Читать книгу Romantic Thriller Sommer 2020: 9 Romane um Liebe und Geheimnis - Alfred Bekker - Страница 16
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„Es musste sehr schön sein, als Kind soviel Platz zur Verfügung zu haben“, stellte Gordon fest, als er mich nach dem Essen auf einem Spaziergang nach draußen begleitete.
Das Essen war hervorragend verlaufen. Unsere Köchin hatte sich selbst übertroffen, Henson hatte den Gast wie Ihre Majestät persönlich bedient, und mein Vater hatte es sogar unterlassen, indiskrete Fragen zu stellen. Allerdings runzelte er die Stirn, als er vom Beruf des jungen Mannes hörte, und warf mir einen fragenden Blick zu.
Früher oder später würde ich Farbe bekennen müssen und meinem Vater erklären, was ich hier eigentlich trieb. Aber noch nicht jetzt. Mein inneres Gefühl riet mir, niemanden sonst einzuweihen, um nicht eine unbekannte Gefahr heraufzubeschwören.
So hatte ich Gordon nach dem Essen gebeten mich auf einem Spaziergang zu begleiten, der uns unweigerlich auf den alten Friedhof führte.
Bei der Frage von Gordon hob ich verwundert den Kopf.
„Froh? Nein, eigentlich nicht. Es gab wenige Kinder in meinem Alter, schließlich leben wir hier ziemlich abseits, und von denen, die es tatsächlich gab, hatten die meisten zuviel Scheu, um hierher zu kommen. Aber das ist nicht der Grund, warum wir hier sind. Erinnern Sie sich an den Text der Übersetzung?“
„Wie könnte ich den vergessen? Der hat es mir immerhin ermöglicht, mit einer wunderschönen Frau in einer traumhaften Landschaft...“
„Gordon, bitte. Süßholzraspeln können Sie ein anderes Mal. Ich habe mir die alten Unterlagen besorgt, und ich möchte Sie um Hilfe bitten bei der Suche.“
„Aber die habe ich Ihnen doch schon zugesagt“, stellte er belustigt fest.
„Ja, natürlich, aber da waren die Umstände doch etwas anders.“ Ich stellte fest, dass der Umgang mit Geistern für mein Gedächtnis nicht gerade förderlich war. Immerhin hatten wir das tatsächlich schon geklärt. Er wurde ernst, und ich bemerkte, dass er, was seine Arbeit betrat, kompetent und professionell sein konnte.
„Sie wissen also jetzt, wo der Turm gestanden hat und wie hoch er gewesen ist?“, erkundigte er sich sachlich.
Ich nickte. „Sechsundzwanzig Meter, ein ganz ordentliches Stück. Allerdings weiß ich nicht, ob nun die Spitze des eigentlichen Turmes gemeint war, oder ob die Fahnenstange auch dazu gezählt hat. Dann hätten wir nämlich ein Problem, weil niemand mehr sagen kann, wie lang die gewesen ist.“
„Versuchen wir es doch einfach, sonst werden wir es ohnehin nicht herausfinden“, erklärte er praktisch. Dann musterte er mich aufmerksam. „Warum sind Sie eigentlich so wild darauf, dieses Buch zu finden? Sie haben gesagt, an Geld und Gold sind Sie nicht interessiert. Was ist es dann?“
„Ich weiß es nicht genau“, gab ich zurück und wurde bei dieser Lüge nicht einmal rot.
Gordon lachte. „Wir werden sehen, was passiert, sobald wir das Buch in den Händen halten.“
Er ließ sich von mir die Zahlen nennen, ging dann zurück zum Gebäude und schüttelte den Kopf. „So nicht. Ich brauche einen Lageplan. Außerdem möchte ich gerne wissen, um welche Jahreszeiten diese seltsame Ortsangabe gültig war, denn durch die Ekliptik der Erde verändern sich die Schatten fast täglich.“ Damit konnte ich allerdings dienen, denn auf dem Pergament hatte auch ein Datum gestanden, was Gordon anscheinend entgangen war. Vom Lageplan hatte ich eine Kopie gemacht, weil ich selbst schon Gedanken darüber angestellt hatte.
Er begann nun zu rechnen, bezog die Schrägstellung der Erde in seine Berechnungen ein und war in erstaunlich kurzer Zeit zu einem Ergebnis gelangt. Ich war jedenfalls froh, jemanden an meiner Seite zu wissen, der auch solche scheinbar unwesentliche Dinge bedachte. Geschickt zeichnete er den Turm in den Lageplan ein, zog dann ein paar Linien und rechnete aufs Neue.
„Nehmen wir ein Maßband, oder gehen wir zu Fuß? Ein Schritt ist etwa ein Meter, wir können zumindest schon mal einen Anhaltspunkt finden“, schlug er vor und grinste. Dann begann er Schritte abzuzählen. Neugierig folgte ich ihm. Der Weg führte uns durch eine uralte Baumgruppe aus Eichenholz auf einen verwitterten Grabstein zu. Ich fühlte ein ungutes Kribbeln im Nacken, war das Angst, die da gerade in mir hochkroch? Etwas Schreckliches stand mir bevor, und ich wusste mit untrüglicher Sicherheit, dass wir erst am Anfang eines unglaublichen Abenteuers standen.
Gordon blieb unvermittelt vor dem Grabstein stehen. Der Zahn der Zeit hatte ganze Arbeit geleistet. Flechten und Moose hatten den Stein überwuchert, die eingemeißelte Schrift war nur noch in Ansätzen zu erkennen. Ich rieb heftig über die Buchstaben, bis wir die Worte lesen konnten.
„Angus Harrington, geliebter Sohn von Emily und Archibald ermordet von feiger Hand im Jahre des Herrn 1487.“ Jetzt wurde mir wirklich kalt und heiß. Das war der Name von Sir Lawrence. Hatte er etwas mit dieser Familie zu tun? Ganz bestimmt sogar, wenn ich die Jahreszahlen in Betracht zog. Ich würde den Geist danach fragen, wenn sich die Gelegenheit ergab, und nicht andere Dinge wichtiger waren. Wenn ich allerdings richtig rechnete, konnte es sich durchaus um einen Bruder des Geistes handeln. Das würde dann vielleicht auch erklären, warum gerade dieser Grabstein als Versteck ausgesucht worden war.
„Was hilft uns das jetzt?“, fragte Gordon etwas ratlos.
„Ich vermute, dass der Schlüssel hier versteckt liegt“, mutmaßte ich, auf den Text vertrauend.
„Ausgraben?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht.“ Mit den Fingern tastete ich über den Stein von allen Seiten. Kurz über dem Boden auf der Rückseite spürte ich etwas.
„Hier ist etwas, fast als gäbe es hier ein Versteck.“
Gordon zog ein Taschenmesser mit feiner Klinge hervor. „Sehr praktisch, um verklebte Blätter zu lösen“, erklärte er und stocherte mit dem Messer in dem kaum sichtbaren Spalt.
Nach einer Weile sprang mit einem Klicken ein viereckiges Stück Stein heraus, und eine Öffnung wurde sichtbar. Eindeutig war dieser Stein von Menschen bearbeitet worden.
„Wow“, entfuhr es uns gleichzeitig. In der Öffnung lag ein seltsam geformter Stein, der eindeutig nicht natürlichen Ursprungs war. Er hatte eine Form wie ein Kreuz. War das der Schlüssel?
Gordon nahm den Stein heraus und gab ihn mir, und ich war dankbar dafür, denn ich sah einige Spinnen in der Öffnung lauern. Tierärztin oder nicht, mit Spinnen hatte ich keinen Vertrag.
„Und jetzt? Die alte Kapelle?“
„Dort drüben. Eigentlich ist es nur noch eine Ruine. Wildromantisch.“ Ich zeigte ihm den Weg. Das Gebäude selbst stand noch vollständig erhalten da, abgesehen von den kaputten Glasfenstern, doch im Innern sah es schlimm aus. Der Altar aus Granit war noch vorhanden, aber selbst der besaß Sprünge und Risse. Pflanzen hatten sich einen Weg gebahnt, und es gab ein schon fast exotisches Biotop. Die Wandmalereien waren längst verblasst, und von den wenigen Kirchenbänken existierte nur noch Trümmer.
„Ich will ja gerne glauben, dass eine Ameise hier ein Labyrinth vorfindet, aber als Mensch finde ich es doch sehr übersichtlich.“
„Ihr Spott ist nicht ganz angebracht, Gordon. Kommen Sie mit.“ Seit meiner Kindheit kannte ich den Geheimgang, der in der Sakristei begann – wenn man wusste, wie man den Zugang öffnete. Mit einem hässlichen Kreischen schob sich ein schwerer Betstuhl zur Seite, als ich einen unauffälligen Stein in seine Öffnung schob. Ein schmaler dunkler Gang führte nach unten in eine undurchdringliche Schwärze.
„Bemerkenswert“, staunte der Mann.
„Hier ist eine Taschenlampe“, erklärte ich und beleuchtete die schwarzen Stufen. Ein modriger fauliger Geruch stieg auf. Als der erste Lichtstrahl die Dunkelheit erhellte, erklang ein schrilles Kreischen, und unzählige fliegende Gestalten stürzten sich auf uns. Gleich darauf saßen sie in unseren Haaren, und Gordon schlug wild um sich, ebenso wie ich auch. Blut lief über sein Gesicht, und auch ich spürte, wie mir die warme Flüssigkeit aus verschiedenen Wunden über die Haut floss.
Fledermäuse – Hunde, die fliegen und beißen.
Es dauerte eine Weile, bis wir beide uns soweit beruhigt hatten, dass wir nicht mehr in Panik um uns schlugen.
Schließlich flogen die aufgeschreckten Tiere davon. Gordon lehnte bleich an der Wand.
„Kommen Sie, sofort zurück ins Haus. Sie brauchen ärztliche Behandlung“, bestimmte ich und wollte ihn mit mir ziehen, doch er hielt mich fest.
„So kurz vor dem Ziel werden wir doch nicht aufgeben. Das sind keine schweren Verletzungen, bei behindern uns beide nicht. Die haben Zeit bis später. Kennen Sie den Weg weiter?“
Ich war beeindruckt von seinem Mut und seiner Zielstrebigkeit. „Nur wenige Meter. Das hier ist tatsächlich ein Labyrinth, und ich weiß nicht, ob wir den Ausgang wiederfinden, wenn wir uns weiter hineinwagen.“
„Gut, dann werden wir vorsichtig sein müssen.“