Читать книгу Ruhrpott, Venedig, Tanger - tot! 3 Krimis - Alfred Bekker - Страница 53

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Zu Hause, unter der Dusche, gestand ich mir ein, dass Mord-Martens seinen Ruf als gefährlicher Fuchs wirklich verdiente. Dieser Kerl hatte mich doch tatsächlich dazu gekriegt, das zu erledigen, was er als Polizist wegen seiner Dienstvorschriften nicht erledigen konnte, aber erledigt haben wollte – nämlich ein Motiv für den Selbstmord auszugraben.

Wie versprochen bremste ich eine Stunde später vor dem Domizil der verblichenen Sabine Kehlin und stieß erst einmal einen halb bewundernden, halb neidvollen Pfiff aus. Das vierstöckige Haus verriet vom untersten Naturweiß-Ziegel bis zum kupfergedeckten Schrägdach Geld, Geld und nochmals Geld. Um den Garten und den Rasen hatte sich ein erstklassiger Gärtner gekümmert, die Halle war blitzsauber und der Aufzug funktionierte lautlos.

Sabine Kehlin hatte im obersten Stock gewohnt, ihre Schwester stand in der Tür und sah mir neugierig entgegen. Die gegenseitige Musterung stellte uns beide zufrieden.

Sie war dunkelhaarig und dunkeläugig, und der Hosenanzug betonte ihre gute Figur, deren sie sich sehr genau bewusst war. Mein grauer Anzug kaschierte meinen kleinen Bierbauch vorzüglich, musste er auch, schließlich hatte er mich allerhand Geld gekostet.

Bei der schwülen Hitze empfand ich die Wohnung angenehm kühl. Sie war groß und hell und war geschmackvoll, aber für meine Begriffe zu demonstrativ teuer eingerichtet. Irene Kehlin lächelte kurz, als sie meinen Inspektions-Rundblick bemerkte, und ich hatte das unangenehme Gefühl, dass sie mich durchschaute.

»Setzen Sie sich doch! Kaffee, Tee, Bier oder Wein?«

»Wenn Sie Whisky hätten ...«

»Haben wir.«

»Dann mit viel Eis und viel Soda bitte!«

Geschickt und schnell bediente sie mich, und ich hatte kaum den ersten winzigen Schluck getrunken, als sie auch schon loslegte:

»Nehmen Sie den Auftrag an?«

»Das weiß ich noch nicht«, dämpfte ich ihren Eifer. »Ich habe mit Herrn Martens gesprochen, und ich will Ihnen lieber gleich vorwegsagen, dass ich nicht an Ihre Mordtheorie glaube. Wenn Martens behauptet, es war Selbstmord, dann war es einer.«

»Mord! Selbstmord!«, wiederholte sie aufgebracht. »Herr Altmann, wir müssen erst einmal die Begriffe klären. In meinen Augen ist derjenige ein Mörder, der meine Schwester veranlasst hat, die Tabletten zu schlucken. Auch wenn er juristisch dafür nie belangt werden kann oder ...«

»Das ist eine sehr eigenwillige Interpretation«, fiel ich ihr ins Wort.

»Schön, mag sein. Vielleicht gefällt es Ihnen nicht. Aber für mich ist sie richtig und deswegen ...«

»Moment!«, unterbrach ich sie energisch. »Bevor wir uns in die Haare kriegen, einigen wir uns doch darauf, dass Sie den Grund für den Tod Ihrer Schwester erfahren wollen. Okay?!«

»Einverstanden«, stimmte sie zu, immer noch erregt.

Temperament hatte sie ja, aber hoffentlich nicht zu viel. Solche Kunden brachten nur Ärger. »Fein«, bekräftigte ich deswegen rasch, »aber dann wollen wir noch eins klären: Es wird ein teurer Spaß werden ... Okay, okay, entschuldigen Sie das unpassende Wort, ein teures Unternehmen.«

»Geld spielt keine Rolle«, erklärte sie.

Der herablassende Ton ärgerte mich: »Wie Sie meinen. Dann wollen wir gleich mit der Arbeit anfangen. Wo ist eine Steckdose?«

Sie half mir, das Tonbandgerät anzuschließen und die Mikrophone aufzubauen. »Also dann!«, kommandierte ich. »Erzählen Sie mir alles über Ihre Schwester.«

»Wo soll ich da anfangen?«

»Am besten bei der Geburt.«

Wieder blitzte sie mich an, gehorchte aber. »Sabine Kehlin war meine ältere Schwester, geboren am 18. April 1952 in Wiesbaden. Sie war das erste Kind, ich wurde am 3. September 1953 geboren, ebenfalls in Wiesbaden. Mein Vater heißt Eberhard Kehlin, geboren 1890 in Ratibor. Meine Mutter hieß Nora Kehlin, geborene Sedrusch, Geburtsjahr 1935; wo sie zur Welt kam, weiß ich allerdings nicht.«

»Was bedeutet: hieß?«

»Ich verstehe Sie nicht ...«

»Sie sagten eben, Ihre Mutter hieß. Was bedeutet die Vergangenheitsform? Ist sie gestorben?«

Einen Augenblick blinzelte sie unschlüssig: »Das kann ich nicht sagen. Ist das denn wichtig?«

»Vielleicht. Woher soll ich das jetzt schon wissen?«

»So, ja. Nun, ich habe keine Ahnung, ob sie noch lebt. Soviel ich weiß, haben sich meine Eltern drei Monate nach meiner Geburt scheiden lassen.«

»Warum denn das?«

Ihr Gesicht verfinsterte sich jäh. »Darüber möchte ich nicht sprechen; das geht niemand was an.«

»Schön, dann kann ich ja zusammenpacken.«

»Was soll das heißen?«, fuhr sie auf.

Mit dem letzten Rest von Geduld, den ich noch besaß, setzte ich ihr auseinander: »Es hat keinen Sinn weiterzumachen. Sie wollen von mir ein Motiv für den Tod Ihrer Schwester erfahren. Dazu muss ich sie bis in die letzten Winkel durchleuchten, ohne Rücksicht auf irgendwelche Empfindlichkeiten. Oder Peinlichkeiten. Aber Sie legen sich schon bei der simplen Frage quer, warum sich Ihre Eltern haben scheiden lassen. Wie soll ich da was rausfinden?«

Sekundenlang funkelte sie ihn geradezu gefährlich an; dann gab sie nach. »Sie haben recht, entschuldigen Sie. Ich werde alle Fragen beantworten.«

»Hm, hoffentlich. Also: Warum haben sich Ihre Eltern scheiden lassen?«

»Mein Vater hat nur einmal angedeutet, dass ein anderer Mann im Spiel war. Aber davon hat er nur einmal gesprochen, sonst wurde meine Mutter nicht erwähnt. Jedenfalls trennten sie sich, und ich habe meine Mutter nie gesehen.«

»Nie? Nicht ein einziges Mal?«

»Nein, ich habe sie nie bewusst gesehen. Sabine übrigens auch nicht. Einmal habe ich von ihr einen Brief bekommen, an meinem einundzwanzigsten Geburtstag. Sie fragte mich, ob wir uns nicht einmal treffen könnten ... Ich habe nach langem Überlegen nicht geantwortet. Verstehen Sie? Sie war eine Fremde für mich, und irgendwie glaubte ich, es solle so bleiben. Ich vermisste sie nicht.«

»Hm. Ihr Vater lebt noch?«

»Ja, in Wiesbaden.«

»Was war er oder was ist er von Beruf?«

»Verleger und Drucker. Mit siebzig hat er sich zur Ruhe gesetzt und den Verlag und die Druckerei verkauft.« Unversehens schmunzelte sie: »Sehr gut verkauft. Er ist ein reicher Mann, und wir sind reiche Erbinnen. Um Ihr Honorar brauchen Sie sich nicht zu sorgen.«

»Na fein. Erzählen Sie mehr von Sabine.«

»Ja, was soll ich erzählen? Eine jüngere Schwester meines Vaters hat uns großgezogen, Tante Hilda. Wir sind zur Volksschule gegangen, dann aufs Gymnasium. Sabine hat 1970 ihr Abitur bestanden und ist dann für zwei Jahre in die Vereinigten Staaten gezogen, auf irgendein mathematisches Institut – die Zeugnisse müssen da im Schreibtisch liegen–, und hat Programmieren gelernt ... Ja, gucken Sie nicht so erstaunt; sie verstand eine ganze Menge von Mathematik und Computern und all dem Kram.« Sie rümpfte die Nase, und ich dachte mir meinen Teil. »Ende 1972 ist sie zurückgekommen, hat bis zum Herbst 1973 noch irgendwelche Lehrgänge mitgemacht und ist dann Anfang 1974 nach Essen umgezogen.«

»Dann war das ihre erste Stelle hier?«

»Ja, bei der Bauco. Das ist so ein Ingenieurbüro für Konstruktionen oder was weiß ich, und sie hat in der EDV gearbeitet.«

Wieder krauste sie unwillkürlich die Nase. »Offenbar mit Erfolg, man ist ... Man war mit ihr zufrieden. Das hat sie jedenfalls immer behauptet. Na ja, dafür spricht auch, dass sie sich Ende 1974 diese Wohnung gekauft hat. Sie wollte hierbleiben.«

»Schön. Und was haben Sie nach dem Abitur angefangen?«

»Erst bei einer Zeitung volontiert, dann ein Jahr Lokalredakteurin gespielt, bis ich die Nase voll hatte. Seitdem arbeite ich freiberuflich – Zeitung, Funk oder auch mal ein Fernsehfilm.«

»Kann man davon leben?«

Sie lachte laut auf. »Ich kann, ich muss aber nicht. Ach, Sie kapieren manchmal schwer. Wir sind ... Ich bin und Sabine war eine reiche Erbin. Mein Vater hat uns an dem Tag, an dem wir unsere Ausbildung abgeschlossen hatten, unser Erbe überschrieben, und allein von den Zinsen könnte ich in Saus und Braus leben ... Ja, natürlich galt das auch für Sabine. Sie hat nur einmal das Kapital angegriffen, als sie diese Wohnung kaufte, aber sonst – Sabine hat sogar die Zinsen gespart, sie war ein solides, gewissenhaftes, sparsames Mädchen.«

»Verdiente sie so gut?«

Etwas wie Ärger oder Eifersucht flog über ihr Gesicht. »O ja!«, entgegnete sie kurz.

»Aha. Wie stand denn Sabine zu Ihnen? Und zu Ihrem Vater?«

»Das lässt sich nicht mit einem Satz beschreiben. Wissen Sie, in punkto Temperament war sie immer mein genaues Gegenteil: Sehr beherrscht, sehr kühl, sehr ausgewogen. Ich liebe meinen Vater, und dann hasse ich ihn wieder manchmal so, dass ich ihn umbringen könnte. Sabine hat wohl auch an ihm gehangen, sich dann aber von ihm gelöst ... Naja, sie ist halt ihre eigenen Wege gegangen ... Nein, nein, keine Verstimmung, kein Zorn; eine allmähliche, vielleicht ganz natürliche Trennung eben.« In ihren Augen spiegelten sich Gedanken wider, die sie mir nicht verriet.

»Und wie vertrugen Sie sich mit Sabine?«

Zu meinem Erstaunen überlegte sie sich die Antwort, während sie die leeren Gläser nachfüllte. Schließlich meinte sie zögernd: »Ja, wie? Eigentlich waren wir ja fast gleichaltrig, aber irgendwie ist sie im Laufe der Jahre immer mehr zur älteren, zur wirklich älteren Schwester geworden. Gelegentlich hat es mich mächtig gestört, aber vielleicht musste es so sein ...« Sie brach ab und trank in Gedanken versunken.

Ich räusperte mich schließlich, um sie in die Gegenwart zurückzuholen. »Haben Sie Kontakt miteinander gehabt?«, fragte ich.

»Wie ...? O ja, doch. Allerdings meist nur telefonisch. Ich muss beruflich so viel schreiben, dass ich mich gern vor Briefen drücke.«

»Sabine schrieb auch nicht gern?«

»Nein, sie tat sich schwer damit, sie rief auch lieber an.«

»Gut. Dann berichten Sie mir etwas über das Privatleben Ihrer Schwester.«

Sie seufzte. »Da gibt’s nicht viel zu berichten. Sabine arbeitete viel und lange; sie hatte ein paar Bekannte, sie ging ab und zu ins Theater oder in die Oper. Ach ja, den Tennisclub darf ich nicht vergessen. Und einmal die Woche ritt sie, irgendwo in Mülheim, das weiß ich nicht so genau. Aber Sie werden alle Unterlagen im Schreibtisch finden. Sabine war sehr ordentlich.« Wider Willen setzte sie hinzu: »Ganz anders als ich.«

Mühsam verkniff ich mir ein Lächeln, aber sie bemerkte meine Erheiterung und strahlte mich plötzlich an, dass es mich fast aus dem Sessel haute. Mit Temperament war sie im Übermaß gesegnet, jetzt wurde mir klar, dass sie auch umwerfend charmant sein konnte.

»Schön, Frau Kehlin, dann ... Im Klartext gefragt: Hatte Ihre Schwester keinen Freund? Keinen Liebhaber?«

Unschlüssig drehte sie ihr Glas: »Ich weiß es nicht. Ich kann’s beim besten Willen nicht sagen, ich müsste raten.«

»Dann raten Sie.«

Sie schaute mich an, ohne mich zu sehen. »Freunde? Ich kann’s mir irgendwie nicht vorstellen, dass passte nicht zu ihr. Und auch kein Geliebter, nein, das hätte ich wohl gemerkt ...«

»Wann gemerkt? Wo?«

»Am Telefon. Sie hat mir zwar nicht gerade ihr Herz ausgeschüttet, aber ... Warten Sie, einmal hatte sie jemand getroffen, der ihr wirklich gefiel – na ja, es schien ernster zu werden. Das hat sie mir wohl erzählt. Aber das endete dann ziemlich abrupt. Nein, von einem festen Freund wüsste ich bestimmt. Allerdings ...«

»Ja, allerdings?«, ermunterte ich sie.

»Sie hatte jemand kennengelernt. Richtig, ich erinnere mich, aber anscheinend hat es wohl nicht gleich geklappt. Oder sie bekam Bedenken, jedenfalls wurde sie sehr einsilbig, wenn ich sie danach gefragt habe ... Nein, keine Ahnung, wer das war.«

»Hat sie nie einen Namen genannt?«

»Nein, so etwas verschwieg Sabine gern. Mein Freund – oder auch: mein Bekannter, das war alles ... Halt, das stimmt nicht, jetzt fällt mir wieder ein, dass sie einmal sagte, sie sehe ihn sehr häufig.«

»Ein etwas dünner Hinweis, finden Sie nicht auch?«

Verlegen und zugleich unwillig nickte sie: »Ja.«

»Aber Ihre Schwester hatte doch bestimmt Freundinnen, Bekannte?«

»Schon ...« Sie zögerte. »Aber ich kenne praktisch niemand davon. Sie müssten mal Sabines Adressbuch durchtelefonieren.«

»Haben Sie das noch nicht getan?«

»Nein!« Es klang sehr abweisend, und bevor ich nachfassen konnte, klingelte das Telefon. Hastig nahm sie ab, offenkundig froh, vor meiner nächsten Frage Zeit gewonnen zu haben. »Kehlin ... Guten Abend ... Ja, er ist hier. Einen Moment.«

Nina war unüberhörbar schlecht gelaunt. »Nichts!«, bellte sie mich an.

»Was heißt ›nichts‹?«

»Nichts in den Zeitungen, keine Berichte, keine Todesanzeigen. Eben gar nichts ... Zufrieden, du altes Ekel? Kann ich jetzt endlich ins Bad gehen?«

»Hau schon ab!«, knurrte ich, und sie knallte den Hörer hin, dass mein Trommelfell juckte. Nachdenklich gab ich Irene Kehlin den Hörer zurück: »Sagen Sie einmal, Sie haben keine Todesanzeige aufgegeben?«

»Nein«, bestätigte sie verwundert.

»Haben Sie denn Todesanzeigen verschickt?«

»Nein«, antwortete sie zögernd.

»Und warum nicht?«

Sie sah mich schräg an: »Ich wollte nicht ... Ach, das ist schwer zu erklären. Ich wollte einfach nicht ... Verstehen Sie doch, so schön finde ich es auch nicht, aller Welt mitzuteilen, dass meine Schwester Selbstmord begangen hat.«

»Vorhin haben Sie noch behauptet, es sei Mord gewesen«, stichelte ich.

Und prompt explodierte sie: »Müssen Sie darauf herumreiten?«

»Nein, schon gut ... Wen haben Sie denn vom Tod Ihrer Schwester benachrichtigt?«

Sie schnaufte kurz: »Hier in Essen nur die Firma. Ach ja, und die Hausverwaltung hier.«

»Sabines Freunde wissen also noch nicht Bescheid?«

»Ich nehme doch an, dass es sich mittlerweile rumgesprochen hat«, konterte sie bissig.

»Schön, lassen wir das, kümmern wir uns wieder um Sabines engere Freunde – wenn es sie gab. Wer kann mir etwas über ihr Privatleben erzählen? Mit wem war sie gut genug befreundet?«

Angestrengt dachte sie nach und schüttelte schließlich resigniert den Kopf: »Tut mir leid, Herr Altmann – ich weiß es einfach nicht. Bestimmt nicht. Im Schreibtisch habe ich ein Adressbüchlein gefunden, vielleicht hilft Ihnen das weiter. Hier im Hause hatte sie wohl kaum Kontakt ... Das heißt, nein, das stimmt nicht. Nebenan wohnt ein freundlicher älterer Herr, ein pensionierter Richter. Er ist blind, und Sabine hat ihn wohl öfters besucht – ihm vorgelesen, Post erledigt oder für ihn eingekauft. Als Einziger aus dem Haus hat er sehr nett kondoliert; ich glaube, er trauert meiner Schwester wirklich nach. Ach ja, und dann existiert da noch eine Nachbarin, ich meine, sie heißt Regine ... nein, den Nachnamen weiß ich nicht ... mit der hat Sabine wohl häufiger verkehrt ... Nein, diese Regine scheint nicht da zu sein, jedenfalls ist sie noch nicht bei mir gewesen.«

»Hatte sich Sabine in der Firma enger an jemand angeschlossen?«

»Nein, enger nicht. Es gab da einen Kollegen, den sie häufiger erwähnt hat, Waldi mit Spitznamen, aber sie wollte nicht, hat ihm einen Korb gegeben, worauf er offenbar gekündigt hat. Nein, in der Firma ist es seitdem bei rein beruflichen Kontakten geblieben.«

»Sie haben einen Tennisclub erwähnt«, erinnerte ich sie.

»Ach ja, da ging sie ganz gern hin, aber ich meine ...« Wieder klingelte das Telefon, und sie nahm rasch ab: »Kehlin ... Hallo, wer ist dort? ... Hallo! ... Ach, zum Teufel.« Wütend legte sie auf.

»Was ist los?«, erkundigte ich mich verwundert.

»Irgend so ein Spinner. Der ruft schon die ganze Zeit über an, sagt aber nie einen Ton, sondern hängt gleich wieder ein.«

»Vielleicht einer von Sabines geheimen Verehrern?«

»Na, dann ist der aber von der schüchternen Sorte.« Wir lachten, und sie fuhr fort: »Also, im Tennisclub hatte sie sich mit einem älteren Ehepaar angefreundet, Scholz heißen sie. Und beim Reiten hatte sie auch eine junge Frau kennengelernt, eine Evelyn Sowieso, den Namen habe ich vergessen. Mir fällt nur wieder ein, dass sie diese Evelyn glühend beneidet hat, weil sie so selbstsicher ist.«

»Mich wundert, dass Ihre Schwester hier im Haus so wenig Kontakte hatte.«

Irene Kehlin zuckte die Achseln und bemerkte wahrscheinlich gar nicht, dass es sehr abschätzig aussah: »Mit Anschluss hat sich Sabine immer schwergetan.«

»Gilt das nur für Männer oder allgemein?«

»Ach, allgemein. Bis Sabine mit jemand warm wurde, vergingen Jahre, das war schon früher so.«

»Dann hat sie also ihre Freizeit im Allgemeinen allein verbracht? Was trieb sie denn so abends oder an Feiertagen?«

Verlegen lächelte sie mich an: »Nun, Herr Altmann, offen gesprochen: Wenn ich ein Feature über meine Schwester schreiben müsste, wüsste ich mir auch nur mit der Floskel zu helfen: Sie ging in ihrer Arbeit auf.«

Naja, das klang wie ein gequälter Nachruf, aber diese Erkenntnis behielt ich lieber für mich. Mit Irenes Hilfe machte ich mich dann über den Schreibtisch her. Sabine Kehlin war in der Tat eine sehr ordentliche junge Frau gewesen, systematisch und bis zur Langeweile korrekt. Die Bankauszüge bestätigten übrigens die Behauptung der Schwester: Reich war sie gewesen, sogar stinkreich. Ihr Aktien-, Anleihe- und Obligationen-Besitz konnte sich sehen lassen; auf einer besonderen Liste hatte Sabine die Zinsen und Dividenden addiert – Zahlen, die meinen heimlichen Neid erweckten. Bis mir einfiel, dass sie sich trotzdem umgebracht hatte.

Die Korrespondenz war, natürlich alphabetisch abgeheftet, schlicht und ergreifend nichtssagend – Geschäfte, ihre Vereine, Zahlungen, das Auto. In einer besonderen Ledermappe lag alles Wichtige griffbereit: Versicherungen, Krankenkasse, Testament, Zeugnisse, Pass, die Unterlagen ihrer Erbschaft, Kfz-Brief. Vielleicht war es auch nur der dritte Whisky, aber mich bedrückte diese sterile Ordnung auf fast unbeschreibliche Art. Ein ganzes Leben füllte keine zwei Aktenordner, alles amtliche oder formelle Papiere, die nichts über die Sorgen und Nöte oder Vorlieben oder Freuden der lebenden Sabine Kehlin verrieten. Alles war immer glatt, kantenlos, anstandslos über die Bühne gegangen.

»Sie müssten mal meinen Schreibtisch sehen«, warf Irene Kehlin plötzlich halblaut ein, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

Ich antwortete nicht. Auch die wenigen Bilder in dem leinengebundenen Fotoalbum waren von grandioser Ausdruckslosigkeit: Abitur, Prüfungen, Kollegen, Weihnachten mit dem Vater, Treffen mit Schwester Irene. Andere Familienmitglieder. Das Elternhaus in Wiesbaden. Nur die beiden letzten Porträts zeigten eine menschliche, eine lächelnde Sabine Kehlin.

»Die nehme ich mit«, entschied ich, »Sie kriegen sie wieder, wenn wir Abzüge gemacht haben.«

»Lassen Sie sich Zeit!«, entgegnete sie rasch.

Auf dem Schreibtisch lag ein Terminkalender mit herzlich wenigen Eintragungen, daneben ein neuer, kaum gebrauchter Notizblock für das Telefon, das auf einem Brokat-Zierdeckchen stand. Das einzig Persönliche fand sich in einer Schreibtisch-Schublade: ein Ringbuch mit mehreren großen, durchnummerierten Blättern, auf die Sabine mir unbekannte, merkwürdige Symbole gemalt und mit unverständlichen Buchstaben oder Silben beschriftet hatte.

Irene kannte das: »Das ist ein Programmentwurf für einen Computer. Oder Pläne dazu. Auf jeden Fall etwas Berufliches.«

»Aha ... Man lernt eben nie aus.«

Das Adressbüchlein hielt lange nicht das, was ich mir davon erhofft hatte – insgesamt höchstens fünfundzwanzig Namen und Anschriften, darunter aber auch ihr Hausarzt, ihre Frauenärztin, ihr Zahnarzt, ihre Bankfiliale, ein Börsenmakler. »Hat Ihre Schwester spekuliert?«, fragte ich erstaunt.

»Ganz selten, das meiste erledigte die Bank«, gab sie zurück, und mir fiel auf, dass sie sich selten in die Gegenwartsform verirrte.

»Eigentlich recht wenige Anschriften«, meinte ich.

»Ja, erstaunlich wenige.«

»Kann ich das Büchlein mitnehmen?«

»Ungern.« Sie zögerte sichtlich.

»Na schön. Wenn Sie es nicht aus der Hand geben wollen, müssen Sie alle Angaben auf meinen Block übertragen.«

»Ja, gern.« Während sie schrieb, durchsuchte ich flüchtig den Rest des Schreibtisches. Briefpapier, Umschläge, Briefmarken – selbstverständlich nach Wert geordnet –, ein Rechenblock, Locher, Hefter, Schere – es hätte nicht büromäßiger sein können, obwohl alle die Kinkerlitzchen, die sich in einem Büro unvermeidlich ansammeln, hier fehlten.

Die wenigen Bücher in dem hellen, teuren Regal jagten mir Schauer über den Rücken. Liebesromane, die bekanntesten Bestseller, einige Krimis, Schundromane. Eine Ersatzwelt? Schätzungsweise achtzig Zentimeter Bücherbrett waren mit Fachliteratur belegt, die als Einzige auch Spuren häufigen Gebrauchs aufwies. In einem separaten Fach stapelten sich Zeitschriften, etwas über Dataprozesse, also Computertechnisches, auf Englisch. Die Tonbänder, sauber beschriftet, enthielten Schlager, Schnulzen, Karnevalslieder, Fischer Chöre und Operetten, die meisten allerdings in Querschnitten. Mich grauste, und Irene zwinkerte mir spöttisch zu.

»Was hat Ihre Schwester eigentlich abends, nach Dienstschluss, unternommen?«

Stumm deutete sie auf die beeindruckende Stereoanlage und den riesigen Farbfernseher. Natürlich waren auch diese Geräte das Beste vom Besten, und wie ich erwartet hatte, hatte ein Fachmann die Kabel unter Putz verlegt, die Bänder waren sorgfältig beschriftet, die Platten systematisch geordnet. Nur keine Unordnung, schoss mir durch den Kopf. Schwesterchen Irene hatte wohl für Durcheinander gesorgt, aber trotz ihrer überall herumliegenden Sachen wirkte das Zimmer immer noch spartanisch aufgeräumt.

Vorerst suchte ich nicht weiter; schon der erste, flüchtige Rundblick hatte gezeigt, dass Sabine Kehlin nichts Privates oder Überflüssiges aufgehoben hatte. Je länger ich mich umschaute, desto mehr erinnerte mich die Wohnung an ein Hotelzimmer – vor dem Einzug des Gastes.

»Darf ich mal sehen, was Ihre Schwester in der Handtasche hatte?«

Auch das lohnte kaum die Mühe. Führerschein, Reparatur-Auftragsbestätigung einer Werkstatt ganz in der Nähe, Visitenkarten, drei schmale Schlüsselbunde, Notizblock mit goldenem Kugelschreiber, Personalausweis, Scheckkarte, Portemonnaie mit etwas über zweihundertachtzig Mark, ein Taschenflakon mit einem angenehm frischen Parfüm, Lippenstift, Taschentuch mit Monogramm – aus.

»Wissen Sie, was das für Schlüssel sind?«

Unsicher schüttelte sie den Kopf. »Der eine Bund ist fürs Auto, der andere passt auf Haus und Wohnungstür und der Rest – das nehme ich wenigstens an – sind Büroschlüssel. Oder auch vom Tennisclub.«

Brummend steckte ich alles zurück und inspizierte die anderen Zimmer; eine gründliche Suche schenkte ich mir. Wie schon festgestellt – die tote Sabine hatte immer das Beste und Teuerste gekauft, aber auch das Unpersönlichste. Über die Küche ärgerte ich mich geradezu: Perfekt eingerichtet, aber offenkundig selten oder nie benutzt. Eine Verschwendung! Die Krümel und Abfälle stammten – das brauchte sie mir gar nicht zu bestätigen – von Schwesterchen Irene: »Ja, ich habe die Küche benutzt.«

»Oft?«

»Naja, seit Mittwoch.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Als ich den Abschiedsbrief gelesen hatte, bin ich sofort losgefahren.«

»Hierhin? In diese Wohnung? Haben Sie die ganze Zeit über hier geschlafen?«

»Nein, nein – als ich ankam, war die Wohnung versiegelt, weil die Polizei sie noch untersuchen wollte. Aber sie hat nichts gefunden, und ich habe etwas gedrängelt. Da haben sie mich am Mittwoch einziehen lassen.«

»Konnten Sie’s im Hotel nicht mehr aushalten?«

»Doch, aber warum sollte ich?«

»Hm ...«

Mein Kopfschütteln quittierte sie mit der bissigen Bemerkung: »Ich fürchte mich nicht vor Gespenstern.«

»Wie Sie meinen.«

Das ärgerte sie, und prompt fuhr sie mich an: »Was wollen Sie am Kleiderschrank?«

»Mir die Sachen Ihrer Schwester ansehen.«

»Warum denn das?!«

Im Stillen zählte ich bis zehn, um mich zu beherrschen. »Liebe Frau Kehlin, ich muss Ihre Schwester sozusagen postum kennenlernen. Sehr genau sogar. Dazu gehören auch Sabines Kleider. Und ihre Wäsche. Welche Pille sie benutzte, ob sie schwitzte und wie sie sich im Bett benahm. Sollte sie an Verstopfung gelitten haben, wird mich das auch interessieren. Alles klar?«

Einen Augenblick lang dachte ich, sie beginne wie ein tödlich gereizter Tiger zu fauchen, doch dann presste sie die Lippen zusammen und beschränkte sich auf stummes Zuschauen.

Die Kleider beeindruckten mich nicht sehr. Alle sahen ungeheuer brav und bieder aus, mir geriet nichts Auffallendes oder Ausgefallenes zwischen die Finger. Wie ich mir schon gedacht hatte, stammten die meisten Sachen aus Geschäften, die als teuer galten. Dasselbe traf auch für die Wäsche zu, und die beiden einteiligen Badeanzüge waren zeitlos züchtig, ja, an dem spöttischen Blick Irenes merkte ich, dass sie wohl auch langweilig waren. – Mit Verstopfung hatte Sabine wohl nicht zu kämpfen gehabt, das Arzneischränkchen im Bad enthielt nur harmlose Schmerztabletten und ein allerdings starkes Schlafmittel.

»Hatte Ihre Schwester Probleme mit dem Einschlafen?«

»Nein, nur wenn das Wetter umschlägt. Sie war ziemlich wetterfühlig; das liege in unserer Familie.«

»Aha ... Nahm Sabine die Pille?«

»Ich habe keine gefunden. Wahrscheinlich nicht. Übrigens auch keine anderen – eh – Verhütungsmittel.«

Also kein ausgedehntes Liebesleben, na schön. Aber weil Irene rot geworden war, frotzelte ich: »Nett, eine Frau zu treffen, die noch erröten kann.« Sie pumpte sich gewaltig auf, und ich ließ sie schnell stehen.

Im Wohnzimmer stellte sie mich mit aggressivem Blick: »Wie geht’s nun weiter, Sherlock Holmes?«

»Heute Abend gar nicht. Morgen kommen Sie zu uns ins Büro, dann setzen wir einen Vertrag auf, und Sie unterschreiben mir einige Briefe – für die Hausverwaltung, die Ärzte, die Bank, Ihren Rechtsanwalt ... Naja, Sie bestätigen eben, dass Sie uns beauftragt haben, die Umstände von Sabines Selbstmord zu klären, und bitten die Leute, uns dabei zu helfen.«

»Gut.« Sie wurde sehr still, mir war es nur recht. Gedankenverloren nahm sie eine Zigarette, rauchte stumm, und erst als sie die Kippe ausdrückte, fragte sie unvermittelt:

»Was ist denn Ihr Eindruck von Sabine?«

»Auf die Gefahr hin, Sie zu beleidigen – Ihre Schwester scheint eine etwas langweilige, junge Frau gewesen zu sein.«

Nach einer Weile seufzte sie tief: »Ja, ich fürchte, Sie haben den richtigen Eindruck gewonnen.«

»Wie hat Ihr Vater den Tod seiner Tochter aufgenommen?«

Hilflos schaute sie ins Leere: »Es hat ihn furchtbar getroffen.«

»Wo ist er jetzt?«

»In Wiesbaden.«

»Ist er gleich wieder zurückgefahren?«

»Nein«, flüsterte sie erstickt, »nein ... Er war gar nicht auf der Beerdigung.«

»Wie bitte? Ist er so krank?«

»Nein, er wollte nicht nach Essen kommen. Weil sie selbst ... Weil die Polizei behauptet, sie habe Selbstmord begangen.«

»Und das tun anständige Leute nicht?«

Jetzt blieb sie stumm, und mir wurde manches an dieser nüchternen, unpersönlichen Wohnung verständlicher. Obwohl ich die Antwort schon ahnte, fragte ich: »Wie viele Leute haben an der Beerdigung teilgenommen?«

»Ich war allein.« Es sollte selbstbewusst klingen, geriet ihr aber zu einer kläglichen Entschuldigung – oder jämmerlichen Rechtfertigung. Nein, sentimental war die ganze Familie Kehlin nicht, eher das Gegenteil.

Ganz vorsichtig heizte ich ihr ein: »Sind Sie verlobt, Frau Kehlin?«

»Nein.«

»Haben Sie einen festen Freund?«

»Was geht Sie das an?«

»Im Prinzip gar nichts. Es ist nur Neugierde.«

Wieder böse, schnauzte sie mich an: »Wenn Sie’s genau wissen wollen – er ist seit zwei Monaten in Indonesien und dreht dort einen Film.«

»Hocken Sie abends vor dem Fernseher?«

»Nein!« Sie explodierte geradezu.

Ich hielt den Mund. Einen schwachen Punkt hatte ich also entdeckt – sie wollte nicht gern mit ihrer Schwester verglichen werden. Was, so überlegte ich müßig, nicht gerade für eine tiefe Seelenverwandtschaft sprach.

Sie verabschiedete mich sehr kurz, und als ich auf den Aufzug wartete, erhaschte ich einen nachdenklichen Blick, so als bereue sie bereits, dass sie mich angerufen hatte.


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