Читать книгу Krimi Doppelband 2211 - Alfred Bekker - Страница 7
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ОглавлениеAlfred Specht, mein väterlicher Freund und Kollege, brachte es auf den Punkt. »Ich habe nichts dagegen, wenn sie sich in Sizilien mit ihren Schrotflinten gegenseitig den Arsch wegschießen. Aber ich habe verdammt etwas dagegen, wenn sie hier bei uns ihre Vendetta austragen – ihre Blutrache!«
Doch das war wohl nicht zu vermeiden, denn die Verbindung der italienischen Familien, die in Deutschland lebten, zu ihrem Heimatland war nie abgebrochen. Und so war die 19-jährige Larissa Steiner, die Schwester von Werner Kockers Verlobter, mitten in eine Vendetta in Dortmund geraten.
Wir mussten nach Dortmund, um herauszufinden, ob der Anschlag auf das Konto von Rossario, dem Paten, ging. Und schon auf dem Weg ins Krankenhaus schwor ich mir, dass die Täter es bereuen würden, wenn Larissa es nicht überlebte …
Sie sah verloren aus in dem großen weißen Bett. Zierlich. Durchsichtig. Wenn sie die Augen öffnete, dann schienen die Pupillen schon in eine andere Welt gerichtet. Ob das eine Bessere war, konnte sie nicht sagen. Ihr Kiefer war an mehreren Stellen gebrochen. Mit einem straffen Kopfverband waren die Bruchstellen provisorisch geschient. Das eingefallene kindliche Gesicht hatte die Farbe des Verbandstoffes angenommen. Darin standen die schwarzen Augen wie Kohlen. Ausdruckslos.
Mehr war von ihr nicht zu sehen. Über alles andere hatte man gnädig ein Laken gebreitet.
Werner Kocker stand am Bettende. Früher war er Cheffeuerwerker der Berufsfeuerwehr gewesen, dann Polizeimeister im Ruhrrevier und heute BKA-Beamter im Team des Bundesbullen in Berlin. Wieder einmal mussten wir in Dortmund aufräumen, unserem früheren Wirkungskreis. Doch was mit Larissa passiert war, hatte keiner von uns gewollt.
Neben Kocker stand Susanne Steiner, seine Verlobte. Die große, brünette Frau, die im Steinkrug schon so manchen Kerl unter den Tisch getrunken hatte, schwankte. Ihr schönes Gesicht mit den sinnlichen, vollen Lippen war hart wie aus kaltem Marmor geschlagen. Ohne Kocker, der sie festhielt, wäre sie gefallen. Das 19-jährige sterbende Mädchen in dem großen Bett war ihre Schwester.
Ich schaute meinen Freund Kocker an. Vielleicht hätte ich irgendetwas sagen müssen, aber der gewaltige Kloß in meiner Kehle blockierte jedes Wort. Kockers eckige Schultern stachen noch schärfer unter dem Jackett hervor. Sein Rücken war leicht nach vorn gebogen. Er machte den runden Buckel der Leute, denen das Leben zu viel auferlegt hatte.
Kocker hasste Gewalt genauso wie den messerscharfen Trennstrich zwischen Gut und Böse. Er war ein Menschenfreund, wenn man so wollte. Für ihn war die Welt so lange nicht verloren, wie man nicht damit aufhörte, auch bei einem Massenmörder entschuldigende Momente für seine Wahnsinnstaten zu suchen.
Jetzt jedoch, im Angesicht eines sinnlosen Todes, den eine Verwandte traf, sah Kocker aus, als habe er den Glauben an das Gute im Menschen ganz tief und unwiederbringlich begraben.
»Mein Gott!«, flüsterte Susanne Steiner. Sie konnte den Anblick ihrer gequälten und misshandelten Schwester nicht länger ertragen und senkte den Blick auf das helle Linoleum des tristen Krankenzimmers. »Mein Gott!«
»Sie wird sterben, Peter«, sagte Kocker leise. »Ich will sie nicht anlügen. Sag du es ihr!«
Ich starrte ihn an.
»Verdammt!« Kockers Augen füllten sich mit Tränen. »Verdammt, Peter! Lass sie um Himmels willen nicht ohne Hoffnung sterben! Sag ihr, dass du die Kerle schnappst!«
Ich wusste absolut nicht, um was es ging, aber in Kockers Augen lag etwas Zwingendes.
»Wenn ich es sagte, würde ich sie anlügen, Peter. Mir sind die Hände gebunden. Aber du hast alle Möglichkeiten. Bitte, versprich es ihr!«
Mit steifen Schritten trat ich seitlich an das Bett heran. Jetzt hörte ich deutlich den rasselnden Atem des jungen Mädchens. Larissa Steiner bewegte sich nicht. Aber ihre dunklen Pupillen verfolgten meinen Weg zur rechten Bettseite.
Susanne Steiner schluchzte trocken. Werner Kocker packte sie bei den Schultern. Er schob sie zur Tür und dann in den Gang hinaus. Er schloss die Tür und trat wieder an das Fußende des Bettes.
Ich sah es nicht, ich hörte es. Ich konnte den Blick einfach nicht von dem schmalen Streifen Gesicht nehmen, das es zwischen dem Verbandsmull gab.
Und ich hatte den Eindruck, als würden Larissa Steiners Augen nun etwas größer und sehr viel mehr verzweifelter.
»Okay«, sagte ich rau, obgleich ich wusste, dass es Wahnsinn war. Der absolute Wahnsinn. »Diejenigen, die dir das angetan haben, werden es bereuen, Larissa.«
Die Pupillen bewegten sich. Vielleicht ein nicht steuerbarer Reflex, vielleicht aber, und das erschien mir beinahe als unmöglich, erkannte und verstand sie mich.
»Sie werden es bereuen. Das verspreche ich dir, Kleines!«
Die dunklen Augen schlossen sich. Ihr Atem ging schwerer und mit rasselnden Tönen einher, die tief aus ihrem zusammengequetschten Brustkasten kamen.
»Hast du mich verstanden, Kleines?«
Sie bewegte sich nicht. Das wäre bei ihren fürchterlichen Verletzungen, über die der Arzt mich aufgeklärt hatte, auch ein medizinisches Wunder gewesen. Aber ich bildete mir ein, dass sie mit dem beinahe völlig bandagierten Kopf nickte.
»Sicher hast du mich verstanden, Kleines. Sie werden es bereuen!«
Larissa Steiner, Susannes Schwester, reagierte nicht. Ihr Atem wurde flacher. Irgendwie ruhiger. Friedlicher vielleicht. Mein Gott, was bildet man sich alles ein, wenn man auf einen sterbenden jungen Menschen hinabschaut. Auf ein Mädchen voller Lebensfreude und Kraft, das man vor zwei Tagen noch im Arm gehalten hat, mit dem man gelacht hat, dessen warme Lebendigkeit man gespürt hat.
Vor zwei Tagen, im Steinkrug. Und der fette Steiner, ihr Vater, hatte sie vor mir gewarnt. Hatte mich einen verdammten Windhund genannt und sie angefleht, bloß nicht mit einem lausigen Polizisten nach Hause zu kommen wie Susanne, ihre Schwester. Zwei Tage war das her.
Ich küsste sie neben das linke Auge, richtete mich auf und starrte TNT Kocker an, der um das Bett herumging und die Klingel drückte.
»Der Arzt behauptete, sie habe keine Schmerzen und würde gar nicht wahrnehmen, was um sie herum passiert, Peter«, sagte Kocker dumpf. »Aber ich traue dem Arzt nicht.«
Über der Tür sprang die kleine Lampe an. Sie zeigte an, dass das Rufsignal in das Schwesternwachzimmer durchgegeben wurde.
Ich rieb mir mit dem Handrücken über die Augen, und meine Hand zitterte. »Ich weiß nichts, Werner«, sagte ich. »Absolut nichts. Da war dein Anruf, du hast gesagt, dass etwas Schreckliches mit Larissa geschehen ist, und du hast mich herbestellt. Das ist alles.«
Kockers Lippen wurden schmal. Seine überlangen Arme hingen kraftlos, als gehörten sie gar nicht zu ihm, an seinem Körper herab. Er wollte die Hand heben, ließ sie aber auf halben Weg mutlos wieder fallen. »Rossario«, sagte er dann dumpf. »Sie war in einer von Rossarios Kneipen. Es kam zu einem Zwischenfall und …«
Der Arzt kam zusammen mit zwei Schwestern. Bevor sich die Tür hinter dem Klinikpersonal schloss, war Susanne zu sehen, die gegenüber an der Wand lehnte und den Kopf hängen ließ. Genau wie Kocker verfolgte ich die Bewegungen des Arztes mit einem unbegründeten Misstrauen. Er war noch jung, vielleicht Anfang dreißig und hatte langes, dunkles Haar, das er sich immer wieder aus dem Gesicht wischen musste. Er zog die Lider von Larissas Augen zurück und leuchtete in die Pupillen. Eine Schwester gab die Werte von der Digitalanzeige verschiedener Apparate mit leiernder Stimme an. Hin und wieder nickte der Arzt. Eine Ewigkeit schien vergangen, als er sich wieder aufrichtete. Diesmal schleuderte er sich die langen Haare mit einer Seitwärtsbewegung des Kopfes aus dem Gesicht. Zum ersten Mal sah ich seine Augen. Sie waren dunkel und stumpf. Augen, die sich lange abgewöhnt hatten, das Innenleben widerzuspiegeln.
»Benachrichtigen Sie die Verwandtschaft, falls es noch nicht geschehen ist«, sagte der Arzt. Er zuckte mit den Schultern. Das war die gebräuchliche Geste, um Hilflosigkeit zu artikulieren. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass sie nichts spürt. Ich weiß nicht, welcher Konfession sie angehört, Herr Kocker. Wenn Sie wollen, können Sie einen Geistlichen aus dem Klinikum kommen lassen und …«
Kocker schüttelte den Kopf. Ich verließ das Zimmer und trat in den Gang hinaus. Susanne hob den Blick. Sie schaute mich an. Es war der Blick eines Verlorenen, der nach seinem Retter Ausschau hielt. Ich nahm sie in die Arme und streichelte ihre langen brünetten Haare.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte ich nach einer ganzen Weile.
»Werner sagt, Rossario …« Mitten im Satz brach sie ab. Ihr Körper wurde wie im Fieber geschüttelt. Aus den Worten wurde ein trockenes Schluchzen.
Kocker kam heraus. Er nahm mir Susanne ab.
»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte ich.
»Du hast alles getan«, sagte Kocker. »Danke!«
Ich hatte alles getan. Das drang erst jetzt so richtig in mein Bewusstsein. Kocker hatte mich gerufen, hatte mir gezeigt, was mittelbar mit Rossario in Verbindung stand, und mich dazu veranlasst, einer Sterbenden ein Versprechen zu geben. Bei jedem anderen hätte ich geglaubt, dass es Berechnung gewesen sei. Bei Kocker nicht. Er war nicht berechnend, er war emotional.
Ich folgte dem jungen schwarzhaarigen Arzt in sein Büro. Ich bekam eine Tasse Kaffee, und bis ich den ersten Schluck getrunken hatte, sagte der Arzt nichts. Matthias Müller hieß er. Das stand auf einem kleinen Plastikschild, das auf seinem Schreibtisch stand.
»Sie sind Polizist?«
»Ja.«
»Warum tun Menschen so was?«
»Ich bin Polizist. Um eine Antwort auf Ihre Frage zu bekommen, müssten Sie vielleicht einen Psychiater fragen oder einen Psychologen oder was anderes, was mit Psy beginnt. Ich weiß es, verdammt, nicht.«
»Eines ist ganz sicher«, sagte Dr. Müller. »Zum Schluss war es kein Unfall mehr.«
»Sie wissen mehr als ich.«
»Zuerst wurde sie angefahren«, sagte Dr. Müller. »Dann jedoch schien sie dem Fahrer oder irgendeinem Insassen des Wagens eine Gefahr. Sie haben den Wagen zurückgesetzt. Über das Mädchen hinweg. Zweimal …« Dr. Müller schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. »Es ist schwer zu verstehen. Eigentlich gar nicht. Ich begreife die Kollegen von der Seelenabteilung auch nicht, die irgendeinen tieferen, nicht steuerbaren Zwang in ein solches bestialisches Vorgehen interpretieren. Vielleicht sollte ich es nicht sagen, aber …«
Dr. Müller sagte es nicht. Ich wusste auch so, was er meinte. Und was das anging, so waren wir Brüder im Geist.