lorant erhob sich und sah auf die Armbanduhr.
Es war exakt acht Uhr.
Etwa gegen halb neun konnte er das Polizei-Präsidium in Emden West erreichen.
Eigentlich müssten dann die Sesselpupser der hiesigen Kriminalpolizei schon aus den Federn sein!, dachte Lorant.
––––––––
9.
Kriminalhauptkommissar Meinert Steen hörte Lorants Ausführungen einigermaßen geduldig zu, schob dabei allerdings immer wieder den Daumen der rechten Hand unter den Halter des Kugelschreibers, sodass es in mehr oder minder regelmäßigen Abständen ein klickendes Geräusch gab.
"So, Frau Sluiter hat Sie beauftragt, in dieser Sache zu ermitteln", wiederholte Steen gedehnt.
"Ja. Und ich ersuche Sie um Ihre Unterstützung."
"Wäre es nicht vielleicht doch angebracht, die Ermittlungen in diesem Fall den Profis zu überlassen?" Steen zeigte ein öliges Lächeln. Seine Haare begannen gerade grau zu werden. Seine Augen wirkten etwas hervorgequollen und wenn er sprach, tanzte der Adamsapfel munter auf und nieder. Er trug ein verknittertes, kleinkariertes Jackett, das aus keinem sonderlich edlen Stoff bestehen konnte.
Wahrscheinlich hundert Prozent Polyester, dachte Lorant. Aber, wenn er Segler ist, kann er den Fetzen hinterher als Dichtungsmasse für sein Boot benutzen!
Meinert Steen lehnte sich zurück, spielte jetzt ganz offen mit seinem Kugelschreiber herum und tickte damit auf dem Tisch. Kein Gefühl für Rhythmus!, war Lorants Überlegung dazu. So etwas störte ihn einfach.
"Ich verstehe, dass Frau Sluiter es einfach nicht wahrhaben will, dass Ihr Mann möglicherweise einfach nur verunfallt ist und nicht einem ominösen Killer zum Opfer fiel. Aber bislang haben wir keinerlei Beweise dafür, dass wirklich Fremdverschulden vorliegt."
Lorant holte den Kugelschreiber hervor, den er bei der Töpferei gefunden hatte und reichte ihn Steen.
"Was soll ich damit?"
Als Lorant dem Kriminalhauptkommissar erläuterte, wo und wann er den Stift aufgefunden hatte, war in Steens Gesicht eine Art maskenhafte Erstarrung zu registrieren.
Lorant war klar, dass er jetzt sehr vorsichtig sein musste.
Allein schon das Vorhandensein eines Beweisstückes, das die ermittelnden Beamten unter Steens Leitung ja wohl ganz offensichtlich übersehen hatten, deutete eine empfindliche Seele wie er bereits als massive Kritik. Und dann fielen bei Steen erst recht die Jalousien runter. So jedenfalls schätzte Lorant ihn ein. Er kannte diese Typen. Zwanzig Jahre hatte er mit ihnen zusammenarbeiten müssen. Nichts war so schlimm für sie, als einmal zugeben zu müssen, dass sie sich schlicht und ergreifend geirrt hatten.
"Ich denke, dass Herr Sluiter bei der Töpferei gestorben sein könnte", sagte Lorant.
Steen hob die Augenbrauen hoch.
"Und wie kam er dann zum Boot?"
"Durch Handarbeit. Er ist hingeschleift oder hingetragen worden, was weiß ich?"
"Und hat dabei den Kuli verloren, darauf soll's doch wohl hinausgehen, was?"
"Erraten."
Steen legte den Kugelschreiber auf den Tisch.
"Aber sonst haben Sie keinen Anhaltspunkt für Ihre Theorie."
Lorant hob die Schultern. "Nein."
"Na, sehen Sie!"
"Aber..."
"Für das Vorhandensein dieses Kugelschreibers an der von Ihnen angegebenen Stelle gibt es eine Reihe anderer möglicher Erklärungen, von denen ich behaupten würde, dass sie erheblich näherliegend sind!"
"Und die wären?"
Steen seufzte. Er verdrehte die Augen, nahm einen Schluck aus der Mineralwasserflasche, die er neben seinem Schreibtisch stehen hatte. Dass er Lorant nichts zu trinken -—nicht einmal Tee! - angeboten hatte, nahm Lorant nicht persönlich. Wahrscheinlich wollte Steen das Gespräch mit der lästigen privaten Konkurrenz ganz einfach so kurz wie möglich halten. Aus seiner Sicht war das verständlich.
Steen sagte: "Woher kommen Sie, Lorant?"
"Im Moment wohne ich in Köln."
"Sie kennen die Verhältnisse einfach nicht gut genug, um den Sachverhalt klar erkennen zu können."
"Aber Sie können das."
"Ich denke schon."
"Dann beantworten Sie mir doch bitte eine Frage, Herr Steen."
"Ausnahmsweise, Lorant."
Nicht einmal für den 'Herrn' ist bei ihm noch Zeit!, registrierte Lorant. Deutlich klang die Herablassung aus Steens Worten heraus. Lorant beschloss, sich nicht das Geringste anmerken zu lassen. Gnadenlos konstruktiv bleiben!, wies er sich selbst an. Eine andere Chance hatte er auch nicht, als diesem trockenen Brötchen namens Meinert Steen irgendetwas an Informationen herauszukitzeln.
"Sie sind doch auch beim Boßeln aktiv, oder?"
"War das schon Ihre Frage, Lorant?"
"Nur der erste Teil."
"Ja, ich boßel hin und wieder, wenn ich die Zeit erübrigen kann."
"Dann können Sie mir vielleicht sagen, was eine Boßel-Kugel an Bord der JERRY zu suchen hatte?"
"Der was?"
"Das ist der Name von Sluiters Jollenkreuzer."
"Ach so."
"In der Kajüte lag eine Boßel-Kugel, und ich fand, dass sie irgendwie nicht dorthin passte!"
"Meine Güte, jetzt habe ich aber die Nase voll! Die Hälfte der Sachen, die hier im Büro herumliegt, gehört gar nicht hier hin! Und eine Bootskajüte hat nun mal die Eigenschaft, dass sich da über kurz oder lang alles mögliche an Krempel ansammelt!"
"Dürfte ich die Bilder vom Tatort mal sehen? Kommen Sie, Herr Steen, das können Sie mir eigentlich nicht abschlagen. Vielleicht bin ich danach ja auch überzeugt, dass Frau Sluiter etwas übertreibt..."
"Und...und geben Ihren vermutlich lukrativen Auftrag wieder zurück?" Steen lachte schallend auf. "Das glauben Sie doch wohl selber nicht, Lorant!"
Lorant zuckte die Achseln.
Steen zögerte einige Augenblicke lang, bedachte Lorant mit einem nachdenklichen Blick und stieß sich dann mit dem Fuß vom Schreibtisch ab, sodass er mitsamt seinem Rollstuhl dem Aktenschrank entgegenrollte.
Zielsicher griff er einen bestimmten Ordner heraus, legte ihn vor Lorant auf den Tisch und schlug ihn auf.
Für Sekundenbruchteile konnte Lorant die Zeile GERICHTSMEDIZINISCHES GUTACHTEN lesen, aber dann hatte Steen die Seite umgeschlagen. Das gerichtsmedizinische Gutachten hätte Lorant natürlich ebenso brennend interessiert wie die Bilder vom Tatort. Aber der Detektiv wollte den Bogen nicht überspannen.
"Hier sind die Bilder", sagte Steen und deutete mit den Fingern auf die sorgfältig einsortierten Fotos.
Lorant konnte sich gut vorstellen, dass einer wie er die Urlaubsfotos von 1976 mit einem Griff zur Hand hatte und alle sechs Wochen einen Dia-Abend mit einer kleinen Auswahl von etwa sechstausend Bildern aus seinem großen Bildbestand zur Vorführung brachte. Jedem Tierchen sein Pläsierchen, dachte Lorant, während er die Bilder betrachtete.
Mit einem Fuß hing Gretus Sluiter im Netz der Reling fest. Wie dahindrappiert sah das in Lorants Augen aus.
Ein inszenierter Tod...
Ein inszenierter Mord!
Auf keinen Fall ein Unfall.
Lorant hatte in all den Jahren, in denen er sich schon mit ungeklärten Mordfällen auseinandersetzte, eine Art sechsten Sinn dafür entwickelt. Und meistens hatte er mit seinen ersten Ahnungen richtig gelegen.
Lorant schluckte.
Da war sie.
Die Boßel-Kugel.
Lorant beugte sich so nahe an das Bild heran, wie es möglich war.
"Brauchen Sie eine Brille?", fragte Steen ätzend.
"Kann das sein, dass da Blut an dieser Boßel-Kugel klebte?"
"Ja, das kann nicht nur sein, das WAR auch so."
"Was hat die Kugel neben der Leiche zu suchen?"
"Den, der sie da hingelegt hat, können wir leider nicht mehr fragen."
"Sie meinen den Mörder!"
Steen lächelte dünn. "Nein, ich meine Gretus Sluiter. Denn wem sollte die Kugel sonst gehört haben?" Er seufzte. "Wie ich schon sagte, auf so einem Boot liegt immer eine Menge Zeug herum. Sluiter hat ja auch zwei Enkelkinder, die ab und zu mitgefahren sind.... Haben Sie Kinder?"
"Nein."
"Dann haben Sie auch keine Ahnung, was die einem alles an Bord schleppen. Ich spreche da aus eigener Erfahrung."
"Aber Boßel-Kugeln sind kein Kinderspielzeug."
Steen nahm Lorant die Akte wieder ab. "Jetzt ist Schluss", bestimmte er. "Ich habe Ihnen schon mehr zugestanden, als ich eigentlich dürfte. Aber jetzt haben Sie den Bogen schlichtweg überspannt."
Lorant nahm den Zeitungsartikel über die Leiche in Huntetal aus dem Jackett und breitete ihn vor Steen aus.
"Schon gelesen?"
Steen überflog rasch die wenigen Zeilen.
"Was soll das mit dem Fall Sluiter zu tun haben?"
"Die Boßel-Kugel..."
"Jetzt werden Sie nicht albern, Lorant. Und wenn Sie nichts weiter vorzubringen haben, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich jetzt meine Arbeit machen ließen."
Lorant erhob sich aus dem quietschenden Bürostuhl, in dem er Platz genommen hatte. Das war nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein offener Rauswurf. Okay, dachte Lorant, dann ist die Kooperation damit wohl erst mal beendet.
Lorant wandte sich zur Tür.
Er drückte die Klinke hinunter, dann drehte er sich noch einmal herum.
"Was gibt's denn noch?", nörgelte Meinert Steen.
"Sluiter hatte Ärger mit einer Russengang", sagte Lorant.
"RusslandDEUTSCHE waren das. Betonung auf DEUTSCHE, denn die haben alle einen deutschen Pass."
"Wie auch immer. "
"Sie sehen natürlich gleich einen Zusammenhang zwischen den Schwierigkeiten mit dieser Gang und Sluiters Tod. Aber da muss ich Sie enttäuschen, Lorant."
"So?"
Steen lächelte gezwungen.
"Wir haben denen auf den Zahn gefühlt. Sluiter war nicht der einzige Geschäftsmann, bei dem die Ärger gemacht haben. Jetzt laufen ein paar Jugendgerichtsverfahren und ich denke, damit ist die Sache erledigt."
"Meinen Sie?"
"Viel Erfolg bei Ihren Ermittlungen, Lorant. Aber sorgen Sie hier bitte nicht für unnötigen Stress, ja?"
Lorant nickte und dachte dabei: Das wird sich möglicherweise nicht vermeiden lassen, Herr Steen!
––––––––
10.
Ubbo Sluiter kaute gelangweilt auf einem Stück Weißbrot herum und las im Sportteil der Zeitung. "Das Foto hätte der Typ von der Zeitung auch anders knipsen können!", knurrte er.
Rena trank ihren Tee leer.
Der Appetit war ihr gründlich vergangen, und so aß sie nicht einmal die gesunden Körner, die sie sich allmorgendlich gönnte, weil alles andere Gift für den Teint und die gute Figur war.
Ubbo blickte auf, sah seine Frau an.
"Der hat das so geknippst, dass die Bandenwerbung von uns nicht sehen ist!"
"Glaubst du, es kauft jemand auch nur einen einzigen Bootsmotor, weil er bei den Spielen von Kickers Emden die Bandenwerbung von SLUITER gesehen ht?"
"Meine Güte, wozu macht man denn Bandenwerbung?"
"Dein Vater wohl deshalb, weil er meinte, dass die Firma über zuviel Geld verfügte."
"Rena!"
"Ist doch wahr."
"Über Tote sollte man nicht so reden. Außerdem...."
"Ja?"
"Ich dache, du hättest dich immer ganz gut mit Pa verstanden."
"Habe ich. Im Prinzip jedenfalls."
Rena atmete tief durch. Es war ruhig im Haus, wenn Marvin und Kevin zur Schule waren. Fast friedlich. Nur der Presslufthammer am Ende der Straße ging ihr auf die Nerven. Aber dagegen war im Moment wohl nichts zu machen.
"Ma will vom Kauf der Boutique nichts mehr wissen, Ubbo."
Ubbo verschluckte sich fast, musste einen kräftigen Schluck Tee trinken, bevor er wieder zu Atem kam. Krebsrot lief er dabei an. Rena sah ihm ruhig zu. "Ich könnte auch ersticken und du würdest keinen Finger rühren, was?", keuchte er und atmete dann tief durch.
"Du übertreibst!"
"Na, das will ich hoffen."
"So schnell stirbt man nicht."
"Was du nicht sagst."
Rena nahm Ubbos Hand und umklammerte sie. Ubbo stellte verwundert fest, dass sie schweißnass war. Was mochte sie nur so stark beschäftigen?
"Ubbo, du musst dringend noch mal mit Ma reden!"
"Über die Boutique?"
"Meine Güte, wovon sprechen wir denn die ganze Zeit?" Ihr Tonfall wurde scharf, fast ätzend.
Ubbo sah seine Frau nachdenklich an.
Schön war sie.
Die Geburt zweier Kinder hatte daran nichts geändert. Die Jahre schienen beinahe spurlos an ihr vorrübergegangen zu sein und ihr nicht geschadet zu haben. Ganz im Gegenteil, sie war noch weiblicher geworden. Noch verführerischer.
Aber kennst du sie wirklich?, ging es Ubbo durch den Kopf. Weißt du, was hinter ihrer Stirn vor sich geht, welche Gedanken sie bewegen, wovon sie träumt?
Ubbo schluckte.
Die Boutique. Eine fixe Idee von ihr. Finanziell wahrscheinlich ein Fass ohne Boden, zumal er Rena bei aller Liebe oder was sonst er auch immer für sie empfinden mochte, die Kompetenz absprach, ein Geschäft zu führen. Sie wollte einfach nur ihren Traum verwirklichen. Die Boutique war ein Spielzeug für sie.
Die Jungs wurden größer und entpuppten sich außerdem als bei weitem nicht so pflegeleicht wie Ubbo und Rena es sich immer gewünscht hatten. Beide hatten Schulprobleme, fielen im Verhalten unangenehm auf.
Marvin litt zudem unter einer Lese/Rechtschreibschwäche. Bei Kevin war hingegen ADS diagnostiziert worden. ADS - die Abkürzung für Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. In früheren Zeiten hatte man so jemanden einfach als Zappelphilipp bezeichnet.
Irgendetwas ist schief gelaufen mit unseren Jungs, dachte Ubbo bei sich. Und mit unserer Ehe auch. Wann hat es angefangen? War von Anfang an der Wurm drin? Ach, hör auf mit diesen Grübeleien, die bringen nichts. Sei ein Mann, Ubbo, und sag deiner Frau klipp und klar, dass es mit der Boutique nichts wird. Sie wird toben, schimpfen, eine Weile wütend auf dich sein und keinen Sex mit dir machen, wenn sie erfährt, dass du längst mit deiner Mutter über die Sache gesprochen hast. Aber das wird vorübergehen.
Wie jedesmal...
"Hör mal, Rena..."
"Weißt du eigentlich, was diese Boutique für mich bedeutet? Ich habe schon immer davon geträumt, so ein Geschäft mit hippen Sachen zu führen."
"Hippe Sachen? Was soll das denn sein?"
"Na, Sachen, die hip sind eben! Im Trend! Meine Güte, du sprichst doch nicht nur Plattdeutsch!"
"Wie kommst du auf den Gedanken, dass es in Emden und Umgebung genug Leute gibt, die 'hippe' Sachen haben wollen. Regendichte Anoraks - ja! Aber dieses Zeug..."
Renas Gesicht wurde starr und kalt.
Ubbo erschrak beinahe.
Er konnte sich nicht erinnern, dass Rena ihm jemals zuvor derart fremd vorgekommen war.
"Die Sache ist längst entschieden, oder?"
"Rena!"
"Du hattest nie vor, mich in dieser Angelegenheit zu unterstützen. Und wahrscheinlich hast du auch längst mit deiner Mutter über alles geredet!"
Sei jetzt ehrlich, Ubbo!, rief eine Stimme aus dem OFF seines Bewusstseins. Sag ihr, wie es war. Das Herumgeeiere hat jetzt keinen Sinn mehr, sonst kocht bei ihr gleich die Milch über!
"Ma und ich haben alles durchgerechnet. Diese Boutique rechnet sich nicht. Wir werden sie nicht kaufen."
Na, ganz die Wahrheit ist das nicht gewesen!, kommentierte die leise Stimme in Ubbos Kopf. Aber es kommt ihr nahe...
Rena verschränkte die Arme vor den Brüsten.
"Wann hättest du es mir denn von dir aus gesagt?"
"Ach, Rena, ich weiß im Moment gar nicht, wo mir der Kopf steht!"
"Feigling!"
"Komm, lass uns das ein anderes Mal ausdiskutieren. Ich muss jetzt zum Geschäft. Wir bekommen heute Neuware und der Hieni, der schafft das nicht allein."
"Ja, flüchte nur!"
Was war das jetzt für ein Ausdruck in ihrem Gesicht - Verachtung? Jedenfalls schmerzte er Ubbo sehr. Wie ein Stich mitten ins Herz.
Ubbo stand auf.
Manchmal kommt alles auf einmal!, dachte er.
Er nahm sein Jackett vom Stuhl, zog es an.
Dann ging er zu Rena. Sie saß starr da. Er küsste sie. Sie blieb vollkommen starr und kalt. Das kannte er schon an ihr.
"Tschüss, Rena."
Sie antwortete nicht.
Er war bereits bei der Tür.
"Sag mal, was hältst du davon, dass Ma einen Detektiv engagiert hat? Hast du das etwa auch mit ihr zusammen ausgeheckt?"
"Nein, das hat Ma ganz allein entschieden."
"Wie üblich."
"Soll ich vielleicht versuchen, ihr Vorschriften zu machen?"
Rena lachte auf.
"Nee, Ubbo. DU nicht! DU wirklich nicht!"
––––––––
11.
Ubbo Sluiter war wie immer der erste, der beim Sluiter'schen Geschäft für Boots- und Segelbedarf eintraf. Lange vor den Angestellten. Erst in einer halben Stunde würden Hieni Dierks und Kilian Bruns eintreffen. Ubbo konnte bis dahin noch einiges in der Buchhaltung erledigen, den Warenbestand überprüfen und alles für die Anlieferung der Neuware bereit machen.
Ubbo parkte seinen Wagen auf dem großzügig angelegten Kundenparkplatz und stieg aus. In der Hand eine dünne schwarze Aktentasche.
Das Sluiter'sche Geschäft bestand aus einem langgezogenen Flachdachbau. Hier draußen, im Gewerbegebiet an der Nesserländer Straße war Platz genug. Anders als bei der Filiale in der Innenstadt, in der man kaum ein halbes Dutzend bunt bemalter Surfbretter wirkungsvoll drapieren konnte.
Das Gespräch mit Rena beschäftige ihn noch stark.
Der Klang ihrer Stimme hallte in seinem Inneren nach. Ein Klang wie Eis. Wenn sie nicht bekam, was sie wollte, konnte sie wirklich unausstehlich werden. Eigentlich war das alles andere als eine neue Erkenntnis. Aber nie zuvor war diese Tatsache Ubbo Sluiter so bewusst geworden.
Er griff in die Hosentasche, holte den Schlüssel heraus und trat ein.
Das Telefon schrillte schon.
Ubbo Sluiter umrundete den Tresen, legte die Tasche ab und griff nach dem Hörer.
"Ja? Ubbo Sluiter hier?"
"Moin, hier spricht Schroeder. Ich wollte nur sagen, dass der Sinker F-412 bei der heutigen Lieferung nicht dabei ist."
Ubbo atmete tief durch. Der Sinker, ein Surfbrett für besonders schnelle Flitzer und starken Wind. Nur etwas für Könner.
Ganz ruhig bleiben, Ubbo!, dachte er.
Der Tag hatte schlecht begonnen, und es sah ganz danach aus als würde es jetzt in derselben Manier weitergehen.
"Unser Kunde wartet auf das Teil!", gab Ubbo zu bedenken.
"Tut mir leid.... Beim nächsten Mal!"
Ubbo blickte auf. Jemand war an der Tür. Zwei jüngere Männer, noch keine zwanzig. Sie trugen schlabberige, gefütterte Blousons und Cargo-Hosen, die ihnen viel zu groß waren. Ubbo hörte ihre Stimmen. Sie unterhielten sich auf Russisch.
"Schiet!", entfuhr es Ubbo.
"Was is' los?", dröhnte Schröder durch das Telefon.
"Nix. Ich ruf später nochmal an!"
"Wat?"
Ubbo legte auf.
Die beiden Männer traten ein.
"Hey, was ist?", rief der Größere der beiden. Er wirkte ziemlich grobschlächtig, hatte ein kantiges Gesicht mit spitzem Kinn, das wie ein V geformt war. Die Haare hingen ihm bis in die Augen. "Mit wem du hast telefoniert, du Wichser? Mit Polizei? Hast mit Polizei telefoniert?"
Ubbo erstarrte, schluckte dann.
Er hatte ein Gefühl, als ob ihm ein dicker Kloß im Hals stecken würde.
"Nein!", brachte er dann heraus.
Er kannte die Typen. Sie waren schonmal hier gewesen, hatten versucht, etwas vom Gewinn des Geschäfts für sich abzuzweigen.
Der Kleinere sagte etwas auf Russisch. Dann räusperte er sich und spuckte geräuschvoll auf den blankgeputzten PVC-Boden.
"Ist blöde Ratte! Macht nur Stress, Alter!"
Der Kleinere hatte weißblond gefärbte Haare, die sein Gesicht ziemlich blass erschienen ließen.
Ubbos Hand zuckte vor. Er wollte zum Telefon greifen, die Polizei anrufen, war aber nicht entschlossen genug. Die Angst lähmte ihn.
Der Weißblonde griff unter seine Jacke und holte einen kurzläufigen Revolver hervor.
"Beweg dich nicht, du Ratte!", zischte er. Ubbo hielt es für besser, sich daran zu halten.
Der Größere der beiden Eindringlinge umrundete den Tresen, packte Ubbo dann am Kragen. Ubbo schlug der Puls bis zum Hals.
"Was wollt ihr von mir? Die Kasse? Ist noch nix drin! Das Wechselgeld bringt der Hieni mit..."
Ubbo bekam einen brutalen Ellbogenstoß mitten ins Gesicht. Er taumelte zurück gegen ein Regal, in dem zusammengefaltete Anglerhosen lagen. Blut schoss ihm aus der Nase heraus. Ubbo rutschte zu Boden. Ehe er sich von dem ersten Schlag erholen konnte, bekam er einen furchtbaren Tritt in die Magengrube. Ihm wurde schlecht. Er ächzte, stieß einen röchelnden Laut hervor.
Der Größere packte ihn erneut am Kragen, zog ihn hoch und stellte ihn auf die Beine.
Er grinste Ubbo an.
"Wenn du uns nochmal die Bullen auf Hals hetzt -—du bist tot wie Vater!"
Ein übler Schwinger senkte sich in Ubbos Bauch.
Mit einem ächzendem Laut krümmte er sich zusammen. Wie ein Dampfhammer sauste eine weitere Faust von oben auf ihn herab und traf ihn am Kopf. Benommen sackte er zu Boden.
In diesem Moment ließ die Türglocke die beiden jungen Männer herumfahren.
Der Weißblonde riss den Lauf seiner Pistole herum und feuerte, ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern.
––––––––
12.
Als Lorant das Sluiter'sche Geschäft betrat und im nächsten Moment in die Mündung eines Revolvers blickte, bereute er schon, ausgerechnet jetzt mit Sohn Ubbo und den Angestellten sprechen zu wollen. Lorant hatte es für praktisch gehalten. Das Präsidium der Kriminalpolizei lag in unmittelbarer Nachbarschaft des Bahnhofs Emden West und der Postzentrale. Von da aus war es nur ein Katzensprung bis zur Nesserländer Straße.
Die beiden jungen Männer gehörten hier ganz offensichtlich nicht hin.
Wie ertappte Einbrecher wirkten sie.
Und der Kleinere von ihnen mit seiner albern wirkenden weißblonden Haarpracht feuerte seine Waffe sofort ab.
Lorant duckte sich zur Seite. Ein reflexhafter Bewegungsablauf. Die Kugel zischte an ihm vorbei. Die Schaufensterscheibe ging zu Bruch.
Lorant schnellte vor, ließ das Bein hochfahren. Mit einem gezielten Tritt kickte er dem Weißblonden die Pistole aus der Hand. Der Weißblonde war völlig perplex, Lorant verlor fast das Gleichgewicht. Es war eine Ewigkeit her, seit er seine Nahkampfausbildung absolviert hatte. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst hinaus hatte Lorant sich in dieser Hinsicht fit gehalten, das Training dann aber irgendwann sträflich vernachlässigt. Im Kampf gegen den Aktenberg hatte ihm die hohe Kunst der Selbstverteidigung schon während seiner Beamtenjahre nicht allzu viel helfen können.
Lorant wich zurück, hielt die Balance.
"Ey, der Alte hat's ja echt drauf!", knurrte der Größere der beiden Eindringlinge.
Im ersten Augenblick war Lorant genauso über sich erstaunt gewesen. Die antrainierten Reflexe funktionierten offenbar noch.
Dachte er.
Bis er den stechenden Schmerz spürte, der sich von der linken Pobacke das Bein hinunterzog.
Der Ischias!
Offenbar bin ich wohl doch nicht mehr so beweglich, wie ich gedacht habe, durchfuhr es ihn.
Lorant warf einen kurzen Blick zu dem kurzläufigen Revolver, der auf dem Boden lag. Vielleicht eine Sekunde lang dachte er darüber nach, sich auf den Boden zu hechten, um die Waffe an sich zu bringen. Aber seine Ischiasbeschwerden hielten ihn davon ab. Außerdem war es fraglich, ob er schnell genug gewesen wäre.
Der Weißblonde zog ein Springmesser unter der Jacke hervor, ließ die Klinge herausschießen. Sein Gesicht glich einer verzerrten Maske. Dass Lorant ihm den Revolver aus der Hand gekickt hatte, konnte er einfach nicht verwinden.
"Mach dein Testament, Großväterchen!", knurrte er.
Dann stürzte er sich auf Lorant.
Die Hand mit der Klinge fuhr auf Lorant zu. Der Ausfallschritt, den Lorant fast automatisch vollführte, tat höllisch weh. Er bekam den Messerarm zu fassen, bog ihn zur Seite. Der Stoß der Klinge glitt knapp an ihm vorbei. Einen Sekundenbruchteil später knallte Lorant seine rechte Gerade mitten in das Gesicht seines Gegenübers.
Der Weißblonde taumelte zurück, stolperte rückwärts bis zur Schaufensterdekoration.
Im selben Moment hatte sich der Große über den Tresen geschwungen. Ohne zu zögern stürzte er sich auf Lorant. Dieser drehte sich herum, versuchte den Angriff noch abzuehren. Aber er war nicht schnell genug. Der Tritt des Großen traf Lorant genau vor den Solar Plexus. Er japste nach Luft, taumelte zurück und prallte gegen eine Regalwand. Lorant rutschte zu Boden und stieß einen röchelnden Laut aus. Alles schien sich vor seinen Augen zu drehen. Nur nicht das Bewusstsein verlieren!, hämmerte es in ihm. Wach bleiben, nur wach bleiben...
Der Weißblonde hatte sich indessen wieder aufgerappelt.
Die beiden Schläger redeten auf Russisch miteinander. Ihre Unterhaltung machte einen ziemlich hektischen Eindruck. Schließlich schrien sie sich an.
Der Weißblonde hob den Revolver auf, richtete den Lauf auf Lorant.
"Ich bring dich um, du Arsch!", schrie er.
Lorant blickte zu ihm auf. Der Tritt des Großen hatte höllisch wehgetan. Ihm war schlecht. Wenn ich jetzt kotzen muss, verschwinden sie vielleicht, dachte Lorant.
Es war sein letzter Gedanke, bevor der Weißblonde abdrückte.
––––––––
13.
Rena Sluiter besuchte an diesem Vormittag die Emder Kunsthalle. Zurzeit war dort nicht die berühmte Sammlung des Kunstmäzens und ehemaligen Stern-Herausgebers Henri Nannen zu sehen, die normalerweise hier untergebracht war. Zurzeit beherbergte die Emder Kunsthalle die sehr umfangreiche Werkschau eines jungen Wilden, der sich Bradecke nannte.
Nur Bradecke.
Ohne Vornamen.
Das junge, aber inzwischen auf dem internationalen Kunstmarkt sehr hoch gehandelte Genie trat stets nur unter seinem Nachnamen auf.
Rena ging die hochwandigen Korridore entlang.
Großformatige Gemälde hingen dort. 'Schafsblut auf Ölgrundierung', las Rena unter einem dieser gewaltigen, sehr farbenfrohen Bilder. Rena verschränkte die Arme vor der Brust. Und dafür müssen Schmidt-Rottloff und Macke für Wochen in den Keller!, ging es ihr kopfschüttelnd durch den Kopf.
Aber Rena Sluiter war keineswegs hier, um sich dem Kunstgenuss hinzugeben oder über die tiefere Bedeutung nachzudenken, die die Verwendung von Schafsblut in der Malerei eines gewissen Bradecke vielleicht hatte.
Die Tatsache, dass die Henri Nannen-Sammlung zur Zeit nicht an den Wänden hing, kombiniert mit der für einen Museumsbesuch relativ frühen Tageszeit machte die Kunsthalle zu einem idealen Treffpunkt für den Fall, dass man sich in aller konspirativen Diskretion mit jemandem verabreden wollte.
"Hallo, Rena!"
Der Klang dieser sonoren Männerstimme, ließ sie herumfahren. Von einer Sekunde zur anderen war sie aus ihren Gedanken herausgerissen worden. Sie drehte sich herum, roch plötzlich ein ziemlich intensives Tabak After Shave.
"Tom!", flüsterte sie.
Der hochgewachsene Mann war Mitte vierzig und hager. Das graue Haar war kurzgeschnitten. Das Gesicht war breit, kantig und am Kinn spitz zulaufend. In den leuchtend blauen Augen blitzte es. Tom trug Rollkragen, schwarze Lederjacke und graue Schurwollhose. Am Handgelenk hatte er eine Rolex.
Tom trat mit lässigem Habitus auf Rena zu, versuchte sie zu küssen.
Aber sie wich ihm aus.
Tom drehte sich kurz um, ließ den Blick schweifen. Sie waren allein in diesem Ausstellungsraum, dessen herausragendes Merkmal das Schafblut-Gemälde des genialen Bradecke war. "Super Treffpunkt, den du ausgesucht hast!", raunte Tom.
Seine Hand glitt über ihre Schulter.
"Komm, lass das jetzt."
"Was zierst du dich so?"
"Tom..."
"Glaubst du, irgendein Bekannter deines Mannes würde in die Emder Kunsthalle gehen, wenn dort ein gewisser Bradecke ausstellt?" Tom lachte leise auf. "Rena, du solltest deinen biederen Ubbo und seine Kreise doch nun wirklich besser kennen..."
"Wir müssen reden, Tom!"
Sie sahen sich an. Rena studierte einige Augenblicke lang seine Gesichtszüge, versuchte vergeblich darin zu lesen. Tom Tjaden war Geschäftsmann. Ihm gehörten mehrere Bars und Diskotheken in Leer, Emden, Aurich, Wilhelmshaven und auf Borkum.
Außerdem spekulierte er mit Immobilien. Böse Zungen (und Staatsanwälte) behaupteten immer wieder, dass Tjaden Verbindungen zum organisierten Verbrechen hatte und es sich bei seinen 'Läden' mehr oder weniger um Geldwaschanlagen handelte. Aber bislang hatte Tjaden noch jedes juristische Kreuzfeuer abwehren können und war dabei ökonomisch gesehen immer größer geworden.
Rena hatte ihn am Strand von Borkum kennen gelernt. Mehr als ein Jahr war das her. Ubbo war über ein Wochenende mit den Jungs zur BOOT nach Düsseldorf gefahren. Schließlich musste der Junior-Chef des Sluiter'schen Geschäfts sich auf der größten Messe für Boots- und Segelbedarf in Europa auf dem Laufenden halten.
Rena hatte das Wochenende für einen Trip zu dem Ferienhaus auf Borkum genutzt, das die Sluiters besaßen.
"Am Telefon klang es so, als wäre es ziemlich dringend!", murmelte er. Er drängte sich an sie heran. "Ist es bei mir auch."
"Tom, es geht um die Boutique..."
Sie schob ihn sanft von sich. Auf Borkum hatten sie eine heftige Affäre gehabt und sich dort auch später noch ab und zu getroffen. Sie hatte einfach nicht widerstehen können. Ubbo war grundsolide, ein biederer Krämer. Tom Tjaden war das genaue Gegenteil. Eine Aura des Verruchten umgab ihn. Ein Hauch von dem, was Rena sich insgeheim immer unter 'großem Leben' vorgestellt hatte. Irgendwann hatte er dann von der Boutique erzählt, die er aufgekauft hatte. Ein Ladenlokal in günstiger Lage, mitten in Emden, gleich neben dem großen Kaufhaus-Gebäude, in dem früher Hertie, danach eine Filiale der Kaufhalle und heute der Schuh-Discounter Reno beheimatet war. Ein Schnäppchen, wie Tom Tjaden betont hatte. Ihm war die Boutique bei einer Zwangsversteigerung in die Hände gefallen. Natürlich dachte er daran, sie mit möglichst großem Gewinn weiter zu veräußern.
"Hör mal, Schätzchen, es wird langsam ein bisschen knapp!", meinte Tom. "Ich habe ein paar wirklich interessierte Leute, die das Ladenlokal gerne haben möchten. Und wenn dein Mann nicht in die Puschen kommt, dann tut's mir Leid für dich. Dann wird nix draus! Weißt du, sonst steh ich nachher da und habe es mir mit allen verscherzt, die so ein Ding kaufen könnten."
Rena atmete tief durch.
"Ich brauche einfach noch ein bisschen Zeit."
"Ist es wirklich so schwer, deinen Alten 'rumzukriegen?"
"Tom!"
"Du hast doch einiges drauf, um dir diese steife Mumie etwas gefügiger zu machen!" Tom Tjaden lachte dreckig.
"Ubbo ist nicht das Problem."
"Ach, nein?"
"Seine Mutter!"
"Verstehe." Er schüttelte den Kopf, kratzte sich dabei am Hinterkopf. "Wie konnte eine Klasse-Frau wie du nur an so ein Muttersöhnchen geraten?"
"Was willst du eigentlich? Mich niedermachen?"
"So war das nicht gemeint!"
"Tom, ich brauche noch etwas Zeit, dann..."
"...dann kriegst du die alte Sluiter so weit, dass sie ihre Meinung ändert?"
"Traust du mir das nicht zu?"
Tom Tjaden grinste schief. "Wenn sie ein Mann wäre - ohne weiteres!"
"Seit dem Tod meines Schwiegervaters ist halt alles etwas schwieriger geworden."
"Ich habe davon gehört. Die Zeitungen haben ja ausführlich darüber berichtet. Echt tragisch - so ein Unfall beim Segeln." Er grinste erneut, drückte sich an Rena heran und strich ihr Haar zurück. Dann flüsterte er ihr ins Ohr: "Eigentlich hast du doch gedacht, dass deine Probleme durch den Tod des Alten erst mal erledigt sind. Die akuten Probleme zumindest!"
"Es ist nun mal aber anders gekommen."
"Ja, ja..."
"Außerdem..." Sie zögerte, sprach zunächst nicht weiter und ließ sich stattdessen gefallen, dass Tom Tjaden ihr zärtlich auf das Ohr küsste. Stoß ihn besser nicht so vor den Kopf, schließlich braucht du seine Hilfe vielleicht noch einmal!, ging es ihr durch den Kopf.
"Außerdem was?", hakte Tom nach. "Es nervt, wenn du Sätze nicht zu Ende sprichst."
"Bernhardine Sluiter glaubt nicht, dass der Tod ihres Mannes ein Unfall war."
"Ach, was!"
"Sie hat einen Privatdetektiv engagiert, der der Polizei Beine machen soll!"
Tom ließ von ihrem Ohr ab. Seine Augenbrauen zogen sich zu einer Schlangenlinie zusammen.
"Wie heißt der Typ?"
"Lorant."
"Lorant? Und mit Vornamen?"
"Keine Ahnung. Ist ein Auswärtiger."
"Nun mach dir mal keinen Kopf. Der kocht auch nur mit Wasser."
"Ich hasse diese Schnüffelei trotzdem. Aber auch davon ist Bernhardine nicht abzubringen. Richtig starrsinnig ist sie geworden."
Tom Tjaden entfernte sich zwei Schritte, sah sich das Schafblutgemälde an, berührte es mit dem Zeigefinger der rechten Hand, obwohl das strengstens verboten war. Dann sah er sich die Fingerkuppe an und wischte sich an seinem Taschentuch ab. Offenbar war Bradecke nicht hundertprozentig farbecht. "Sauerei", knurrte er.
"Bis Ende nächster Woche könnte ich die Interessenten vertrösten", sagte Tom Tjaden. "Aber spätestens dann ist die Boutique weg. Schaffst du das?"
"Wenn ich nur Ubbo überzeugen müsste, wäre es leichter."
"Rena, ich finde, wir haben uns schon viel zu lange nicht mehr getroffen!"
"Tom!"
"Keine Lust auf 'ne schnelle Nummer?"
Er drängte sich wieder an sie. Seine Hand wanderte über ihre Schulter, dann tiefer. "Blöd, dass du einen BH trägst!"
"Komm, lass das!"
"Draußen steht mein Ferarri. Setz dich rein, und wir sind innerhalb von null komma nix in Leer."
In Leer besaß Tom Tjaden eine großzügige Villa im Stil der Jahrhundertwende. Er hatte sie aufwändig restaurieren lassen. Rena war einmal dort gewesen. Tom war schon schon auf dem großen Teppich in der Eingangshalle über sie hergefallen.
Aber im Moment stand ihr einfach nicht der Sinn danach.
"Ich muss pünktlich zu Hause sein."
"Wieso?"
"Die Jungs."
"So'n Schiet."
Sie hatten nie darüber geredet, aber Rena war sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass Tom Tjaden außer ihr noch andere Frauen hatte, bei denen er sich austoben konnte. Bei ihrem ersten und einzigen Besuch in seiner Leeraner Villa hatte sie eindeutige Anzeichen dafür gefunden, dass er regelmäßig Besuch von anderen weiblichen Wesen erhielt. Eine Haarbürste mit langen blonden Haaren im Bad, eine vergessene Handtasche... Sie hatte keinen Grund, Tom Tjaden seine Polygamie vorzuwerfen. Trotzdem war dadurch bei ihr ein instinktiver Widerwille gegen diese Villa entstanden und so hatten sie sich danach nur noch auf Borkum getroffen.
Außerdem war ihr klar geworden, dass sie vorerst weiterhin auf Ubbo angewiesen sein würde und ihren biederen, wenn auch langweiligen und reichlich provinziellen Ehemann nicht einfach in die Wüste schicken konnte. Zumindest konnte sie kaum erwarten, sich bei Tom Tjaden gleich in ein gemachtes Nest setzen zu können, denn für ihn war sie wohl kaum mehr als ein reizvolles Sex-Spielzeug.
"Also, in zwei Wochen ist das Geld da?"
"Ja."
"Ich kann mich drauf verlassen? Wenn du mich im Regen stehen lässt, dann..."
"Ich krieg das hin, Tom."
"Gehen wir wenigstens noch einen Kaffee trinken?"
"Ich weiß nicht."
"Es gibt doch eine Cafeteria hier in der Kunsthalle."
"Meinetwegen."
"Gut."
Er legte den Arm um sie. Eine besitzergreifende Geste. Fast so, wie bei amerikanischen Krimi-Serien, wenn jemand verhaftet wird!, überlegte Rena. Sie gingen den Korridor entlang. Ihre Schritte halten wider. Toms Arm zuckte kaum merklich, als sie einem der Museumswärter begegneten. Aber die Hand blieb auf ihrer Schulter. Wie die Pranke eines Löwen auf seiner Beute, dachte Rena. Bilder tauchten in ihrem inneren Auge auf. Fernsehbilder aus ihrer Jugend. 'Im Reich der wilden Tiere' und 'Grzimeks Tierleben'. Raubkatzen, die Antilopen und Zebras rissen, ihre Pranken darauf legten wie Tom Tjaden seine Hand auf ihre Schulter. Blut. Rohes Fleisch. Und plötzlich sah sie das Gesicht ihres Schwiegervaters vor sich. Und dabei war auch Blut zu sehen. Blut, das aus einer klaffenden Wunde am Kopf herausrann.
Nein, weg damit!
Sie schloss für einen Moment die Augen, wollte diese Bilder aus ihrem Inneren verscheuchen.
Es ist gut, dass er tot ist!, durchfuhr es sie. Und du brauchst deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben...
Sie erreichten die Cafeteria.
Rena schob vorsichtig Tom Tjadens Pranke weg.
"Weißt du was? Jetzt erzählst du mir mal, was du mit deiner Schwiegermutter vorhast!", raunte Tom ihr zu, nachdem er zwei Capucchinos bestellt hatte. Natürlich ohne Rena vorher zu fragen, ob sie so etwas überhaupt trinken wollte.
––––––––
14.
Blutrot leckte das Mündungsfeuer aus dem Revolverlauf heraus. Der Knall war ohrenbetäubend. Lorant zuckte zwar zur Seite, aber keine noch so schnelle Reaktionszeit hätte ihn vor der Revolverkugel retten können.
Das Gesicht des Weißblonden war zu einer Grimasse des Hasses geworden.
Sekundenbruchteile, bevor der Revolver abgedrückt wurde, hatte der Große seinen Kumpanen erreicht und ihm den Arm zur Seite geschlagen. Der Schuss ging knapp an Lorant vorbei.
"Bist du verrückt?", schrie der Große. "Willst haben nix wie Ärger?" Er fuhr auf Russisch fort. Die beiden schrieen sich an.
"Ich bring es um, das Schwein!", rief der Weißblonde.
Die Erwiderung auf Russisch konnte Lorant nicht verstehen.
Schließlich zog der Große seinen Komplizen am Arm, führte ihn hinaus.
Einen Augenblick lang hörte Lorant noch die Schritte ihrer schweren Stiefel auf dem Asphalt.
Ächzend erhob sich der Detektiv. Das war knapp, dachte er. Aber wer immer die zwei Eindringlinge auch gewesen waren - es handelte sich nicht um Profis. Die Situation, dass jemand sie dabei erwischte, wie sie den Geschäftsinhaber zusammenschlugen, schien sie vollkommen überfordert zu haben. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass genau so eine Überforderung zu einer Tragödie führt, rief Lorant sich ins Gedächtnis.
Lorant humpelte zum Tresen.
Eine Sekunde lang überlegte er, die Polizei zu rufen, damit die sich an die Fersen der beiden Flüchtigen heften konnte. Aber dann entschied er sich dagegen. Und das lag nicht nur an den zwiespältigen Erfahrungen, die er bislang mit Kriminalhauptkommissar Meinert Steen von der Emder Kripo gemacht hatte. Es war ja letztlich auch nicht ganz auszuschließen, dass es bei den Kollegen von der verbeamteten Truppe auch professionell arbeitende Kollegen gab.
Nein, Lorants Zögern hatte einen anderen Grund.
Er wollte zuerst mit Ubbo Sluiter reden.
Sofern das möglich war.
Ubbo Sluiter lag reglos am Boden. Nur sein Rücken hob und senkte sich ganz leicht. Ein Zeichen dafür, dass er atmete. Und lebte. Immerhin etwas, dachte Lorant.
Als er sich zu dem Geschäftsinhaber hinunterbücken wollte, verzog er das Gesicht. Er stöhnte auf. Ziemlich ungeniert und laut sogar, denn außer Ubbo Sluiter war ja niemand im Laden. Und wenn der dadurch aus seiner Benommenheit geweckt wurde -—um so besser!
Der Ischias machte Lorant zu schaffen.
Gut, dass du nicht mehr im Straßeneinsatz bist!, dachte er. Er kniete nieder, rüttelte Ubbo Sluiter bei den Schultern.
"Herr Sluiter! Alles in Ordnung?"
Sluiter rührte sich, spannte die Muskeln seiner Oberarme an und stemmte sich hoch. Er setzte sich auf, hielt sich den Kopf. Ubbo Sluiter sah kreidebleich aus.
"Sind..."
"Ja, die beiden sind weg."
"Wer sind Sie?"
"Lorant."
"Ah..."
"Ich nehme an, Ihre Mutter hat Ihnen von mir erzählt."
"Hat sie."
"Eigentlich war ich eher zufällig hier, weil ich mich mit Ihnen über den Tod Ihres Vaters unterhalten wollte."
"Verstehe."
"Da sah ich, dass diese beiden Kerle über Sie herfielen."
Ubbo Sluiter atmete tief durch. Er wischte sich über die Augen, betastete dann mit schmerzverzerrtem Gesicht einige Stellen an seinem Oberkörper.
"Die beiden haben Sie ganz schön in die Mangel genommen."
"Schweinehunde!"
"Ich habe gehört, Sie hatten Schwierigkeiten mit einer sogenannten Russengang, die versucht hat, Schutzgelder bei Ihnen einzusammeln."
"Ja, hatten wir. Aber wir haben die Polizei eingeschaltet und außerdem unsere Geschäfte von Mitarbeitern eines privaten Wachdienstes sichern lassen."
"Davon hat mir Ihre Mutter nichts erzählt."
"Hat Sie wohl vergessen zu erwähnen. Ein Computer ist sie schließlich nicht."
"Aber sie weiß genau, was sie will, oder?"
"Ja, das stimmt wohl."
"Und sie glaubt auch genau zu wissen, dass Ihr Vater keinen Unfalltod erlitt?"
Anstatt zu antworten, versuchte Sluiter aufzustehen.
Lorant half ihm dabei, zuckte dann zusammen, als er eine ungeschickte Bewegung machte, die ihn seinen Ischias wieder spüren ließ.
"Sie hat es aber auch ganz schön erwischt."
"Kennen Sie einen guten Arzt, der ein Reizstromgerät hat?"
"Dr. Purwin in Moordorf."
"Dann werde ich dort bei Gelegenheit mal vorbeischauen."
Ubbo Sluiter stützte sich auf den Tresen. Das Telefon stand ganz in der Nähe. Aber er machte keine Anstalten, die Polizei zu rufen. Lorant nahm sich vor, auf diesen Punkt zurückzukommen.
Später.
Er fragte: "Sind Sie auch der Meinung, dass Ihr Vater ermordet wurde?" Ubbo zuckte die Achseln.
"Was weiß ich?"
"Wäre nicht schlecht, wenn Sie mich ein bisschen unterstützen, Herr Sluiter. Ich meine, wenn mir die Polizei schon nicht hilft..."
Der sonst so blasse und eher zurückhaltende Ubbo Sluiter brauste jetzt plötzlich auf. "Herrgott noch mal, was soll das denn? Ich kann Ihnen auch nicht mehr dazu sagen, als Ihnen meine Mutter oder die Kripo schon gesagt haben! Alles andere ist doch Kaffeesatzleserei."
Ein gewagter Vergleich für jemanden, der wahrscheinlich gar keinen Kaffee trinkt, sondern selbstverständlich klassisch-ostfriesischen Tee!, ging es Lorant durch den Kopf.
"Ihre Mutter glaubt, dass Ihr Vater erschlagen wurde. Und ich habe inzwischen Hinweise gefunden, dass es so gewesen sein könnte." Lorant erzählte Sluiter kurz und knapp von dem Kugelschreiber, den er gefunden hatte. "Ein Indiz, mehr nicht. Aber immerhin etwas. Ihr Vater könnte bei der Töpferei getötet und dann zum Boot gebracht worden sein."
Ubbo schien zum ersten Mal wieder alle Sinne beisammen zu haben, seit die beiden Schläger aufgetaucht waren und ihn in die Mangel genommen hatten. Er sah Lorant mit einem Blick an, den dieser nicht so richtig zu deuten wusste. Wovon sprach dieser Blick? Skepsis? Unglauben? Verwunderung? Vielleicht von allem ein bisschen. Warum gibt es eigentlich Spezialisten für das Erkennen und Vergleichen von Handschriften - aber keine Spezialisten für die Interpretation von Blicken?, ging es Lorant duch den Kopf.
"Vielleicht waren es diese Typen!", meinte Ubbo dann. "Ich meine, es würde zumindest einen Sinn ergeben. Wir haben denen die Hölle heiß gemacht. Es wurde zwar letztlich niemand festgenommen, aber es dürfte sie schon ziemlich geärgert haben, dass die Polizei sich diese Gang mal vorgeknöpft hat."
"Ich glaube nicht, dass die beiden das waren."
"'Wenn du uns nochmal die Bullen auf Hals hetzt -—du bist tot wie dein Vater!' -—das hat einer der Kerle gesagt, während er mich zusammenschlug. Ich erinnere mich jetzt wieder. Meine Güte, ich hatte so eine Scheiß-Angst."
"Ist das der Grund, warum Sie jetzt nicht die Polizei rufen?"
"Einen Augenblick."
Blut lief aus Ubbos Sluiters Nase heraus.
Er versuchte den Strom aufzuhalten, dann ging er durch eine Seitentür davon. Dort musste sich ein Waschraum mit WC oder so etwas befinden. Jedenfalls hörte Lorant, wie ein Wasserhahn aufgedreht wurde. Reichlich konfus, der Junior-Chef!, dachte Lorant. Ubbos Tragik war wohl, dass er trotz der Tatsache, dass sein Vater tot war, noch immer eine Art Junior-Chef war. Betonung auf Junior, nicht auf Chef. Und das würde wohl auch so bleiben, bis sich eines Tages seine Mutter mal aus der aktiven Arbeit zurückzog.
So wie Lorant die resolute Dame kennen gelernt hatte, würde das wohl erst dann geschehen, wenn Bernhardine Sluiter sich entweder in einem Zustand fortgeschrittener Demenz oder in einem Eichensarg gefand. Und bis dahin mochten noch Jahrzehnte vergehen. Keine guten Aussichten für Ubbo, überlegte Lorant. Außer, der Junior-Chef hatte nichts gegen seine ewige Kronprinzenrolle.
Schließlich kam Ubbo zurück, hielt sich mehrere Lagen Toilettenpapier vor die Nase. "Das fängt immer wieder an zu bluten."
"Lassen Sie's röntgen. Könnte gebrochen sein."
"Sehen Sie mal zu, dass Sie nicht mehr humpeln!"
"Keine Sorge. Aber zu einem anderen Punkt: Diese Kerle wollten Sie offenbar einschüchtern. Aber nicht umbringen. Sie haben nicht einmal mich umgebracht, obwohl es gerade ziemlich knapp war..."
"Ich danke Ihnen ja auch sehr. Sie haben Mut."
"Geschenkt. Es geht mir um etwas anderes."
"Worum?"
"Ich glaube nicht, dass diese Leute Ihren Vater umgebracht haben."
"Ach, sind Sie auch noch Hellseher?"
"Der Mord an Ihrem Vater war eine Art Inszenierung."
"Was? Spinnen Sie jetzt total?"
"Bedenken Sie: Jemand hat ihn extra auf das Boot geschleift, dann dafür gesorgt, dass das Boot hinaustrieb."
"Der Mörder -—mal vorausgesetzt, es war überhaupt ein Mord -—wollte, dass die Tat nicht so schnell entdeckt wird!"
"Das konnte er so nicht erreichen, Herr Sluiter. Es wäre dann doch viel leichter gewesen, den Toten mit einem Stein zu beschweren und in einem der nahen Tümpel und Kanäle zu versenken. Es hätte eine Ewigkeit gedauert, bis man ihn gefunden hätte."
"Ich weiß nicht."
"Und was diese beiden Schlägertypen angeht, die hätten Ihren Vater wahrscheinlich einfach liegen lassen."
"Alles Theorie, Herr Lorant."
"Ich könnte mich ja mal mit den beiden unterhalten. Vielleicht erweist sich dann, ob an meiner Theorie was dran ist! Ich wette, Sie kennen sogar die Namen!"
"Der Große heißt Ferdinand. Nachname weiß ich nicht mehr."
"Und der Weißblonde, der auf mich geschossen hat?"
"Victor."
"Und dessen Nachnamen kennen Sie auch nicht?"!
"Herrgott noch mal, was soll das eigentlich? Wollen Sie hier ein Verhör mit mir durchführen? Bin ich hier vielleicht verdächtig, meinen Vater umgebracht zu haben, glauben Sie das?"
Du bringst mich glatt auf eine Idee, dachte Lorant, behielt seinen Gedanke aber tunlichst für sich. Ein Junior-Chef, der es leid war, immer Junior zu bleiben... War das nicht zumindest eine psychologische Grundkonstellation, die durchaus in einem Mord kulminieren konnte? Es wäre nicht der erste Fall dieser Art gewesen, mit dem Lorant zu tun gehabt hätte. Aber andererseits sprach auch einiges dagegen. Das eher vorsichtige Temperament beispielsweise, das Ubbo an den Tag legte. Die Bravheit. Konnte ein so braver Mensch, der im Hauptberuf Sohn zu sein schien, eine so schreckliche Tat planen, dem eigenen Vater eins über den Schädel geben, um ihn dann mit dem Segelboot auf eine Reise ohne Wiederkehr zu schicken?
Und was, wenn er jemanden dafür angeheuert hat?, überlegte Lorant. Jemanden, der die Drecksarbeit für ihn gemacht hätte. All das, wozu er selbst niemals in der Lage gewesen wäre?
Nein, auch das war abwegig.
Andererseits...
Manche stillen Wasser waren tief. Fast alle Tötungsdelikte, das wusste Lorant aus seiner aktiven Polizei-Zeit, entpuppten sich letztlich als Beziehungstaten. Am naheliegendsten war es daher eigentlich immer, im nächsten Verwandten- und Bekanntenkreis nach einem möglichen Motiv zu suchen.
Cui bono?
Wem nützt es? Die berühmte Frage, die am Anfang jeder Mordermittlung stand. Aber hatte Ubbo Sluiter der Tod seines Vaters wirklich etwas genutzt? Die Frage war einstweilen noch nicht eindeutig zu beantworten.
Unterdessen fuhr Ubbo Sluiter fort: "Vielleicht sehen Sie zu viel fern oder verstehen einfach nichts von Ihrem Job. Meine Mutter hätte Sie nie engagieren sollen. Ich war von Anfang an dagegen."
"Warum denn?"
"Weil so einer wie Sie nichts als Ärger bringt. Und letztlich wird doch nichts erreicht. Sehen Sie die Sache mit den Russen an: Die Polizisten haben ein riesiges Buhei veranstaltet, Leute festgenommen und was kam am Ende raus?"
"Na?"
Warum sollte sich Lorant nicht auch Ubbos Version dieser Geschichte anhören. Der Detektiv sah ihn ruhig an.
"Am Ende haben sich die alle gegenseitig Alibis gegeben. Die halten doch zusammen und ich bin am Ende der Dumme! Das haben Sie ja heute gesehen, die spazieren hier herein, schlagen mich windelweich und ich kann nichts dagegen tun!" Gar nichts!" Ubbo machte eine Pause. Sein Gesicht hatte die Farbe gewechselt. Von superblass in dunkelrot. Eine Ader an seinem Hals pulsierte. "Ich möchte nicht, dass Sie wegen dieser Schläger irgendetwas unternehmen, Lorant!"
"Nicht mal die Polizei anrufen?"
"Nicht einmal das."
"Wird mir schwer fallen."
"Ich hoffe, dass wir uns verstanden haben. Ich will einfach keinen Ärger."
"Ich sehe dabei zwei Probleme!"
"Es ist mir gleichgültig, was Sie sehen. Halten Sie sich einfach an das, was ich Ihnen gesagt habe."
"Erstens kann ich es nicht ausstehen, wenn Dinge unter den Teppich gekehrt werden."
"Ach, ein Rächer der Enterbten? Spielen Sie mir nichts vor, Lorant! Ihnen geht es doch nur um Ihr Geld! Alles andere ist jemanden wie Ihnen doch gleichgültig."
"Da unterschätzen Sie mich gewaltig."
"Glaube ich nicht."
"Aber, was das Geld angeht..."
"Ja?"
"Da sind wir bei Zweitens, Herr Sluiter."
"Ich bin gespannt."
"Ihre Mutter bezahlt mich. Nicht Sie. Und deswegen werde ich mir auch allenfalls von ihr irgendwelche Vorschriften machen lassen." Lorant lächelte dünn. "Zumindest das haben wir gemeinsam!"
"Sehr witzig."
"Und dann kommt noch Drittens: Ich bin fast über den Jordan dabei gegangen, als ich Sie vor diesen Schlägern geschützt habe."
"Erwarten Sie jetzt Dankbarkeit?"
"Ein bisschen schon."
"Soll ich Ihnen 500 Euro geben? Ist das damit erledigt? Vielleicht bewegt Sie das dann ja auch dazu, MEINE Anweisungen ernst zu nehmen."
Lorant schüttelte den Kopf.
"Ich will genauere Angaben zu den beiden Typen. Zum Beispiel die Nachnamen. Sonst müsste ich zu Kommissar Steen gehen und ihn danach fragen. Allerdings käme ich dann nicht umhin, ihm von dem heutigen Vorfall zu erzählen. Und Sie kämen dann insofern in die Bedrouille, weil Sie erklären müssten, weshalb Sie diesen Überfall nicht zur Anzeige gebracht haben."
Ubbo Sluiter ließ die Faust auf den Tresen sausen. Außerdem vergaß er, das Toilettenpapier weiter an seine Nase zu drücken. Blut tropfte hinunter.
"Erpresser!", knurrte Ubbo.
"Wenn ich einer wäre, würde ich die 500 Euro nehmen und noch mal das Doppelte verlangen."
Zweifellos hatte Ubbo Sluiter noch irgendeine sehr unfreundliche Erwiderung auf Lager. Aber er schluckte sie herunter, denn in diesem Moment tauchte ein Mann in der Tür auf. Lorant schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Sein Haar war bereits erstaunlich dünn und hatte einen Rotstich. Das markanteste Kennzeichen seines Gesichts war die ziemlich lange Nase, die genau in der Mitte eine Art Knick hatte.
"Ey, was is'n hier los?", stieß er hervor.
Lorant nahm an, dass es sich um einen der Angestellten des Sluiter'schen Geschäfts handelte.
"Die Namen!", forderte Lorant unmissverständlich an Ubbo Sluiter gewandt. Die Stimme des Detektivs bekam dabei einen fast metallischen Klang.
"Hören Sie, ich weiß es nicht..."
"Sie haben doch eine Anzeige aufgegeben!"
"Nur gegen unbekannt."
"Wissen Sie, wo ich die beiden finden könnte? Ich wiederhole mich ungern, aber Steens Büro in Emden-West ist nur ein paar Minuten weg von hier!"
Ubbo atmete tief durch. Er starrte seinen Angestellten an und giftete diesem dann entgegen: "Ja, glotz mich nicht so an, Kilian! Fang schon mal an aufzuräumen!"
Kilian schluckte.
"Is' ja gut, Chef!"
"Gar nix ist gut!"
"Jo, jo, schwer im Stress, was?"
Kilian ging an Lorant vorbei, umrundete den Tresen und verschwand in einem der hinteren Räume. Jetzt werden alle Spuren verwischt, dachte Lorant mit dem professionellen Bedauern eines ehemaligen Polizisten - eine Haut, die er einfach nicht von sich streifen konnte. Wahrscheinlich würde sich daran auch niemals etwas ändern.
"Wie Sie wollen, dann bespreche ich das mit Steen. So hartleibig wie Sie ist ja nicht mal der!" Mit diesen Worten humpelte Lorant in Richtung Tür.
"Warten Sie!", rief Ubbo.
Lorant blieb stehen, ohne sich umzudrehen.
Ubbo Sluiter näherte sich von hinten. "Victor, der Typ mit den gefärbten Haaren..."
"Was ist mit dem?"
"Der ist Türsteher im X-Ray."
"Was soll das sein?" Lorant machte sich jetzt doch die Mühe, sich halb herumzudrehen.
"Ein Nachtclub. Liegt mitten auf der Wiese im Gewerbegebiet bei Aurich."
Lorant verzog spöttisch das Gesicht.
"Woher wissen SIE denn, wer im X-Ray Türsteher ist?", grinste er.
Ubbo Sluiters dünnlippiger Mund blieb gerade wie ein Strich. Auch während er sprach. Entsprechend verkrampft hörten sich seine Worte auch an. "Wir teilen offenbar nicht denselben Humor, Herr Lorant."
"Ist mir auch schon aufgefallen."
"Ich habe jetzt zu tun."
"Eine Frage hätte ich doch noch!"
"AUF WIEDERSEHEN, Lorant!"
Er betonte das AUF WIEDERSEHEN etwas eigentümlich, so als wollte er Lorants Hochdeutsch imitieren.
Lorant nahm es gelassen hin.
Ungerührt stellte er seine Frage.
"Was haben Sie für eine Erklärung dafür, dass sich im Boot bei der Leiche Ihres Vaters eine Boßel-Kugel befand?"
Ubbo runzelte die Stirn.
"Wie?" Er wirkte verwirrt.
"Sorry, ich kann nur Hochdeutsch."
"Worauf wollen Sie hinaus? Mein Vater war in einem Boßel-Verein. Ich übrigens auch. Meine Güte, fast jeder boßelt hier, das ist nichts Besonderes."
"Trotzdem ungewöhnlich, so ein 'Sportgerät' oder wie immer man das auch bezeichnen mag, mit ins Segelboot zu nehmen. Finden Sie nicht?"
"Was weiß ich!"
Er zuckte die Achseln.
Lorant holte den Artikel über den Toten in Oldenburg-Huntetal aus der Innentasche seines Jacketts und hielt ihn Ubbo hin. Ubbo nahm den Ausschnitt, las den Artikel durch. Lorant studierte dabei jede Regung im Gesicht seines Gegenübers. Manchmal waren Gesichter wie offene Bücher. Wie Fenster zur Seele. Aber das Gesicht von Ubbo Sluiter gehörte leider nicht dazu. Es blieb ziemlich ausdruckslos. Schließlich reichte Ubbo Lorant den Artikel zurück.
"Worauf wollen Sie hinaus?"
"Sehen Sie nicht die Parallele?"
"Die Boßel-Kugel bei der Leiche."
"So ist es."
"Meinen Sie, die beiden Fälle haben was miteinander zu tun?"
Lorant zuckte die Achseln und steckte das Zeitungsstück wieder ein. Er machte ein unbestimmtes Gesicht. "Weiß ich noch nicht!", meinte er. "Vielleicht kann man das beantworten, wenn die Identität des Opfers in Oldenburg bekannt wird."
"Dürfte nicht so leicht sein..."
"Das stimmt."
Ein Wagen fuhr indessen auf den Parkplatz vor dem Sluiter'schen Geschäft. Entweder handelte es sich um den zweiten Angestellten oder den ersten Kunden. Lorant humpelte hinaus. Hoffentlich kann ich überhaupt Auto fahren!, durchfuhr es ihn. Es war schon ein paar Jahre her, dass ihm der Ischias das letzte Mal Ärger gemacht hatte.
––––––––
15.
Als nächstes fuhr Lorant zur Praxis von Dr. Purwin in Moordorf.
Als Lorant der Sprechstundenhilfe in knappen Worten sein Problem schilderte, war die junge Frau noch sehr freundlich, auch wenn ihr sanftes Dauerlächeln etwas von der Verkrampftheit eines Stewardessen-Gesichts hatte. Noch ist sie jung, dachte Lorant. Noch kriegt sie keine Falten davon.
Aber in zwanzig Jahren würden sich die entsprechenden Lachfalten als harte Furchen in ihr Gesicht hineingemeißelt haben.
Zu Lorants Überraschung bekam das Gesicht der schönen Lächlerin schon viel früher eine Falte, und zwar mitten auf der Stirn. Sie erschien exakt in dem Moment, in dem Lorant ihr seine Chip-Karte der Barmer Ersatzkasse auf den Tresen legte.
"Eigentlich behandeln wir hier vorwiegend Privat-Patienten", sagte sie.
"Schön, dass Sie mich trotzdem dazwischen nehmen", erwiderte Lorant.
Ihr Blick, mit dem sie die Karte betrachtete, schien zu sagen: Wenigstens nicht AOK!
"Wenn Sie noch einen Moment im Wartezimmer Platz nehmen würden."
"Sicher."
Lorant wusste, was Arzthelferinnen unter 'einem Moment' verstanden. Der Vormittag war gelaufen.
Zu Lorants großer Überraschung dauerte seine Wartezeit tatsächlich nur einen Moment. Der Arzt war ein hagerer, etwas jungenhaft wirkender Mann von schwer zu schätzendem Alter. Jemand von der Sorte, die nach spät einsetzender und lang andauernder Pubertätsphase sogleich ins Seniorenalter übertritt. Die Phase dazwischen wird einfach ausgelassen. Typ Günter Jauch, dachte Lorant.
"Ja, dann wollen wir mal sehen", sagte Dr. Purwin, nachdem Lorant ihm seine Beschwerden geschildert hatte. Purwin rollte dabei mit seinem Bürostuhl herum, was Lorant irgendwie nervös machte. Mit ein paar sicher und gekonnt wirkenden Handgriffen hatte er Lorants Eigendiagnose bestätigt: Ischias. "Kommen Sie regelmäßig zur Reizstrombehandlung, bis es weg ist. Außerdem gebe ich Ihnen eine Spritze."
"Gut."
Nachdem Lorant seine Spritze bekommen hatte, drückte Purwin ihm noch immerhin so kräftig gegen den Oberkörper, dass der Detektiv aufschrie.
"Bauchprellung würde ich sagen. Haben Sie eine Schlägerei hinter sich?"
"Ich bin ein friedlicher Mensch."
"Ich habe ja auch nicht gesagt, dass SIE geschlagen haben, Herr..."
"Lorant."
"Ja, genau."
"Ich war nur etwas ungeschickt", meinte Lorant. Und irgendwie war das ja auch noch nicht einmal eine richtige Lüge.
"Naja, wie auch immer... Zur Reizstrombestrahlung können Sie kommen, wann Sie wollen. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, gibt es bei uns auf Grund guter Organisation kaum Wartezeiten..."
"Ja, das ist beachtlich."
"Auf Wiedersehen, Herr Lorant."
Schon diese Abschiedsformel entlarvte Purwin als Zugezogenen. Und zwar als einen, der noch nicht allzu lange hier in dem zwischen Emden und Aurich gelegenen Moordorf praktizieren konnte. Maximal fünf Jahre, schätzte Lorant. Es war für eine Art Sport, so etwas zu schätzen. Allerdings wusste er nur zu gut, dass man sich da sehr täuschen konnte, insbesondere was die Geschwindigkeit anging, mit der eine sprachliche Anpassung vor sich ging. Henry Kissinger sprach beispielsweise auch nach mehr als einem halben Jahrhundert in den USA immer noch ein Englisch mit deutschem Akzent.
"Vielleicht hätten Sie noch einen Moment Zeit für mich", forderte Lorant. "Ich bin Privatdetektiv und ermittle im Mordfall Gretus Sluiter. Durch die Empfehlung von Herrn Sluiter junior bin ich übrigens auf Ihre Praxis gekommen..."
"Ah ja..." Purwins Gesicht wurde dunkelrot. Er holte tief Luft und setzte zu einer Erwiderung an.
"War Gretus Sluiter eigentlich auch bei Ihnen in Behandlung - so wie sein Sohn Ubbo?"
"Jetzt hören Sie mir mal gut zu!", begann Dr. Purwin, wobei er seinen Zeigefinger wie ein Messer durch die Luft wirbelte. "In dieser Praxis werden vorwiegend chronische Krankheiten behandelt. Die Menschen kommen zum Teil aus der Schweiz, aus Wien und was weiß ich woher, um sich hier kurieren zu lassen!" Die Fingerkuppen von Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand berührten sich jetzt, so dass sich eine Art Kreis bildete. Eine Präzisions-Geste, so hätte ein auf die Analyse von Körpersprache spezialisierter Psychologe wohl gedeutet. Ein Timbre von geradezu missionarischer Inbrunst schwang jetzt in seinem Tonfall mit. "Wir gehen hier nämlich den Ursachen dieser Erkrankungen an die Wurzel und begnügen uns nicht lediglich mit der Behandlung von Symptomen..." Er atmete tief durch. "Zwischendurch nehme ich natürlich auch gerne mal jemanden wie Sie dazwischen..."
Damit meint er einen Kassenpatienten, dachte Lorant. Wie nett. Aber er hütete sich davor, das laut zu sagen. Im Übrigen hätte er auch kaum eine reelle Chance gehabt, den sprudelnden Wortschwall des Arztes zu unterbrechen.
"...aber jetzt überspannen Sie wirklich den Bogen. Da draußen sitzen Menschen, die tausend Kilometer weit gereist sind, um sich hier behandeln zu lassen und Sie..."
"Ich dachte immer, es interessiert einen Arzt, woran seine Patienten gestorben sind", unterbrach Lorant sein Gegenüber schließlich. Und in Gedanken fügte er noch hinzu: Da Gretus Sluiter vermutlich Privatpatient war, müsste dich diese Frage doch besonders interessieren, großer Meister-Doktor!
Dr. Purwin vollführte einige eigenartig aussehende Bewegungen mit dem Mund, die an einen Fisch auf dem Trockenen erinnerten. Anscheinend fehlten ihm im Moment einfach die Worte. Er war aus dem Konzept gebracht worden.
"Ich nehme an, Gretus Sluiter WAR ihr Patient", sagte Lorant.
Dr. Purwin lehnte sich in seinem Stuhl zurück, faltete die Hände und ließ nervös die Daumen umeinander kreisen.
"Ich unterliege der ärztlichen Schweigepflicht", erklärte er. "Und damit dürfte das Thema erledigt sein."
"Ich stelle auch keine Fragen nach irgendwelchen ärztlichen Befunden."
"Ich würde sie auch nicht beantworten."
"Aber vielleicht wissen Sie jemanden, der Sluiter so hasste, dass er ihn auf eine gewisse demonstrative Weise zur Strecke brachte."
"Ist das denn geschehen? Nachdem, was ich gehört habe..."
"Ich interpretiere die Spuren am Tatort etwas anders als die Kripo."
"Was Sie nicht sagen!"
"Also -—kennen Sie so jemanden?"
Dr. Purwin schien einige Augenblicke lang zu überlegen. Als er dann zu sprechen begann, klang seine Stimme ruhiger und sachlicher als zuvor.
"Sluiter war ein grundsolider Geschäftsmann, aber er hatte mitunter ein cholerisches Temperament. Allerdings wüsste ich nicht, dass er mal jemandem derart auf die Füße getreten wäre... Naja..."
"Erzählen Sie's ruhig, auch wenn Sie glauben, dass es unwichtig ist!"
"Da war vor ein paar Jahren mal was. Es gab hier ein Riesentheater um einen Nachtclub mitten auf der flachen Wiese."
"Heißt der zufällig X-Ray?"
"Ja, woher wissen Sie das?"
"Was war damit?"
"Herr Sluiter hatte immer sehr feste Ansichen. Konservative Ansichten. Und er war damals der Meinung, dass das X-Ray nichts anders als ein Bordell wäre. Er hat versucht, mit Hilfe seiner kommunalpolitischen Freunde dem Investor Steine in den Weg zu werfen. Damals hat Herr Sluiter in der Presse erklärt, dass man ihm mit Mord gedroht habe!"
"Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?"
"Nein."
"Der Nachtclub existiert ja wohl."
"Allerdings mit Auflagen, soweit ich weiß."
"Aber der Besitzer kann doch eigentlich gar keinen Grund mehr haben, sauer auf Sluiter zu sein."
"Tut mir leid, aber ich kann und will Ihnen jetzt nicht mehr weiterhelfen. Lassen Sie mir Ihre Karte da, sofern Sie eine haben. Vielleicht... Wenn mir was einfällt, rufe ich Sie an."
"Gut."
Lorant langte in die Innentasche seines Jacketts, holte eine seiner Visitenkarten heraus. "Bitte nur die Handynummer anrufen. Schließlich bin ich ja nicht zu Hause."
"Schon klar."
"Sie kommen nicht von hier?"
Dr. Purwin lächelte mild. "Nein, ich stamme aus Osnabrück."
"Sind Sie hier schon heimisch genug, um zu boßeln?"
"Ich war sogar mal Mitglied in einem Boßel-Verein, den 'Söipkedeelern'."
"Das ist derselbe Verein, in dem auch Gretus Sluiter aktiv war."
"Ja, da haben wir uns kennen gelernt."
Purwins Gesicht bekam plötzlich einen düsteren, etwas melancholisch wirkenden Zug. Sein Blick war für einige Augenblicke lang nach innen gerichtet und wirkte abwesend.
"Seit wann sind Sie nicht mehr bei den Söipkedeelern?"
"Seit vier Jahren."
"Hatte das einen bestimmten Grund? Sie sehen gesund genug aus, um kräftig mittrinken zu können, ohne gleich ein Fall für die eigene Praxis zu werden."
Purwins Lächeln wirkte matt. Er erhob sich, ging zur Tür und öffnete sie für Lorant. Eine Art Rauswurf erster Klasse, erkannte Lorant.
Er ging zur Tür, blieb vor dem Arzt stehen und blickte Purwin direkt in die Augen.
"Nun?"
"Es gab einen Unfall." Purwin sprach mit sehr leiser Stimme. Es war beinahe nur ein Wispern. "Wissen Sie, Boßeln wirkt wie ein sehr harmloser Sport, aber es kann alles Mögliche passieren, wenn Verkehrsteilnehmer nicht aufpassen. Ich wollte es danach einfach nicht mehr. Außerdem konnte ich diesen Schnaps, den die hier trinken, nicht ausstehen."
"Leuchtet mir ein."
Lorant ging an ihm vorbei, hörte irgendwo den bekannten Ruf: "Der Nächste, bitte!" Eine Arzthelferin brachte ihn zum Reizstromgerät. Na großartig, dachte er. Dann habe ich ein bisschen Zeit zum Nachdenken.
––––––––
16.
Warum hat Dr. Purwin eine Karte von mir gefordert?, ging es Lorant durch den Kopf, als er sich am frühen Nachmittag auf der Autobahn Richtung Oldenburg befand. Er beschleunigte den Carisma auf Tempo 200. Die Autobahn war fast leer. Eine regelrechte Rennstrecke. Anders wurde es erst, sobald man die A1 erreichte. Aber das war nach der Raststätte Huntetal.
Lorant wollte sich an die Oldenburger Kripo wenden, um vielleicht noch interessante Details über den bisher unidentifizierten Toten herauszubekommen, den man in Huntetal gefunden hatte.
Am Autobahnkreuz Leer hatte Lorant die A31 verlassen und die A28 genommen. Ein Schild wies auf die Abfahrt Westerstede hin.
Lorant spürte seinen Ischias noch etwas, aber die Spritze hatte zusammen mit der Reizstrombehandlung wahre Wunder bewirkt.
Als Arzt verstand Purwin offenbar sein Handwerk.
In Gedanken ließ Lorant den Besuch bei Dr. Purwin noch einmal Revue passieren. Kontrollierte dieser jungenhafte Mann eigentlich regelmäßig seine eigenen Blutdruckwerte? Bei dem sehr wechselhaften Temperament, das ihn offenbar auszeichnete, war das wohl nur zu empfehlen.
Die Visitenkarte!, ging es Lorant abermals durch den Kopf. Erst wollte er gar nicht mit dir reden, dann will er unbedingt deine Karte, um dich vielleicht doch noch anzurufen.
Was konnte das bedeuten?
Dass Purwin mehr wusste, als er zunächst offenbart hatte?
Ich werde wohl einfach geduldig abwarten müssen, bis mein Handy klingelt, überlegte Lorant. Aber irgendetwas musste da noch sein, etwas, das Purwin aus was für Gründen auch immer zunächst für sich behalten hatte. Die Polizei hat ihn bei ihren ach so gründlichen Ermittlungen vermutlich gar nicht gefragt, ging es Lorant durch den Kopf. Wahrscheinlich musste man dem Arzt einfach noch etwas Zeit geben. Für Lorant hatte Purwin etwas von einer verschlossenen Auster. Aber er würde sie knacken. In diesem Punkt war er zuversichtlich.
Lorant stellte die Stereoanlage an. Herbie Hancocks 'Sly' begann mit einigen sehr percussiven Figuren. Den Klang der inzwischen längst aus der Mode gekommenen und leicht scheppernden Fender-WE-Pianos mochte Lorant. Auf einem modernen Keyboard war das kaum zu imitieren. Lorant seufzte. Nie wieder wurde solche Musik gemacht, wie in den Siebzigern, dachte er.
Er fuhr an Wiefelstede und Bad Zwischenahn vorbei, erreichte schließlich die Außenbezirke von Oldenburg.
Lorant hatte sich den Weg zum Polizeidienstgebäude vorher genau auf der Karte angesehen und sich einen Stadtplan von Oldenburg besorgt. Nachdem er von der Autobahn hinuntergefahren war, quälte er sich durch den Stadtverkehr. Die Autobahn führte mitten durch Oldenburg, für die Bewohner hinter einer hohen Lärmschutzwand verborgen.
Schließlich erreichte Lorant das Polizeidienstgebäude am Friedhofsweg Nummer 30.
Was für eine passende Adresse, dachte Lorant.
Lorant parkte seinen Wagen, betrat das Gebäude und versuchte, sich an den Hinweisschildern zu orientieren. Es gab zwei Kommissariate, die Wasserschutzpolizei Küstenkanal-Hunte, die III. Abteilung der Landesbereitschaftspolizei, die Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege (Fachbereich: Polizei) sowie das Bildungsinstitut der Polizei. Alles untergebracht in ein und demselben Gebäudekomplex.
Lorant meldete sich erst in den Büros des ersten Kommissariats, wurde dann aber belehrt, dass für den Fall der Leiche an der Raststätte Huntetal das zweite Kommissariat zuständig war.
Schließlich saß der Detektiv einem leicht übergewichtigen Kriminalkommissar namens Vanderbehn gegenüber, der sich Lorants Ausführungen interessiert anhörte.
"Sie glauben an einen Zusammenhang zwischen dem Mordfall Gretus Sluiter und der Männer-Leiche in Huntetal", murmelte Vanderbehn gedehnt.
"Die Boßel-Kugel spricht doch dafür."
"Ja, da könnten Sie durchaus recht haben. Allerdings wird es schwierig sein, einen derartigen Zusammenhang zu beweisen, ehe wir nicht die Identität des Opfers kennen."
"Ich schlage vor, Sie gehen einfach alle Vermisstenfälle durch, die der wahrscheinlichen Todeszeit der Huntetal-Leiche nach in Frage kommen könnten. In einem zweiten Schritt müsste man die Vermisstenfälle dann daraufhin abklopfen, ob irgendein Zusammenhang zur Familie Sluiter in Forlitz-Blaukirchen besteht."
Vanderbehn lächelte mild. "Waren Sie mal bei der Kripo?"
"Ist schon lange her."
"Sie scheinen nichts verlernt zu haben."
"Für mein Nahkampftraining gilt das leider weniger."
"Wieso?"
"Bin vor kurzem übel verhauen worden." Lorant betastete die schmerzende Bauchprellung. Husten und Lachen musste er tunlichst vermeiden. Aber das war leichter gesagt als getan.
Vanderbehn erhob sich, steckte die Hände in die weiten Taschen seiner etwas schlabberig wirkenden Hose, die aber sicher sehr bequem beim Sitzen war.
"Eigentlich wäre es die Aufgabe unserer Kollegen in Emden..."
"Kriminalhauptkommissar Meinert Steen ist leider bislang noch nicht einmal überzeugt davon, dass es sich bei Sluiters Tod überhaupt um einen Mord handelt. Er denkt, dass es ein Unfall war und die Kugel halt einfach so im Boot herumlag." Lorant zuckte die Achseln. "Silche Kugeln liegen hier in Norddeutschland ja sicherlich überall herum, auch an Orten, wo man sie gar nicht vermutet. Auf der Straße, auf Booten. Ich schaue immer schon auf meinen Sitz, bevor ich mich in den Wagen setze. Könnte ja sein, dass da auch eine liegt!"
"Ich werde mal mit dem Kollegen Steen telefonieren."
"Tun Sie das."
Lorant bezweifelte allerdings, dass das einen durchschlagenden Erfolg haben würde. So, wie er Meinert Steen bisher kennen gelernt hatte, bestand die Gefahr, dass sich die Haltung des Kriminalkommissars nur noch verfestigte, wenn er von außen darauf hingewiesen wurde, dass er möglicherweise mit seiner Meinung auf dem falschen Dampfer war.
"Dann kommen Sie mal um den Tisch herum, Herr Lorant. Ich werde Ihnen jetzt auf dem Computerschirm Fotos und Personalien von Vermissten zeigen. Sie haben in dem Fall ja bereits ermittelt und möglicherweise fällt Ihnen ein Zusammenhang auf..."
"Ich bin gespannt."
––––––––
17.
"Ich geh dann jetzt."
Dr. Frank Purwin blickte von seinem Schreibtisch auf und sah in das lächelnde Gesicht seiner Sprechstundenhilfe.
"Ist gut, Heike. Ich sehe mir hier nur noch ein paar Abrechnungen an, dann mache ich auch Schluss."
"Bis morgen."
"Ja, ja..."
Purwin wirkte abwesend. Er beachtete Heike nicht weiter, wandte sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu.
Ganz am Rande nahm der Arzt wenig später wahr, wie die Praxistür ins Schloss fiel. Offenbar hatte Heike gerade das Haus verlassen.
Rechts auf dem Schreibtisch lag die Karte des Detektivs.
Lorant.
Purwin nahm die Karte, betrachtete sie. Man konnte sehen, dass Lorant sie einfach mit einem PC-Drucker hergestellt und nicht richtig hatte drucken lassen. War wahrscheinlich eine finanzielle Frage.
Purwin spürte, wie sein Puls schneller ging. Gretus Sluiter ermordet? Er mochte Lorant nicht besonders, aber so, wie der Detektiv die Sachlage dargestellt hatte, klang das recht plausibel. Du musst es ihm sagen!, durchfuhr es ihm. Es gab jemanden, der einen Grund gehabt hatte, Gretus Sluiter umzubringen, jemanden, der ihm sehr nahegestanden hatte... Und wenn Dr. Purwin dieses Motiv nicht offenbarte, würde nie jemand darauf kommen. Schweigepflicht hin oder her, er wollte keinen Mord decken.
Aber bist du nicht auch deinen Patienten verpflichtet? Gleichgültig, ob sie Tod oder lebendig sind? Die Schweigepflicht eines Arztes ist ein hohes Gut, du kannst nicht einfach so darüber hinweggehen... Purwin war in einem Zwiespalt und er begann zu ahnen, dass es daraus keinen einfachen Ausweg gab.
Willst du, dass die Ärztekammer dich achtkantig rausschmeißt?, meldete sich eine andere Stimme in ihm. Ist es das wert? Zumal du dir so sicher auch nicht sein kannst...
Purwin schluckte.
Nein, es passt alles zu gut zusammen, wies er sich zurecht. Du darfst nicht schweigen.
Nervös drehte er die Karte des Detektivs zwischen den Fingern.
Warum nicht zur Polizei gehen?, fragte er sich. Aber gleich darauf entschied er, dass das eine schlechte Alternative war. Es würde ein offizielles Protokoll, eine regelrechte Aussage geben, die Purwin später vor Gericht wiederholen und möglicherweise beeiden musste.
Und wenn du dich geirrt hast, dann Gnade dir Gott!, durchzuckte es ihn. Dann kannst du dir wahrscheinlich einen neuen Job suchen und selbst wenn du die Zulassung behältst, bist du in dieser Gegend unmöglich!
Ein gutes Gewissen konnte man sich als Arzt leichter leisten, wenn die Praxis schon abbezahlt war. Und wenn seine Patienten auch teilweise von sehr weit her kamen - ohne die lokale Kundschaft war der Betrieb nicht zu halten.
Purwin legte die Karte zur Seite, nahm einen kleineren Zettel und kritzelte mit nervöser Handschrift ein paar Zahlen darauf. Mehr nicht. Wenn er Lorant diesen Zettel gab, mit dem diskreten Hinweis, genau jene Zahlenkombination mal in die Tastatur eines Telefons einzugeben... Purwin lächelte fast erleichtert. Du hast dann deine Schweigepflicht nicht gebrochen, aber wenn dieser Lorant nur einen Funken Verstand hat, wird er von selbst auf alles kommen!
Purwin biss sich auf die Lippe.
Dann wählte er Lorants Handynummer.
Augenblicke später war er verbunden.
"Hier Purwin. Ich muss Sie dringend sprechen."
"Ich kann etwa in einer Stunde bei Ihnen sein", antwortete Lorant.
"Gut. Bitte versuchen Sie pünktlich zu sein."
"Vielleicht könnte ich bei der Gelegenheit noch mal an Ihren Reizstromapparat. Das hat nämlich gut getan."
"Werden Sie nicht unverschämt."
"War ja nur 'ne Frage."
"Bis nachher."
Purwin unterbrach die Verbindung, lehnte sich dann in seinem Sessel zurück.
Den Zettel mit der Telefonnummer, den er Lorant geben wollte, hielte er in der Linken. War es richtig, was er getan hatte? Er war sich schon nicht mehr sicher.
Purwin war übel.
Ich sollte etwas essen, dachte er.
An der Praxistür hörte er ein Geräusch.
Wahrscheinlich hatte Heike wieder irgendetwas vergessen. Kam leider öfter vor, und nicht nur, was ihre Handtaschen, ihr Handy und den Rest ihres Privatkrams anging. Immer ein Fehler, eine Mitarbeiterin nach dem angenehmen optischen Eindruck auszuwählen, ging es ihm durch den Kopf. Ich sollte sie entlassen, bevor sie irgendwann schwanger wird, überlegte er dann. Sonst wird es problematisch, so eine Mitarbeiterin loszuwerden.
Schritte waren vom Flur aus zu hören.
Schritte, die zu Heikes schnellem, trippelndem Gang, bedingt durch ihre für ihren Job eigentlich viel zu hohen Absätze, kaum verursacht werden konnten.
Eine Gestalt erschien im Türrahmen. Unter dem linken Arm eine Boßel-Kugel aus Hartholz, in der Rechten einen Baseballschläger.
Schweißperlen traten auf Dr. Purwins Gesicht. Eine Sekunde lang saß er mit schreckgeweiteten Augen da.
"Was machen Sie hier?", rief er. Gleichzeitig griff er zum Telefonhörer.
Die Gestalt schnellte vor.
Mit einer Hand führte der Unbekannte den Baseballschläger, ließ ihn hinuntersausen.
Das Holz krachte auf den Tisch, traf Purwins Hand. Purwin zog sie schreiend zurück. Aus dem Hörer tutete das Freizeichen.
Purwin rollte mit seinem Stuhl etwas zurück.
Er war blass wie die Wand geworden, hielt sich die zitternde Hand.
Da ist bestimmt etwas gebrochen!, durchzuckte es ihn. Der Schmerz war hölllisch.
"Sie sind Dr. Frank Purwin, nicht wahr?"
"Steht doch an der Tür..."
"Ja, ich weiß..."
"Was wollen Sie? An den Medikamentenschrank? In meiner Praxis gibt's weder Morphium noch Metadon. Tut mir leid. Aber Sie können sich gerne bedienen..."
Der Unbekannte legte die Hartholz-Kugel auf den Schreibtisch.
Sie begann zu rollen, da die Schreibtischfläche leicht geneigt war. Mit einem harten Geräusch knallte sie auf Dr. Purwins Seite nieder und hinterließ eine deutliche Macke im Parkett.
"Ich denke, jetzt wissen Sie Bescheid, Dr. Purwin!"
Dann fasste er den Baseballschläger mit beiden Händen und schlug zu. Der erste Schlag traf Purwin nicht richtig. Er konnte immerhin soweit ausweichen, dass er nicht die volle Wucht abbekam.
Purwin stöhnte auf.
Sein Gegner umrundete den Schreibtisch, holte erneut aus. Der Schlag traf den Kopf. Purwin sackte in einem Sessel zusammen. Ein weiterer Schlag ließ ihn noch einmal zucken.
––––––––
18.
Als Lorant die Praxis von Dr. Purwin erreichte, verschwand die Sonne gerade hinter dm Horizont. Das Licht brach sich in den tiefen Wolken. Ein Aquarell aus Dutzenden von verschiedenen Rottönen stand postkartenreif am Himmel.
Lorant parkte den Wagen vor der Praxis, genoss einige Augenblicke lang den Anblick.
Dann ging er zur Tür.
Sie stand einen kleinen Spalt offen. In dieser Sekunde wusste Lorant, dass hier etwas nicht stimmte. Er gab der Tür einen Stoß, so dass sie sich vollends öffnete. Dann trat er ein.
"Dr. Purwin?", fragte er.
Er ließ den Blick durch die Praxis schweifen, sah kurz in das Wartezimmer mit den Ledersesseln hinein, in denen er nur für ein paar Minuten hatte Platz nehmen dürfen.
Dann nahm Lorant sich die Behandlungszimmer vor.
Schließlich fand er Purwin hinter seinem Schreibtisch.
Mit starren, weit aufgerissenen Augen starrte der Arzt ihn an. Blut war aus mehreren klaffenden Wunden heraus geflossen.
"Nein!", flüsterte Lorant. Endlich wollte jemand freiwillig mit ihm reden und jetzt konnte er nicht mehr.
Lorant blickte kurz auf die Boßel-Kugel auf dem Parkett-Boden. Das musste ja so sein, dachte er. Fragte sich nur, was der Mörder damit bezweckte.
Eine Inszenierung! Du warst schon auf dem richtigen Weg!, durchzuckte es Lorant. Hier führt ein Wahnsinniger eine Art grausiges Theaterstück auf und macht uns alle zu seinen Zeugen.
Lorant fuhr sich mit einer beiläufigen Geste über das Gesicht. Wer war das Publikum bei dieser Inszenierung? Vielleicht war das die entscheidende Frage, die ihn näher an den bislang unbekannten Regisseur dieses Dramas der Grausamkeiten brachte.
Bleib konsequent bei deinem ersten Gedanken!, mahnte ihn eine Stimme aus dem Hinterkopf. Wenn dies eine Inszenierung ist, dann dürfte jemand wie Ubbo Sluiter kaum der Urheber sein!
So viel Kreativität traute Lorant dem biederen Berufs-Sohn einfach nicht zu, da mochten stille Wasser dem Sprichwort nach noch so tief sein. Genial wurden sie dadurch nicht unbedingt. Nicht einmal auf eine perverse Art.
Lorant umrundete den Schreibtisch, gab sich dabei große Mühe, nicht in die Blutlache hineinzutreten. Auf dem Boden lag ein Zettel, so, als wäre er Purwin aus der Hand gefallen, nachdem sich die Muskeln seiner Finger im Tode entspannt hatten. Lorant hob den Zettel auf. Eine Zahlenfolge. Vielleicht eine Telefonnummer.
Lorant steckte den Zettel ein. Dann wandte er sich dem Telefon zu. Der Hörer lag daneben und war an einer Seite kaputt. Stücke waren aus dem Plastik herausgesplittert, als habe jemand mit etwas Hartem daraufgeschlagen. Der Detektiv nahm ein Taschentuch, drückte kurz auf die Gabel, betätigte dann die Wahlwiederholungstaste. Dann nahm er den Hörer ans Ohr.
Sekunden später ließ ihn das Klingeln seines eigenen Handys zusammenzucken.
Lorant unterbrach die Verbindung, legte den Telefonhörer wieder ungefähr so hin, wie er ihn vorgefunden hatte. Auf dem Display seines Handys stand Purwins Nummer.
Offenbar war das Gespräch, das Purwin mit Lorant geführt hatte, sein letztes gewesen. Wen immer er danach noch hatte anrufen wollen, es war nicht mehr dazu gekommen. Der Mörder hatte ihn daran gehindert.
Lorant suchte aus dem Menue seines Handys die Nummer der Emder Kriminalpolizei.
Der Beamte am anderen Ende der Verbindung hieß Jansen und wirkte alles andere begeistert, als Lorant ihm einen Mord meldete. "Tut mir leid für Ihre Kollegen, dass sie jetzt wahrscheinlich aus dem Feierabend gerufen werden, aber ich hab's mir ja auch nicht ausgesucht", meinte der Detektiv.
Jansen ermahnte ihn anschließend noch, nichts anzufassen und sich bis zum Eintreffen der Kollegen keinesfalls vom Tatort zu entfernen, um sich für Befragungen zur Verfügung zu halten.
"Ja, ja, ich kenne die Prozedur", murmelte Lorant nur.
Er unterbrach die Verbindung.
Als nächstes wählte er die Nummer, die auf dem Zettel stand, den er bei dem Toten gefunden hatte.
Bingo!, dachte er. Es handelte sich tatsächlich um eine Telefonnummer.
Allerdings nahm niemand ab.
Also würde er es später noch einmal probieren.
Die Zeit bis zum Eintreffen der Polizei wollte Lorant noch nutzen, um sich ungestört umsehen zu können.
Die erste Überprüfung galt dem Medikamentenschrank. Er wirkte völlig unberührt.
Von den Praxisräumen gab es einen Zugang zum privat genutzten Trakt des Hauses. Lorant passierte ihn. An der Garderobe im Flur hingen ausschließlich Männersachen. Auch ein Blick ins Bad sprach dafür, dass Dr. Purwin offensichtlich ein Single war. Das großzügige, sehr weiträumige Wohnzimmer wirkte fast ein bisschen unpersönlich. Es war in schwarz und weiß gehalten. Kühle, moderne Sachlichkeit, so konnte man diesen Stil umschreiben. Auf einem niedrigen Tisch lagen ein paar Motorradzeitschriften. Ein Foto an der Wand zeigte den braven Arzt in Ledermontur auf einer Harley.
Ein Mann mit zwei Gesichtern, dachte Lorant.
Eine Art Feierabend-Easy-Rider.
Etwa zwei Regalmeter Bücher besaß Purwin. Ein paar medizinische Nachschlagewerke älteren Datums -—Lorant nahm an, dass die neueren im Behandlungszimmer zu finden waren—-, außerdem ein Windows-Handbuch und einige dickleibige Romane von Stephen King und John Saul. Noah Gordons MEDICUS lag quer.
Aber auf der leicht zerfledderten Ausgabe des MEDICUS lag etwas, das Lorants Interesse weckte. Ein Streichholzbriefchen, auf dem die Silhouette einer nackten Frau aufgedruckt war. Ein Schattenriss. Instinktiv nahm Lorant das Briefchen, öffnete es. Von den Streichhölzern war keines benutzt worden. Auf der oberen Innenseite stand COME TO THE X-RAY CLUB!!! mit drei Ausrufungszeichen.
Sieh an, da verbringt also ein lediger Arzt seine wenigen freien Stunden!, dachte Lorant. Was er mit dieser Information anfangen würde, wusste er noch nicht. Er legte das Briefchen zurück, hörte gleichzeitig die Polizeisirenen.
Für einen Blick ins Schlafzimmer blieb leider keine Zeit mehr. Lorant sah zu, so schnell wie möglich wieder zurück in die Praxis-Räume zu gelangen.
Beamten in Uniform und in Zivil stürmten herein.
"Sie sind der Mann, der uns angerufen hat?", wurde Lorant angesprochen.
"Bin ich."
"Jansen, Kripo Emden."
"Wo bleibt denn Ihr Herr und Meister, Kriminalhauptkommissar Steen?"
"Nur Geduld, Herr..."
"...Lorant."
"Hauptkommissar Steen wird gleich eintreffen. Warten Sie hier bitte so lange. Ich habe mit ihm telefoniert, und er hat mir gesagt, dass er Sie unbedingt sprechen will!"
"Oh, welche Ehre!"
"Kein Grund, sich etwas darauf einzubilden!"
Lorant zuckte die Achseln.
Die Praxis von Dr. Purwin glich einem Taubenschlag. Der Gerichsmediziner wurde verständigt. Draußen suchten weitere Beamte nach Spuren. Offenbar war jeder verfügbare Beamte im ganzen Kreisgebiet mobilisiert worden. Ein so großer Aufwand verwunderte Lorant etwas.
Schließlich traf Steen ein. Zunächst nickte er Lorant nur knapp zu, ließ sich dann das Arbeitszimmer zeigen.
Nach ein paar Minuten kam er zurück und wandte sich an Lorant. "Kommen Sie, wir gehen ins Wartezimmer."
"Nichts dagegen."
Augenblicke später ließen sie sich in den Ledersesseln nieder.
"Sie haben hier wirklich nichts angefasst, Lorant?"
"Für wen halten Sie mich."
Lorants Handy klingelte. Er ging an den Apparat, wies den Anruf mit einem Knopfdruck ab. "Das sind Ihre Kollegen. Die haben wohl die Wahlwiederholungstaste von Purwins Telefon gedrückt."
"Er hat mit Ihnen zuletzt telefoniert?"
"Ja."
"Warum?"
"Er wollte mir etwas sagen, was für den Mordfall Sluiter wichtig sei."
"Und was?"
"Wenn ich das wüsste. Ich war auf dem Rückweg aus Oldenburg und versprach, in einer Stunde hier zu sein. Dann habe ich ihn so gefunden."
Steens Gesicht wurde dunkelrot. "Sie waren in Oldenburg", sagte er gedehnt. Dabei spielte er nervös mit seinem Dienstausweis herum.
"Ja, stimmt", bestätigte Lorant.
"Dann sind Sie für den Trouble verantwortlich, den wir heute hatten!"
Lorant lächelte dünn. "Haben Ihre Kollegen Ihnen ein bisschen Feuer unter dem Hintern gemacht?"
"Spielen Sie sich nicht so auf, Lorant. Viel haben Sie in diesem Fall auch noch nicht erreicht."
"Naja, wenn Sie jetzt auch schon davon überzeugt sind, dass es einen FALL überhaupt gibt, dann bin ich schon ganz zufrieden. Frau Sluiter hat wochenlang versucht, diese Meinungsänderung bei Ihnen zu bewirken und ist kläglich gescheitert."
Meinert Steen holte eine Zigarettenschachtel hervor, steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. Wenn Lorant etwas nicht ausstehen konnte, dann war es Zigarettenrauch. Und so klinisch rein, wie Praxis und Wohnung des ermordeten Arztes Dr. Purwin aussahen, hätte das dem Toten auch nicht gefallen. Kein Respekt mehr vor den Verblichenen!, dachte Lorant und hustete demonstrativ.
"Sie sind nicht mehr ganz auf dem Laufenden, Herr Lorant."
"So?"
"Inzwischen ist die Tatwaffe gefunden worden, mit der Gretus Sluiter wahrscheinlich umgebracht wurde."
"Ach!"
"Ein Ruderholz. Es waren noch Blutspuren dran."
"Nach so langer Zeit?"
"Der Mörder hat es unter ein Boot geschoben, das umgedreht an Land lag. Er muss es aus einem der anderen Boote genommen haben. Vielleicht hatte es auch jemand liegengelassen. Dann hat er es genommen, um Sluiter zu erschlagen und unter dem Boot verschwinden lassen. Sieht fast nach einer Spontanhandlung aus. Jedenfalls nicht nach einer durchdachten und von Anfang an geplanten Aktion."
"Zumindest nicht in diesem Punkt", musste Lorant zugeben.
"Sie waren in Oldenburg beim Kollegen Vanderbehn?"
"Ja."
"Und der hat Ihnen eine Liste von Vermissten gezeigt?"
"Schon möglich!"
"Nun halten Sie nicht so hinter dem Berg damit, Lorant! Wir sollten zusammenarbeiten."
Lorant hob die Augenbrauen. Er fragte sich, ob das Angebot seines Gegenübers ernst gemeint war. Wahrscheinlich nicht, dachte Lorant. Es gefällt ihm nur nicht, dass ich auf eigene Faust ermittle und ihm ein Stück voraus bin.
Spring über deinen Schatten, Lorant!, meldete sich eine Stimme in ihm. Es geht darum, einen Mörder zu fangen. Ihn daran zu hindern, weitere Menschen umzubringen.
Dass er das tun würde, hatte Lorant im Gefühl. Er hatte keine Erklärung dafür, nichts, was sich irgendwie durch Fakten belegen ließ. Es war einfach nur seine Ansicht. Der Mörder hatte noch nicht erreicht, was erreichen wollte.
Wer ist das Publikum?, durchzuckte es Lorant wie ein greller Blitz. Vergiss diese Frage nie. Sie ist der Schlüssel. Ganz bestimmt...
"Also gut", sagte Lorant schließlich. Er erhob sich, ging ein paar Schritte in Richtung des Fensters, um der immer dichter werdenden Qualmwolke zu entfliehen. "Unter den Vermissten gibt es einen, der hier aus der Gegend kommt. Eilert Eilerts, 52 Jahre alt und zuletzt als Bar-Mixer im X-Ray beschäftigt."
"Die Liste kenne ich auch", sagte Steen. "Und selbstverständlich bin ich auch mit dem Fall Eilerts vertraut. Ich möchte auf keinen Fall, dass sie seine Familie aufsuchen und ihr erzählen, dass die Leiche in Huntetal vielleicht derjenige ist, den sie vermissen... Noch ist nämlich nichts erwiesen. Wir müssen die Gesichtsrekonstruktion der Gerichtsmediziner in Bremen abwarten."
Abwarten, abwarten, abwarten...
Auch eine Ermittlungsmethode, dachte Lorant. Aber eine, von der er sich geschworen hatte, sie möglichst nicht mehr anzuwenden. Jahrelang hatte er das tun müssen. Aber diese Zeiten waren längst vorbei.
"Ich soll die Hände in den Schoß legen."
"Wenn Sie's übers Herz bringen, Lorant..."
"Kann ich nicht versprechen."
"Sie erschweren uns ansonsten die Arbeit."
"So ein Quatsch."
Eine Pause entstand.
Die Tür des Wartezimmers wurde geöffnet. Jansen kam herein. "Wir haben die wahrscheinliche Tatwaffe gefunden."
Steen sprang auf. "Und?"
"Ein Baseballschläger. Lag etwas entfernt in einer Grabenböschung, so als hätte ihn jemand in aller Eile weggeworfen und gehofft, dass er im Graben versinkt. Letzte Sicherheit gibt natürlich erst ein Vergleich des DNA-Materials."
"Logisch."
"Und noch was... Auf dem Hof gibt's eine Bremsspur, die wahrscheinlich von einem Motorrad stammt."
"Wahrscheinlich von einer Harley!", meinte Lorant. "Und diese Harley gehörte Purwin selbst!"
Die ziemlich perplexen Blicke der beiden Polizisten genoss der Detektiv regelrecht. "Prüfen Sie es ruhig nach!", forderte er.
Steen schüttelte den Kopf. "Nein, ich glaub's Ihnen ja. Allerdings hatte ich gedacht, dass der Doc seine Maschine längst verkauft hat!"
"Hat er das Ihnen mal angekündigt?"
Steen antwortete nicht darauf, sondern erwiderte: "Die Fragen stelle ich hier."
"War Dr. Purwin vielleicht in einer finanziellen Krise, die sich plötzlich zum Besseren gewendet hat?"
"So gut kannte ich ihn nun auch wieder nicht. Schließlich bin ich nicht sein Steuerberater."
"Sondern nur sein Boßel-Freund."
"Ist lange her. Der steife Doc hat nix mehr mitgemacht." Steen atmete tief durch. "So richtig lustig war's mit ihm eigentlich auch nie."
"Sagen Sie mal, wohnen Sie eigentlich hier in der Nähe? Sie waren doch schon im Feierabend und trotzdem so schnell hier!"
"Gleich habe ich ein Loch im Bauch von Ihrer Fragerei, Herr Lorant. Vielleicht lassen Sie mich hier jetzt einfach mal meine Arbeit machen."
Lorant zuckte die Achseln.
"Ich nehme an, dass Sie jetzt keine Fragen mehr an mich haben."
"Im Moment nicht."
Lorant ging zur Tür, Jansen machte ihm Platz.
Der Detektiv blieb noch einmal kurz stehen und drehte sich zu Kriminalhauptkommissar Meinert Steen herum.
"Vielleicht denken Sie mal über folgendes nach: Was haben der Barmixer eines Sündenbabels, ein erzfrommer, biederer Geschäftsmann und ein Arzt, dessen Spezialität es ist, Privatpatienten von chronischen Krankheiten zu heilen, miteinander gemein? Es muss da irgendetwas geben, denn höchstwahrscheinlich sind alle drei von demselben Täter umgebracht worden!"
Steen verzog das Gesicht, nahm die Zigarette aus dem Mund und erwiderte: "Wenn ich es weiß, werden Sie in der Zeitung davon lesen können!"
––––––––
19.
Victor bremste sein Motorrad so hart ab, dass das Hinterrad etwas ausbrach und auf dem Pflaster des Parkplatzes eine dunkle, leicht gebogene Bremsspur entstand.
Er grinste dabei.
Das machte immer wieder Bock!
Victor ließ sein Motorrad nochmal richtig aufbrüllen, bevor er es vor dem X-Ray abstellte.
Ein Nachtclub mitten auf dem platten Land. Auf so eine Idee konnte nur ein Geschäftsmann vom Schlag des Leeraners Tom Tjaden kommen. Ehedem war das Gebäude die Lagerhalle eines großen Restposten-Discounters gewesen, der sich NIX WIE GEIZIG! genannt hatte und mit mehreren Filialen in Wittmund, Norden und Aurich vertreten gewesen war.
Gartenmöbel hatten da neben Büchern gestanden. Kistenweise Spielzeug oder Plastikblumen hatten das Angebot abgerundet. Es gab nichts, was man hier nicht zu erheblich reduzierten Preisen hatte finden können. Und das meistens palettenweise.
Aber es gab starke Konkurrenz aus Emden.
Und die hatte schließlich dafür gesorgt, dass die NIX WIE GEIZIG!-Filiale in Aurich nicht mehr rentabel gewesen war und die Segel streichen musste. Angebot und Nachfrage regierten eben die Welt.
Tom Tjaden hatte die Immobilie günstig aufgekauft. Natürlich über einen Strohmann, denn jemandem wie ihm hätten sie ein Unternehmen, dass ja weiterhin in der Region Geschäfte machen wollte, kaum überlassen.
Und Tjaden hatte alle Zeit der Welt gehabt, um aus dem ehemaligen NIX WIE GEIZIG!-Gebäude das X-Ray zu machen.
Mitten in dem faulen Apfel Ostfriesland (außen an der Küste das Faule, der schwere, feuchte Marschboden; innen das gute Land), in unmittelbarer Nähe der Stadt Aurich, die gewissermaßen den Kern dieses Apfels darstellte.
Victor musste immer grinsen, wenn Abend für Abend neben Limousinen auch ein paar Trecker auf dem Parkplatz standen.
Aber noch war es nicht so weit.
Noch herrschte gähnende Leere auf dem Parkplatz.
Victor war der Mann fürs Grobe im X-Ray. Als Türsteher sorgte er dafür, dass Leute, von denen von vornherein Ärger zu erwarten war, gar nicht erst hineingelassen wurden. Ab und zu kam es allerdings auch vor, dass einer der Gäste auf die rustikale Weise des Hauses verwiesen werden musste. Manche der Trecker-Gäste glaubten offenbar, dass sie die Girls des X-Ray genauso grob betatschen konnten, wie das bei der künstlichen Besamung ihrer Kühe angebracht war.
Victor betrat das X-Ray.
Ein paar philippinische Putzfrauen schrubbten noch den Boden. Jonny Cornelius, der Bar-Tender, stand hinter dem Schanktisch und war damit beschäftigt, Gläser zu polieren. Eines der Girls saß auf einem der Hocker und trank einen Espresso. Victor starrte einen Augenblick lang die kurvenreichen, geradezu atemberaubenden Linien ihrer Figur an. Sie hatte schwarzes Haar und nannte sich Melinda. Victor hatte irgendwann einmal mitgekriegt, dass sie eigentlich Frauke hieß. Und vermutlich waren ihre Haare in Wahrheit auch nicht pechschwarz, sondern aschblond.
Victor bedauerte, dass er vermutlich nicht mitbekommen würde, wenn Frauke alias Melinda sich auf der Bühne auszog, weil er dann meistens draußen vor der Tür seine Aufgabe hatte. Tom Tjaden bezahlte den Job gut genug, um das verschmerzen zu können. Immerhin hatte das Motorrad innerhalb weniger Monate dringesessen.
Jonny Cornelius wandte sich sogleich an Victor.
"Hey, der Boss ist da und will dich sofort sprechen!"
"Kein Problem, Alter!", meinte Victor.
"Na, du musst es ja wissen!"
Jonny Cornelius grinste breit über sein aufgedunsenes Gesicht. Er hatte früher Andenken an Bord einer der Borkum-Fähren verkauft, die von Emden aus verkehrten. Aber seine gegenwärtige Tätigkeit gefiel ihm um einiges besser. Noch früher war er angeblich als Schiffskoch um die halbe Welt gefahren. Victor hatte sich die Geschichten schon einige dutzendmal anhören müssen. Das Gute für Jonny Cornelius war, dass immer wieder Touristen ins X-Ray kamen, denen er seine Stories von neuem erzählen konnte - auch wenn diese Zuhörerschaft durch die Geschehnisse auf der Bühne naturgemäß leicht abgelenkt zu sein pflegten.
"Wo isser?", fragte Victor.
"Der Boss? Im Büro natürlich."
"Erst gib mir Schluck!"
"Immer noch nix Deutsch gelernt, du Russe?"
"Ich mehr Deutscher als du! Willst du sehen Pass? Oder willst du haben neue Zähne?"
Jonny hob beschwichtigend die Hände. Er sah ein, dass er den Bogen überspannt hatte. "Ist ja schon gut."
"Ich nicht Plattdeutsch reden, sondern Hochdeutsch!"
"Jo, jo, aber zu Trinken gibt's nix, solange du nicht beim Boss warst. Der wird sonst echt sauer!"
Victor knurrte noch etwas auf Russisch vor sich hin. Jonny Cornelius war nicht weiter neugierig darauf, diesen letzten Kommentar aus Victors Mund zu verstehen. Eine Freundlichkeit war es bestimmt nicht gewesen.
Victor ging durch eine Nebentür und verließ den Hauptsaal des X-Ray. Er passierte einen schmalen Korridor. Am Ende lag das Büro. Victor klopfte.
"Komm rein!", kam es aus dem Inneren.
Tom Tjaden saß hinter dem Schreibtisch, tickte nervös mit einem Kugelschreiber herum. Erst auf den zweiten Blick sah Victor, dass es gar kein Kugelschreiber war, sondern der Stift für den Touchscreen seines PDA.
"Wie ist die Sache gelaufen?", fragte Tjaden.
"Alles klar, Boss!"
"Wenn ich noch mal ein paar mehr Leute brauche, um etwas zu erledigen, dann..."
"Null Problemo."
"Gut..."
––––––––
20.
Lorant fuhr zu seiner Unterkunft bei Beate Jakobs. Er hatte Hunger, da er den ganzen Tag über noch nichts Richtiges gegessen hatte.
Außerdem musste er darüber nachdenken, wie er weiter vorgehen wollte. Eine Option war, dem X-Ray einen Besuch abzustatten. Es musste doch mit dem Teufel zugehen, wenn ihm dort nicht jemand etwas über Eilert Eilers erzählen konnte. Zwar stand es noch keineswegs fest, dass es sich bei dem verschwundenen Bar-Tender des X-Ray wirklich um die Leiche vom Huntetal handelte, aber andererseits dachte Lorant nicht im Traum daran, sich an Meinert Steens Anweisungen zu halten.
Sollte der Kripo-Mann nur fleißig weiter hinter ihm her ermitteln!
Wenn es am Ende um eine Verhaftung ging, brauchte Lorant ohnehin dessen Hilfe. Leider.
"Na, den ganzen Tach unnerwegs?", begrüßte ihn Beate Jakobs, nachdem er den Schankraum betreten hatte.
"Jo", imitierte Lorant die Sprechweise der Einheimischen.
Der einzige Gast, der sich zur Zeit im Schankraum befand, saß an der Theke vor seinem Bier. Ein rotgesichtiger, dickbäuchiger Mann mit Prinz Heinrich-Mütze. An seinen Gummistiefeln klebte Mist. Ein Bauer also, schloss Lorant messerscharf.
"Junger Mann, kann ich was für Sie tun?", erkundigte sich Beate Jakobs.
Ihr nahm Lorant den 'jungen Mann' nicht übel, so wie dem Meerwart Benno Folkerts. Entweder deshalb, weil der Altersunterschied entsprechend war, oder weil Beate Jakobs einen zwar etwas herben, aber auf ihre Art und Weise doch auch unwiderstehlichen Charme hatte, der dem Meerwart schlicht und ergreifend abging.
"Ich habe Hunger", sagte Lorant wahrheitsgemäß.
"Dann hole ich Ihnen mal die Karte!"
Oh, Karte!, dachte Lorant. Eine so große Auswahl, dass es sich lohnte, sie auf eine Speisekarte zu drucken, hatte Lorant dem Lokal von Beate Jakobs gar nicht zugetraut.
"Gerne!"
"Einen Moment!"
Lorant setzte sich an den Tresen. Beate Jakobs gab ihm eine Karte. Schön eingebunden in feinstes Kunstleder.
"Sach mal, du bist nicht von hier, was?", fragte der Bauer an Lorant gewandt.
"Nein. Von Ostfriesland kenne ich nur die Ostfriesenwitze."
"Kennst du den schon: Wie heißt die älteste Stadt der Welt?"
"Keine Ahnung."
"Leer in Ostfriesland."
"Wieso?"
"Na, das steht doch schon in der Bibel: 'Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde und auf der Erde war es wüst und LEER!"
Lorant lachte aus Höflichkeit mit, während sich der Bauer gar nicht einkriegen konnte. Mit einem Auge überflog der Detektiv dabei die Angebote aus Beates Küche. Konventionell-rustikale Pommesbuden-Gastronomie, so ließ sich der Inhalt der Karte zusammenfassen. Pommes mit Schnitzel, ein halbes Hähnchen, Bockwurst mit Kartoffelsalat. Wahrscheinlich alles von einem Tiefkühldiscounter angeliefert und vorgefertigt. Aber Lorant war keineswegs ein gläubiger Anhänger irgendeiner Nahrungsmittel-Religion. Weder Vegetarier, noch Fettverächter oder Fast Food-Ablehner. Hauptsache satt, war seine Devise.
Er entschied sich für das Schnitzel mit Pommes.
"Das tut mir aber leid, junger Mann! Aber das Schnitzel ist leider aus!"
"Hm!"
"Vielleicht ist ja noch was anderes dabei, was Sie mögen."
"Klar."
Der Bauer meldete sich mit dem nächsten Witz.
"Kennst du den: Das Kind eines Auswärtigen geht auf ein Emder Gymnasium. Da fragt der Lehrer: 'Beschreib mir mal den kürzesten Weg nach Japan!' Da meldet sich der Schüler von auswärts und erklärt umständlich den Weg über Osteuropa und Russland, China bis nach Japan. Sagt der Lehrer: 'Nee, das stimmt nicht. Es gibt noch einen Kürzeren."
Lorant runzelte die Stirn. "Und welchen?"
"Ein anderer Schüler meldet sich und sagt: 'Ich gehe einfach in Larrelt über die Brücke und schon bin ich in Japan."
Der Bauer lachte los.
Lorant verstand kein Wort und sah ziemlich begriffsstutzig drein. Glücklicherweise hatte Beate Jakobs Erbarmen mit ihm.
"Junger Mann, das ist so: Emden war doch früher ein bedeutender Hafen, auch wenn's schon eine Weile her ist. Und deswegen sind einige Stadtteile Emdens nach Orten in fremden Ländern benannt: Tsing-tau, Port Arthur, Transvaal..."
"Und eben Japan?", schloss Lorant.
Beate Jakobs nickte. "Ja, das Gebiet hinter der Larrelter Brücke hieß traditionell früher Japan."
"Was ist mit halben Hähnchen, Frau Jakobs. Kann ich das noch bekommen?"
"Junger Mann, Sie haben aber ein Pech..."
"Wie? Auch aus?"
"Leider ja."
"Und die Bockwurst mit Kartoffelsalat?"
"Die ist noch da."
"Was ist denn außer der Bockwurst mit Kartofelsalat noch zu haben?"
"Leider ist das im Moment das einzige, was ich anbieten kann. Der Kühlwagen kommt übermorgen, und ich bin ziemlich ausgebrannt!"
Lorant seufzte, klappte die Karte zu. "Okay, dann die Bockwurst." Hätte sie mir ja auch gleich sagen können, dass sie sonst gar nichts da hat!, dachte er. Das Kartenstudium hätte ich mir dann ja wohl auch sparen können.
Er gab ihr die Karte zurück.
"Schön, dass wir doch noch was für Sie gefunden haben, junger Mann!", meinte Beate Jakobs.
Die alte Dame verschwand in der Küche.
Lorant sah zu, dass er gegenüber dem Bier trinkenden Bauern etwas Land gewann. Noch mehr Witze, für die ihm die Verständnisgrundlagen fehlten, wollte sich der Detektiv nicht anhören.
"Nix los heute hier, was?", meldete sich der Bauer mit seiner dröhnenden Stimme dann aber doch zu Wort.
Lorant ging bis in die Mitte des Raumes hinein, der sich durch eine Schiebetür aus Paneele trennen ließ. In einer Ecke hinter dem Kamin entdeckte er ein Klavier, darüber ein ostfriesisches Landschaftsbild. Blesshühner oder etwas Ähnliches im Schilf, dahinter die untergehende Sonne, das Spiel der Rottöne im Wasser und so weiter. Das Klavier hatte schon einige Schrammen. Offenbar war nicht immer besonders pfleglich mit dem Instrument umgegangen worden. Lorant bewegte die Finger. Ein paar Tage ohne zu spielen, das war für ihn wie eine Ewigkeit. Er bekam dann regelrecht Entzugserscheinungen. Wenn er viel zu tun oder den Kopf voll mit anderen Dingen hatte, fiel ihm das nicht so auf. Aber jetzt, da er das Objekt seiner Begierde vor sich sah... Am ersten Abend hatte die lärmende Skatrunde davor gesessen, dass ihm das Instrument nicht aufgefallen war.
Und während des Frühstücks musste die Paneele-Tür ein Stück zugezogen gewesen sein. Jedenfalls war ihm das Piano auch da nicht weiter aufgefallen. Vielleicht auch deswegen, weil dieser eigenartige tätowierte Ruhrgebietler seine Aufmerksamkeit zu sehr gefesselt hatte.
"Echt nix los hier heute!", wiederholte der Bauer noch mal. Offenbar sein letzter verzweifelter Versuch, Lorant doch noch als Gesprächspartner oder wenigstens als Zuhörer für Witze zu rekrutieren.
"Vielleicht ist im X-Ray ja mehr los!", sagte Lorant und ging dem Bauern damit gewissermaßen auf den rhetorischen Leim.
"Im X-Ray? Meinst du den Puff auf der Wiese?"
"Naja, ein hartes Wort."
"Weißt du, was da ein Glas voll kostet?"
"Nein."
"Dat gaait auf keine Kuhhaut. Und ein richtiges Bier haben die auch nicht! Aber schweineteuer ist da alles!"
Lorant hörte nur beiläufig zu und wandte sich stattdessen dem Klavier zu. Er setzte sich auf den Hocker. Die Tasten waren staubig. Aber davon ließ er sich nicht abhalten. Lorant spielte ein paar dezente Akkorde, ließ sie dann in den swingenden fünf-viertel-Takt von TAKE FIVE einmünden. Das Klavier hatte wahrscheinlich schon seit Jahren keinen Klavierstimmer mehr gesehen. Das gab Lorants Spiel eine besondere dissonante Schärfe, die im Original eigentlich nicht vorgesehen war. Immerhin verstummte der Bauer jetzt. Er saß mit offenem Mund da und hörte zu.
"Kannst du auch Shantys?", glaubte Lorant ihn zwischendurch einmal fragen hören. Aber er antwortete nicht. Zu weit hatten ihn die Harmonielinien und Akkorde bereits aus dem Hier und Jetzt hinausgetragen. Hinein in ein Kontinuum der Töne und Stimmungen, der Klangfarben und des pulsierenden Rhythmus. Ein Land jenseits der Zeit und der konkreten Vorstellung.
Ein Anflug von Melancholie überkam Lorant.
TAKE FIVE.
Seine Frau hatte dieses Stück sehr geliebt. Jahrelang hatte Lorant es nicht spielen können. Schließlich war er darüber hinweg gewesen. Jedenfalls hatte er das geglaubt. Möglicherweise ein Irrtum. Er sah ihr Gesicht vor sich, sah die Blutspuren in dem Apartment auf Cuba. Vom Fenster aus hatte man auf das Meer blicken können. Auf das Meer im hochdeutschen Sinn. Den Ozean. Die leuchtend blaue karibische See, den Traum aller Nordländer, die an Regen und Nieselwetter gewöhnt waren und insgeheim immer davon träumten, sich die frische Brise der Karibik durch die Haare wehen zu lassen. Ein traumhafter Ort, der im nach hinein zu einem Alptraumort geworden war. Lorant erinnerte sich an die hilflos wirkenden Polizisten, denen er gegenüber gesessen hatte. Er konnte leidlich Spanisch, die Polizisten ein wenig Englisch. Aber das war nicht das Problem gewesen. "En Cuba el crimen organisado no existe!", hatte ihm einer der Polizeioffiziere weiszumachen versucht. Manchmal hörte er diesen Satz im Traum. Immer wieder die Behauptung, dass es in Cuba kein organisiertes Verbrechen gäbe, nur weil es das nicht geben durfte. So wie die angeblich auch ausgerottete Prostitution. Der Kommunismus des 'Maximo Líder' Fidel Castro erlaubte es nicht, darum existierte es nicht. Punkt aus. Aber Tatsache war, dass seine Frau verschwunden und vermutlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Mochte der Teufel wissen, warum sie hatte sterben müssen, mit wem man sie möglicherweise verwechselt hatte und auf welcher Müllkippe man ihre Leiche abgeladen hatte. Du wirst es nie herausfinden, durchfuhr es Lorant. Es lohnt sich nicht, dass du dein Hirn weiterhin mit den Gedanken daran marterst. Du hast getan, was du konntest. Nimm es hin, wie es ist, sonst verbringst du deine Zeit wieder auf der Couch eines Psychiaters anstatt mit den Dingen, die für deinen Job wichtig sind! Also Schluss jetzt...
"Hier, Ihre Bockwurst mit Kartoffelsalat!", riss ihn Beate Jakobs' Stimme aus seinen Gedanken heraus. Lorant war ihr dafür beinahe dankbar. Ein letzter Akkord, eine furchtbare Dissonanz, verursacht durch eine total verstimmte, scheppernde Saite, dann nahm Lorant die Finger von den Tasten. Die Kuppen fühlten sich stumpf an. Stumpf von der dicken Staubschicht, die auf den Tasten gelegen hatte. Seine Abdrücke waren jetzt ziemlich gut darauf zu sehen.
"Danke", sagte Lorant.
"An welchen Tisch soll ich es stellen?"
"An den da!" Lorant streckte die Hand aus, deutete auf jenen Tisch, der am weitesten von dem Bier trinkenden Bauern mit der Prinz Heinrich-Mütze entfernt war.
"Kartoffelsalat können Sie noch nachhaben, aber die Bockwurst..."
"...ist die Letzte."
"Ja, tut mir leid."
Lorant setzte sich an den Tisch.
Er merkte, dass Beate Jakobs noch irgendetwas auf dem Herzen hatte. Sie druckste etwas herum, dann brachte sie schließlich heraus: "Sagen Sie, ich habe Sie da gerade Klavierspielen hören..."
"Ja."
"Im Moment suchen wir dringend eine Orgelvertretung in der Kirche. Harm Dierksen ist ja schon seit Wochen krank und mit seinem gebrochenen Fuß kann er auch die Pedale gar nicht treten. Und sein Sohn studiert Musik in Osnabrück, der ist nicht immer hier. Ich glaube, für eine Orgelvertretung bekommen Sie zwanzig D-Mark."
"Nun.."
"Ich rechne immer noch in D-Mark, müssen Sie wissen."
"Ich fürchte, ich habe leider keine Zeit, Frau Jakobs."
"War ja auch nur eine Frage. Ich meine, so ein Choral lässt sich doch schnell lernen. Ist ja auch bei jeder Strophe wieder dasselbe, nicht wahr?"
––––––––
21.
"Ich habe schon gegessen", sagte Ubbo Sluiter, als er nach Hause kam.
Rena verdrehte die Augen.
"Vielleicht könnest du mir so etwas mal vorher sagen!"
"Habe ich versucht."
"Ach, ja?"
"Ja, ich habe versucht, dich anzurufen, aber du hast nicht abgenommen. Offenbar warst du nicht zu Hause."
"Spionierst du mir jetzt nach, oder was?"
Ubbo sah seine hübsche Frau an, musterte sie einige Augenblicke lang. "Hätte ich denn Grund dazu?", fragte er dann nicht ohne scharfen Unterton.
Rena atmete tief durch.
Ihr Blick veränderte sich plötzlich. "Was hast du mit deiner Nase gemacht?"
"Nicht der Rede wert."
"Warst du schon beim Arzt?"
"Ich hab sie gekühlt und damit war's gut."
"Sieht mir nicht so aus. Vielleicht solltest du mal Dr. Purwin anrufen..."
"Dr. Purwin wird jetzt wohl kaum Zeit für mich haben. Selbst für Privatpatienten nicht."
"Ich dachte, er ist ein Freund der Familie."
"Ein Freund meines Vaters", korrigierte Ubbo. Er ging ins Wohnzimmer, ließ sich in einen der Plüschsessel fallen. Ziemlich klobig waren die, aber schön weich. Rena hatte ihm immer schon in den Ohren damit gelegen, endlich was Moderneres anzuschaffen. Etwas, das 'hip' war. Etwas, das 'in dieses neue Jahrtausend' passte und nicht den Eindruck erweckte, von vorgestern zu sein. Aber Ubbo hatte den Wunsch bislang erfolgreich abwehren können. Er mochte diese klobigen Möbel, auch wenn er nur wenige Stunden am Tag zwischen ihnen wohnte. Schließlich war Ubbo Sluiter ein sehr beschäftigter Mann. Und seit sein Vater tot war, galt das umso mehr.
Ubbo schloss die Augen für einige Momente.
Rena fragte sich, ob ihr Mann vielleicht etwas ahnte. Vielleicht war Ubbo doch nicht so blauäugig, wie sie immer gedacht hatte. Mach dich nicht verrückt!, sagte sie sich. Im Augenblick war ihre Hauptpriorität die Boutique. Endlich die eigene Herrin im eigenen Geschäft sein, das war es, wovon sie träumte. Auch wenn es nicht ihr Geld war, mit dem der Plan bewerkstelligt werden sollte. Diese Tatsache konnte ihr ihren Traum keinesfalls vermiesen.
Ohne Ubbo hatte sie keine Chance, ihre Schwiegermutter doch noch herumzukriegen. Also war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, eine Krise zwischen Ubbo und ihr. Streich ihm etwas um den Bart und er macht, was du willst!, vermutete sie. Angesichts der so glatt wie ein Babypopo rasierten Wangen ihres Mannes ein Gedanke, der sie amüsiert schmunzeln ließ.
Sie setzte sich auf die Sessellehne.
Ubbo spürte ihre Nähe, öffnete die Augen.
"Es ist so ruhig zu Hause", meinte er.
"Marvin und Kevin sind bei Freunden."
"So spät noch?"
"Sie übernachten bei Etzengas. Du weißt doch, vor zwei Wochen haben die Etzenga-Jungs bei uns übernachtet."
"Ah, ja..."
"Morgen habe ich einen Gesprächstermin mit dem Rektor von Marvins Schule."
"Worum geht's?"
"Angeblich hat unser Kleiner einer Lehrerin vor das Schienbein getreten."
"Oh."
"Ich glaube kein Wort davon."
"Aber, wenn die Schule es behauptet? Meinst du, dieser Schulleiter denkt sich das nur aus?"
Was für ein Waschlappen ist Ubbo doch!, dachte Rena. Immer noch der brave Schüler, der er sicherlich einst war. Wagt noch nicht einmal gegen die Schule aufzumucken, wenn seinem Kind Unrecht geschieht und es zum Sündenbock gemacht wird! Rena hatte immer zu ihren Söhnen gehalten. Egal, was sie ausgefressen hatten. Den Lehrern hatte sie prinzipiell nicht geglaubt. Die wussten doch ihre Jungs nur nicht richtig zu nehmen. Rena Sluiter galt daher in der Schule als uneinsichtig, aber das war ihr gleichgültig. Auch den vorsichtigen Hinweis, dass Kevin und Marvin die Nibelungentreue ihrer Mutter vielleicht geschickt auszunutzen wussten, ließ sie nicht gelten. Wenn jemand ihr riet, die Hilfe des schulpsychologischen Dienstes oder von Erziehungsberatungsstellen in Anspruch zu nehmen, konnte sie ziemlich laut werden.
Ursprünglich hatte Rena vorgehabt, ihrem Mann ein schlechtes Gewissen zu machen, ihm einzureden, dass er sich doch auch mal ein bisschen mehr in die Erziehung einbringen und sie zu dem Gesprächstermin mit dem Rektor begleiten könnte. Schließlich brachten andere Mütter auch ihre Männer mit, wenn es in der Schule richtig Ärger gab.
Aber dieses Vorhaben hatte Rena inzwischen ad acta gelegt.
Sie dachte an die Boutique. Und daran, dass sie Ubbo als Verbündeten gegen dessen Mutter brauchte. Und dahinter musste alles andere zurückstehen. Selbst die Treue zu ihren rüpelhaften Jungs.
"Hör mal, Ubbo, das sieht aus, als hätte dir jemand voll auf die Nase geschlagen."
"Können wir über etwas anderes reden?"
"Waren das diese Russen?"
"Ja."
"Willst du was unternehmen?"
"Was denn?"
"Aber das kann doch nicht so weitergehen."
"Wird es auch nicht."
Und dann sprudelte es aus Ubbo heraus. Er beichtete ihr alles, was sich am Morgen ereignet hatte. Auch, dass Lorant eingegriffen hatte, erwähnte er.
Rena hörte interessiert zu.
"Vielleicht könnte dieser Lorant..."
"Bist du verrückt? Ich habe ihm verboten, weiter in der Russensache herumzurühren."
"Wird er sich dran halten?"
"Weiß ich nicht, ich werde mit Ma sprechen müssen."
Oh, ja - und ich kann mir richtig vorstellen, was dabei herauskommt!, ging es Rena Sluiter durch den Kopf. Nichts nämlich! Ganz einfach nichts! So wie immer!
Unterdessen fuhr Ubbo fort: "Dieser Detektiv hat für meinen Geschmack schon viel zu viel herumgeschnüffelt. Es war keine gute Idee von Ma, ihn zu engagieren."
"In diesem Punkt sind wir vollkommen einer Meinung", erklärte Rena.
––––––––
22.
Als Lorant sich frisch gestärkt auf den Weg zum X-Ray nach Aurich machen und in den Wagen steigen wollte, traf gerade der Tätowierte mit seinem Feuerstuhl ein. Er ließ die Maschine noch mal richtig aufheulen, bevor er den Motor ausschaltete und vom Bock stieg.
Er setzte den Helm ab, schüttelte sich wie ein Hund, der ins Wasser gefallen war.
"Na, den ganzen Tag durch das Land gurken?"
Er starrte Lorant an.
"Ey, was laberst du mich an?"
"Kein Grund zur Aufregung. Ich dachte nur..."
"Was dachtest du?"
"Du warst nicht zufällig bei einem ganz bestimmten Arzt in Moordorf?"
"Wovon redest du?"
"Ich frage ja nur."
"Ja, habe ich gehört."
"Da war nämlich eine ziemlich dicke Bremsspur, die von so einer Maschine stammen könnte."
Lorant trat an das aufgebockte Motorrad heran, sah sich dabei das Profil näher an, strich mit dem Finger über das Gummi.
"Ey, fass mein Eigentum nicht an, woll?"
"Keine Sorge!"
"Wenn du mal mitfahren willst, dann frag mich!"
"Ich werde vielleicht darauf zurückkommen!", versprach Lorant.
––––––––
23.
Als Lorant das X-Ray erreichte, tobte dort bereits das pralle Leben. Eine Reihe von Wagen unterschiedlicher Preisklasse standen auf dem Parkplatz. Die teuersten Modelle waren zweifellos die Trecker. Lorant musste grinsen. Er stellte seinen Wagen ans Ende der Reihe, stieg aus und ging auf den Haupteingang zu. Neonbuchstaben verkündeten großspurig, dass es im X-Ray alles gab, was der moderne Landmann so brauchte: GIRLS, BEERS & FOOD. Das war zwar weder Hoch- noch Plattdeutsch, aber offenbar wurde es über alle Sprachgrenzen hinweg verstanden.
Lorant erreichte den Eingang.
Zunächst bemerkte er den Kerl mit den weißblonden Haaren nicht gleich. Aber dann fiel das grelle Neonlicht eine Sekunde lang auf dessen bleichen Haare. Victor, so hatte Ubbo Sluiter ihn genannt. Victor irgendwas.
Lorant blieb breitbeinig stehen. Auf einen erneuten Zweikampf mit diesem Kerl hatte er keine Lust. Schon deswegen nicht, weil das Reizstromaggregat in Dr. Purwins Praxis fürs Erste wohl nicht zu seiner Verfügung stand.
Victor erstarrte zur Salzsäule.
Die einzige Waffe, die Lorant besaß, war ein kleinkalibriger Revolver, der sich in seinem Wagen befand. Für äußerste Notfälle. Er hatte die Waffe illegal in der Schweiz erworben und dachte auch gar nicht daran, sie offiziell zu beantragen. Es war verdammt schwer in Deutschland, einen Waffenschein zu bekommen. Und Lorant ging unnötigen Schwierigkeiten gerne aus dem Weg.
Aber im Augenblick hatte er die Waffe nicht dabei, während unter Victors Jacke wahrscheinlich noch immer der Revolver steckte, mit dem der Kerl auf ihn geschossen hatte.
In der Seitentasche von Lorants Jackett befand sich nichts weiter als das Handy. Er hatte es lieber im Jackett als am Gürtel, weil es immer die Hose so runterzog.
Lorant konnte sich an den Fingern einer Hand ausrechnen, was als nächstes passieren würde.
Sofern Victor seine Waffe bei sich hatte -—und es gab keinen Grund, daran zu zweifeln -—war davon auszugehen, dass er sie als nächstes aus seiner Jacke herausriss.
Lorant wusste, dass er schneller sein musste.
Schneller ziehen, darauf kam es an. Wie bei den guten alten Cowboys im Western-Film. Nur, dass Gary Cooper in HIGH NOON wenigstens etwas gehabt hatte, was er ziehen konnte, während Lorant unbewaffnet war.
Lorants Entschluss war spontan, aber nicht unüberlegt.
Er setzte alles auf eine Karte.
Bluff hieß das Gebot der Stunde. Er griff in die Jackettseitentasche, umfasste das Handy, hob die Hand und ließ es so erscheinen, als hielte er eine Waffe in der Hand.
"Keine Dummheiten, Victor."
Der Türsteher war vollkommen perplex. Er schluckte, zog die Hand dann vom halb geöffneten Reißverschluss seiner Jacke weg. Offenbar wollte er nicht riskieren, dass Lorant seine Waffe abdrückte.
Nur überzeugend wirken, darauf kommt es an, dachte Lorant. Ist im Leben genauso wie im Fernsehen!
Lorant fuhr fort: "Du heißt doch Victor, oder?"
"Alter, mach keine Dummheiten!", knurrte der Angesprochene.
"Solange du dich nicht rührst, ist alles in Ordnung1"
Lorant trat an Victor heran, langte unter dessen Jacke und zog den Revolver hervor.
Dessen Lauf richtete er jetzt auf den Bauch des Russlanddeutschen.
Er zog das Handy aus der Jacketttasche.
Victor gingen die Augen über. Er war vollkommen fassungslos.
"Mieser Wichser!", schimpfte er.
"An deiner Stelle würde ich langsam auf freundlich umschalten, mein Lieber! Schließlich habe ich dich von heute Morgen her in ziemlich unangenehmer Erinnerung."
"War nix persönlich!"
"Du hast mir um ein Haar die Ohren abgeschossen. So etwas nehme ich übel!"
"Ey, Alter..."
"Aber vielleicht kannst du es ja wieder gutmachen."
"Was gutmachen?"
"Ich hätte gerne ein paar Auskünfte."
"Was Auskünfte?"
Von hinten hörte Lorant Schritte, sein Kopf ging reflexartig zur Seite. Aus den Augenwinkeln heraus konnte Lorant eine Gestalt sehen. Wahrscheinlich einen Gast, der auf den Haupteingang zuging. Für den Bruchteil einer Sekunde war Lorant abgelenkt. Und das nutzte Victor eiskalt aus. Lorant bekam einen heftigen Stoß, genau auf seine Bauchprellung. Er taumelte zurück. Ein höllischer Schmerz durchfuhr ihn. Victor spurtete los, schwang sich auf sein Motorrad. Er legte einen Blitzstart hin. Die Maschine brüllte auf. Mit quietschenden Reifen donnerte er davon, legte sich dabei flach auf den Tank und wich einem Audi aus, der gerade auf den Parkplatz fuhr. Der Audi bremste, Viktor umkurvte ihn mit seinem Motorrad.
Lorant stand mit der Waffe in der Hand da und war vollkommen machtlos. Schließlich konnte er hier keine Schießerei beginnen. Das brachte am Ende nicht Victor, sondern nur ihn selbst in Schwierigkeiten. Das hornissenartige Geräusch von Victors Maschine war noch eine Weile zu hören. Verdammter Mist!, dachte Lorant.
Der Gast, der gerade im Sinn gehabt hatte, den Haupteingang des X-Ray zu passieren, stand wie erstarrt da. Ein rotblonder Mann, ziemlich dürr und mit hervorquellenden Augen. Immerhin hatte er sich fein gemacht, auch wenn der Anzug, den er trug, vom Schnitt her mindestens zwanzig Jahre alt sein musste. Ein altes Erbstück wahrscheinlich. Oder der Konfirmationsanzug des großen Bruders.
"Wat läuft denn hier ab?", stieß der Anzugträger fassungslos hervor.
Lorant steckte die Waffe in den Hosenbund.
"Nichts", sagte er.
"Aber..."
"War alles nur Spaß. Kommen Sie ruhig rein!"
"Dat sah mir aber nicht nach Spaß aus!"
Lorant machte ein entschlossenes Gesicht. "Ich sorge hier für die Sicherheit!", behauptete er. "Sie wollen doch auch nicht, dass hier so Randale-Typen hereinkommen, oder?"
"Nee, dat stimmt! Aber noch wichtiger wäre, dat hier keine Frauen 'reinkommen."
"Nachtclub ohne Frauen? Stelle ich mir öde vor." Lorant zuckte die Schultern. Jeder hatte halt so seinen eigenen Begriff von dem, was er unter 'Spaß' verstand.
"Nee, ich meine nicht die, die hier arbeiten, sondern eben so ganz normale Frauen wie meine zum Beispiel."
Lorant lächelte dünn. "Ich werd's dem Chef vorschlagen."
Der Anzugträger atmete tief durch, ging an Lorant vorbei und meinte dabei: "Im ersten Moment habe ich schon befürchtet, dass hier ein Film gedreht wird, und ich demnächst im Fernsehen bin."
––––––––
24.
Lorant betrat das Innere des X-Ray. Auf der Bühne räkelte sich eine halbnackte Tänzerin. Der Club war nicht besonders gut frequentiert. Einige der Bardamen saßen gelangweilt herum. Lorant ging zielstrebig zum Tresen und sprach den Mann dahinter an. Damit ihn jeder ansprechen konnte, trug er ein Namensschild. JONNY stand darauf.
Die Musik war nicht besonders laut, deshalb konnte man sich einigermaßen unterhalten.
"Hier soll mal einer gearbeitet haben, der Eilert Eilers hieß."
Jonny sah Lorant skeptisch an.
"Was wollen Sie trinken?"
"Eigentlich wollte ich nur eine Auskunft."
"Hier ist es aber üblich, dass man etwas trinkt."
"Eilers soll hier auch an der Bar gestanden haben. Genau wie Sie."
"Warten Sie mal einen Moment. Dann kann ich mich wieder um Sie kümmern."
"Ich habe Zeit."
"Na, um so besser!"
Jonny kam hinter dem Schanktisch hervor, ignorierte sogar die Bestellungen mehrerer Gäste und sprach dann mit einem leichtbekleideten Girl, das gelangweilt herumstand. Sie hatte feuerrote Haare, und die Corsage, die sie trug, war ziemlich knapp. Was sie miteinander redeten, konnte Lorant nicht verstehen. Jedenfalls verschwand die Rothaarige im nächsten Moment durch eine Seitentür.
"Also, was ist?", fragte Lorant, nachdem Jonny zurückgekehrt war.
"Sie sehen doch, ich habe zu tun."
Im Akkordtempo mixte er ein paar Drinks. Die Bewegungen seiner Hände waren dabei derart schnell, dass man ihnen kaum zu folgen vermochte. Da saß jeder Handgriff. Alle Achtung, dachte Lorant. Da versteht einer sein Handwerk. Weshalb sich dieser Mann allerdings so zugeknöpft verhielt, was seinen Kollegen anging, war ihm unverständlich.
Ein Mann mit kurzgeschnittenen, grauen Haare kam wenig später zusammen mit dem rothaarigen Girl durch die Nebentür herein. Das Girl zeigte in Lorants Richtung.
Ich verstehe, dachte der Detektiv. Jetzt kommt entweder einer, der mich rausschmeißen soll, oder einer, der mir wirklich Auskunft geben kann und etwas zu sagen hat.
Der Rolex am Handgelenk des Grauhaarigen nach handelte es sich um einen Kandidaten für die zweite Rubrik.
Aber da konnte man nie sicher sein. Manchmal liefen die Laufburschen mit mehr Protzutensilien herum als ihre Chefs, die sich eher im Understatement ergingen. Lorant beschloss, einfach abzuwarten.
Der Grauhaarige stellte sich neben ihn an die Bar.
"Mach dem Herrn hier einen Drink!", wandte er sich an Jonny.
"Gleich da!"
"Gib ihm dasselbe, was ich immer nehme!"
"Okay."
Dann reichte der Grauhaarige Lorant die Hand hin. "Ich bin Tom Tjaden. Mir gehört dieser Laden hier."
Lorant zögerte eine Sekunde, ehe er die Hand seines Gegenübers nahm. Aber nur eine Sekunde. Er hoffte, dass Tjaden das nicht falsch interpretierte.
"Ich bin Lorant."
"Hab schon von Ihnen gehört."
"Ach! Ich wusste gar nicht, dass ich inzwischen eine Berühmtheit bin!"
"Na, wir wollen nicht übertreiben, aber..."
"Aber was?"
"Wenn so einer wie Sie auftaucht, spricht sich das schnell herum. Die Gegend hier ist ein Dorf, wenn Sie wissen, was ich meine."
"Ich denke, ich kapier schon."
Die Drinks kamen. Jonny stellte sie auf den Schanktisch. Tom Tjaden nahm den seinen, hielt ihn kurz hoch und prostete Lorant zu. "Auf was immer Sie wollen, Herr Lorant!"
"Auf die Wahrheit!"
"Meinetwegen."
"Ihr Bar-Tender war nicht besonders auskunftsfreudig."
"Darum habe ich ihn eingestellt. Diskretion ist eine seiner wichtigsten Eigenschaften."
"Verstehe."
"Sie haben sich nach Eilert Eilers erkundigt?"
"Ja."
"Was ist mit ihm?"
"Ich war eigentlich hier, um Fragen zu stellen, nicht um welche zu beantworten."
Tom Tjaden nippte an seinem Drink und lachte auf. "Also gut. Eilert ist einfach so von einem Tag auf den anderen verschwunden. Zur selben Zeit fehlte auch Geld in der Kasse."
"Und da haben Sie gleich einen Zusammenhang gesehen."
"Ist das so abwegig?"
"Nein, natürlich nicht."
"Andererseits hätte das Geld nie ausgereicht, um irgendwo anders eine neue Existenz aufzubauen oder so etwas. Zirka fünfhundert Euro waren es und ich bin mir nicht einmal hundertprozentig sicher, ob Eilert Eilers wirklich dahinter steckte. Ich habe ja schließlich noch mehr Mitarbeiter."
"Klar."
Tjaden zuckte die Achseln. Für einen Moment wirkte sein Gesicht fast nachdenklich. "Aber mal abgesehen von diesem Betrag, den ich aus der Portokasse nehme..."
"So gut laufen die Geschäfte?"
"...es macht einen doch stutzig, wenn einer von heute auf morgen einfach nicht mehr auftaucht."
Lorant begann, von der Leiche in Huntetal zu berichten und erwähnte dabei auch die beigelegte Boßel-Kugel. "Bis die Gerichtsmediziner das Gesicht rekonstruiert haben, wird es wohl noch ein bisschen dauern, aber ich bin überzeugt davon, dass es sich um Eilert Eilers handelt."
"Sind Sie ein Hellseher oder so etwas? Ich habe ein Etablissement mit einer etwas anderen Publikumsausrichtung auf Borkum. Vielleicht könnten Sie da mal auftreten..."
"Drei Menschen wurden ermordet. Jedem von ihnen wurde eine Boßel-Kugel beigelegt: Gretus Sluiter, der Mann aus Huntetal, von dem ich glaube, dass es sich um Eilers handelt und..."
Tjaden hob die Augenbrauen.
"Wer noch?"
"Dr. Frank Purwin aus Moordorf. Er ist das letzte Opfer. Kurz bevor er mir etwas sagen konnte, wovon er meinte, dass es in Bezug auf Sluiters Tod wichtig wäre, wurde er mit einem Baseballschläger umgebracht."
"Was Sie nicht sagen..."
Tjaden machte ein Pokerface. Es war unmöglich, ihm anzusehen, ob er von Purwins Tod schon vorher gewusst hatte oder nicht. Aber selbst wenn, war das kein Indiz gegen ihn, wusste Lorant. Schließlich verbreiteten sich hier Neuigkeiten und Gerüchte im Eiltempo. So schnell, als ob der Wind sie über das flache Land blasen würde.
Lorant fuhr fort: "Vor der Praxis hat die Polizei eine deutlich sichtbare Bremsspur gefunden, die wahrscheinlich von einem Motorrad stammt."
"Na, und?"
"Ich hatte gerade eine Begegnung mit Ihrem Rausschmeißer."
"Victor?"
"Auch ein Motorrad-Fahrer."
Zum ersten Mal kam jetzt ein ärgerlicher Unterton in Tom Tjadens Worte. Seine Stirn zog sich zusammen. Falten durchzogen sein Gesicht und bildeten markante Linien. Mit der wahrscheinlich durch irgendwelche Beauty-Tricks herbeigeführten Glätte war es also nicht so weit her. Tjadens wahres Alter wurde jetzt ziemlich offensichtlich. Ein Trost, dachte Lorant.
"Wollen Sie jetzt Motorradfahrer im Kreis Aurich oder darüber hinaus verdächtigen? Damit Sie's gleich wissen: Ich habe sogar ZWEI Motorräder. Eine Harley und eine Kawasaki." Er atmete tief durch, fuhr sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht. "Leider komme ich nicht so viel dazu, mit den Maschinen durch die Lande zu gurken, wie ich mir das vorstelle. Aber das ist ein anderes Thema..."
"Ich wollte Sie keinesfalls in irgendeiner Weise angreifen!"
"Ach, nee? Keine Sorge, ich nehme Ihnen den Drink schon nicht wieder weg!"
"Na, da bin ich aber beruhigt."
Tjaden merkte, dass er wohl etwas zu laut geworden war. Einige der Gäste waren selbst von den nackten Tatsachen der blonden Schönen auf der Bühne abgelenkt worden und hatten sich umgedreht. Tjaden vollführte ein paar beschwichtigende Gesten, die ihn fast wie einen Dirigenten erscheinen ließen. "Alles in Ordnung. Sehen Sie wieder in die andere Richtung, da ist es interessanter!"
Eines der Girls saß in unmittelbarer Nähe. Sie war Lorant gleich aufgefallen. Eine Dunkelhaarige mit aufregender, sehr kurviger Figur. Sie trug ein knappes Kostüm. Lorant fragte sich, ob sie ihren Auftritt noch vor sich hatte. In dem Fall lohnte es sich vielleicht, noch etwas im X-Ray zu verweilen.
"Glotz mich nicht so an, Melinda!", fuhr Tjaden sie an.
"Ist ja gut!"
Tjaden leerte sein Glas. Lorant nahm auch einen Schluck. Der Drink war ihm entschieden zu süß. Die schöne Melinda verzog sich mit einem Schmollmund.
"Seien Sie froh, dass ich Ihnen diese Fragen stelle, Herr Tjaden. Die Polizei wird dasselbe wissen wollen - auch wenn's bei deren Arbeitsgeschwindigkeit noch eine Weile dauern kann."
Tjaden verzog das Gesicht.
"Ich zergehe vor Dankbarkeit."
"Victor hat zusammen mit einem Komplizen Ubbo Sluiter verprügelt. Ich kam gerade dazu und mir hätte Ihr Rausschmeißer beinahe eine Kugel zwischen die Ohren gebrannt."
Tjaden hob die Augenbrauen. "Bin ich das Kindermädchen dieses jungen Mannes?"
"Ich dachte, es interessiert Sie trotzdem - falls Sie es nicht schon wussten. Victor hat Ubbo Sluiter übrigens angedroht, dass es ihm wie seinem Vater ergehen könnte."
"Sie meinen, Victor hat diesen Sluiter, Eilers und den Doc umgebracht?"
"Ich bin überzeugt davon, dass es derselbe Täter war."
"Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen, Herr Lorant."
"Sie könnten mir sagen, ob Eilert Eilers boßelte."
"Keine Ahnung. Da müssten Sie seine Familie fragen."
"Haben Sie sich dort eigentlich mal gemeldet, nachdem er verschwand? Um sich zu erkundigen, meine ich."
"Ja. Aber dabei ist nichts herausgekommen."
"Ich möchte, dass Sie mir Victors vollständigen Namen und seine Adresse geben."
"Tut mir leid."
"Wie?"
"Ich habe ihn für ein Handgeld engagiert. Keine Ahnung, wer er ist und wo er herkommt."
"Bei der Polizei werden Sie sich nicht so einfach rausreden können."
"Dass lassen Sie mal meine Sorge sein, Lorant."
Lorant lächelte dünn. "Ich werde dann ja sicher in der Zeitung davon lesen, wenn Sie festgenommen werden."
Tjaden kochte innerlich. Es kostete ihn sichtlich Mühe, sich zu beherrschen. Seine Hände krampften sich zu Fäusten zusammen. Am Hals pulsierte eine Ader.
"Besser Sie gehen jetzt, Lorant."
Lorant deutete zur Bühne.
"Ich würde mir diese Melinda gerne noch ansehen. Wann tritt die auf?"
"Ich sage so etwas nicht zweimal, Lorant!"
"Schade... Ich hätte dann noch zwei Fragen an Sie, die Sie mir bitte präzise beantworten. Andernfalls müsste ich meinen speziellen Freund Kriminalhauptkommissar Meinert Steen von der Kripo Emden darum bitten, das für mich zu tun."
"Sie sind unverbesserlich!"
"Kennen Sie Ubbo Sluiter?"
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Tom Tjaden seine Gesichtszüge nicht unter Kontrolle. Für Lorant reichte das als Antwort. Er war überzeugt davon, dass Tjaden genau wusste, wer Ubbo Sluiter war.
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Lorant fort: "Ich nehme an, dass er des öfteren hier war. Zumindest wusste er, dass der Schläger, den Sie engagiert haben, hier Türsteher ist. Und woher soll er das wissen, wenn er nicht schon einmal durch diese Tür hindurchgegangen ist?"
"Es gibt hier viele Gäste. Und ich bin nur etwa einmal die Woche überhaupt hier im X-Ray. Schließlich habe ich auch noch andere Geschäfte..."
"War Gretus Sluiter auch mal hier?"
"Ich sage keinen Ton mehr."
"Und Dr. Purwin?"
"Hören Sie auf!"
"In seiner Wohnung lag eines Ihrer Streichholzbriefchen."
"Schluss jetzt, sonst werfe ich Sie eigenhändig raus!"
"Ist ja schon gut. Aber glauben Sie ja nicht, dass nicht auch die Polizei auf den Gedanken kommen wird, dass es möglicherweise zwischen den Opfern des Boßel-Kugel-Killers außer der unvermeidlichen Hartholzkugel noch eine Gemeinsamkeit gibt. Ihr schönes Etablissement hier!"
Lorant nickte ihm zu, registrierte mit Befriedigung, dass sein Gegenüber ziemlich perplex war.
Der Detektiv legte eine seiner Karten auf den Schanktisch. "Vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein, was mich weiterbringen könnte. Aber bitte nur die Handynummer anrufen... Ach, und wo ist das Klo?"
Tjaden steckte die Karte ein. "Da hinten und dann links!", deutete er auf einen der Nebenausgänge.
"Danke."
"Schwache Blase, was? Kaum genippt an dem Drink und muss schon!"
Lorant verließ den Hauptsaal durch den Nebenausgang, den Tjaden ihm gezeigt hatte. Er ging einen Flur entlang, der mit Teppichboden ausgelegt war. Man hörte seine Schritte daher kaum. An den Wänden hingen großformatige Fotos der Girls, die im X-Ray arbeiteten. Melinda war auch dabei, auch wenn man sie kaum wiedererkennen konnte, so sehr war an dem Bild herumretuschiert worden.
Lorant ging dem WC-Schild nach, bog um eine Ecke.
Schließlich fand er die Toilette, stellte sich kurz an das Pissoir und erleichterte sich.
Als er einen Augenblick später wieder in den Korridor trat, wartete dort jemand auf ihn.
Es war die dunkelhaarige Melinda.
"Stimmt das, was ich da gerade mitbekommen habe?"
"Was?"
"Dass Dr. Purwin ermordet wurde?"
"Ja. Sie werden es morgen in der Zeitung lesen."
"Und steht es außerdem mit Gewissheit fest, dass der Mörder ein Motorradfahrer war?"
"Naja, was steht im Leben schon mit Gewissheit fest?"
Sie schluckte, atmete tief durch.
"Ich kann jetzt nicht sprechen. Geben Sie mir Ihre Nummer."
"In Ordnung."
"Ich rufe Sie an."
Lorant gab ihr seine Karte und stellte dabei fest, dass es seine letzte war. Sie entriss sie ihm, dann lief sie auch schon davon. Offenbar hatte sie gewaltige Manschetten davor, dass ihr Chef sie hier mit ihm erwischte. Lorant dachte darüber nach, ob er die Schöne nicht noch daran hätte erinnern sollen, dass sie nur die Handynummer anrufen sollte...
––––––––
25.
Lorant erwachte mit einem Schrei. Er saß hoch aufgerichtet im Bett, schweißnass. Er flüsterte einen Namen. IHREN Namen. Er sah sich um, blinzelte gegen die Sonne, die durch das Fenster fiel. Als er ins Bett ging, war es schon sehr spät gewesen. Er hatte schlicht vergessen, die Gardinen zuzuziehen.
Lorant atmete tief durch. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Ihm war kalt. Einige Augenblicke dauerte es, bis er begriff, dass dies nicht jenes Zimmer in einem verwanzten Hotel in Havanna war; dass er nicht auf die Karibik hinausblickte, wenn er aus dem Fenster sah, sondern nur auf einen Kanal, der Verbindung zu einem kleinen See mit dem Namen Großes Meer hatte.
Es gab auch keine Blutflecken auf dem Boden.
Dennoch musste Lorant sich erst durch einen Blick davon überzeugen.
Der Traum...
Er war so real gewesen. Lorant hatte wirklich geglaubt, sich in der Vergangenheit zu befinden. Auf Cuba.
Wann wirst du diesen Mist aus dem Kopf endlich erfolgreich verdrängen können?, fragte er sich. Er schlug die Decke zur Seite, blickte dann auf die Uhr. Der Wecker hatte aus irgendeinem Grund nicht funktioniert. Wertvolle Stunden hatte Lorant vertrödelt.
Er suchte sein Handy aus der Jacketttasche, die an der entsprechenden Stelle schon richtig ausgebeult war. Aus dem Menue lud er die Nummer, die Dr. Purwin ihm aufgeschrieben hatte und die er gestern schon einmal versucht hatte anzurufen.
Diesmal kam er durch.
Und erlebte eine Überraschung.
––––––––
26.
Der tätowierte Ruhrgebietler war diesmal vor Lorant im Schankraum und frühstückte. Als der Detektiv auftauchte, war er schon fast fertig, wie der abgegessene Tisch eindrucksvoll belegte. Der Tätowierte musste einen Mordshunger gehabt haben.
"Moin", sagte Lorant in einem Anflug von kultureller Integrationsbemühung.
"Tach!", sagte der Tätowierte.
Er schien gute Laune zu haben.
Die Zeitung hatte er ziemlich zerfleddert.
"Wieder mit der Maschine rumdüsen?", fragte Lorant, nachdem er sich gesetzt hatte.
"Ist doch nichts gegen einzuwenden, woll?"
"Nö."
"Ey, was machst du hier eigentlich?"
"Wie?"
"Na, du kommst doch auch nicht von hier, woll?"
"Ja, und?"
An allen möglichen und unmöglichen Stellen im Satz das Füllwort 'woll' einfügen -—der sprachliche Beweis dafür, irgendwo aus dem westlichen Ruhrgebiet oder dem angrenzenden Sauerland zu stammen, beziehungsweise lange genug dort gelebt zu haben, um eine derartige dialektale Eigenart zu übernehmen. Lorant ging das dauernde 'woll' ziemlich auf die Nerven. Es erinnerte ihn an frühkindliche Besuche bei seinen Großeltern, die in Schwerte gewohnt hatten. Schon damals hatte er das 'woll' nicht ausstehen können. Besonders, nachdem ihm seine Oma mal eine scheuerte, nachdem er sich über ihre 'woll'-Krankheit lustig gemacht hatte.
"Wie heißt du eigentlich?", fragte Lorant.
"Mir ist aufgefallen, dass du viel fragst, woll?" erwiderte der Tätowierte. "Bist du Polizist oder sowas?"
"Ich kann mich übrigens gar nicht erinnern, dir das Du angeboten zu haben. Schließlich bin ich doch der erheblich Ältere von uns beiden."
"Ey, was laberst du für'n Quatsch!"
In diesem Moment betrat Beate Jakobs den Raum. Sie stellte für Lorant ein Gedeck hin. "Moin, Herr Detektiv. Heute so spät dran?"
"Der Wecker hat den Geist aufgegeben."
"Haben Sie schon das Neueste gehört? In Moordorf ist ein Arzt umgebracht worden." Beate Jakobs setzte sich zu Lorant an den Tisch. Sie sprach in leicht gedämpftem Tonfall weiter - gemessen an allgemeingültigen Maßstäben war das allerdings immer noch ziemlich laut. Muss am häufigen Gegenwind liegen, dass man an der Küste so laut spricht, dachte Lorant. In Holland hatte er das auch erlebt.
Beate Jakobs fuhr indessen fort: "Das müsste Sie eigentlich interessieren. Jemand hat eine Boßel-Kugel neben die Leiche gelegt. Steht alles in der Zeitung!"
Lorants Handy klingelte.
"Oh, ich will Sie nicht stören", meinte Beate Jakobs und ging davon. Beim Tresen blieb sie stehen, wohl in der Hoffnung, doch noch mitzubekommen, mit wem Lorant sprach.
"Hier ist Melinda aus dem X-Ray-Club", meldete sich eine Frauenstimme an Lorants Ohr.
So schnell schon?, dachte der Detektiv. Damit hatte er nicht gerechnet. Irgendetwas musste der jungen Frau ziemlich auf der Seele drücken.
"Es freut mich, dass Sie anrufen", sagte Lorant.
"Wir müssen uns treffen."
"Schlagen Sie vor, wann und wo..."
"Sagen wir zwölf Uhr. Ich bin noch nicht richtig aus den Federn."
"War ziemlich spät gestern?"
"Na, logo."
"Und wo?"
"Den Delft in Emden werden Sie ja wohl finden. Dort liegt ein Schiff mit Namen Nautilus am Kai. Darin ist ein Restaurant."
"Ich werde dort sein."
Sie legte auf.
Lorant fragte sich, was die dunkelhaarige Schöne wohl auszupacken hatte.
Der Tätowierte erhob sich unterdessen, wischte sich mit dem Unterarm seines Sweatshirts den Mund ab. VENGEANCE IS MINE... stand auf dem Sweatshirt. Als der Tätowierte sich umdrehte, konnte man auf dem Rücken den Rest des abgeänderten Bibel-Zitates lesen: ...SAID THE LORD OF EVIL. Offenbar tummelte sich der Tätowierte in gothic-orientierten Kreisen. Du wirst ja wohl nicht die Friedhöfe der Gegend zu schänden versuchen!, ging es Lorant sarkastisch durch den Kopf.
Er drehte sich noch mal kurz zu Lorant herum.
"Nix für ungut, woll?"
––––––––
27.
Nach dem Frühstück überlegte Lorant, wie er die Zeit bis zum Treffen mit Melinda sinnvoll füllen sollte. Zunächst rief er Rena Sluiter an, denn sie stand noch auf seiner Gesprächsliste. Ganz oben sogar. Aber Rena war offenbar nicht zu Hause, jedenfalls nahm niemand ab.
Die Familie von Eilert Eilers wollte Lorant auch noch aufsuchen. Aber das war mit Sicherheit ein etwas längerer Termin. Er würde sehr sensibel vorgehen müssen. Schließlich stand ja noch keineswegs fest, dass die Huntetal-Leiche wirklich der vermisste Familienvater war.
Lorant machte sich jedenfalls schon mal daran, die Adresse der Eilers herauszufinden.
Er ging in sein Zimmer und nahm das Laptop mit integriertem Drucker hervor, das er bei seinen Reisen stets mit sich führte. Ein bisschen Büroarbeit war schließlich immer zu tun. Und über die Infrarotschnittstelle des Handys konnte er Faxe und Emails versenden oder im Internet recherchieren. Für die Adresse der Eilers genügte die aktuelle Version des TELEFONBUCHS DEUTSCHLAND, die auf der Festplatte zu finden war.
Als das getan war, fuhr Lorant nach Emden. Er parkte am Rathausplatz, schlenderte ein Stück am Delft entlang, dieser ins Stadtzentrum hineinragenden Verzweigung des alten Binnenhafens. Nur mit einem kurzen Blick würdigte er DAT OTTO HUUS, eine Art Devotionalienhandlung mit Merchandising- Produkten des ostfriesischen Komikers Otto Waalkes. Aber nach Plastikottifanten stand Lorant jetzt einfach nicht der Sinn.
An beiden Seiten des Ratsdelft lagen Schiffe, von denen die meisten dauerhaft hier angelegt hatten. Ein ausrangierter Seenotrettungskreuzer, der als Museum diente, ebenso wie mehrere Restaurant-Schiffe.
Die Nautilus war auch darunter.
Lorant ging an Bord. Der Schankraum war holzgetäfelt. Der Detektiv setzte sich an eines der Bullaugen auf der dem Wasser zugewandten Seite des Schiffes und blickte hinaus. Ein paar hässliche Hochhäuser standen am anderen Ufer des Ratsdelfts. Bauten, die einen kompletten Stilbruch darstellten.
Lorant ließ sich einen Kaffee bringen und wartete.
Es wurde zwölf Uhr und Melinda kam nicht.
Eine halbe Stunde gab er ihr, dann wollte er aufbrechen. Komisch, gestern klang es noch ziemlich dringend bei der Dame!, ging es Lorant durch den Kopf. Offenbar hatte sie ihr Vorhaben, Lorant irgendetwas Wichtiges mitzuteilen, urplötzlich geändert. Oder jemand hatte sie wirkungsvoll davon überzeugt, dass es besser war, den Mund zu halten. Auch das war denkbar, aber es war müßig, weiter darüber nachzudenken.
Der Wirt trat an Lorants Tisch, räumte die leere Kaffeetasse weg.
"Sie sehen aus wie bestellt und nicht abgeholt", meinte er.
Lorant zuckte die Achseln.
"Kann man so sagen."
"Heut' zu Tage ist aber auch auf nix mehr Verlass."
"Jooo", übte Lorant sich in dem, was er als eine landestypische Erwiderung erachtete.
"Auf die Frauen nicht", fuhr der Wirt fort.
"Jooo."
"Auf das Wetter nicht."
"Jooo."
"Auf die Politiker nicht."
"Jooo."
"Aber auf die Scholle nach Finkenwerder Art, die Sie bei mir kriegen können, da ist Verlass! Na, wie wär's?"
––––––––
28.
Die Familie von Eilert Eilers bewohnte einen anderthalbstöckigen Klinkerbungalow in Twixlum. Lorant parkte in der Einfahrt, stieg aus und ging auf die Haustür zu. Einen Augenblick lang stutzte er, als er das Schild VORSICHT - BISSIGER HUND! sah.
Das riesenhafte Doggenkalb von Bernhardine Sluiter war ihm noch allzu gut in Erinnerung. Lorant wagte sich trotzdem bis zur Haustür und klingelte. Er lauschte angestrengt und erwartete jederzeit das Aufbellen irgendeiner abgerichteten Kampfhundbestie.
Aber nichts dergleichen geschah.
Allerdings öffnete auch niemand. Lorant befürchtete schon, dass niemand zu Hause war, versuchte es aber dennoch ein zweites Mal und klingelte Sturm.
Schließlich geschah irgendetwas hinter der milchigen Verglasung der Haustür.
Die Tür wurde aufgeschlossen.
Allerdings nur einen Spalt. "Ich kaufe nix!", sagte die resolute Stimme einer älteren Frau.
"Ich will Ihnen auch nichts verkaufen!"
"Ja, ja, das sagen sie alle. Und dann kommen Sie mit einem Teppich uner dem Arm in die Wohnung oder versuchen einem eine Versicherung aufzuschwatzen."
"Ich ermittle in einem Mordfall und brauche Ihre Hilfe, Frau Eilers."
Lorant hatte das gerade noch früh genug gesagt, um zu verhindern, dass die alte Dame die Tür nicht sofort wieder ins Schloss drückte. Zum Glück ist sie nicht schwerhörig!, war Lorants erster Gedanke, als sich der Spalt wieder so weit öffnete, dass die Kette, die von innen angebracht war, stramm gezogen wurde.
"Sind Sie von der Polizei...?"
"Ich suche den Mörder von Gretus Sluiter aus Forlitz-Blaukirchen. Sie werden davon in der Zeitung gelesen haben."
"Und was habe ich damit zu tun?"
"Sie persönlich wahrscheinlich gar nichts. Aber möglicherweise ist ein gewisser Eilert Eilers von demselben Täter ermordet worden..."
Die alte Frau starrte durch den Spalt. Sie öffnete den Mund, vergaß ihn auch einige Augenblicke später wieder zu schließen und schüttelte dann nur fassungslos den Kopf. Lorant hoffte inständig, dass sie jetzt in den nächsten Minuten nicht an einem Herzanfall starb. Dafür wollte nun wirklich nicht verantwortlich sein.
"Sie meinen -—mein Sohn ist tot?"
"Ich weiß es nicht genau und vielleicht könnten Sie mir helfen, darüber Gewissheit zu gewinnen. Aber ich würde vorschlagen, dass wir uns nicht hier an der Tür unterhalten."
Die alte Dame zögerte.
"Ihren Ausweis!", forderte sie dann. Offenbar hatte sie unzählige Folgen von AKTENZEICHEN XY UNGELÖST und NEPPER, SCHNEPPER, BAUERNFÄNGER gesehen und war entsprechend konditioniert.
Nie jemanden hereinlassen, der keinen Ausweis vorzeigen konnte.
Auch keinen offiziellen Vertreter der Staatsgewalt, der kommunalen Energieversorger oder der Deutschen Telekom.
Einen Dienstausweis der Kriminalpolizei konnte Lorant natürlich nicht vorweisen. Andererseits wollte er dem Eindruck der alten Dame, dass er ein Polizist sei, nicht unnötigerweise widersprechen. Schließlich besaßen Beamte jeglicher Couleur bei Menschen ihrer Generation noch einen gewissen Vertrauensvorschuss. Lorant schätzte sie auf Ende siebzig, das hieß, dass sie in jedem Fall noch der obrigkeitshörigen Generation angehörte. Bei den etwa Sechzigjährigen lag die Grenze. Bei den Sechzigjährigen und jüngeren machte sich der Einfluss der 68er bemerkbar. Mit der Behauptung, Polizist zu sein, hätte ich mich da unter Umständen schwer in die Nesseln setzen können!, überlegte Lorant und dachte kurz darüber nach, ob er in dem Fall vielleicht hätte vorgeben können, ein von den Zwängen der kapitalistischen Gesellschaft ins soziale Abseits gedrängter Ex-Knacki zu sein.
Lorant suchte umständlich in seiner Brieftasche nach etwas, das er der alten Dame zeigen konnte. Schließlich entschied er sich für den schlichten Personalausweis. Besser als die Karte der Barmer Ersatzkasse war er allemal.
Er reichte den Ausweis durch den Spalt. Sie sah ihn sich interessiert und ziemlich ausgiebig an. Dazu schob sie erst einmal wieder die Tür ins Schloss und Lorant dachte: Wenn das Ding jetzt nur nicht weg ist!
Schließlich öffnete sie aber die Tür wieder. Diesmal löste sie auch die Kette.
"Kommen Sie herein, Herr..."
Sie versuchte die Schrift auf dem Ausweis zu lesen, kniff die Augen dabei zusammen und machte ein ziemlich ratloses Gesicht.
"Lorant", half Lorant ihr.
"Herr Lorant."
"Ja."
"Kommen Sie mit mir. Wir gehen ins Wohnzimmer."
"Sehr freundlich."
Sie reichte ihm den Ausweis, dann ging sie voran. Lorant schloss die Haustür. Bei all ihrem Sicherheitsdenken hatte die alte Dame daran nicht gedacht. Vielleicht ist sie ja auch schon älter als Ende siebzig, dachte Lorant. Einige Augenblicke lang schwirrte der Gedanke in seinem Hirn herum, dass es sich bei ihr vielleicht um eine schwer pflegebedürftige Alzheimerkranke von Mitte neunzig handelte, die zu keiner vernünftigen Aussage mehr fähig war. Immer positiv denken!, sagte er sich selbst.
Frau Eilers führte ihn ins Wohnzimmer, dessen Einrichtung ihn an die Einrichtung des Sluiter'schen Wohnzimmers erinnerte. Wahrscheinlich hatten Bernhardine und Gretus Sluiter die Einrichtung ihrer Wohnung in weiten Teilen von ihren Eltern übernommen. Und ein so braver Sohn wie Ubbo würde diese Tradition mit Sicherheit irgendwann fortführen.
"Ich weiß gar nicht, wie ich das der Swantje sagen soll, dass der Eilert tot ist...", murmelte Frau Eilers vor sich hin. Dann sah sie Lorant an. "Die Swantje, das ist meine Schwiegertochter. Sie ist im Moment nicht hier. Wollen Sie mit ihr auch noch sprechen?"
"Mal sehen."
"Bitte, könnten Sie ihr vielleicht die schlimme Nachricht überbringen? Ich glaube, ich schaff das nicht!"
"Frau Eilers, ich WEISS nicht, ob Ihr Sohn wirklich tot ist. Aber an der Raststätte Huntetal bei Oldenburg ist eine Leiche gefunden worden, die Ihr Sohn sein KÖNNTE. Genaueres werden Ihnen die Kollegen mitteilen, sobald das Gesicht des Toten rekonstruiert wurde..."
Frau Eilers nickte gefasst. Sie rieb nervös ihre Hände gegeneinander. Lorant hatte schon ein schlechtes Gewissen dabei, die alte Dame dermaßen in Schrecken versetzt zu haben. Ist für einen guten Zweck!, versuchte er sich einzureden. Schließlich hoffte der Detektiv auf diese Weise, einem gefährlichen Mörder auf die Spur zu kommen. Und was ihn selbst anging, so war er davon überzeugt, dass es sich bei der Huntetal-Leiche um Eilert Eilers, den Bar-Tender des X-Ray-Clubs handelte. Auch wenn die Faktenlage diese Ansicht bislang allerhöchstens als eine begründete Vermutung erscheinen ließ, so vertraute Lorant in diesem Punkt doch eher seinem Instinkt. Seinem Bauch. In irgendeiner Apothekenzeitschrift hatte er davon gelesen, dass in der Bauchgegend mehr Nervenenden miteinander verbunden waren als im Gehirn und dass die Redensart 'mit dem Bauch denken' von daher eine völlig neue Bedeutung zugemessen werden könnte. Von einer Art 'zweitem Hirn' war da die Rede gewesen. Wie auch immer - Hauptsache, es funktioniert!, dachte Lorant.
"Was möchten Sie wissen, Herr Kommissar?", fragte sie.
Es war lange her, dass jemand Lorant so genannt hatte. Und da hieß es immer, dass nur die Jüngeren vom Fernsehen geprägt worden waren...
"Erzählen Sie mir, wie das war, als Ihr Sohn verschwand."
"Was gibt es da viel zu erzählen? Er war von einem Tag auf den anderen einfach weg."
"Hatte er an dem Tag im X-Ray zu tun?"
"Nein, er hatte frei. Eigentlich wollte er am Abend mit seiner Frau essen gehen. Ich weiß das genau, die beiden hatten nämlich Hochzeitstag, und ich hatte ihn vorher noch daran erinnert."
"Ist es zu dem Essen gekommen?"
"Nein. Jemand rief an und Eilert war danach wie ausgewechselt. Er meinte, er müsste noch mal kurz weg."
"Und dann ist er weggefahren?"
"Ja."
"Sie haben keinen Schimmer, wohin die Fahrt ging?"
"Nein." Frau Eilers seufzte hörbar. "Das hat ein Theater gegeben, kann ich Ihnen sagen. Meine Schwiegertochter war alles andere als begeistert davon, dass Eilert noch mal weggefahren ist. Wie ein Rohrspatz hat sie herumgeschimpft. Ich habe mich da rausgehalten. Ist das Beste so. Zwischen den beiden ging's ja manchmal hoch her, aber ich glaube, wenn ich noch dazwischengegangen wäre, wäre es nur noch schlimmer gewesen."
"Hat Eilert Ihrer Tochter gesagt, wer ihn angerufen hat?"
"Das weiß ich nicht."
"Ich meine, er muss seiner Frau doch eine plausible Erklärung darüber abgegeben haben, wieso er das gemeinsame Essen am Hochzeitstag quasi geschmissen hat!"
"Ja, wo Sie das jetzt so sagen, klingt das sehr einleuchtend, Herr Kommissar."
"Bitte versuchen Sie sich zu erinnern! Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein..."
Fra Eilers machte ein ziemlich angestrengtes Gesicht. "Ihre Kollegen haben uns das alles ja schon gefragt und soweit ich weiß, hat Eilert auch meiner Schwiegertochter nicht gesagt, wer da angerufen hat."
"Sie kannten Ihren Sohn doch am besten."
Du sprichst in der Vergangenheit von ihm und diese Frau hofft vielleicht noch, dass er lebt!, rief sich Lorant ins Gedächtnis.
Aber diese Feinheiten entgingen Frau Eilers. Sie war in Gedanken. In ihrem Hirn schien es zu arbeiten. Sie kratzte sich am Kinn, ihr Blick ging ins Nichts.
Dann schüttelte sie den Kopf. "Ich wüsste nichts, was Ihnen weiterhelfen könnte. Tut mir leid."
"Hat Ihr Sohn irgendetwas Besonderes mitgenommen auf diese Fahrt?"
"Nicht, dass ich wüsste. Er sagte nur: Soo'n Schiet, jetzt muss ich noch tanken."
"Könnte man so auffassen, als ob er eine längere Fahrt vor sich hatte."
"Möglich. Ich meinte noch: Mutt dat denn sein, so spät noch? Und er meinte: Dat mutt! Für tausend Euro mutt dat!"
"Tausend Euro für einen einzigen Abend? Muss ein toller Job gewesen sein..."
"Jau, ich hatte ja auch kein gutes Gefühl dabei." Sie seufzte. "Dat war sicher nich alles in Ordnung, was er gemacht hat, aber ein schlechter Junge war deshalb auch nich!"
"Ist es schon zuvor mal vorgekommen, dass er sich nach einem Anruf in den Wagen gesetzt hat und mit unbekanntem Ziel losgefahren ist?"
"Ja, höchstens wenn sein Arbeitgeber irgendwelche Aufgaben für ihn hatte."
"Tom Tjaden? Sprechen Sie von dem?", fragte Lorant
"Ja, so war der Name! Tjaden!"
"Ihr Sohn war doch Barmann im X-Ray."
"Ja, aber Tjaden hat ihn wohl auch darüber hinaus für andere Aufgaben angestellt."
Aufgaben!, dachte Lorant. Ein harmloser Ausdruck, für das, was vermutlich dahintersteckte.
Lorants Erffahrung als Ex-Polizist sagte ihm, dass Eilers wahrscheinlich von Leuten wie Tjaden für die Drecksarbeit rekrutiert wurde: missliebigen Konkurrenten oder säumigen Schuldnern die Beine brechen, vielleicht auch Dienste als Drogenkurier.
Fest stand wohl, dass jemand Eilers einen Bombenjob angeboten hatte.
"Was waren das für Aufgaben?"
"Genau hat Eilert sich da nicht drüber ausgelassen. 'Ma, du bist einfach zu neugierig', hat er immer gesagt. Ich glaube, einmal hat er mitgeholfen, in Tjadens Villa in Leer Parkett zu legen. Da hat Eilert noch so geflucht, weil seine Knie ganz durchgescheuert waren. Er hatte nämlich den ganzen Tag darauf herumrutschen müssen. Ich weiß, nach dem Krieg, da habe ich mal mitgeholfen einen..."
Lorant unterbrach sie.
"Haben Sie ein Foto Ihres Sohnes, das Sie mir für Fahndungszwecke zur Verfügung stellen könnten?"
Frau Eilers wirkte im ersten Moment etwas erstaunt, dann nickte sie.
"Ja, sicher! Warten Sie einen Moment..."
Wenig später brachte sie einige Fotos ihres Sohnes herbei. Lorant nahm sich das jüngste. Ein Passfoto, das laut Aufdruck des Fotolabors keine zwei Jahre alt war. "Sie bekommen es zurück", versprach er.
"Darum möchte ich auch gebeten haben!"
"Noch eine Frage."
"Aber bitte, Herr Kommissar!"
"Hat Ihr Sohn eigentlich auch geboßelt?"
"Ja und wie!"
"War er in einem Verein?"
"Bei den Söipkedeelern! Früher hatten wir nämlich einen Hof in der Nähe von Forlitz-Blaukirchen. Wissen Sie, wo das Große Meer ist?"
"Weiß ich."
"Ja, da ganz in der Nähe. Aber als mein Mann starb, da konnten wir den Hof nicht mehr halten. Und unser Eilert, der ist ja nun gar nicht so für die Landwirtschaft zu haben. Natürlich hätten wir den Hof auch umbauen können, aber Swantje hat damals gesagt, ich heirate den Eilert nur, wenn wir in ein richtiges Haus ziehen, wo man nicht gleich in den Kuhfladen tritt, wenn man bei der Tür rausgeht, und es überall nach Gülle riecht." Die alte Dame seufzte. "Ja, so sind sie die jungen Dinger! Wollen keinen Bauern mehr heiraten! Aber ganz im Vertrauen: Dass der Eilert kein Bauer wird, das habe ich schon gewusst, bevor er die Schule fertig hatte. Der hatte einfach kein Geschick dafür. In so einem Nachtclub hinter der Bar stehen, das war wohl das Richtige für ihn. Gut, dass mein Mann das nicht mehr erleben musste, der hätte sich im Grabe umgedreht, wenn er das noch hätte erfahren müssen! 'Ne Zeitlang hat der Eilert ja im Emder Außenhafen gearbeitet. Ist ja auch nix Dolles, aber immerhin konnten wir da noch in die Kirche gehen, ohne dass sich alle nach uns umgedreht haben. Aber jetzt!" Sie seufzte zum Steinerweichen. Die Last eines langen Lebens schien darin zu leben. "Gut, dass wir den Hof verkauft haben und umgezogen sind, kann ich da nur sagen."
"Aber seinem Boßel-Klub hat Eilert auch nach Ihrem Umzug die Treue gehalten?"
"Das hat er. Kickers Emden hat Eilert nach der letzten Saison den Rücken gekehrt und seine Fahne im Garten verbrannt. Aber wenn die Söipkedeeler auf Tour gehen, dann war er bis heute immer dabei." Sie beugte sich etwas vor. "Hier in Twixlum sind wir ja eigentlich auch nur Zugezogene!", verriet sie Lorant dann im gedämpften Tonfall der Vertraulichkeit.
––––––––
29.
Rena Sluiter war ziemlich mit dem Nerven fertig, als sie nach Hause kam. Erst hatte sie den Gesprächstermin mit dem Schulleiter über sich ergehen lassen müssen, anschließend war sie zur Bernhardine gefahren, um sie doch noch davon zu überzeugen, dass die Boutique ein einmaliges Schnäppchen war. Aber vergeblich. Rena hatte an diesem Morgen auf ganzer Linie verloren. Sie sah auf die Uhr. Glücklicherweise dauerte es noch ein bisschen, bis ihre Jungs zu Hause auftauchen würden.
Schwer fiel die Haustür hinter ihr ins Schloss.
Rena lehnte sich dagegen.
Keinen Zentimeter hatte Bernhadine nachgegeben. Sie wollte die Boutique nicht und daher konnte sie ihre Hoffnungen, wenigstens Ubbo zu überzeugen, wohl begraben. Eiskalt war Bernhardine gewesen. Richtig gefröstelt hatte Rena, während ihre Schwiegermutter sie mit wohlgezielten rhetorischen Schlägen mattgesetzt hatte. Ja, das kann sie!, durchzuckte es die junge Frau und Wut keimte in ihr auf. Unbändige Wut über diese Frau, die ihr, was die Sprache anging, so sehr überlegen war, dass sie sich in ihrer Gegenwart stets klein, unbedeutend und machtlos gefühlt hatte. Pure Herablassung lag in ihrem Tonfall, in ihren Blicken... Rena schluckte.
Hast du das alles nicht gesehen, als du dich damals dazu entschieden hast, in dieses Nest einzuziehen?, ging es ihr durch den Kopf. Sie hatte sich ihren Ubbo genau angesehen und gedacht: Der hat schon Geld, der wird noch mehr Geld erben und der wird dafür sorgen, dass du ein gutes Leben hast. Ein besseres, als du dir je erträumt hast. Und außerdem ist er schwach genug, dass du ihn führen kannst, wohin du willst. Du wirst ihn um den Finger wickeln. Eine Kleinigkeit ist das.
War es auch.
Aber es hatte einen Faktor gegeben, den sie damals nicht genügend beachtet hatte. Nicht so jedenfalls, wie er es verdient gehabt hätte. Und dieser Faktor hieß Bernhardine Sluiter.
Ich hätte mir meine Schwiegermutter intensiver ansehen sollen!, war es Rena jetzt klar. Aber nun war es zu spät. Nun hatte sie sich in diesem Nest häuslich eingerichtet, in einem Reich, von dem sie geglaubt hatte, dort Königin sein zu können. Zu spät hatte sie begriffen, dass diese Position längst und lange vergeben war und die unumstrittene Herrscherin nicht die Absicht hatte, auch nur einen winzigen Teil ihrer Macht an jemand anderen abzutreten.
Meine Lage ist vollkommen verfahren!, dachte sie. Im Grunde war ihr das schon seit langem klar. Die Affäre mit Tom Tjaden war ein Versuch gewesen, daraus auszubrechen. Nur ein Versuch unter mehreren.
Allerdings hegte sie inzwischen starke Zweifel daran, dass Tom Tjaden wirklich der Ritter in der glänzenden Rüstung war, der sie auf sein schneeweißes Pferd hieven und sie in die Gefilde der Glückseligen mitnehmen würde. Sie ahnte, dass das eine Illusion war. Aber so genau wollte sie die Wahrheit in diesem Punkt auch gar nicht kennen.
Das Telefon klingelte.
Hoffentlich nichts mit den Jungs!, dachte sie.
Rena schluckte kurz und dachte: Bitte jetzt nur keine Klassenlehrerin, die sich über wüste Beschimpfungen beklagt; keine Eltern empörter Mitschüler, die sich darüber beschwerten, dass einer ihrer Rangen im Bus eine Prügelei angezettelt hatte... Nur das jetzt nicht!
Das Klingeln war ziemlich hartnäckig.
Rena überlegte einige Augenblicke lang, ob sie überhaupt an den Apparat gehen solle.
Standen ihr diese raren Momente der Ruhe nicht zu? Ein Moment, um die Wunden zu lecken und wieder einigermaßen zu Verstand zu kommen?
Schließlich ging sie doch zum Telefon, nahm ab.
"Rena Sluiter am Apparat."
"Rena, endlich!"
Es war Tom Tjadens Stimme. Rena schlug der Puls zum Hals.
"Tom, du musst verrückt sein, hier anzurufen!"
"Wir müssen dringend reden. Dieser Privatdetektiv war bei mir im X-Ray und hat ordentlich für Wirbel gesorgt!"
"Ich habe nichts damit zu tun!"
"Sie zu, dass du ihn stoppst, Rena, sonst kann ich für nichts mehr garantieren!"
Rena hörte ein paar Nebengeräusche, die sie stutzig machten. Darunter eine ziemlich laute WC-Spülung.
"Tom, wo bist du? Telefonierst du vom Klo aus?"
"Hör zu, gestern war dieser Lorant hier, heute stellen mir die Bullen den Laden auf den Kopf. Da besteht doch ein Zusammenhang!"
"Und du sitzt mit dem Handy auf dem Klo und rufst MICH an. Du musst wahnsinnig sein..."
"Rena, hör zu..."
Die junge Frau hörte eine andere männliche Stimme im Hintergrund fragen: "Sind Sie jetzt fertig, Herr Tjaden?"
Dann war die Verbindung unterbrochen.
Rena stellte fest, dass ihre Hand zitterte, als sie den Hörer wieder einhängte. Sie biss sich auf die Lippen. So doll, dass es wehtat. Eine alte Angewohnheit von ihr. In diesem Moment klingelte es an der Tür. Das brachte Rena zurück ins Hier und Jetzt.
Sie zog ihren sehr eng sitzenden Pullover glatt, strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und ging zur Haustür. Ihre Hände waren schweißnass. Sie versuchte sie am Stoff ihrer Jeans trocken zu reiben.
Dann öffnete sie.
Ein relativ unscheinbarer Mann stand draußen vor der Tür. Er trug ausgebeulte Jeans und ein ausgebeultes Jackett.
"Guten Tag, mein Name ist Lorant. Ihre Schwiegermutter hat mich engagiert, um den Tod von Gretus Sluiter aufzuklären."
Wenn man vom Teufel spricht, dachte Rena.
Rena hob die Augenbrauen, versuchte dabei ein so gleichgültig wirkendes Gesicht wie möglich zu machen. Nur glatt wirken, nur keine verräterischen Falten zeigen...
Lorant fuhr fort: "Ich hätte ein paar Fragen an Sie. Darf ich herein kommen?"
"Sicher. Allerdings kommen gleich meine Jungs nach Hause. Ich werde nicht viel Zeit für Sie haben."
"Dauert auch nicht lange."
"Um so besser."
Was weiß dieser Mann inzwischen schon alles?, ging es Rena im selben Augenblick durch den Kopf. So unscheinbar dieser Schnüffler auch schien, er wusste genau, was er tat.
Ahnt er etwas von Tom und mir?, überlegte sie.
Sie hielt selbst das nicht mehr für ausgeschlossen.
Nur ruhig bleiben!, sagte sie zu sich selbst. Langsam atmen, nicht rot werden... Was auch immer für phänomenale Fähigkeiten dieser Lorant haben mag - Gedankenlesen wird kaum dazu zählen!
––––––––
30.
Lorant wurde ins Wohnzimmer geführt. Ungefragt nahm er Platz, ließ sich in einem der tiefen Sessel nieder. Rena Sluiter hingegen blieb stehen.
Sie sieht blass aus, dachte Lorant. Wie jemand, der gerade eine zutiefst schockierende Nachricht erhalten hat...
"Wir hatten leider bislang noch nicht das Vergnügen, uns ausführlich über den Tod Ihres Schwiegervaters unterhalten zu können", begann Lorant. "Aber das können wir ja jetzt nachholen."
"Wie gesagt, ich habe nicht viel Zeit."
"Ich denke, sie wird reichen."
"Dann kommen Sie doch bitte endlich zur Sache, Herr Lorant."
"Gerne." Lorant machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: "Ihre Schwiegermutter ist davon überzeugt, dass Gretus Sluiter ermordet wurde. Sie auch?"
Rena verschränkte die Arme vor der Brust und ging vor der Fensterfront auf und ab.
Sie setzte mehrmals an, bevor sie schließlich zu sprechen begann. Ihre Stimme war belegt. "Ich will ganz offen sein, Herr Lorant."
"Darum bitte ich."
"Ich war dagegen, Sie zu engagieren, aber meine Schwiegermutter ist eine sehr willensstarke Frau, wie Sie inzwischen auch gemerkt haben dürften."
"Allerdings."
"Ich weiß nicht, ob mein Schwiegervater durch einen Unfall ums Leben geommen ist oder ermordet wurde. Aber wie auch immer, ich denke, dass man die Ermittlungen der Polizei überlassen sollte."
"Meiner Auftraggeberin reichten deren Bemühungen nicht aus."
"Nun, meine Schwiegermutter lässt sich von niemandem Vorschriften machen. Von mir am wenigsten. Also ist es unsinnig, weiter über diesen Punkt zu diskutieren. Sie sind engagiert und ich hoffe, dass Sie im Interesse der Familie einigermaßen diskret bleiben."
Lorant wechselte jetzt das Thema.
"Sie haben vom Tod Doktor Purwins gehört?"
Rena Sluiter nickte. "Ja, das habe ich."
"Waren Sie bei ihm in Behandlung?"
"Nein, aber mein Mann und die Kinder."
"Und Ihr Schwiegervater?"
"Ich glaube schon."
"Warum Sie nicht?"
"Muss ich mich jetzt für meine Arztwahl bei Ihnen rechtfertigen?"
"Entschuldigen Sie, es war nur eine Frage. Sie müssen darauf nicht antworten -—so wie Sie im übrigen ja nicht verpflichtet sind, überhaupt eine meiner Fragen zu beantworten. Es ist nur so, dass es auf dem Land ja relativ häufig ist, dass eine ganze Familie zu demselben Hausarzt in Behandlung geht, wenn irgendwo der Schuh drückt oder der Hals kratzt. Aber wenn Sie kein Vertrauen zu Dr. Purwin hatten, dann..."
"Herr Lorant, ich habe den Eindruck, dass Sie irgendwie um den heißen Brei herumreden. Es wäre sehr freundlich, wenn Sie jetzt endlich auf den Punkt kämen, anstatt sich über Fragen zu ergehen, die nun wirklich vollkommen privater Natur sind."
Sie blieb jetzt genau dort stehen, wo sich die bis zum Fußboden reichenden Gardinen trafen. Das Bild erinnerte Lorant an einen Fernsehwerbespot, der jahrzehntelang im Deutschen Fernsehen gezeigt worden war. ADO-GARDINEN -—DIE MIT DER GOLDKANTE. Um zu beurteilen, ob diese Gardinen eine Goldkante besaßen, war Lorant einfach nicht Gardinenfachmann genug.
"Ist da unten irgendetwas?", fragte Rena Sluiter.
Lorant blickte auf, Rena direkt ins Gesicht.
"Nein, ich war einen Moment lang in Gedanken." Lorant erhob sich, steckte die Hände in die Hosentaschen. Dann fuhr er nach kurzer Pause fort: "Dr. Purwin wollte mir etwas Wichtiges sagen. Bevor ich ihn erreichte, wurde er ermordet."
"Wie tragisch!"
"Ich fand den Toten, informierte die Polizei. Aber er hatte einen Zettel bei sich, der mit ziemlich großer Sicherheit für mich bestimmt gewesen ist."
"Und Sie haben ihn an sich genommen, anstatt ihn der Polizei zu überlassen", schloss Rena.
"Ich sehe, wir denken in dieselbe Richtung."
"Was war auf dem Zettel?"
Lorant versuchte irgendein Anzeichen für Nervosität oder Unsicherheit in ihren Zügen zu erkennen. Aber da war nichts. Rena Sluiter wirkte vollkommen ruhig und gefasst.
"Auf dem Zettel stand die Telefonnummer eines Labors in München, das sich auf Gentests spezialisiert hat."
Lorant wartete ab.
Rena hob die Augenbrauen.
"So?"
"Ja, diese Firma lebt davon, Verwandtschaftsverhältnisse eindeutig festzustellen oder auszuschließen. Das kann bei Erbschaftsstreitigkeiten schon einmal von entscheidender Bedeutung sein. Manchmal wird auf diese Weise auch festgestellt, ob Kinder nach der Geburt im Krankenhaus vertauscht wurden."
"Sehr interessant, was Sie da erzählen."
Rena wandte sich zum Fenster herum, tat so, als würde sie hinausblicken. Offenbar wollte sie nicht, dass Lorant sie zu genau beobachtete.
Der Detektiv fuhr ungerührt fort: "In den meisten Fällen wollen allerdings Väter wissen, ob sie auch tatsächlich der Erzeuger ihres Nachwuchses sind."
"Was erzählen Sie mir das alles?"
"Manchmal tun das vielleicht auch Großväter, die ihren Enkeln mit dem Kamm durch das Haar fahren und die hängengebliebenen Haare zur DNA-Untersuchung einreichen..."
Lorant hatte seinen Trumpf ausgespielt. Jetzt musste er darauf vertrauen, dass sein Ass auch stach. Denn mehr hatte in seinem Blatt nicht zu bieten. Hoch Pokern, das war jetzt die einzige Chance, mehr zu erfahren. Lorant hatte bei dem Münchener Labor nur kurz mit einer Sekretärin gesprochen, die ihm die Dienstleistungen erläutert hatte, die dort angeboten wurden. Etwas über den Fall Sluiter zu erfahren, hatte Lorant gar nicht erst versucht. Er hätte auch keinerlei Auskunft bekommen. Diskretion war das Kapital eines derartigen Gen-Labors. Wer das vernachlässigte, konnte in kürzester Zeit den Großteil der Kundschaft in den Wind schreiben. Aber durch logisches Denken kam man manchmal eben so weit, wie durch Befragung. Dr. Purwin hatte diese Münchener Nummer offenbar an einen seiner Patienten weitergegeben. Jemanden, der im Zusammenhang mit dem Mordfall Sluiter stand. Ubbo traute Lorant so viel Initiative nicht zu. Und selbst, wenn er geahnt hätte, dass einer oder beide seiner Söhne vielleicht die Frucht eines außerehelichen Verhältnisses waren, so nahm Lorant an, dass der biederere Junior-Chef wohl eher gute Miene zum falschen Spiel seiner Frau gemacht hätte. Und Bernhardine? Möglicherweise hatte sie sich an das Institut gewandt, aber in dem Fall hätte Dr. Purwin keinen Grund gehabt, Lorant darüber mit dem Hinweis informieren zu wollen, dass er dem Detektiv etwas Wichtiges zum Mordfall Sluiter mitzuteilen hätte.
Blieb Gretus Sluiter.
Renas Blick wirkte abweisend. "Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Herr Lorant. Tun Sie das, wofür Sie von meiner Schwiegermutter bezahlt werden und stehlen Sie mir nicht meine Zeit..."
Eine harte Nuss, diese Rena!, dachte Lorant. Verschlossen wie eine Auster. Und genauso gepanzert.
"Was glauben Sie haben mir diese Leute vom Labor für Auskünfte gegeben?", fragte Lorant.
Rena lächelte dünn. "Gar keine, nehme ich an."
"Und wenn ich jetzt Mittel und Wege hätte, mehr zu erfahren? Wege, die an den offiziellen Kanälen vorbei gehen?"
"Sie wollen mir jetzt irgendetwas unterstellen!"
"Tut mir leid, wenn ich den Eindruck erweckt haben sollte!"
Erneut blickte Rena auf die Uhr. "Bitte gehen Sie jetzt, Herr Lorant..."
"Wie Sie wollen, dann bespreche ich die Angelegenheit vielleicht besser mit Ihrer Schwiegermutter. Eigentlich dachte ich, es wäre fair, erst Ihre Darstellung zu hören. Schließlich gibt es meistens zwei Seiten einer Medaille. Aber wenn Sie nicht wollen..."
Lorant wandte sich zum Gehen, hatte die Wohnzimmertür beinahe erreicht.
Da hielt ihn Renas Stimme zurück.
"Warten Sie!"
Lorant blieb stehen, drehte sich halb herum.
"Was wissen Sie?", fragte Rena.
"Dass Gretus Sluiter einen Gen-Test in Auftrag gegeben hat, über dessen Ergebnis ich jetzt mit meiner Auftraggeberin reden werde. Schließlich besteht ja die Möglichkeit, dass hier das Mordmotiv liegt."
Rena schluckte.
Bleich wie die Wand stand sie da.
Lorant ging durch den Flur.
Er fragte sich, ob sie ihm wohl folgte. Wenn nicht, hatte er zu hoch gepokert und stand ziemlich nackt da. Der Detektiv hatte gerade die Hand an der Türklinke, als Rena hinter ihm auftauchte.
"Reden Sie doch Klartext, Herr Lorant: Sie verdächtigen mich, meinen Schwiegervater umgebracht zu haben! Aber das ist absurd."
"So? Gretus Sluiter hatte offenbar ein recht positives Verhältnis zu Ihnen. Seine Frau meint sogar, sie hätten ihn um den Finger wickeln können. Jetzt scheint irgendetwas geschehen zu sein, das in ihm das Misstrauen weckt. Vielleicht sieht er Sie mit einem anderen Mann. Oder jemand anderes hat Sie in einer kompromittierenden Situation gesehen. Das spielt keine Rolle. Er fragt seinen Arzt, Dr. Purwin, was man machen kann und der gibt ihm diese Nummer."
"Dann wüsste Bernhardine davon!"
"Nicht unbedingt. Vielleicht wollte Gretus erst sichergehen, bevor er die Pferde scheu macht und hat deswegen weder Bernhardine noch Ubbo etwas gesagt. "
"Ich bin mir sicher, dass Gretus nie einen solchen Test in Auftrag gegeben hat! Sie bluffen nur! Außerdem wäre doch Bernhardine über das Ergebnis informiert worden, schließlich bekommt sie die Post ihres verstorbenen Mannes! Welchen Vorteil hätte ich davon gehabt, ihn umzubringen?"
Lorant lächelte dünn. "Wer sagt, dass Gretus überhaupt dazu kam, den Auftrag zu erteilen. Vielleicht hatte er es nur vor und wurde vorher umgebracht."
"Gretus war ein kräftiger Mann, Herr Lorant. Sehe ich so aus, als hätte ich ihn auf sein Boot schleifen können?"
"So schwach wirken Sie auf mich nun auch wieder nicht. Außerdem gibt es ja wohl auch noch einen Mann, der in dieser Geschichte eine Rolle spielt." Lorant machte eine kurze Pause und fur dann fort: "Sie spielen mit mir Katz und Maus. Aber dieser Test, den Gretus Sluiter durchführen wollte, kann ja im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen nachgeholt werden. Und dann ist es auch nichts mehr mit der Verschwiegenheitspflicht dieses Labors." Lorant zuckte die Achseln. "Aber, wenn das alles nur Fantasie ist, was ich Ihnen bislang vortrug, dann haben Sie auch in dem Fall nichts zu befürchten."
Lorant öffnete die Haustür.
Ein kühler Luftzug wehte von draußen herein.
"Warten Sie!", forderte Rena.
Lorant schloss die Tür wieder. "Dann will ich jetzt die ganze Story hören."
"Nur, wenn Sie mir versprechen, Bernhardine aus der Sache herauszuhalten."
"Das kann ich nur, wenn Sie wirklich nichts mit Gretus' Tod zu tun haben."
"Ich werde Ihnen alles erzählen!"
––––––––
31.
Sie gingen zurück ins Wohnzimmer. "Sie haben meinen Mann inzwischen ja kennengelernt", begann Rena.
"Ja, das habe ich."
"Dann werden Sie sicher verstehen, dass..."
"...dass Sie sich ab und zu etwas mehr Feuer und Leidenschaft gewünscht haben?"
"Ich hatte ein Verhältnis mit einem anderen Mann. Ich weiß nicht, wie Gretus das herausgefunden haben soll, aber es ist ja wohl eine Tatsache. Eigentlich bin ich immer sehr vorsichtig gewesen..."
"Wer ist der Mann?"
"Muss ich ihn da wirklich hineinziehen?"
"Ich werde auf jeden Fall rücksichtsvoller sein als die Polizei!"
"Wir haben uns auf Borkum kennengelernt. Da haben wir ein Ferienhaus. Ich war öfter allein dort."
"Und später dann nicht mehr so allein."
"Sie können sich Ihre Süffisanz sparen, Herr Lorant."
"Und Ihr Mann hat wirklich nie Verdacht geschöpft?"
"Ach, der!"
"Wer ist es?"
Sie wandte sich wie eine Schlange, wich der glasklar gestellten Frage erneut aus.
"Ich habe ihn doch erst vor einem Jahr kennengelernt. Das ist es ja, worauf ich hinaus will! Es völlig unmöglich, dass er der Vater von Marvin oder Kevin ist!"
"Warum sind Sie dann so nervös geworden? Hatten Sie zuvor schon einmal ein Verhältnis?"
"Nein! Auch wenn Sie mir das jetzt wahrscheinlich nicht glauben. Aber dieser DNA-Test als Mordmotiv scheidet aus."
"Wenn mir der werte Herr Ihre Aussage bestätigt, dass Sie sich erst vor einem Jahr kennengelernt haben, dann ist für mich die Sache erledigt. Aber dazu brauche ich seinen Namen und seine Adresse."
"Sie werden meinem Mann nichts davon sagen?"
"Er ist nicht mein Auftraggeber."
"Und Bernhardine?"
"Wie gesagt, ich muss ihr das nur dann sagen, wenn es im Zusammenhang mit dem Tod Ihres Mannes eine Bedeutung hat. Aber das kann ich erst beurteilen, wenn ich mit dem betreffenden Herrn gesprochen habe."
Rena seufzte.
"Sie sind ein Erpresser!"
"Ich mache meinen Job."
Sie zögerte einen Augenblick. An der Tür klingelte es Sturm. "Das sind die Jungs", sagte sie.
"Reden Sie!"
"Sie kennen ihn: Er heißt Tom Tjaden, ein Geschäftsmann aus Leer."
"Zufällig auch der Besitzer des X-Ray?"
"Ja."
So schließt sich der Kreis, dachte Lorant.
"Versprechen Sie mir, dass Sie auch ihn in Zukunft nicht mehr behelligen, wenn die Sache geklärt ist."
An der Tür klingelte es wie verrückt.
"Gehen Sie nur!", forderte Lorant die junge Frau auf. "Wir reden ein anderes Mal weiter!"
––––––––
32.
Am Nachmittag nahm Lorant eine Reizstrombehandlung bei einem Arzt in Aurich. Dr. Roland Menninga hieß er und die Skrupel seiner Sprechstundenhilfe gegen Kassenpatienten schienen etwas weniger stark ausgeprägt zu sein als es in der Praxis von Dr. Purwin in Moordorf der Fall gewesen war.
Lorant überlegte noch, ob es sich überhaupt lohnte, Tom Tjaden noch einmal aufzusuchen. Der Detektiv nahm an, dass Rena ihn sofort nachdem Lorant sie verlassen hatte, angerufen hatte, um sich mit ihm abzusprechen.
Aber die Information, dass es einen Zusammenhang zwischen den Sluiters und Tjaden gab war trotzdem nicht ohne Brisanz.
Lorant fragte sich, wie die Tatsache, dass Tjadens Handlanger Victor Ubbo Sluiter verprügelt hatte in dieses Puzzle hineinpasste.
Immerhin würde das ein Grund sein, Tjaden doch noch einmal aufzusuchen.
Während Lorant mit angeschlossenen Elektroden auf der Krankenliege lag und sich den in Mitleidenschaft gezogenen Ischias-Nerv mit ein paar Extra-Volt durchschütteln ließ, dachte der Detektiv auch kurz an die junge Frau aus dem X-Ray, die sich Melinda genannt hatte. Unglücklicherweise hatte Lorant weder ihre Adresse noch ihren wirklichen Namen. Weshalb sie nicht an Bord der NAUTILUS erschienen war, darüber konnte Lorant nur spekulieren.
Es gibt jetzt zwei Gemeinsamkeiten bei allen drei Opfern dieser 'Serie', ging es Lorant durch den Kopf. Vorausgesetzt, dass drei schon eine Serie darstellten. Für amerikanische Verhältnisse vielleicht nicht, aber hier in good old europe?
Die erste Gemeinsamkeit blieb die beigefügte Boßel-Kugel. Die Skythen hatten ihren Toten Goldschmuck und Waffen beigegeben. Bei den zeitgenössischen Ostfriesen schienen eben andere Beigaben en vogue zu sein.
Aber Gemeinsamkeit Nummer zwei war die Person von Tom Tjaden. Eilert Eilers war bei ihm angestellt gewesen, Gretus Sluiters Schwiegertochter hatte ein Verhältnis mit ihm gehabt und Dr. Purwin war offenbar im X-Ray ein- und ausgegangen.
Ein bisschen schwach dieser Zusammenhang, was den Doc betrifft, oder?, meldete sich eine skeptische Stimme aus Lorants Hinterkopf.
Aber vielleicht hatte ihm darüber ja Melinda Näheres sagen wollen und es sich dann aus irgendeinem Grund plötzlich anders überlegt.
Später am Abend hatte Lorant einen Termin mit Bernhardine Sluiter, die sich erkundigen wollte, wie weit Lorant mit seinen Ermittlungen inzwischen war.
Lorant gab sich zugeknöpft.
"Zusammengefasst könnte man also sagen, dass Sie bislang noch nicht sonderlich viel in der Hand haben", stellte Bernhardine Sluiter fest.
"Ich ermittle erst wenige Tage!", gab Lorant zu bedenken. "Und wenn Sie meine Ergebnisse mit denen der Polizei vergleichen, dann können Sie sich eigentlich nicht beklagen."
"So war das auch nicht gemeint!"
"Wissen Sie, Sie denken vielleicht, dass das für mich nur ein Job ist."
"Ist es das denn nicht?"
"Ich habe mich nicht ohne Grund auf das Aufklären ungeklärter Todesfälle spezialisiert, obwohl man als Detektiv in anderen Bereichen nun wirklich mehr Geld verdienen kann. Was glauben Sie, was von Versicherungen für Honorare gezahlt werden, wenn es darum geht, irgendwelche Betrügereien aufzudecken?"
"Wollen Sie damit ausdrücken, dass Sie mehr Geld brauchen?"
"Nein, das wollte ich nicht."
Und dann berichtete Lorant von dem, was mit seiner Frau geschehen war. "Ich weiß, wie die Ungewissheit an einem nagen kann. An mir nagt sie nun schon viele Jahre lang. Am Ende möchte man nichts weiter, als Gewissheit haben und die Wahrheit kennen. Worin auch immer diese Wahrheit nun bestehen oder wie schrecklich sie sein mag."
Bernhardine Sluiter sah ihn schweigend an.
Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und bekam durch diese Körperhaltung plötzlich eine erstaunliche Ähnlichkeit zu ihrer Schwiegertochter. Eine Ähnlichkeit, die Lorant zuvor in dieser Form nicht aufgefallen war.
"Das wusste ich nicht", sagte sie tonlos.
"Für mich wird es wohl keine Gewissheit mehr geben. Die Spuren sind verwischt, die Fehler bei der Ermittlung nicht mehr zu korrigieren. Aber was Ihren Mann angeht, so liegt der Fall anders..."
"Sie sind also zuversichtlich?"
"Ja."
"Vielleicht bin ich einfach zu ungeduldig."
"Den Grund dafür kann ich nur zu gut nachvollziehen."
"Ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl."
"Sobald ich etwas Neues weiß, werde ich mich bei Ihnen melden."
"Ja."
"Zwei Fragen hätte ich allerdings an Sie."
"Bitte!"
"Ihr Mann hat sich bei Dr. Purwin möglicherweise nach einer Möglichkeit erkundigt, einen DNA-Test durchführen zu lassen. Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?"
Bernhardines Sluiters Gesicht veränderte sich. Lorant hatte sie noch nie zuvor so erlebt. Sie wurde blass. Ihre sonst so streng kontrolliert wirkenden Gesichtszüge verloren jegliche Fassung. Allerdings währte das nur einen Augenblick lang, dann hatte sie die Kontrolle wiedererlangt.
"Nein, das hat er nicht."
"Sie wissen, dass man solche Tests durchführt, um anhand von genetischem Material wie einem Haar, einem Fingernagel, dem Speichel einer Zigarettenkippe zu bestimmen, ob zwei Menschen miteinander verwandt sind?"
"Ja, ich bin ja nicht von gestern, Herr Lorant", erwiderte Bernhardine Sluiter ungewöhnlich kratzbürstig.
Sie ließ sich in einen der tiefen Sessel fallen und wirkte in diesem Moment ziemlich kraftlos. Ganz im Gegensatz zu ihrer sonstigen Verfassung.
"Möglicherweise kommt da noch Ärger auf Sie zu", murmelte Lorant.
"Inwiefern?"
"Angenommen, Ihr Mann hätte ein uneheliches Kind gehabt, von dem Sie bisher keine Ahnung gehabt hätten, dann wäre das natürlich auch erbberechtigt und müsste eventuell ausgezahlt werden..."
Sie sah Lorant überrascht an. Dann schüttelte sie den Kopf. "Das glaube ich nicht."
"Aber wenn sich der Verdacht auf jemand anderen bezog..."
"Sie sprechen von Rena?"
Jetzt hat sie es ausgesprochen, nicht ich, dachte Lorant.
Er nickte.
"Warum hat er Ihnen von seinen Vermutungen nichts gesagt?"
"Wahrscheinlich deshalb, weil er Rena sehr mochte und sich meine Reaktion ausmalen konnte..."
"Worin hätte die bestanden?"
Ein formelles Lächeln erschien auf Bernhardine Sluiters Gesicht. "Lassen wir dieses Thema, Herr Lorant."
"Wie Sie wollen."
"Ich WILL es so", bestätigte sie.
"Dann noch etwas anderes: Ihr Mann war Mitglied in einem Boßel-Verein, der sich 'Soipkedeeler' nannte."
"Ja."
"Sie nicht?"
"Ich war ein paar Mal mit zum Boßeln, aber ich vertrage die Trinkerei nicht. Mein Magen ist etwas angegriffen. Wissen Sie, ich wirke vielleicht so, als würde ich alles gut wegstecken, egal, was da kommt. Das Ergebnis sind zwei Magengeschwüre."
"Wissen Sie jemanden, der mir mehr über diesen Verein erzählen kann?"
"Gehen Sie zu Franz Hinderks, der wohnt zwei Straßen weiter."
"Das werde ich tun."
––––––––
33.
Franz Hinderks war ein freundlicher Rentner. Zwei Stunden lang musste Lorant sich diverse Anekdoten über Gretus Sluiter und das Boßeln anhören. Über Dr. Purwin hatte Hinderks auch seine festen Ansichten. "Der hat hier nicht richtig dazugepasst!", meinte der Rentner. "Einfach zu steif und ungesellig.
"Und Eilert Eilers?"
"Der konnte 'ne Menge vertragen, kann ich Ihnen sagen. Was der in sich hineingeschüttet hat, ohne auch nur im geringsten zu schwanken, das glaubt man nicht, wenn man es nicht vorher gesehen hat!"
"Können Sie sich einen Grund denken, weshalb allen drei Opfern dieser Mordserie eine Boßel-Kugel demonstrativ beigelegt wurde?"
"Nee, da kann ich mir keinen Reim drauf machen. Also, bei uns geht's ja nur um den Spaß und dass einer von uns was damit zu tun hat, da lege ich meine Hand für ins Feuer, dass das nicht sein kann!"
"Aber es muss eine Verbindung zwischen diesen Morden und dem Boßel-Sport geben!"
"Glauben Sie vielleicht, hier wird jemand umgebracht, weil ihm der Sieg nicht gegönnt wird?"
Lorant zuckte die Achseln. "Ich weiß ja nicht, mit welchem Fanatismus Sie das betreiben!"
"Fanatismus! Das ist das völlig falsche Wort. Es geht um Geselligkeit und Spaß! Im Herbst geht man hinterher Grünkohl mit Pinkel essen, im Frühjahr ist Spargel dran. Wer gewinnt, das ist doch völlig zweitrangig!"
"Vielleicht könnten Sie mir eine Mitgliederliste überlassen."
"Ich weiß nicht..."
"Ich glaube nicht, dass einer Ihrer Boßelbrüder ein Mörder ist, aber vielleicht kann mir der eine oder andere noch wertvolle Hinweise geben. Schließlich wollen Sie doch auch, dass Gretus Sluiters Mörder gefasst wird!"
Franz Hinderks machte ein sehr betroffen wirkendes Gesicht.
"Es hat mich ziemlich mitgenommen, als Bernhardine mir gesagt hat, dass sie glaubt, ihr Mann sei nicht an den Folgen eines Unfalls gestorben, sondern umgebracht worden. Ich konnte mir erst gar nicht vorstellen, dass so etwas in unserer friedlichen Gegend hier passieren könnte..."
"Aber es ist so. Hier geht ein Mörder um und weil die Polizei es nicht schafft, ihn zu stellen, hat Frau Sluiter mich engagiert."
"Ja, ich weiß..."
"Wenn Sie schon mir nicht trauen, dann sollten Sie Frau Sluiter..."
"Es ist nicht so, dass ich Ihnen nicht traue, Herr Lorant!", unterbrach ihn der Rentner. Schließlich gab sich Franz Hinderks einen Ruck und händigte ihm eine aktuelle Mitgliederliste der Söipkedeeler aus.
"Ich hoffe, Ihnen damit auch wirklich geholfen zu haben, Herr Lorant."
"Das wird sich herausstellen", war Lorants zurückhaltende Antwort.
––––––––
34.
Als Lorant am Abend zum Gasthaus von Beate Jakobs zurückkehrte, saß der rotgesichtige, dickbäuchige Bauer mit der Prinz Heinrich-Mütze am Skattisch und drosch zusammen mit drei anderen Männern die Karten, dass es knallte.
Beate Jakobs begrüßte Lorant sehr freundlich.
"Moin, Herr Lorant."
"Moin", antwortete Lorant. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, dass der Gruß 'Moin' zu jeder Tageszeit gesagt wurde und offensichtlich mit dem hochdeutschen 'Guten Morgen' nur eine gewisse klangliche Verwandtschaft teilte.
"Sie können doch so toll Klavier spielen", begann die Wirtin.
"Naja..."
"Doch, doch, nun untertreiben Sie mal nicht! Man sollte sein Licht nicht unter den Scheffel stellen!"
"Eine Tonleiter kriege ich noch hin."
"Die Herren am Kartentisch hätten es gerne, wenn Sie was für sie spielen würden."
Plötzlich war es ganz ruhig am Tisch geworden. Die Männer blickten Lorant erwartungsfroh an.
"Ich wusste gar nicht, dass Sie Jazz mögen."
"Wie wär's denn mit dem 'Bottermelk-Tango' von Hannes Vader!", schlug einer der Männer vor.
"Den kenne ich leider nicht."
"Und soo'n anständigen Shanty?"
"What shall we do with the drunken sailor?"
Das Vier-Mann-Publikum johlte.
Lorant versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal so eine Publikumsresonanz erzeugt hatte. Aber mit wahrer Kunst schaffte man so etwas nicht so leicht. Lorant setzte sich ans Klavier, spielte die ersten Akkorde. Die Männer grölten mit. Ein paar Kurze hatten sie wohl schon intus. Das hatte vielleicht ihre Stimmen geölt, trug aber auch dazu bei, dass sie tonlich und rhythmisch ziemlich daneben lagen.
Aber sie hatten ihren Spaß.
Was mache ich hier eigentlich?, dachte Lorant. Für grölende Landeier ein Shanty spielen. Hättest du je gedacht, dass du künstlerisch so weit absteigen wirst, als du damals im Kölner Subway aufgetreten bist? Manche Dinge sind unvorstellbar und sie geschehen doch.
Und während er spielte, stellte er sich ein jazziges Big Band Arrangement von 'what shall we do with the drunken sailor' vor. Die grölenden Stimmen der Skat-Brüder wurden zu einer Art Hintergrundrauschen. Wie Wind oder Regen.
Dann war alles von einer Sekunde zur anderen vorbei, als eine Stimme durch den Schankraum dröhnte: "Ey, was ist denn hier los? Eine Party von entlaufenen Zoo-Affen, woll?"
Der Tätowierte stand in der Tür, hielt seinen Motorrad-Helm unter dem Arm und hatte den Reißverschluss seiner Lederkombination bis zum Bauch offen.
Alle starrten ihn an.
Der Tätowierte setzte sich an einen der Tische.
"'N Bier!", wandte er sich an Beate Jakobs. Die Wirtin zuckte die Achseln und hielt es wohl für das Beste, ihrem Gast diesen Wunsch so schnell wie möglich zu erfüllen.
Der Tätowierte schloss die Augen, fuhr sich mit einer fahrig wirkenden Geste über das Gesicht.
Warum hatte der Kerl so schlechte Laune, wenn er den ganzen an der frischen Luft ist und über Ostfrieslands gerade Straßen brettert?, ging es Lorant durch den Kopf.
Der Tätowierte bekam sein Bier, leerte eine Hälfte davon in einem Zug. Die Skatbrüder fingen wieder an zu spielen, motzten auf Plattdeutsch über den Auswärtigen, der für nichts als miese Stimmung gesorgt hätte. Und Lorant erhob sich vom Klavierhocker, ging zum Schanktisch.
"Wollen Sie noch was essen?", fragte Beate Jakobs.
"Nein, kein Appetit."
"Der Wagen war da. Ich hätte sogar ein Kotelett."
"Na, dann..."
"Dann überlegen Sie sich das noch einmal, wollten Sie sagen, nicht wahr?"
"Frau Jakobs, Sie können Gedanken lesen!"
––––––––
35.
Am nächsten Morgen war Lorant schon früh aus den Federn. Er hatte schlecht geschlafen. Ein ganzes Konglomerat aus wilden Alpträumen hatte dafür gesorgt, dass er sich am Morgen wie zerschlagen fühlte. Jetzt saß er gähnend am Tisch im Schankraum und ließ sich von Beate Jakobs das Frühstück servieren.
"Die Zeitung kann ich Ihnen leider noch nicht geben", erklärte die Wirtin.
"Hat noch Ihr Schwiegersohn?"
"Genau. Aber sobald er damit durch ist, gebe ich Sie Ihnen."
"Ja, das hat Zeit!"
Lorant hörte, wie ein Wagen vorfuhr. Wenig später trat Kriminalhauptkommissar Meinert Steen in den Schankraum. Unterm Arm trug er eine Zeitung. Er wandte sich sofort an Lorant, legte ihm die Zeitung auf den Tisch,.
"Moin, Herr Kollege!", begrüßte er den Detektiv mit einem triumphierenden Unterton.
"Moin. Womit habe ich denn die Ehre Ihres hohen Besuchs zu so früher Stunde verdient?"
"Bin auf dem Weg nach Emden ins Präsidium."
"Sie wohnen in Moordorf, nicht wahr?"
"War jedenfalls kein großer Umweg. Und wenn ich heute etwas zu spät komme, dann verzeiht mir das sogar der Innenminister."
"Ach ja?"
"Schon die Zeitung gelesen?"
"Nein, leider nicht."
"Ich sagte Ihnen ja, dass Sie es dort nachlesen könnten, wenn ich den Fall gelöst hätte!"
Lorant verschluckte sich beinahe an dem dünnen Kaffee. Plötzlich hatte er auf das Mohnhörnchen auch keinen Appetit mehr.
"Gelöst? Sie sprechen wirklich vom Mordfall Sluiter."
"Zumindest vom Mordfall Purwin." Steen lehnte sich zurück und genoss den Ausdruck des Erstaunens in Lorants Gesichtszügen. "Na, was sagen Sie?"
"Ich bin gespannt. Wen haben Sie denn verhaftet?"
"Tom Tjaden. Der Name ist Ihnen vielleicht kein Begriff, aber er ist hier in der Gegend so etwas wie eine Art Schmalspur-Pate."
"Ach, ja? Und der soll Dr. Purwin umgebracht haben?"
"Wir haben einige Wechsel gefunden. Dr. Purwin hatte Spielschulden, die Tjaden ihm vorgestreckt hat. Offenbar hat Tjaden im großen Maßstab illegales Glücksspiel organisert. Woher sich die beiden kannten, ist noch unklar, aber Tatsache ist, dass Purwin für Tjaden als Strohmann auftrat, um jene Gewerbeflächen aufkaufen zu können, auf denen sich heute dieser Nachtclub namens X-Ray befindet." Steen zuckte die Achseln. "Ist doch immer dasselbe mit den Ärzten. Verdienen zuviel Geld, wollen es an der Steuer vorbeischleusen und fallen auf windige Anlagemodelle herein. Oder eben auf noch windigere Leute vom Schlag eines Tom Tjaden."
"Klingt alles sehr interessant, was Sie mir da erzählen..."
"Aber Sie glauben es nicht!"
"Ich behalte immer ein gewisses Maß an gesunder Skepsis!"
Steen lachte. "Ob die gesund ist, müssen Sie selber wissen. Wahrscheinlich hat jener Papst, der Galilei zum Widerruf zwang, genauso gedacht wie Sie!"
"Sie sind nicht Galilei!", gab Lorant zu bedenken.
"Eine sehr scharfsinnige Bemerkung, Herr Lorant. Wirklich! Tut mir ja auch sehr Leid für Sie, dass Ihre Auftraggeberin Ihnen nun wahrscheinlich das Spesenkonto sperren wird!"
"Machen Sie sich um mich mal keine Sorgen."
"Wie auch immer. Tjaden sitzt in Untersuchungshaft und von seinen Helfershelfern werden wir einen nach dem anderen so weichklopfen, dass sie uns alles sagen, was wir wissen wollen."
"Ich glaube nicht, dass er Dr. Purwin umgebracht hat."
"Kriminalistik ist eine exakte Wissenschaft, keine Frage des Glaubens, Herr Lorant."
"Oh, das brauchen Sie mir nicht zu sagen!"
"Im Übrigen habe ich mich vielleicht auch nicht präzise ausgedrückt. Ich glaube natürlich nicht, dass Tom Tjaden den Doc unbedingt eigenhändig umgebracht haben muss. Dafür hat er doch seine Leute. Andererseits -—wussten Sie, dass er Motorradfahrer ist? Und vor Dr. Purwins Praxis war ja die Bremsspur einer ziemlich großen Maschine zu sehen."
"Diese Indizienkette wird jedes Gericht überzeugen", entgegnete Lorant ironisch.
Diese Ironie entging Steen allerdings komplett.
"Ich weiß Ihr Kompliment zu schätzen."
"Ich nehme an, Sie sind nicht nur hier, um mir von Ihren Erfolgen zu berichten und mich mit einer Zeitung zu versorgen, Herr Steen."
"Das ist richtig."
Lorant hob die Augenbrauen.
"Also?"
"Heute Morgen hat die Polizei in Aurich die Leiche einer jungen Frau namens Frauke Oltrogge gefunden. Sie lag seit mindestens zwölf Stunden tot in ihrem Wagen, den der Täter in einen Graben hineinrollen ließ. Sie wurde vermutlich erschlagen."
"Und es hat mehr als einen halben Tag gedauert, bis das jemand bemerkt hat?"
"War eine einsame Stelle. Und Autos, die einfach irgendwo in der Gegend abgestellt anstatt ordnungsgemäß entsorgt werden, gibt es ja leider öfter mal."
Lorant zuckte die Achseln. Noch wusste er nicht richtig, worauf Kriminalhauptkommissar Meinert Steen eigentlich hinauswollte.
"Und was habe ich mit all dem zu tun?", fragte der Detektiv.
"Frauke Oltrogge hatte eine Ihrer Visitenkarten bei sich."
"Beruflich nannte sie sich nicht zufällig 'Melinda' und arbeitete im X-Ray?"
"Genau das."
"Mehr weiß ich leider auch nicht über Sie."
"Ach, kommen Sie schon, Lorant. Tragen Sie wenigstens ein bisschen zur Aufklärung dieser Sache bei!"
Lorant atmete tief durch, trank seinen Kaffee leer, schob dann den Teller mit dem Mohnhörnchen ein Stück von sich weg.
"Frauke alias Melinda wollte sich mit mir in einem Emder Lokal treffen. Ich hatte sie im X-Ray getroffen. Sie hat mich auf dem Klo abgepasst und mir die Karte fast entrissen!"
"Sie Ärmster."
"Zum Treffpunkt ist sie leider nicht gekommen, und ich habe nicht die geringste Ahnung, was sie mir vielleicht sagen wollte." Lorant machte eine kurze Pause. Dann fragte er: "Lag in Fraukes Wagen eine Boßel-Kugel?"
"Weiß ich nicht. Ich habe die Kollegen nicht gefragt."
"Dann tun Sie's jetzt."
"Wieso?"
"Weil es wichtig ist! Ich sage Ihnen anschließend, warum."
Steen runzelte die Stirn. Dann holte er sein Handy hervor, tippte eine Kurzwahltaste und war wenig später mit seinen Auricher Kollegen verbunden. Das Gespräch war nur kurz. Aber Lorant wusste einen Augenblick später, was er wissen wollte.
"Es war tatsächlich eine Boßel-Kugel im Wagen."
Lorant griff in die Jackettinnentasche und holte die Mitgliederliste der Söipkedeeler hervor. Er überflog sie, suchte einen bestimmten Namen.
Oltrogge, Erich.
Oltrogge, Wiard
Oltrogge, Jan
Oltrogge, Frauke.
Sie war also dabei.
"Was haben Sie da?", fragte Steen.
"Die Mitgliederliste eines Boßel-Vereins."
Lorant reichte seinem Gegenüber die Liste. Steen betrachtete sie stirnrunzelnd, während Lorant fortfuhr: "Gretus Sluiter, Frank Purwin, Eilert Eilers und Frauke Oltrogge -—all diesen Mordopfern wurde eine Boßel-Kugel beigelegt. Und außerdem stehen sie auf dieser Liste. Ich glaube Ihnen ja gerne, dass dieser Tom Tjaden ein paar krumme Geschäfte gemacht hat und dafür hinter Gitter gehört."
"Krumme Geschäfte? Er hat die Leute aus dem Weg geräumt, die ihm gefährlich wurden, Lorant! Sie beschönigen da einiges ganz schön."
"Und Gretus Sluiter? Was hatte er mit Tjaden zu tun?"
"Was weiß ich? Vielleicht hat er heimlich auch bei Tjaden gezockt und hatte Schulden. Das kriegen wir alles heraus, verlassen Sie sich darauf."
Lorant schüttelte den Kopf.
"Nein, der Mörder wollte etwas anderes. Er wollte niemanden verschwinden lassen, ausknippsen, wie man im Mafia-Jargon sonst gesagt hat. Er wollte jemanden bestrafen, etwas demonstrieren. Diese Boßel-Kugeln, das ist doch wie eine Art Grabbeigabe!"
Meinert Steen blickte Lorant mit einem Gesichtsausdruck an, in dem sich Befremden mit einem Zug mischte, der fast wie Mitleid wirkte.
"Ach, Lorant. So einen Mist können Sie vielleicht Ihren Klienten erzählen..."
Er erhob sich, tickte dabei auf die zusammengefaltete Zeitung.
"Lesen Sie, was passiert ist, Lorant!", lachte Steen und zwinkerte dem Detektiv zu. "Ich hab's Ihnen ja gesagt."
Als Steen die Tür erreicht hatte, rief Lorant: "Herr Steen!"
"Ja?"
"Wenn ich den Täter habe, soll ich dann Sie anrufen oder Ihre Kollegen aus Aurich?"
––––––––
36.
Lorant fuhr nach Emden, suchte ein Geschäft, in dem man Farbkopien erstellen konnte, und ließ dort ein paar Duplikate des Fotos von Eilert Eilers machen.
Am späten Vormittag machte sich Lorant auf den Weg Richtung Oldenburg. Mit dem Foto von Eilert Eilers wollte er in der Raststätte Huntetal hausieren. Schließlich war es ja möglich, dass sich jemand an Eilers erinnerte.
Etwa eine Stunde brauchte Lorant, bis er die Raststätte erreichte. Es begann, wie aus Eimern zu regnen. Vor dem Restaurant war nur noch ein Behindertenparkplatz frei.
Was nun?, ging es ihm durch den Kopf. Politisch korrekt bleiben oder nass werden?
Lorant suchte sich einen Parkplatz im Windschatten eines Zwanzigtonners, stieg schnell aus, riss sein Longjackett an sich und zog es so schnell wie möglich an. Er schloss den Wagen ab, rannte dann zum Restaurant-Eingang. Das Wasser tropfte ihm von der Nase.
Das hast du nun davon, dass du den rechtschaffenen Polizisten in dir immer noch nicht losgeworden bist!, dachte er.
Lorant ging am Salatbüffet vorbei. Es herrschte drangvolle Enge im Lokal. Das lag vielleicht an dem Stau, der auf der A1 gemeldet worden war. Da dachte sich der eine oder andere wohl: Besser erst einmal was essen und abwarten, ob sich der Stau nicht in einer Stunde in Wohlgefallen aufgelöst hat!
Lorant stellte sich in die lange Schlange, nahm sich auch ein Tablett. Er überlegte noch, ob er sich das Holzfällersteak genehmigen sollte. Aber die Chance, an ein Tablett zu kommen, bekam man hier nur einmal, es sei denn, es machte einem nichts aus, sich noch einmal hinten anzustellen.
Lorant bestellte schließlich das Steak.
Und dann hielt er der Bedienung hinter dem Tresen das Bild von Eilers hin. "Ich bin Privatdetektiv und ermittle in einem Mordfall. Möglicherweise haben Sie diesen Mann hier schon einmal gesehen."
Die Frau hinter dem Tresen runzelte die Stirn.
"Ist das wieder wegen dem Kerl im Teppich?"
"Ja."
"Ihre Kollegen haben uns doch schon alle stundenlang verhört!"
"Ja, aber da wussten sie noch nicht, wie die Leiche mal ausgesehen hat, als sie lebendig war."
Die Frau nahm Lorant das Bild ab, wischte sich aber vorher die Fettfinger am Kittel ab. Ihr Blick blieb skeptisch. "Das issser?"
"Das isser!", bestätigte Lorant. Es war immer wieder überraschend für ihn, wie schnell man ihn als Polizisten identifizierte. Aber der Detektiv dachte überhaupt nicht daran, seinem Gegenüber zu widersprechen und den Irrtum aufzuklären. Im Gegensatz zu Finanzbeamten besaßen Polizeibeamte einen nicht zu unterschätzenden Vertrauensvorschuss.
"Geht das hier mal weiter?", fragte jetzt eine hagere Frau mit kurzen Haaren, die mit verschränkten Armen in der Schlange stand und ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. Was regt die sich so auf?, dachte Lorant. Wahrscheinlich ernährt sie sich ohnehin nur von Müslieriegeln oder ähnlichem und sollte das Fasten gewohnt sein...
Die Bedienung wandte sich an Lorant. "Ich bringe Ihnen das Steak an den Platz."
"Gut."
"Sie sehen ja, was hier los ist."
"Ja, sicher..."
"Ich zeige das Bild unter den Kolleginnen herum, aber erst muss die Schlange etwas abgearbeitet werden!"
"Verstehe ich."
Lorant nahm noch einen Kaffee. Dann setzte er sich an eine der wenigen noch freien Plätze und sah zu, wie die Schlange langsam zusammenschrumpfte.
Schließlich wurde Lorant das Holzfällersteak gebracht. Die Bedienung gab ihm auch das Bild zurück. "Tut mir leid, den hat niemand von uns hier je gesehen."
"Sind Sie sicher?"
"Sind Sie denn sicher, dass der überhaupt hier war?"
"Ja. Arbeitet hier sonst noch jemand, außer der aktuellen Besetzung?"
"Wie das so ist! Es gibt hier natürlich jede Menge Aushilfen, die nur für kurze Zeit angestellt werden."
"Trotzdem danke." Lorant nahm das Bild, reichte es ihr. "Behalten Sie es. Vielleicht können Sie auch die Kolleginnen fragen, die zur Zeit nicht hier sind. Es geht schließlich um Mord."
"Muss 'n Schweinehund gewesen sein, der das gemacht hat mit dem Kerl in der Decke."
"Ja..."
"War 'n Riesentheater, als Ihre Kollegen hier waren und alles nach Spuren abgesucht haben."
Lorant schrieb ihr seine Handynummer auf einen Bierdeckel. Gerade noch rechtzeitig hatte er davor zurückgeschreckt, ihr seine Karte zu geben. Schließlich wäre dann seine Polizistennummer aufgeflogen, da ziemlich dick PRIVATDETEKTIV daraufgedruckt war. Und Lorant war sich nicht sicher, ob die Bekanntschaft zu dieser Bedienung schon stabil genug war, um einen derartigen Schock zu überstehen.
"Rufen Sie mich an, wenn Sie was wissen."
"In Ordnung."
Lorant hatte es im Gefühl, daraus würde nie etwas werden. Aber man soll auch nichts unversucht lassen, dachte er. Er wollte sich hinterher nicht vorwerfen lassen, irgendeine, wenn auch noch so geringe Chance nicht genutzt zu haben. Schließlich ging es um die Aufklärung von drei Morden. Nein vier, korrigierte sich Lorant. Frauke Oltrogge alias Melinda musste er ja wohl mitzählen. Denn daran, dass sie in diese 'Serie' hineingehörte, gab es für Lorant keine Zweifel. Es ging um vier Menschen, deren Leben ein plötzliches, gewaltsames Ende gefunden hatte. Und es ging um Angehörige, die nach Antworten suchten. Für die Toten konnte Lorant nichts mehr tun. Aber für die Lebenden. Jene Menschen, die den Ermordeten nahegestanden hatten. Ihnen fühlte er sich verpflichtet. Ihren Schmerz teilte er und deshalb wollte er nichts unversucht lassen, um Licht ins Dunkel zu bringen.
Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass Kriminalhauptkommissar Meinert Steen am Ende vielleicht doch Recht gehabt haben konnte. Er ging die Argumente einzeln noch einmal durch, sagte sich dann aber, dass Steen ihm wahrscheinlich nur die Hälfte der wirklich relevanten Fakten genannt hatte. Nein, vertrau deinem Instinkt, deiner Nase!, ging es ihm durch den Kopf.
Einen Teil der Zwiebeln, mit denen das Holzfällersteak bedeckt gewesen war, ließ er stehen. Er hatte keine Lust auf die Blähungen, die sonst unweigerlich die Folge gewesen wären.
Schließlich stand er auf, blickte sich um. Von den Gästen war nicht anzunehmen, dass jemand Eilers gesehen hatte. Er hatte sich hier vielleicht mitten unter Menschen mit seinem Mörder getroffen. Ein anonymerer Ort als dieser war kaum vorstellbar.
Wäre ja auch zu schön gewesen, gleich beim ersten Versuch ins Schwarze zu treffen, dachte Lorant. Er schnitt sein Steak durch. Es war lecker und saftig.
Später fragte Lorant die Toilettenfrau nach Eilers. Aber auch sie konnte sich nicht erinnern.
Der Detektiv stand an der Tür, sah dem Regen zu, der immer heftiger wurde und überlegte, ob er bis zur Tankstelle spurten oder warten sollte, bis der Regen nachgelassen hatte. Aber den dunklen Wolken nach, die von West heranzogen, war es wohl eine Illusion, darauf zu hoffen. Und so spurtete Lorant.
In der Tankstelle stand ein Mann mit einer roten Nase vor Lorant am Tresen. Er hatte mehrere Flaschen in eine Plastiktüte gesteckt und nun stellte er sie der Reihe nach auf die Fläche vor der Kasse. Der Kerl mit der roten Nase stank erbärmlich. Eine unbeschreibliche Mischung aus Urin, Bier und noch ein paar anderen Düften, bei denen Lorant auch gar nicht so schrecklich viel daran lag, sie näher zu identifizieren.
"Ist das nicht ein bisschen viel?", fragte der junge, stiernackige Mann hinter dem Tresen.
"Ist für's Wochenende."
"Quatsch, morgen stehst du doch schon wieder hier!"
"Ist das deine Sache."
Die Finger des Stiernackigen glitten über die Tastatur der Registrierkasse. Dann packte der Kerl mit der roten Nase alles ein und trottete in Richtung Tür, blieb dort allerdings stehen.
Lorant hielt seinen Moment für gekommen, zeigte dem Mann hinter dem Tresen eines der Eilers-Bilder, betete dabei seinen Text von der Mordermittlung herunter.
"Habe ich Sie nicht schon einmal gesehen?"
"Nicht, dass ich wüsste."
"Sie war'n doch der unverschämte Bulle, der hier so'n Terz aufgeführt hat, weil der Automatenkaffee zu dünn war!"
"Kann mich nicht erinnern."
"Doch, doch, das war an dem Tag, als die den Toten im Teppich entdeckt haben und hier der Teufel los war. An so was erinnert man sich doch."
"Im Moment geht es eher darum, ob SIE sich erinnern", sagte Lorant und deutete dabei auf das Bild.
Der Stiernackige schüttelte den Kopf. "Mann, hatten Sie 'ne Scheiß-Laune damals! Eigentlich könnten Sie sich mal deswegen entschuldigen. Wenn man Ihresgleichen mal anpflaumt, heißt das gleich Beamtenbeleidigung, aber wenn..."
Er war einfach nicht zu belehren.
Erinnerung ist eben was sehr subjektives, dachte Lorant und sagte laut: "Entschuldigung!" Endlich stoppte jetzt der Redeschwall des Stiernackigen, und er wandte seine Aufmerksamkeit dem Bild zu.
"Na?"
Er schüttelte den Kopf.
"Nö."
"Nie gesehen? Sehen Sie genau hin."
"Nö, den kenn' ich nicht."
Jetzt mischte sich der Rotnasige ein und kehrte zum Tresen zurück. "Darf ich auch mal?"
Lorant musterte ihn.
Das Musterbild eines überzeugenden Augenzeugen, wie ihn jeder Polizist und jedes Gericht gerne sah, dachte Lorant mit einer guten Portion Sarkasmus. Er holte trotzdem eine weitere Kopie des Fotos hervor und reichte sie dem Mann.
"Halten Sie mal!", erwiderte dieser und Lorant musste ihm seine Plastiktasche mit den Flaschen halten.
Immerhin, wenn er dieses Gewicht noch tragen kann, wird er wohl nüchtern sein!, dachte Lorant. Er hoffte es zumindest.
Der Rotnasige runzelte die Stirn.
"Doch, den habe ich gesehen. Ist schon 'ne Weile her, aber ich habe ihn gesehen. Er stand dahinten bei dem Hamburger-Automaten und kam damit nicht zurecht. Und der Mariacron steht genau in dem Regal daneben. Ich konnte aber nicht dran, bis er fertig war."
"Muss ja schrecklich für dich gewesen sein!", warf der Stiernackige dazwischen.
Aber der Kerl mit der roten Nase ließ sich glücklicherweise nicht ablenken.
"Da kam so ein Typ, der ihn beim Namen nannte."
"Haben Sie den Namen behalten."
"Nein, keine Ahnung, wie der hieß. Ich weiß nur, dass der Mann auf dem Foto sich umdrehte und ziemlich überrascht war."
"Und der Typ, der ihn angesprochen hat? Erinnern Sie sich an den?"
"Ja sicher. Der war an den Armen tätowiert. Und außerdem sagte er dauernd 'woll'. Nach jedem Satz. Ziemlich blöd klingt das. Aber wahrscheinlich ist er mir deswegen in Erinnerung blieben..."
"Was Sie nicht sagen..."
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37.
Als Lorant das Lokal von Beate Jakobs betrat, waren nur ein paar Kinder dort, die ein Eis haben wollten. Das schlechte Wetter störte sie nicht dabei. Sie wollten trotzdem Eis essen. Beate Jakobs kramte geduldig in der Tiefkühltruhe herum, bis die Kleinen das Richtige gefunden hatten. Das Bezahlen gestaltete sich auch ziemlich umständlich.
"Ah, ich komme mit dem neuen Euro-Geld einfach noch nicht richtig zurecht!", meinte die alte Dame, nachdem die Kinder gegangen waren und sie sich Lorant zuwandte.
"Naja, hoffen wir, dass es fürs Erste die letzte Währungsreform ist!"
"Ja, da sagen Sie was!"
"Frau Jakobs, ich muss Sie sprechen."
"Kartoffelsalat mit Bockwurst ist jetzt alle! Aber Koteletts habe ich!"
Lorant schüttelte den Kopf. "Es geht um Ihren Gast, diesen Tätowierten."
"Herrn Kaminski?"
"Ja."
"Was ist mit ihm?"
"Seit wann ist er hier?"
"Oh, schon lange. Sechs Wochen glaube ich."
"Hat der so lange Urlaub?"
"Na, der redet nicht viel. Jedenfalls nicht mit mir."
"Tja, mit mir leider auch nicht."
"Warum fragen Sie mich das alles?"
"Nur so."
"Wissen Sie, wo sie das gerade sagen. Dieser Herr Kaminski kam mir von Anfang an bekannt vor. Die ganze Zeit habe ich überlegt: Jau, den Mann hast du doch schon mal gesehen. Und wissen Sie wat? Gestern sitze ich da und schaue mir Fotoalben von früher an. Und da sehe ich plötzlich, woher er mir bekannt vorkam. Er sah genau so aus wie der Mann meiner jüngeren Schwester, als der in demselben Alter war. Von seiner Rente hat der ja auch nicht mehr viel gehabt, der Willi. Zwanzig Jahre ist der mindestens schon tot. Aber diese Ähnlichkeit mit diesem Kaminski... "
"Ja, ja..."
"Das war neulich auch das Thema in der Sendung von Pastor Fliege: Doppelgänger! Nicht verwandt und doch das gleiche Gesicht."
Immerhin wusste Lorant nun, dass der Tätowierte -—Kaminski -—lange genug in der Gegend gewesen war, um für alle Morde als Täter in Frage zu kommen.
"Ich gehe aufs Zimmer und hau mich ein bisschen aufs Ohr", sagte Lorant.
"Ja, wie Sie wollen, Herr Lorant!"
Lorant ging die Treppe hinauf.
Kaminskis Zimmer lag am Ende des Flurs. Jedenfalls vermutete Lorant das, denn er hatte ihn einmal dort hineingehen sehen. Als Lorant vor der Tür stand, holte er ein Nageletui hervor. Er hatte sich ein spezielles Set zum Öffnen von Türen angelegt. Im nächsten Moment konnte er das Zimmer betreten. Mit der Aussage eines notorischen Säufers würde er diesen Mörder kaum überführen können. Da musste er schon etwas mehr auf den Schreibtisch von Kriminalhauptkommissar Meinert Steen legen, wenn er sich nicht einfach nur lächerlich machen wollte.
Lorant ließ den Blick schweifen.
Von Ordnung hielt Kaminski augenscheinlich nicht viel. Überall lagen T-Shirts und andere Kleidungsstücke herum. Auf dem Tisch standen mehrere Bierdosen.
Lorant wandte sich dem Schrank zu und öffnete ihn. Der Koffer fiel ihm fast entgegen. Lorant nahm ihn, legte ihn aufs Bett und öffnete ihn. Kleidungsstücke waren ohne jede Ordnung hineingepresst worden, so dass der Koffer nicht zu schließen war. Aber Lorant fand auch noch etwas anderes.
Ein gepolstertes Kuvert. Es war unverschlossen. Lorant schüttete den Inhalt auf den Tisch. Es handelte sich um Zeitungsausschnitte. SCHWERER UNFALL BEIM BOßELN, lautete eine der Überschriften. MOTORRADFAHRER VERUNGLÜCKT, hieß eine andere Headline. Lorant las weiter: 'Am Samstag kam es zu einem schweren Unfall, als ein 28jähriger Motorradfahrer mit seiner 24jährigen Beifahrerin auf dem Rücksitz in eine Gruppe von Boßel-Freunden hineinfuhr. Der Kradfahrer geriet durch das Auffahren auf eine der Hartholzkugeln ins Schleudern und landete im Graben. Schwer verletzt wurden der Fahrer und seine Beifahrerin mit dem Rettungshubschrauber abtransportiert. Der Zustand des 28jährigen ist stabil, seine Beifahrerin verstarb noch auf dem Weg in die Klinik. Ein Polizeisachverständiger stellte fest, dass die Geschwindigkeit des Motorrades deutlich überhöht gewesen sei. Der Fahrer habe offenbar die Warnhinweise der Boßel-Freunde nicht beachtet, von denen übrigens durch den Unfall niemand in Mitleidenschaft gezogen wurde.'
Das ist es also!, dachte Lorant. Das Motiv für einen Mord.
Rache...
Lorant sah weitere Ausschnitte durch.
Einer enthielt auch ein Bild von Kaminski.
Etwas dicker war er damals gewesen.
MOTORRADFAHRER ÜBERLEBTE SCHWEREN UNFALL, stand unter dem Bild. Es hatte sogar ein Gerichtsverfahren gegeben. Kaminski hatte die Schuld an dem Unfall bekommen. Unter anderem war ihm ein einjähriges Führerscheinverbot aufgebrummt worden. ANGEKLAGTER BRICHT BEI PROZESS VOR DEM VERKEHRSGERICHT ZUSAMMEN: SIE WAR DOCH DIE GROßE LIEBE FÜR MICH...
Die Boßel-Freunde waren von jeder juristischen Mitverantwortung freigesprochen worden.
Die alleinige Schuld an dem Unfall wurde der überhöhten Geschwindigkeit des Motorrads und der mangelnden Aufmerksamkeit des Fahrers angelastet.
Und dieser amtlich beglaubigten Schuldzuweisung hatte Kaminski offenbar nicht leben können. Manche brachten sich in derartigen Situationen selbst ums Leben. Andere versuchten, die Gerechtigkeit auf ihre Weise wieder herzustellen. Oder das, was sie dafür hielten. Lorant hatte derartige Fälle schon als Akten auf dem Schreibtisch gehabt. Damals, in seiner Polizei-Zeit.
Mord und Selbstmord. Manchmal nur zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Melinda alias Frauke Oltrogge muss die Zusammenhänge geahnt haben, als sie meinem Gespräch mit Tjaden zuhörte, überlegte Lorant. Ein motorradfahrender Rächer, für den Boßeln etwas mit Tod zu tun hat. Darüber wollte sie vermutlich mit mir reden.
Lorant sah sich weiter um, nahm sich den anderen Flügel des Schranks vor.
Was er dort entdeckte, überraschte ihn nicht mehr im Mindesten.
Boßel-Kugeln.
Nagelneu.
Insgesamt acht Stück.
Wie ich sehe, hattest du noch eine Menge vor, Kaminski!, dachte Lorant.
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38.
Lorant griff zum Handy, überlegte kurz, ob er die Nummer der Auricher Kripo wählen sollte, um Steen eins auszuwischen. Aber nein, dachte er dann, du bist der Sieger, du hattest Recht und du musst niemandem mehr etwas beweisen, Lorant! Also sei ein großzügiger Sieger. Leben und leben lassen. Keine gute Devise?
Es gab da einen James-Bond-Film, der einen geringfügig anderslautenden Titel trug.
Leben und sterben lassen.
Die Versuchung war wirklich groß, Steen eins reinzuwürgen. Lorant überwandt seinen inneren Schweinehund und wählte Steens Nummer.
Das Schicksal meinte es gut mit Lorant.
Jansen war am Apparat.
"Ist Hauptkommissar Steen nicht da?"
"Hat schon Feierabend."
"Dann haben Sie jetzt Ihren großen Auftritt, Jansen."
Lorant erläuterte ihm in knappen Worten, worum es ging und dass sofort jemand herkommen müsste, um die Beweise zu sichern. Beweise gegen den wahren Boßelkugel-Killer.
Plötzlich hörte Lorant auf sprechen.
"Sind Sie noch dran?", fragte Jansen in sein Ohr hinein.
Lorant glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Eine Fußbodenbohle hatte geknarrt, wie durch einen ungeschickten Schritt.
Lorant wirbelte herum.
Die Tür flog zur Seite.
Kaminski stand da, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. In den Händen hielt er einen nagelneuen Baseballschläger. Das Preisschild war noch dran. Nur einen Sekundenbruchteil brauchte der Tätowierte, um die Lage zu erfassen. Er schwang den Schläger wild durch die Luft. Eine Lampe ging zu Bruch. Das Holz sauste nieder. Lorant versuchte auszuweichen, so gut es ging, bekam aber doch etwas ab. Schmerzhaft knallte das Holz des Baseballschlägers gegen seinen Ellbogen.
Schreiend ließ Lorant das Handy los.
Jansens Stimme klang jetzt wie das Zirpen einer Grille.
Lorant wich zurück. Ihm blieb nur der Weg Richtung Fenster.
"Bleiben Sie ganz ruhig, Kaminski!", sagte Lorant, aber er fand selbst, dass er nicht sonderlich überzeugend dabei klang.
Schweiß stand auf der Stirn des Tätowierten.
Er packte den Baseballschläger mit beiden Händen, ließ das Holz nach vorn zucken. Lorant wich noch einen weiteren Meter zurück. Viel mehr Platz war auch gar nicht.
Verlass dich auf deine stärkste Waffe!, durchzuckte es Lorant. Dein Mundwerk!
"Ich kann verstehen, was Sie durchgemacht haben!"
"Quatsch nicht herum!"
Kaminski stürzte auf Lorant zu, den Baseballschläger in beiden Händen. Lorant taumelte zurück, wich zur Seite. Seinen Schlag konnte Kaminski nicht mehr stoppen. Das Hartholz zertrümmerte die Fensterscheibe. Lorant versetzte ihm einen Stoß. Schreiend stolperte Kaminski über die ziemlich niedrige Fensterbank. Lorant schloss instinktiv eine Sekunde lang die Augen, um sich vor den Glassplittern zu schützen.
Im nächsten Moment war Kaminski nicht mehr da.
Lorant sah aus dem zerstörten Fenster und sah ihn unten in eigenartig verrenkter Haltung auf dem Boden liegen.
Er hatte Erfahrung genug in diesen Dingen, um zu wissen, dass Kaminski nicht mehr lebte.
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39.
"Er hat mich angegriffen", sagte Lorant, als Jansen mit ein paar Beamten eingetroffen war. Er hatte dem Kripo-Mann ausführlich von seinen Ermittlungen und der Auseinandersetzung mit Kaminski berichtet.
"Dem äußeren Anschein nach haben Sie Recht", wich der Kripo-Beamte aus.
"Sie werden feststellen, dass alles genau so war, wich ich es Ihnen gesagt habe."
"Bleiben Sie noch etwas in der Gegend?"
"Sie hätten gerne, dass ich mich noch eine Weile für Aussagen zur Verfügung halte?"
"Ja, das trifft es."
"Haben Sie übrigens Ihren Vorgesetzten Steen schon informiert?"
"Ich sagte Ihnen doch, dass er Feierabend hat."
Lorant zuckte die Achseln. "Als Dr. Purwin starb, spielte das keine Rolle. Da war Steen sofort da!"
Jansen rieb sich am Kinn. "Ich dachte mir, ich sehe mir das Ganze erst einmal selbst an."
"Verstehe... Brauchen Sie mich jetzt noch?"
"Wo wollen Sie denn hin?"
"Zu meiner Auftraggeberin. Sie wartet darauf, endlich zu erfahren, weshalb ihr Mann sterben musste."
Jansen überlegte einige Momente lang, dann nickte er. "Gut, aber vorher möchte ich gerne noch Fingerabdrücke von Ihnen nehmen. Ich nehme an, Sie haben hier das eine oder andere angefasst..."
"War nicht zu vermeiden."
"Und dann gibt's da noch einen anderen Punkt, über den Sie mir nichts gesagt haben."
"Ich dachte, ich wäre ziemlich ausführlich gewesen!"
"Wie sind Sie überhaupt in dieses Zimmer hineingekommen?"
"Die Tür war offen."
"Eine Schutzbehauptung."
"Können Sie das Gegenteil behaupten?"
"Noch nicht..."
"Die Wirtin ist schon etwas in die Jahre gekommen und neigt zur Vergesslichkeit."
"Ja, ja..."
Jansen machte eine wegwerfende Handbewegung. Einer seiner Kollegen betrat in diesem Moment das Zimmer. Er trug Latexhandschuhe und hielt ein Notizbuch in der Hand. "Sehen Sie sich das mal an", wandte er sich an Jansen. "Das hatte der Tote in der Jackentasche."
Jansen streifte ebenfalls Latexhandschuhe über. Er blätterte das Buch durch. Auf der dritten Seite begann eine Liste, die ziemlich identisch mit der Mitgliederliste der Söipkedeeler war, wie Lorant durch einen Blick über Jansens Schulter feststellte. Hinter einige Namen waren Friedhofskreuze auf kleinen Hügeln hingeschmiert.
Gretus Sluiter, Eilert Eilers, Frauke Oltrogge, Dr. Frank Purwin...
Eine halbe Stunde später fuhr Lorant auf den Hof des Sluiter'schen Hauses in Forlitz-Blaukirchen. Frau Sluiter traf er im Garten an. Sie spielte mit Tasso, der Riesendogge, die eifrig einen Plastikring apportierte.
Die Dogge fing an zu knurren, als Lorant den Rasen betrat.
"Aus, Tasso! Aus!", befahl seine Herrin und Lorant hoffte, dass sich die Dogge auch daran hielt.
Bernhardine Sluiter sagte: "Ich habe die Zeitung gelesen."
"Vergessen Sie, was dort steht."
"Dann wollen Sie behaupten, dass dieser Tom Tjaden..."
"Ein Unschuldslamm ist er nicht. Aber der Mörder Ihres Mannes ist ein anderer."
Bernhardine Sluiter ging auf Lorant zu, blieb dann in einem Abstand von etwa einem Meter stehen. Tasso folgte ihr auf dem Fuß. Mit regungslosem Gesicht hörte sie sich Lorants Bericht an.
"Ich erinnere mich an den Unfall", sagte sie.
"Waren Sie dabei?"
"Ja." Ihre Stimme klang tonlos. "Nachdem ich erfuhr, dass die junge Frau auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben war, habe ich mir geschworen, nie wieder zu boßeln."
"Wie Dr. Purwin."
"Ja."
"Andere konnten das etwas leichter wegstecken."
"Ich weiß. Aber ich bin nicht so robust. Auch wenn das äußerlich anders wirken mag."
"Niemand hat Ihnen irgendeine Schuld gegeben."
"Niemand außer diesem Kaminski. Er hat übrigens versucht, uns alle wegen unterlassener Hilfeleistung zu verklagen, weil sich keiner von uns traute, die Helme der Verunglückten zu öffnen. Aber das wurde alles niedergeschlagen." Sie atmete tief durch. "Ich nehme an, ich stand auch noch auf seiner Liste", murmelte sie. Eine ruckartige Bewegung durchlief sie. Sie blickte Lorant an. Jeder Anflug von Nachdenklichkeit schien wie weggeblasen. "Ihr ausstehendes Honorar werde ich Ihnen überweisen."
"Danke."
"Leben Sie wohl."
Ihr Lächeln wirkte verkrampft. Lorant ahnte, dass ihre Fassung nichts als Fassade war. In ihrem Inneren sah es ganz anders aus. Er sah etwas in ihren Augen glitzern. Tränen vielleicht. Sie hat immerhin Gewissheit, dachte Lorant.
ENDE