Читать книгу Romantic Thriller Sommer 2020: 9 Romane um Liebe und Geheimnis - Alfred Bekker - Страница 8
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Eigentlich bin ich eine fast normale Frau – wenn man es normal nennen will, die Tochter eines schottischen Lords zu sein, ein vornehmes Internat besucht zu haben, über reichlich Geld zu verfügen, und sich nicht damit zu begnügen, nur das Geld der Ahnen auszugeben. Mal ganz im Ernst, würde es Ihnen auf Dauer wirklich gefallen, den ganzen Tag nichts Vernünftiges zu tun und mit erlerntem Wissen nichts anzufangen? Für einige Zeit hätte vermutlich jeder Spaß daran, aber nach einer Weile musste das doch langweilig werden, und man sehnt sich nach geregelten Arbeitszeiten, dem täglichen Stress und vielleicht sogar den nervigen Kollegen. Oder? Also bitte, ich könnte das nicht – ich meine, auf Dauer herumsitzen. Ich habe einen anständigen Beruf erlernt und bin Tierärztin, ich arbeite im Zoo von Glasgow. Ein wunderschöner Beruf, auch wenn mein Vater mich auf meinen Geisteszustand untersuchen lassen wollte. Natürlich nur im Scherz, denn in Wirklichkeit war er stolz auf mich. Worauf ich ihm erklärte, er müsste sich dafür bei unseren Vorfahren beschweren, die zuviel Intelligenz vererbt hätten – natürlich ebenfalls nur im Scherz. Mein Vater respektiert meine Entscheidungen, auch wenn er sie nicht immer versteht.
Er selbst ist damit beschäftigt, unsere Familiengeschichte zu erforschen, und damit hat er eine ganze Menge zu tun, denn bevor dieses Hobby an die Reihe kommt, ist jeden Tag die allgemeine Arbeit mit der Verwaltung der Besitztümer zu erledigen. Das ist bei einem so ausgedehnten Anwesen mit den angeschlossenen Firmen eine reichliche Menge an Arbeit. Also kann man auch in dieser Hinsicht nicht sagen, einer von uns würde in den Tag hineinleben.
Die Familiengeschichte scheint aber dennoch wichtig, denn aus einem uns unbekannten Grund gibt es auf Rosemont Hall Geister, deren Vorhandensein und Grund sich niemand erklären kann. Warum ausgerechnet bei uns?
Ich persönlich hatte die Geister noch nie gesehen, doch mein Vater, der siebzehnte Lord of Glencraven, war ihnen schon begegnet. Lord Reginald ist ein Mann, der im Allgemeinen mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen steht. Ich würde ihn niemals für verrückt halten, nur weil er behauptete, Geistern begegnet zu sein. Es klang unwahrscheinlich, es war vielleicht sogar wirklich ein bisschen verrückt – und doch musste es wahr sein, denn noch nie hatte Lord Reginald die Unwahrheit gesagt.
Nun gut, ich musste zugeben, es interessierte mich nicht besonders. Solange die Geisterwesen mich in Ruhe ließen und nichts zerstörten, was mir wichtig war, sollten sie spuken, wenn sie Freude daran hatten. Ich hatte meine Arbeit, die mir Spaß machte und mir Befriedigung gab. Besondere Freundschaft hatte ich im Zoo mit dem Elefantenbullen Archibald und der Gepardendame Sheena geschlossen.
Ein Gepard ist eine besondere Art von Katze. Ungeheuer schnell auf hohen schlanken Beinen, aufmerksam, bildschön und sehr scheu. Aber Sheena und ich hatten vom ersten Tag an Vertrauen zueinander gehabt. Wenn mich diese wundervolle Raubkatze anschaute, hatte ich immer wieder das Gefühl, sie würde meine Gedanken lesen und versuchen mir etwas zu sagen. Ich dachte über dieses Tier und unser seltsames Verhältnis nach. Im Zoo behandelte ich viele verschiedene Tiere, und mit den meisten kam ich gut klar. Tiere sind in gewisser Weise wie Menschen, man musste sie nehmen, wie sie sind. Mein erster Gang morgens aber führte mich immer zu Sheena.
Mit klugen Augen blickte das Tier mich auch heute an. Langsam und vorsichtig streckte ich eine Hand aus, um die Katze zu streicheln. Das ließ sie nicht immer zu, und meist konnte ich es erkennen, ob sie sich wehren würde.
Heute hielt sie still, schloss sogar für einen Moment genüsslich die Augen.
„Es ist unglaublich, Miss Jessica. Keiner von uns würde es wagen, dem Tier zu nahe zu kommen“, erklärte Peter, der Tierpfleger. Er kannte Sheena seit sieben Jahren, also seit sie sich hier im Zoo befand. Ich hatte schon frühzeitig damit aufgeräumt, dass jedermann mich Mylady oder Lady Jessica nannte, ein einfaches Miss genügte. Das hatte mir zusätzlichen Respekt verschafft.
„Wahrscheinlich war ich im früheren Leben auch eine Katze“, erwiderte ich lächelnd. „Aber heute ist viel zu tun, und ich kann nicht lange bleiben. Drüben bei den Löwen steht eine Geburt an, und es geht der Löwin gar nicht gut.“
Das war der Augenblick, in dem Sheena kurz fauchte und mit der Pfote über meine Hand fuhr. Geparden können ihre Krallen nicht einziehen, und so entstanden sofort blutige Kratzspuren auf Unterarm und Hand.
Doch Sheena schien nicht in mindesten aufgeregt, sie schmiegte sogar den Kopf weiter an mich. Nun wich ich aber doch zurück, während Peter erschreckt nach mir griff.
„Da haben wir es wieder mal wieder, Miss Jessica. Sie waren viel zu leichtsinnig. Man soll keiner Katze trauen, die in Freiheit geboren wurde. Kommen Sie, ich werde Sie verbinden.“
„Aber ich musste hinüber zu der Löwin“, protestierte ich.
„Das kann Doktor Johnson auch allein, der macht das schließlich nicht zum erstenmal“, unterbrach er mich und meinte meinen Kollegen Louis Johnson, der schon seit mehr als zwanzig Jahren hier arbeitete und bald in Pension gehen würde.
Widerstrebend ließ ich es zu, dass Peter mich beiseite zog, doch einen letzten Blick warf ich auf Sheena. Ich verstand das Tier nicht so ganz. Es handelte sich hier nicht um einen Angriff, sie lag auch jetzt vollkommen ruhig da und behielt mich durch die Gitterstäbe im Auge. Sie sah irgendwie – zufrieden aus, so als würde sie mich mit dieser Verletzung von irgendetwas abhalten.
Zwei Minuten später hörte ich draußen einen lauten Schrei, dem ein lautes Poltern folgte. Aufgeschreckt blickten Peter und ich aus dem Fenster.
Ben, der Braunbär, hatte sich auf seinem täglichen Spaziergang losgerissen. Etwas musste ihn gestört oder erschreckt haben, sonst hätte das normalerweise friedfertige Tier niemals seinen Pfleger angegriffen. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Ben schlug auf den Menschen ein und kletterte auf den nächsten Baum. Wäre ich auf dem Weg zum Löwengehege gewesen, hätte er mich erwischen können. Noch einmal sah ich zu Sheena hinüber. Hatte sie gewusst, was geschehen würde? Vollkommen unmöglich. Doch sie schien mich anzulächeln. Ich war ja verrückt!
Jetzt aber holte ich mein Betäubungsgewehr, Ben musste zurück in seinen Käfig, und das würde er im Augenblick wohl kaum freiwillig tun.
Peter hatte es gerade noch geschafft, mir ein Pflaster aufzukleben, doch die Kratzwunden waren lang und tief, das Blut lief noch immer herunter. Das aber hatte Zeit.
Fünf Minuten später setzte ich einen sicheren Schuss. Ben hockte noch immer auf dem Baum, brummte verängstigt und zuckte zusammen, als der Pfeil mit dem Betäubungsmittel seine Hinterbacken traf. Wenig später plumpste der große braune Teddy die zwei Meter zum Boden. Bei diesem Sturz konnte nicht viel passieren, und er wurde mit der Kraft von vier erwachsenen Männern in seinen Käfig geschafft.
Die Löwin hatte unterdessen geworfen, und Louis hielt drei kleine Babys in der Hand, die jämmerlich maunzten.
Die Wunden an meinem Arm schmerzten heftig, und ich fühlte mich nicht besonders gut, wahrscheinlich waren die Krallen verschmutzt gewesen, und mein Körper wehrte sich dagegen.
Louis schaute sich die Verletzungen an und schickte mich nach draußen. Noch einmal besuchte ich Sheena, bevor ich ging. Die Gepardin lag friedlich auf einem alten Baumstumpf. Ihre Augen wirkten wachsam, und die Ohren bewegten sich aufmerksam.
„Was hast du nur gemacht?“, fragte ich traurig. „Ich verstehe dich nicht, Sheena. Sind wir denn nicht Freunde? Ich würde nie etwas tun, was dich verletzt.“
Sie streckte den rechten Vorderlauf aus, als wollte sie mir die Hand zur Entschuldigung reichen. Was war nur los mit ihr?
Ich fuhr nach Hause und hatte das Gefühl Fieber zu bekommen. Zitternd stellte ich auf der Zufahrt den Wagen ab und ging ins Haus. Meine Beine waren ganz weich, mir wurde schwindelig, und ich musste mich an einer Wand abstützen.
„Jessica!“ Mein Vater kam aus seinem Arbeitszimmer, sah mich und nahm mich in die Arme. „Henson“, brüllte er, und gleich darauf tauchte unser altbewährter Butler auf. Dieser Mann kannte mich seit meiner Geburt, und er hatte sich immer um mich gesorgt, ebenso wie er meine Streiche gedeckt hatte, solange ich noch Kind war.
„Miss Jessica“, kam jetzt auch von ihm ein entsetzter Ausruf.
Die beiden Männer stützten mich und brachten mich erst einmal in die Bibliothek, wo sie mich auf dem Sofa ablegten. Henson besorgte kalte Umschläge und betrachtete kritisch die Wunden.
„Ich werde Dr. McMillan verständigen“, sagte der ältere Mann mit den eisgrauen Haaren, den ich noch nie anders als im schwarzen Anzug gesehen hatte.
„Unterstehen Sie sich“, brachte ich hervor. „Es sind nichts weiter als ein paar Kratzer. Morgen geht es mir schon besser. Ich brauche nichts weiter als einen Whisky und ein paar Stunden Schlaf.“
„Aber, Miss Jessica“, protestierte er. „Sie sind verletzt. Ich habe ja schon immer gesagt, dass eine solche Arbeit nichts für eine so zarte Frau ist.“
Zarte Frau? Meinte er etwa mich? Ich war schlank und sportlich, mit meinen 26 Jahren noch nicht gebunden, obwohl man mir nachsagte, dass ich mit den roten Haaren und den grünen Augen eine klassische keltische Schönheit wäre. Aber zart? Naja.
Mein Vater strich mir über die Stirn. „Es wäre aber doch bestimmt besser, wenn der Doktor wenigstens einen Blick...“
„Ach, Dad, ich habe alle Impfungen hinter mir, und dies hier ist nichts weiter. Mich würde mehr interessieren, warum Sheena das getan hat.“
„Das interessiert mich wiederum gar nicht“, erklärte er. „Mir wäre es am liebsten, würdest du diesen oft gefährlichen Beruf aufgeben. Ja, ich weiß, du willst unabhängig sein und etwas Sinnvolles tun“, wehrte er ab, als ich schon den Mund öffnen wollte. „Aber sicher gibt es Sinnvolles auch ohne tätliche Angriffe.“
Er stand auf und holte mir endlich einen Whisky. Der scharfe Alkohol floss heiß durch meine Kehle, und ich fühlte mich gleich besser. Doch nun wurde ich müde. Die beiden Männer schlossen die Tür und ließen mich allein.
Übergangslos schlief ich ein.