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Die Braut des Geisterpiraten
Оглавлениеvon Carol East
Es herrschte Windstille auf dem offenen Meer, und dennoch fegten Nebelfetzen vorbei, wie von unsichtbaren Verfolgern gejagt.
Sara Perres beobachtete sie verwirrt. Sie schüttelte ihr üppiges Blondhaar zurück, weil eine Strähne drohte, ihr ein wenig die Sicht zu nehmen, und blies die Wangen auf. Das sah ja gerade so aus, als würde es nicht mit rechten Dingen zugehen: Was trieb die Nebelfetzen eigentlich an? Und es wurden immer mehr. Dabei wuchsen sie heran, quirlten in sich, als hätten sie ein gespenstisches Eigenleben, veränderten ständig ihre Form.
Sara schaute nach rechts, von wo sie kamen, diese Nebelfetzen, die beinahe zu so etwas wie Nebelkreaturen geworden waren. Aber sie konnte zunächst nichts Bedeutsames erkennen. Irgendwo in der Ferne schien ihr Ursprung zu sein. So jedenfalls ihr erster Eindruck. Aber als sie länger in diese Richtung schaute, erkannte sie einen regelrechten Nebelberg, der allmählich aus dem Meer heranwuchs.
Auf einmal stockte ihr der Atem. Sie begann endlich zu begreifen: Nein, nicht die Nebelgebilde bewegten sich, sondern in Wahrheit... das Schiff, auf dem sie stand.
Ganz vorn befand sie sich, seitlich versetzt, so daß rechterhand von ihr die Spitze des Schiffes sich befand. Sagte man nicht Bug dazu? Und sagte man nicht Steuerbord anstatt rechts? Oder war das umgekehrt und war Steuerbord im Gegenteil links und jetzt müßte sie Backbord sagen?
Sara hatte keine Ahnung von der sogenannten christlichen Seefahrt. Dennoch wunderte sie sich vorerst keine Sekunde lang darüber, daß sie sich an Bord eines Schiffes befand, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie überhaupt hierhergelangen konnte. Sara hatte nur Augen für die Nebelgebilde und dann vor allem für ihren Ursprung.
Um erneut die Feststellung zu machen: Nein, nicht die Nebelgebilde bewegten sich, sondern eben... ihr Schiff. Es pflügte mit recht hoher Geschwindigkeit durch die beinahe brettebene See, die aufgrund der Windstille nur von eher unscheinbarem Wellengang geprägt war. Auch wuchs der Nebelberg nicht aus dem Meer hervor, wie zunächst angenommen, sondern er kam einfach nur näher, weshalb dieser Eindruck entstand. Und wenn nicht endlich mal jemand auf die Idee kam, das Schiff zu verlangsamen, stießen sie mitten hinein, ohne zu wissen, was sie innerhalb des Nebelberges erwartete. Eine Katastrophe könnte das für sie bedeuten.
Aufgeregt schaute sie nach links, um sich zu orientieren. Das war eine ziemlich große Segelyacht. Ihr Blick fiel auf das Steuerrad, zu dem man ihres Wissens nach Ruder sagte. Dort hätte jetzt jemand stehen müssen, um die Yacht zu lenken, aber der Platz am Ruder war leer.
Ihr Blick wanderte weiter hinauf. Sämtliche Segel fehlten. Die Masten und vielen Seile, die für Sara in einer geradezu verwirrenden Art und Weise angeordnet waren, ragten kahl in die Höhe. Segel hätten bei dieser Windstille ja auch gar nichts genutzt. Aber wenn das Schiff einen starken Motor hatte, der es auf eine solche Geschwindigkeit bringen konnte, hätte Sara ihn doch jetzt hören müssen, nicht wahr? Aber sie hörte überhaupt nichts, noch nicht einmal den Fahrtwind. Genauso wenig spürte sie ihn.
Sara wurde es ganz klamm um das Herz. Dieses unangenehme Gefühl breitete sich aus und nistete sich so stark in der Bauchgegend ein, dass ihr prompt übel wurde. Was, um alles in der Welt, ging hier vor? War sie denn allein auf dieser Yacht irgendwo auf hoher See? Und was war das für seltsamer Nebel?
"Hallo, ist da wer?" wollte sie rufen. Ja, wollte, denn kein Laut drang über ihre Lippen. Alles blieb so stumm, als habe sie ihr Gehör verloren.
Sie erschrak: Ja, das war eine Möglichkeit: Sie hörte deshalb nichts, weil ihre Ohren... Doch eines sprach dem entgegen: Sie konnte ja auch keinen Fahrtwind spüren, obwohl bei dieser Geschwindigkeit ein solcher obligatorisch gewesen wäre.
Rätsel über Rätsel, und sie versuchte noch einmal den Ruf: "Hallo, ist da wer?" Aber wo nichts zu hören war, gab es auch keine Antwort.
Ein Blick wieder voraus: Der Nebelberg war bereits bedrohlich nah. Sie wußte ja nicht, wie groß er in Wirklichkeit war, deshalb konnte sie auch nicht abschätzen, wie weit er noch weg war vom Schiff - oder umgekehrt: Wie weit das Schiff noch entfernt war von ihm. Vielleicht hatte sie ja doch noch eine Chance?
Sie setzte sich endlich in Bewegung und lief leichtfüßig hinüber zum Ruder. Dabei umschmeichelte das dünne Gewand ihren schlanken, hochgewachsenen Körper. Das machte sie stutzig, und noch bevor sie ihr Ziel erreicht hatte, schaute sie an sich herab:
"Mein Gott, ich habe ja ein Nachthemd an - und sonst nichts!" Im Nachhinein wußte sie nicht zu sagen, ob es ihr wirklich gelungen war, diese Worte laut auszusprechen. Kein Wunder, denn es beschäftigte sie vielmehr der Inhalt dieser Aussage: Der war für sie nämlich in doppelter Hinsicht ungewöhnlich, denn sie haßte Nachthemden seit ihrer frühesten Kindheit und außerdem... im Nachthemd mitten auf einem ihr unbekannten Meer und auf einem noch unbekannteren Schiff? Wie passte denn das überhaupt zusammen?
Sie erreichte das Ruder und griff in die Speichen. Zwar rückte in ihr jetzt endlich doch noch die Frage in den Vordergrund, was sie überhaupt hier sollte, aber wichtiger blieb zunächst, die Hochseeyacht auf einen anderen Kurs zu bringen, an dem drohenden Nebelberg vorbei. Sie war sich jetzt nämlich hundertprozentig sicher, dass der Nebelberg eine Insel verbarg, und sie würde mit der Yacht in voller Geschwindigkeit dort auflaufen. Das würde nicht nur die Yacht zerstören, sondern diesen Aufprall konnte sie unmöglich überleben.
Sie drehte das Ruder, jetzt voller Panik. Egal, ob rechts und links Steuerbord oder Backbord hießen, sie wollte ganz einfach nur die Yacht an der Insel vorbeilenken.
Und tatsächlich, ihre Bemühungen versprachen Erfolg. Zwar wendete sich der Bug des Schiffes nur geringfügig vom Zentrum des Nebelberges ab, driftete dann auch noch ein zusätzliches Stückchen weiter nach rechts, doch im gleichen Maße wuchs der Nebelberg mächtig heran. Wenn er die Größe eines echten Berges hatte, war die Entfernung höchstens noch zwei- bis dreihundert Meter. Dafür war die Richtungskorrektur zu geringfügig. Die Geschwindigkeit des Schiffes war einfach zu hoch.
Die ersten Schweißperlen erschienen auf Saras Stirn. Nicht nur von der Anstrengung herrührend, sondern vor allem der Angst. Diese war ja durchaus begründet. Wenn sie es nicht doch noch schaffte, war sie rettungslos verloren. Dabei war es zunächst einmal wahrlich gleichgültig, wieso sie sich allein auf einer so großen Yacht befand.
Wie verrückt drehte sie am Ruder. Schon stach es bedrohlich in ihrer Lunge, doch es ging um Leben und Tod, da durfte sie sich nicht einen Sekundenbruchteil der Schwäche gönnen.
Sie drehte und drehte - und tatsächlich, das Schiff schwenkte jetzt rascher nach rechts, obwohl sie den Eindruck hatte, als würde es dabei gleichzeitig noch schneller werden - immer noch von keinem Wind und auch von keinem Motor getrieben. Als wäre es der Nebelberg selber, der es wie an unsichtbaren Fäden herbeizog.
Jetzt spürte sie plötzlich einen deutlichen Widerstand beim Drehen des Ruders, als wollte eine unsichtbare Macht verhindern, dass ihr Vorhaben gelang und das Schiff an dem Nebelberg vorbeisauste.
Überhaupt wunderte sie sich in ihrem tiefsten Innern, dass sie die ganze Zeit über drehte, wobei dies völlig unsinnig erschien: Normalerweise konnte man ihres Wissens nach ein Ruder nur bis zum Anschlag bewegen. Das genügte dann auch, um ein Manöver einzuleiten. Aber was war hier, in ihrer Situation, schon normal?
Inzwischen gelang es ihr trotz des immer stärker werdenden Widerstandes, das Boot tatsächlich mit dem Bug an dem Nebelberg vorbeizulenken. Und dann war dieser auch schon heran. Die Yacht fetzte durch die äußeren Nebelschleier, die wie Geisterhände nach ihr zu greifen schienen, bewegte sich weiter - und wurde im nächsten Moment seitlich angesaugt, um von einem Augenblick zum anderen in dem wallenden und undurchdringlich erscheinenden Nebel zu versinken.
"Es gibt keine Aussicht auf Flucht!" sagte in diesem Moment jemand deutlich hinter ihr.
Sara fuhr mit einem Aufschrei herum: Ja, sie hörte nicht nur die Stimme, sondern auch ihren eigenen Aufschrei: Niels Orsted, ihr Freund, stand unmittelbar hinter ihr. Er hielt die Augen geschlossen. Sein Gesicht war bleich, aber entspannt, als würde er schlafen. Noch einmal murmelte er: "Es gibt keine Aussicht auf Flucht..." Es klang, als würde er im Schlaf fantasieren. Und dann fügte er hinzu: "...wenn der Geisterpirat dich ruft!"
Und dann verschwand alles um sie herum und machte Platz... ihrem Schlafzimmer!
Sara saß aufrecht und in Schweiß gebadet in ihrem Bett. Ihr Blick hetzte hin und her. Das Fenster stand offen, und der pralle Vollmond schickte sein Licht ungehindert herein. So konnte sie alle Details recht gut erkennen: Ja, tatsächlich, es handelte sich zweifelsfrei um ihr Schlafzimmer.
"So ein doofer Traum!" meinte sie kopfschüttelnd: "Ich und auf einer solchen Hochseeyacht? Wie sollte ich jemals zu einer Seefahrt auf einer solchen Luxusyacht kommen, was mich sowieso noch nie interessiert hat? Und dann auch noch im Nachthemd?" Sie schüttelte abermals den Kopf und schaltete das Licht ein, um damit die Angst zu vertreiben, die immer noch in ihr hockte, obwohl ihr in Wirklichkeit nicht die geringste Gefahr drohte - niemals drohen würde, wie sie in diesem Moment noch fest glauben wollte.
*
Trotz des Traumes konnte sie später wieder ruhig weiterschlafen. Aber als sie erwachte, konnte sie sich an jedes noch so winzige Detail erinnern. Sehr ungewöhlich für einen Traum. Nicht nur, dass er so realistisch erschienen war, jetzt diese lückenlose Erinnerung? Das hatte sie noch nie zuvor erlebt. Für gewöhnlich wußte sie gar nicht, ob sie überhaupt nachts träumte. Immer dann, wenn ihr Freund Niels Orsted ihr von seinen eigenen Träumen erzählte, zog er sie damit auf, weil sie überhaupt nichts dergleichen zu erzählen wußte.
Diesmal war alles völlig anders.
"Als wäre es überhaupt kein echter Traum gewesen", sinnierte sie laut und erschrak über ihre eigene Stimme, als sie das Bad ihres winzigen Apartments betrat. Dabei wurde ihr wieder einmal bewußt, wie oft schon Niels ihr vorgeschlagen hatte, daß sie zusammenzogen. Sie zu ihm, das schloß sie sowieso kategorisch aus, weil er immer noch im Haus seiner Eltern wohnte. Das konnte sie nicht leiden, obwohl sie nichts in dieser Hinsicht sagte, um des lieben Friedens willen. Er zu ihr scheiterte allein schon am mangelnden Platzangebot. Also bliebe noch eine gemeinsame Wohnung sozusagen auf neutralem Boden. Aber aus einem Grund, den Sara gar nicht näher benennen konnte, scheute sie vor diesem Schritt zurück. Sie hatte den Verdacht, es müßte mit ihrer letzten Beziehung zusammenhängen. Diese war ein einziges Desaster gewesen, und sie hatte verzweifelt nach einem Ausweg suchen müssen. Ihre viel zu kleine Wohnung hier, das war der Ausweg gewesen, um nicht zu sagen: der Fluchtweg. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich nicht im Geringsten leisten können, etwa wählerisch zu sein. Dennoch waren ihr die eigenen vier Wände inzwischen irgendwie ans Herz gewachsen. Sie fühlte sich sehr wohl in dieser Enge, die eben nicht nur beengte, sondern gleichermaßen Geborgenheit versprach. Die Wände waren schallisoliert, so daß sie kaum etwas von den Nachbarn mitbekam. Zwar bedeutete das eine gewisse Anonymität, aber sie hätte lügen müssen, um darin einen Nachteil zu sehen. Sie hatte jedenfalls auf Dauer ihr Ruhe.
Niels sah alles dies naturgemäß anders und hatte bereits ungezählte Vorschläge gemacht, was das Zusammenziehen betraf. Sara hatte gottlob bis jetzt immer eine glückliche Ausrede gefunden. Lange jedoch, so fürchtete sie inzwischen, würde sie ihn nicht mehr hinhalten können. Dann mußte sie sozusagen Farbe bekennen und ihm ganz konkret mitteilen, daß sie ein Zusammenziehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt eben noch nicht wünschte. Ganz klar, dass er das niemals verstehen würde. Sicherlich würde er alles andere als positiv reagieren in seinem Unverständnis. Darauf war Sara gefaßt, deshalb wagte sie es ja auch nicht, ihm sobald die Wahrheit zu sagen.
Alle diese Gedanken gingen ihr blitzartig durch den Kopf, wie fast jeden Morgen, wenn sie das Bad betrat. Das war sogar stärker als die Erinnerung an das nachts Erlebte, bei dem sie sich weigerte, es einfach nur als dummen Traum abzutun. Doch dadurch provozierte sie erneut die zentrale Frage: Wenn kein Traum - was war es dann gewesen?
"Geisterpirat?" fiel ihr ein Wort ein. Niels hatte es benutzt. Noch nie im Leben zuvor hatte sie es gehört. Da war sie ziemlich sicher, weil sie grundsätzlich keine gruseligen Geschichten mochte - und welche, in denen etwa Geisterpiraten eine Rolle spielten, erst recht nicht.
"Und überhaupt: Wie sollte ich auf so eine teure Yacht kommen?" Zwar waren die Eltern von Niels als erfolgreiche Geschäftsleute einigermaßen betucht, aber das würde sogar deren Möglichkeiten überschreiten. Zumal Niels noch niemals zuvor erwähnt hatte, daß seine Eltern überhaupt an Seefahrt interessiert waren. Wenn sie es recht bedachte, hatte auch Niels selber genauso wenig Interesse daran wie sie, Sara.
Abermals schüttelte sie den Kopf und erledigte endlich ihre Morgenroutine, obwohl sie die Gedanken an das nächtliche Erlebnis dabei leider nicht abstellen konnte.
Am Ende sah sie sich vor dem großen Spiegel in der winzigen Ecke, die sie Flurgarderobe nannte, was nichts anderes war als der schmale Bereich unmittelbar hinter der Eingangstür. Wenn man die Tür öffnete, war der Bereich praktisch verschwunden - und wenn man wirklich Garderobe hinhängte, konnte man letztlich die Tür gar nicht mehr öffnen.
Aber wenigstens für den großen Spiegel hatte sie ein Plätzchen gefunden. Sie drehte sich davor und war mit ihrem Outfit halbwegs zufrieden. Heute war ihr letzter Bürotag. Morgen begann der Urlaub. Die Semesterferien von Niels, der Geschichte studierte, hatten bereits begonnen. Ursprünglich hatten sie hinunter ins sonnige Kalifornien fliegen wollen, aber nach erfolgtem Kassensturz hatte Sara ablehnen müssen. Gut, Niels, mit seinen Eltern im Hintergrund, hätte sie finanziell unterstüzen können, aber das war etwas, was ihr noch mehr gegen den Strich ging als eine gemeinsame Wohnung. Sicherlich war es der Wunsch nach einer gewissen Unabhängigkeit von ihrem Freund, der sie zu ihrer ablehnenden Haltung bewog. Schuld daran war eindeutig ihr Exfreund. Dem hatte sie sich leichtsinnigerweise regelrecht ausgeliefert, und das hatte sie später bitter bereuen müssen.
Gewaltsam verdrängte sie die Erinnerung an all die unerfreulichen Dinge, die sie damals hatte über sich ergehen lassen müssen, und konzentrierte sich wieder auf Niels: Er mußte es einfach einsehen, daß sie ein gebranntes Kind und deshalb vielleicht übervorsichtig war. Wenn sie sich mal lange genug kannten und sie endlich auch gefühlsmäßig begriffen hatte, daß Niels ein völlig anderer Mensch war als ihr Exfreund... Ja, dann sah sicher alles ganz anders aus.
"Oder ich habe bis dahin Niels für immer vergrault!" sagte sie plötzlich skeptisch. Sie schürzte die Lippen und streckte ihrem Spiegelbild kurz die Zunge heraus. Nicht gerade damenhaft zwar, aber es amüsierte sie so sehr, dass sie darüber sogar vorübergehend das nächtliche Erlebnis vergaß.
Wesentlich besser gelaunt als noch vor einer Minute verließ sie ihr Apartment und ging zum Fahrstuhl. Fast hätte sie ihn erreicht, als sich die Tür öffnete und ein abgehetzt wirkender junger Mann ihn verließ: Niels Orsted, ihr Freund.
Überrascht blieb Sara stehen. Was machte denn Niels um diese Zeit hier bei ihr? Das war doch überhaupt nicht verabredet gewesen? Und wieso hatte er vorher nicht angerufen?
"Uff!" machte er. "Bin ich froh, daß ich dich noch erwischt habe."
"So?" machte sie mißtrauisch. "Und dein Telefon hast du so geschickt verlegt, daß es unauffindbar ist oder wie?"
Er schaute sie verduzt an. Dann winkte er lachend ab. "Ach was, ich habe dich deshalb nicht angerufen, weil ich unbedingt persönlich mit dir reden muss."
Ihr Mißtrauen blieb. "Was ist denn so wichtig, daß du persönlich hier erscheinst - und gleichzeitig so unwichtig, daß du es nicht schon längst per Telefon gesagt hast?"
Er schielte zu ihrer Wohnung hinüber. "Äh, könnten wir nicht kurz...?"
"Nein, ich habe es eilig. Bin sowieso schon reichlich spät dran. Bei dem Betrieb dauert es eine Ewigkeit, bis ich im Büro bin, und heute ist mein letzter Tag vor dem Urlaub. Soll ich denn zu spät kommen?"
"Ich fahre dich mit dem Auto."
"Na, toll, noch schlimmer: Meinst du, nur die S-Bahn ist überfüllt? Die Straße etwa nicht?"
"Immerhin bin ich rechtzeitig bis hierher zu dir gekommen", versuchte er einzuwenden. Das Lachen, das er dabei auch noch versuchte, ging kläglich schief, denn er erkannte das Mißtrauen von Sara und konnte das nicht verstehen. "Was ist denn eigentlich los mit dir, Sara? Ich bin's, dein Freund Niels Orsted! Der Mann, den du liebst und der seinerseits auch dich liebt. Schon vergessen? Du schaust ja gerade so, als sei ich dein Todfeind, von dem du das Schlimmste befürchten mußt."
Jetzt wurde es Sara selber klar, und sie mußte lachen. "Also gut, komm mit herein, aber fasse dich bitte superkurz. Du weißt ja nun warum."
"Tu ich: So kurz wie es eben geht!" versprach er hoch und heilig und hob dabei die Rechte wie zum Schwur.
Sara sperrte eilig auf und schlüpfte in ihre Wohnung. Niels folgte ihr dichtauf. Sie ging in der Wohnung unwillkürlich auf Distanz und wich sogar beinahe seinem Begrüßungskuß aus. Was war denn eigentlich los mit ihr? Das fragte sie sich inzwischens selber. Wieso verhielt sie sich mißtrauisch und abweisend gegenüber ihrem Freund? Gestern abend war doch noch alles in Ordnung gewesen zwischen ihnen beiden.
Der Traum! erkannte sie plötzlich. Falls es überhaupt ein Traum war und nichts anderes: Jedenfalls sah sie unwillkürlich das bleiche Gesicht ihres Freundes, als er die Worte mit dem Geisterpiraten von sich gegeben hatte, wie ein Schlafwandler. Ein Bild, das sich jedesmal über den Anblick des realen Niels Orsted schob und sie zurückschrecken ließ.
"Also, ganz kurz: Als ich heute morgen mit meinen Eltern frühstückte, kam der Anruf. Du weißt doch, sie wollten ebenfalls Urlaub machen..."
"Ja, wollten sie?" unterbrach ihn Sara, weil sie sich nicht erinnern konnte. Hatten sie überhaupt darüber gesprochen oder hatte es sie ganz einfach nicht interessiert?
"Na, jedenfalls, sie können nicht. Beziehungsweise, Vater kann nicht, aus geschäftlichen Gründen. Und Mutter will jetzt natürlich nicht ohne ihn... Sag mal, Sara, hörst du mir überhaupt zu? Ich denke, ich soll mich kurz fassen?"
"Na, dann tu es auch!" entgegnete sie schärfer als beabsichtigt.
"Also gut, Sara: Vater hat mich gefragt, ob wir beide denn nicht einspringen könnten."
"Einspringen? Wobei?" wunderte sich Sara ehrlich.
"Na, es geht doch um einen wichtigen Geschäftspartner. Der hat sie eingeladen, und wenn Vater ihm jetzt einen Korb gibt, wo doch alles für morgen schon vorbereitet ist... Das würde ihm geschäftlich mit Sicherheit gewaltig schaden. Es ist sowieso schon eine besondere Ehre, daß er meine Eltern überhaupt..."
"Wovon, um alles in der Welt, redest du eigentlich die ganze Zeit?" regte sich Sara auf und schielte zur Wanduhr. Also, wenn sie sich jetzt nicht endlich auf den Weg machte, war ihr ein Donnerwetter vom Chef gewiß, und sie würde in echte Erklärungsnot geraten.
"Ich rede von dem Segeltörn oder wie das heißt!" rief Niels Orsted aus. "Habe ich dir gar nicht davon erzählt, dass dieser Geschäftsfreund eine Hochseeyacht der Superlativen besitzt, so richtig mit eigener Besatzung und so, weil er ja selber wenig Ahnung hat vom Führen eines solchen Schiffes? Was ist denn jetzt wieder los mit dir, Sara?" Er wirkte erschrocken, und das nicht ohne Grund, denn Sara hatte bei seinen Ausführungen plötzlich das Gefühl bekommen, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Der Traum, der möglicherweise mehr war als das - und jetzt diese Eröffnung von Niels? Sollten sie etwa...? "Du meinst, wir beide sollen jetzt anstelle deiner Eltern...?"
"Ja, das hat nir Vater vorgeschlagen - und wir würden ihm damit auch noch einen riesigen Gefallen tun, glaube mir! Oh, ich weiß, du bist nicht so für Segeltörns oder ähnliches, ich ja selber nicht. Aber in diesem speziellen Fall... würden wir uns sozusagen zu Gunsten von Vater opfern. Ein Opfer, das es sicherlich wert wäre. Wir müssen ja nicht groß die sieben Weltmeere besegeln, sondern suchen uns irgendwo ein schönes Plätzchen in einem Yachthafen und machen das Beste daraus. Na, was hältst du davon?"
Er hatte wie ein Wasserfall geredet, als müsste er besonders schnell alles loswerden, ehe Sara auf die Idee kam, etwa ihm zu widersprechen. Das hatte Sara jedoch regelrecht schwindlig gemacht, und die letzten Worte bekam sie schon gar nicht mehr mit, denn sie stürzte haltlos zu Boden, ehe es Niels verhindern konnte.
"Um Gottes Willen!" stammelte er und beugte sich über sie. Aber da kam sie auch schon wieder zu sich.
Sie blinzelte verwirrt, und dann bat sie ihn inständig: "Bitte, sag, daß dies alles nur ein blöder Scherz ist und niemals dein Ernst sein kann!"
*
Niels half seiner Freundin auf die Beine. Sie nahm seine Hilfe dankbar an.
"Wieso?" machte er und schüttelte den Kopf.
"Ein blöder Scherz, nichts weiter!" ermunterte sie ihn.
"Aber ganz und gar nicht", protestierte Niels verdattert. "Es ist so, wie ich sagte: Wir tun Vater einen riesigen Gefallen und müssen ja nicht wirklich weit hinaussegeln und so..."
"Also doch!" sagte Sara entmutigt. "Da kommst du daher gerauscht mit einer solchen Eröffnung. Und was ist mit Bedenkzeit und so? Gleich morgen oder habe ich mich verhört?"
"Ja, gleich morgen, aber du hast doch ab dann sowieso Urlaub, und ich..."
"Nein, ohne mich, Niels. Also, wirklich! Das ist nichts für mich. Ich und auf einer teuren Luxusyacht, was ich mir sowieso nie leisten könnte?"
"Aber gerade deshalb wird es uns besonders Spaß machen oder meinst du, ich könnte mir das normalerweise leisten? Und meine Eltern auch nicht. Dieser Geschäftspartner ist so etwas von reich. Wenn Vater dem erzählt, daß nichts daraus wird, ist er bei dem untendurch. Das verzeiht Vater mir nie."
"Ja, sage einmal, bist du denn der Notnagel für deine Eltern oder was?" Sie winkte mit beiden Händen ab. "Ach, egal, wie auch immer: Das ist deine Sache. Anscheinend hast du schon zugesagt. Also mußt du die Suppe auch allein auslöffeln, die du dir eingebrockt hast. Ich jedenfalls setze keinen Fuß auf irgendein Schiff und insbesondere nicht auf eine Hochseeyacht der Luxusklasse." Sie schaute ihren Freund an und sah deutlich sein bleiches Gesicht aus dem Traum. Geisterpirat? Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre blonde Mähne flog, und bekräftigte noch einmal: "Ohne mich!" Dann drängte sie sich an ihm vorbei hinaus. "Wenn du mir jetzt endlich gestatten würdest, ins Büro zu gehen? Ist zwar sowieso zu spät, aber übertreiben muss ich es ja nun doch nicht. Gottlob komme ich nur selten später und bin ansonsten meistens eine der ersten. Vielleicht hat mein Chef ein Einsehen und ist nicht allzu erbost..."
Er ging nicht von allein. Erst als Sara ihn hinauszerrte. Und auch da gehorchte er nur widerwillig.
"Dein letztes Wort?" fragte er brüchig.
"Genau!" Sie hauchte ihm ein flüchtiges Küßchen auf die Wange und eilte zum Fahrstuhl, der seltsamerweise immer noch offenstand. Glück gehabt, dachte sie, als sie sich hineinstellte und wartete, bis sich die Tür schloss.
Niels blieb draußen. Er stand vor der verschlossenen Tür ihrer Wohnung wie ein begossener Pudel. Beinahe tat er Sara leid, aber nur beinahe, denn sie mußte wieder an das nächtliche Erlebnis denken und an... den Geisterpiraten! Nein, was immer das zu bedeuten hatte, sie wollte gar nicht wissen, was dahintersteckte. Ganz im Gegenteil: Sie wollte dies alles möglichst schnell wieder vergessen und zwar total. Selbst wenn sie den ganzen Urlaub über auf Niels verzichten mußte, der dann ohne sie auf See schipperte.
Als sie unten aus dem Fahrstuhl stieg, um zur Haustür zu laufen, kamen ihr plötzlich doch noch Bedenken: Wenn Niels wirklich ohne sie die Yacht benutzte... Was würde mit ihm geschehen? Dann war sie zwar in Sicherheit, aber was war mit Niels? Konnte sie denn einfach so tun, als sei das heute nacht gar nicht passiert und würde es keine wirkliche Gefahr geben, weder für sie noch für Niels? Aber wenn es keine Gefahr gab, wieso weigerte sie sich dann überhaupt, mitzureisen?
Diese Fragen verwirrten sie zutiefst. Beinahe wäre sie beim Hinauslaufen gestolpert, weil sie die niedrige Stufe vor dem Eingang vergessen hatte. Gerade noch konnte sie ihren Sturz verhindern und taumelte weiter.
"Hoppla!" machte ein älterer Herr, der zufällig vorbeikam, amüsiert. "So früh und schon so stürmisch? Nur weiter so, meine Arme sind für jede Schönheit offen."
Sara mußte über die Bemerkung lachen. "Entschuldigen Sie, aber ich bin nur gestolpert."
"Ach - und ich dachte schon, es sei meinetwegen. So eine Enttäuschung aber auch!" Sein Lachen strafte diese Worte Lügen.
"Noch einen schönen Tag!" wünschte Sara gespielt fröhlich und beeilte sich, in Richtung S-Bahn-Station davonzulaufen.
"Ihnen auch - und nicht wieder stolpern", rief er ihr hinterher. "Es wäre doch schade um die hübschen Beine, die Sie sich dabei brechen könnten."
Schon war der Abstand groß genug. Weitere Worte konnte sie nicht mehr verstehen. Sara begann jetzt sogar zu rennen. Das war auch nötig. Normalerweise haßte sie es, zur Bahn zu hetzen, und ging lieber eine Viertelstunde zu früh aus dem Haus, aber heute morgen schien alles schiefzugehen - und das nur, weil Niels mit diesem unmöglichen Vorschlag gekommen war.
Unmöglicher Vorschlag? Wie hätte sie denn eigentlich reagiert - ohne diesen Traum letzte Nacht?
Beinahe wäre sie erschrocken stehengeblieben. Im letzten Augenblick besann sie sich und verringerte ihr Tempo nur geringfügig. Das war auch gut so, denn in der Nähe der S-Bahn-Station begann schon gleich das Gedränge. Noch ein paar Meter, dann konnte sie es endgültig vergessen, sich zu beeilen. Gerade jetzt begann der Hauptbetrieb. Sie mußte sogar noch Glück haben, um einen Stehplatz in der S-Bahn zu ergattern. Vielleicht hätte sie doch besser den Vorschlag ihres Freundes angenommen und hätte mit ihm das Auto benutzt? Aber wenn sie auf die Straße schaute, sah es dort eher schlimmer aus als vor dem Eingang zur S-Bahn. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als endlich zu akzeptieren, daß sie an ihrem letzten Tag vor dem Urlaub hoffnungslos zu spät in das Büro kam.
Da fiel ihr etwas ein: Wenn sie jetzt vielleicht bei ihrem Chef anrief und sich entschuldigte? Dann wurde es sicher nicht ganz so schlimm. Sie kramte im Weitergehen in ihrer Handtasche. Drinnen war doch irgendwo ihr Telefon...? Nein, war es nicht! Sie konzentrierte sich kurz. Ja, genau, sie hatte es gestern Abend an das Kabel gehängt, um den Akku aufzuladen - und dort hing es immer noch.
"Mist!" entfuhr es ihr. Eine ältere Dame schaute sie dabei erschrocken an. Sara ignorierte sie und bahnte sich einen Weg weiter durch das Gedränge, bis zu ihrer S-Bahn. Zwar fand sie dort nach kurzer Wartezeit einen Stehplatz, aber nur, weil sie dabei ihre Platzangst unterdrückte. Wäre sie früher gefahren, wie jeden Morgen und auch wie für heute geplant, wäre alles nur halb so schlimm gewesen. Jetzt kam sie nicht nur zu spät, sondern mußte auch noch das Martyrium durch dieses Gedränge ertragen. Wieviel freier war man da doch auf einem Schiff, draußen auf dem Meer... Das mußte sie unwillkürlich denken, obwohl gleichzeitig wieder dieses Wort in ihr auftauchte: Geisterpirat! Klang das nicht schrecklich? Und sie sah vor ihrem geistigen Auge das bleiche Gesicht von Niels Orsted, der vor sich hin murmelte, es gäbe kein Entrinnen oder so.
Niels Orsted?
Ihre hübschen, schmalen Augenbrauen verengten sich plötzlich: War das wirklich Niels, ihr Freund, gewesen? Sie sah das bleiche Gesicht jetzt so deutlich, als würde es sich direkt vor ihr befinden. Im Traum hatte es die Augen geschlossen gehalten. Jetzt öffnete es die Augen auf einmal - und sie erkannte, dass es nicht die Augen ihres Freundes waren. Ja, es gab zweifelsohne eine starke Ähnlichkeit, aber das war nie und nimmer ihr Freund Niels.
Und jetzt wußte sie auch, wieso ihr die Stimme gleich so seltsam vorgekommen war: Weil es eben nicht die Stimme von Niels gewesen war! Aber wieso hatte sie diesen Fremden überhaupt mit Niels verwechseln können? Wie war das denn nur möglich? Sie schloß ihre Augen und sah dennoch das Gesicht des Fremden vor sich. Diese Nähe. Diese Vertrautheit - irgendwie... Als würde sie ihn kennen, in- und auswendig, wie ihren Freund. Dasselbe Gefühl beinahe. Sie liebte Niels, auch wenn es ihr noch davor graute, mit ihm zusammenzuziehen. Das hatte nichts mit ihren tiefen Gefühlen für ihn zu tun. Aber dieser Fremde? Wie kam sie dazu, für ihn etwas zu empfinden, wo sie ihn doch noch niemals zuvor gesehen hatte - und jetzt auch nur in diesem gruseligen Traum? Das Gedränge, der Lärm, das Rütteln des Waggons... Alles glitt von ihr zurück. Nur noch dieses Gesicht blieb, mit den offenen Augen, die sie unendlich traurig musterten. "Es gibt keine Aussicht auf Flucht...", sagte er, und diese unendliche Trauer schwang auch in seiner Stimme mit. Jedes seiner Worte klang gepreßt, als würde es ihn unermeßlich viel Mühe bereiten, "...wenn der Geisterpirat dich ruft!"
Schlagartig war das Gesicht weg und das Gedränge, der Gestank und der Lärm wieder da. Es traf sie wie der sprichwörtliche Keulenschlag. Sie wäre jetzt zu Boden gestürzt, aber die Umstehenden standen so dicht zu ihr, daß allein dies es verhinderte. Gottlob schaute sie jetzt niemand an. Jeder tat so, als wären die anderen gar nicht da. Eine typische Situation, die eigentlich jedem unangenehm war, so dicht gedrängt stehend mit all den wildfremden Menschen darum herum.
Selten zuvor war sie so froh gewesen über diese Anonymität in der Menge, denn wenn sie jetzt jemand angesprochen hätte, Sara wußte nicht, wie sie das noch hätte verkraften können. Der Boden schwankte unter ihr, nicht nur wegen der rasanten Fahrt. Sie hoffte inbrünstig, daß sie sich von diesem Schwächeanfall erholt hatte, wenn der Zug stoppte und sie aussteigen mußte. Das waren nur ein paar Minuten noch, und diese vergingen im wahrsten Sinne des Wortes wie im Flug.
Am Ende hatte sie gar keine andere Wahl, als den Waggon zu verlassen: Sie wurde von dem Gedränge einfach mitgespült. Erst draußen kam sie halbwegs zu sich. Sie mußte sich mühsam orientieren, um zu erkennen, in welche Richtung sie weiterzugehen hatte, obwohl sie doch diesen Weg jeden Morgen ging.
Wie betäubt taumelte sie über den Bahnsteig, hoffend, daß es die richtige Richtung war.
"Wie, Herr im Himmel, soll ich diesen Tag überhaupt überstehen?" fragte sie sich unterwegs und hatte dabei keine Ahnung, ob sie das nur gedacht oder laut ausgesprochen hatte.
*
Ähnliches fragte sich Sara auch, als dieser Arbeitstag für sie zuende war: "Wie ist es mir überhaupt gelungen, diesen Tag bis jetzt zu überstehen?" Sie konnte sich kaum noch erinnern, vor allem nicht an Einzelheiten. Wie in Trance hatte sie ihre Arbeit erledigt. Das einzige, was in ihrem Gedächtnis haften geblieben war, neben den diversen Anrufen von Niels, war die Unterredung mit ihrem Chef. Gott, sie hatte das Schlimmste befürchtet. Wahrscheinlich deshalb, weil sie selber es besonders haßte, wenn jemand zu spät kam. Sie hatte schon geglaubt, weil sie sich das selbst nicht verzeihen wollte, würde ihr Chef zwangsläufig genauso denken. Deshalb war sie schnurstracks erst zu ihm gegangen, um sich zu entschuldigen.
Ihr Chef hatte sie ganz verdattert angesehen und dann auf die Uhr geschaut. Dann hatte er gesagt: "Tatsächlich, Sie sind später dran als sonst, Sara. Wäre mir gar nicht aufgefallen." Er überlegte kurz, dann beeilte er sich zu versichern: "Äh, nicht daß Sie das jetzt falsch verstehen, Sara, ich habe Sie nicht deshalb nicht vermißt, weil sie im Team unwichtig sind, sondern einfach, weil ich bei Ihnen weiß, daß ich nicht auf die Uhr zu schauen braiche. Sie sind stets überpünktlich... Ach was, wenn ich alle Minuten zusammenrechne, die Sie schon zu früh gekommen sind, müßte ich Ihnen dafür sogar Urlaub geben. Also, wenn es Ihnen nichts ausmacht: Wir verrechnen das einfach miteinander, einverstanden?" Er hatte gelacht wie über einen besonders gelungen Scherz, und sie hatte überhaupt nicht gewußt, wie sie sich verhalten sollte.
Ganz verlegen war sie dann an ihren Schreibtisch gegangen, und er hatte sich auch noch im Nachhinein über ihre Bedenken amüsiert. Das hatte er anfangs der Mittagspause sogar noch einmal angesprochen: "Sara, daß Sie mir ja nicht zu spät aus der Pause kommen!"
Weil sie erschrocken reagierte, entschuldigte er sich bei ihr für den Scherz und meinte: "Ehrlich, Sara, bei Ihrer sprichwörtlichen Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sollten Sie eigentlich Feierabend machen und auf den Rest des Arbeitstages verzichten. Schließlich haben Sie ab morgen Urlaub. Na, was halten sie denn davon?"
Sie druckste erst herum, ehe sie sich wagte, zu widersprechen: "Das ist sehr großzügig von Ihnen, und ich würde es liebend gern annehmen, aber leider habe ich noch eine Menge Arbeit auf dem Schreibtisch liegen. Ich glaube kaum, daß unsere Kunden oder auch die Kolleginnen, die dann für mich einspringen müßten, Verständnis dafür hätten, wenn ich alles einfach so liegenlassen würde. Bitte, ich weiß Ihr Angebot wirklich zu schätzen und bedanke mich auch dafür, aber ich hätte ein dermaßen schlechtes Gewissen, wenn Sie erlauben..."
Das war kein falscher Schmus von ihr, und er wußte das, sonst hätte er nicht kopfschüttelnd entgegnet: "Wieso wundert mich das eigentlich nicht bei Ihnen, Sara? Also, da muß ich mir wirklich etwas anderes einfallen lassen..." Dabei beließ er es vorerst. Sara war ihm auch dafür dankbar.
Und jetzt stand sie vor dem hohen Bürogebäude, das unter anderem die Firma beherbergte, für die sie arbeitete, und erwachte wie aus einem Traum.
Was hatte sie eigentlich aufmerksam gemacht? Sie schaute sich irritiert um: Niels Orsted, ihr Freund. Er hatte ihren Namen gerufen. Erst jetzt wurde ihr das bewußt.
"Komm schnell, Sara, ich stehe im absoluten Halteverbot. Besser, wenn wir uns beeilen."
"Du holst mich ab mit dem Auto?"
"Ja, freust du dich denn nicht?"
Nachdem er sie mit seinen Anrufen regelrecht genervt hatte, war sie ziemlich patzig gegen ihn geworden, indem sie ihm unmißverständlich erklärt hatte, er solle es unterlassen, sie im Büro anzurufen, weil das verständlicherweise nicht erwünscht sei. Das hatte gewirkt. Er hatte jedenfalls nicht weiter angerufen. Und jetzt stand er mit betretener Miene vor ihr, als wollte er sich entschuldigen und hätte nur noch nicht die richtigen Worte gefunden.
"Ach, Niels, natürlich freue mich mich. Ich bin halt nur überrascht."
"Wieso denn, Liebes? Es ist doch nicht das erste Mal, daß ich dich am Feierabend abhole, auch ohne es vorher mit dir abzusprechen."
"Ich muß mich echt bei dir entschuldigen, Niels. Das war wirklich nicht so gemeint von mir. Auch das am Telefon. Ich könnte verstehen, wenn du jetzt sauer wärst auf mich, aber es ist tatsächlich so, daß private Anrufe..."
Er unterbrach sie lächelnd und mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Schwamm drüber, Liebes!" Er beugte sich vor zum Kuß, und Sara tat ihm den Gefallen. Ihre Lippen berührten sich. Aber im nächsten Augenblick hatte sie das Gefühl, das wäre gar nicht ihr Freund Niels Orsted, sondern ein... Fremder! Es war dasselbe Gefühl in ihrer Brust, wie bei ihrem Freund. Er war ihr vertraut, und sie wünschte sich, er würde sie hier, vor den Augen aller Leute, fest in die Arme nehmen und sie mal ordentlich drücken, damit sie endlich wieder zu Sinnen kam. Seit jenem unseligen Traum... Aber gleichzeitig schreckte sie zurück, weil zu dem Vertrauten irgend etwas... Fremdes hinzukam. Fremd und unerklärlich. Aber nicht erschreckend. Deshalb widerstand sie dem Impuls, Niels von sich zu stoßen. Das hätte er ihr wahrscheinlich nie verziehen - und er brauchte es auch nicht. Denn jetzt nahm er sie tatsächlich in seine starken Arme, um sie fest an sich zu drücken. Sie spürte seine Nähe und genoß sie, wie immer. Er war Niels, der Mann, den sie aus ganzem Herzen liebte, aber irgendwie... war er nicht nur Niels. Da war irgend etwas - oder irgend jemand? - anderes. Niels hatte damit gar nichts zu tun. Er spürte es noch nicht einmal selber. Sara war sich darin völlig sicher. Nur sie spürte es - und jenes Fremde, das dominieren wollte, wie ein Erzrivale von Niels. Nicht gegenständlich, sondern aus dem Unsichtbaren, Unwägbaren heraus. Spürbar, aber im wahrsten Sinne des Wortes unbegreiflich.
Niels drückte sie so fest, daß sie fast keinen Atem mehr bekam - und bemerkte nicht den Widerstreit ihrer Gefühle. Die feste Nähe gab ihr Kraft und weckte ihre Sinne, um diesen unseligen Traum endlich nicht mehr länger über sich triumphieren zu lassen. Gleichzeitig jedoch war da jenes Fremde, das sie sowohl erschreckte als auch für sich einnahm. Ein Zwiespalt, der sie schier zur Verzweiflung trieb, weil sie nicht verstand, was da vor sich ging. Und als Niels sie endlich wieder losließ und auf Armlänge von sich wegschob, um ihr lachend in die Augen zu schauen, war der Zwiespalt mit einem mal wie weggeblasen. Vor ihr war nur noch Niels, der Mann, den sie so sehr liebte - und er umgekehrt sie genauso. Das Fremde war nicht mehr da. Nur noch das Vertraute, das von Niels ausging. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie so stark empfunden wie bei Niels. Er war der Mann ihres Lebens. Umso unverständlicher war es für sie selbst, wenn sich alles in ihr dagegen sträubte, fest mit ihm zusammenzuwohnen. War es wirklich nur wegen ihrem Exfreund und den traurigen Erfahrungen, die sie mit diesem hatte machen müssen? Aber was sonst? Sie war sich doch völlig seiner sicher. Niels und kein anderer. Für immer. Aber dennoch mußte sie sich jetzt an das andere Gefühl erinnern, an das Unerklärliche, das sie mit magischer Gewalt anzog. Seit dem Traum. Seit diesem Fremden, der Niels nicht wirklich so sehr ähnelte. Es war nur beinahe dasselbe Gefühl gewesen. Jetzt war sie sich völlig darüber im klaren.
Niels redete auf sie ein, aber Sara hatte davon kein einziges Wort aufgenommen. So sehr hatten sie ihre eigenen Gedanken verwirrt. Zwar hatte ihr Niels die Kraft zurückgegeben, die sie dringender als alles andere brauchte, aber die Erinnerung an den Traum und an diesen Widerstreit ihrer Gefühle hatten es trotzdem geschafft, sie wieder zu beherrschen, um sie von der Wirklichkeit abzulenken.
"...nicht böse deshalb, wirklich, Sara. Ich habe das Vater gesagt, daß du nicht mitkommen willst - und daß ich ohne dich... He, wieso schaust du mich denn so an, Sara? Habe ich jetzt schon wieder was falsch gemacht?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nicht doch, Niels, du machst überhaupt nichts falsch. Ja, du jedenfalls nicht, aber ich dagegen... Heute morgen das, es tut mir schrecklich leid. Ich war so blöd zu dir, ich weiß. Und dann habe ich dir auch noch einen solchen Korb gegeben. Dabei hast du es wirklich nur gut gemeint. Außerdem, wenn es deinem Vater auch noch einen Vorteil bringt... Ich hatte kein Recht, dich so schlecht zu behandeln. Du bist immer so gut zu mir, Niels, Liebster - und ich zicke dumm herum."
"Ach, Sara, das stimmt doch gar nicht. Ich habe dich damit heute morgen regelrecht überfahren, und meinetwegen bist du gewiß auch noch zu spät zur Arbeit gekommen. Alles meine Schuld. Und dann meine oberlästigen Anrufe... Das war nur wegen meinem schlechten Gewissen, sonst nichts."
"Dabei habe ich dich so schlecht behandelt, armer Niels." Sie streichelte ihm über das Gesicht, und er reagierte darauf sehr verlegen.
"Also, bevor wir uns jetzt gegenseitig im Entschuldigen zu übertrumpfen versuchen...", setzte er wie zu einem Scherz an, um sogleich ernst fortzufahren: "...vergessen wir die ganze Angelegenheit und freuen uns auf unseren gemeinsamen Urlaub. Der wird dann genauso werden, wie du ihn dir wünschst."
"Ehrlich?" vergewisserte sie sich und schaute ihn aus großen, runden Augen an.
"Ja, ehrlich. Diese Seefahrt ist jedenfalls kein Thema mehr."
"Aha, also doch nicht!"
"Was meinst du damit?"
"Wenn das jetzt mein Wunsch gewesen wäre?"
Er lachte. Es klang ein wenig zu bitter. "Ach, Sara, können wir das Thema denn nicht lassen? Ich habe selber schon genug darauf herumgeritten. Es tut mir ja auch wirklich leid."
"Muß es gar nicht. Schließlich habe ich den ganzen Tag über Zeit gehabt, mir das gründlich zu überlegen. Heute morgen, da war ich überrumpelt gewesen. Aber nach reiflichem Nachdenken..." Sie sah, daß er überrascht die Augenbrauen lupfte. Aber sie war selber überrascht: Sie lauschte ihren eigenen Worten nach und konnte sie nicht begreifen. Hatte sie das jetzt wirklich gesagt? Als würde die eigene Stimme ihr nicht mehr gehören. Und dann kamen ihre nächsten Worte, die ihr regelrecht einen Stich mitten ins Herz versetzten: "Ja, nach reiflichem Nachdenken bin ich zu dem Entschluß gekommen: Wieso eigentlich nicht? Wenn ich es genau betrachte, wollte ich schon immer mal so einen Segeltörn unternehmen, aber ich hätte es nie für möglich gehalten, daß dieser heimliche Traum jemals in Erfüllung gehen könnte. Worauf warten wir eigentlich noch, Leichtmatrose Niels Orsted? Mach die Takellagen klar, wir stechen in See, daß dem Klabautermann hören und sehen vergeht."
Sie hörte die wie im Scherz gesprochenen Worte und spürte gleichzeitig diesen Stich. Doch der tat nicht weh, sondern erzeugte eine seltsame Wärme in ihrer Brust, vergleichbar mit so etwas wie... Vorfreude.
Niels konnte es immer noch nicht fassen. Aber dann nahm er sie wieder kräftig in die Arme und rief aus: "Ich habe echt geglaubt, du wolltest mich verkohlen, aber ich sehe dir an, daß du es wirklich ernst meinst. Gott, Sara, wir machen das Beste daraus. Das verspreche ich dir. Wir beiden elenden Landratten auf hoher See. Wenn da mal den armen Fischen keine Bedenken kommen..." Er lachte und fügte noch ein paar Scherze dieser und ähnlicher Art hinzu.
Sara hörte sie gar nicht mehr. Sie wunderte sich immer noch über sich selber: Niels hatte ihr angesehen, daß sie es ernst gemeint hatte? Aber sie meinte es ganz und gar nicht ernst damit! Ja, eigentlich hatte sie es selber gar nicht gesagt. Als hätte etwas Fremdes nicht nur ihre Stimme, sondern sogar ihr Mienenspiel übernommen.
Sie dachte an den nächtlichen Traum. Eigenartig, auf einmal fürchtete sie sich trotzdem allem, trotz der mehr als mysteriösen Umstände, nicht mehr vor der bevorstehenden Seefahrt.
Deutlich sah sie vor sich den drohenden Nebelberg und die wie lebendig wirkenden Nebelfetzen, die davon ausgingen. Er saugte sie regelrecht an. Nicht nur das Schiff, sondern vor allem... sie. Und sie wollte es gar nicht mehr anders. Auch wenn sie sich noch so sehr darüber wunderte.
*
Hand in Hand liefen sie zum Wagen ihres Freundes. Sara den Kopf schwer von den wirren Gedanken, die sie beherrschten, und Niels Orsted lachend und scherzend. Sein Wagen stand in der Tat ziemlich verboten am Straßenrand. Autofahrer, die sich vorbeischieben mußten, schimpften lauthals über den Besitzer des Fahrzeuges. Als sie sahen, daß Niels die Fahrertür öffnete, tippten sie sich vielsagend an die Stirn. Auch unbeteiligte Fußgänger schüttelten zumindest tadelnd den Kopf.
Niels ließ sich dadurch nicht die gute Laune verderben, und Sara bekam das alles sowieso nicht richtig mit. Wie betäubt stieg sie auf der Fahrerseite ein, die zum Bürgersteig hin offen war. Wenn sie jetzt versucht hätte, den Wagen zu umrunden, um die Beifahrertür zu öffnen, hätte es eine Katastrophe geben können, bei dem Verkehr, der an dem Bürogebäude vorbeirauschte. Kein Wunder, daß hier absolutes Halteverbot verfügt worden war. Das hatte durchaus seinen Sinn in diesem speziellen Fall.
Die schlanke Sara rutschte über den Fahrersitz auf die Beifahrerseite. Das war zwar ziemlich unbequem, aber es machte ihr nichts aus. Niels nahm neben ihr Platz und hielt Ausschau nach einer Gelegenheit, sich in den fließenden Verkehr einzufädeln. Er blockierte die gesamt linke Fahrspur, was einen Rückstau verursacht hatte, weil seinetwegen die Autos die Spur wechseln mußten - und das war um diese Tageszeit alles andere als einfach.
Schlimmer kann es auf hoher Seee nicht werden als es hier, im sogenannten Großstadtdschungel, ist, wollte sich Sara selber die Laune verbessern. Es mißlang kläglich, weil sogleich wieder vor ihrem geistigen Auge der Nebelberg auftauchte, der sie mit unwiderstehlicher Gewalt ansaugte. Davor hatte sie aus ungewissen Gründen zwar keine Angst mehr, aber es stimmte sie auch nicht gerade fröhlich...
"Geisterpirat!" murmelte sie unwillkürlich.
"Bitte?" fragte Niels, wobei er immer noch konzentriert in den Verkehr spähte. Den Motor hatte er gestartet, der erste Gang war eingelegt.
Anstatt zu antworten, schlug Sara vor: "Wieso bleibst du nicht einfach auf dieser Spur, die du sowieso schon blockierst? Weiter vorn wird sich dann schon noch eine Gelegenheit bieten."
Wie zur Bekräftigung ertönte hinter ihnen ein wahres Hupkonzert. Niels schaute sie überrascht an und meinte dann, ärgerlich über sich selbst: "Ja, bin ich den blöd oder was? Wieso ist mir das nicht selber aufgefallen?" Und dann fuhr er endlich los, auf der Spur, die er die ganze Zeit blockiert hatte mit seinem parkenden Auto, wie von Sara empfohlen. Immer wieder schüttelte er den Kopf. Seine gute Laune war wie weggeblasen.
Kein Wunder, dachte Sara und betrachte ihren Freund von der Seite. Er machte einen ziemlich verwirrten Eindruck - und das raubte ihr schier den Atem. Wieso war ihr das eigentlich nicht früher aufgefallen? Schon heute morgen, als er aufgetaucht war... Er hatte abgehetzt und irgendwie da schon... verwirrt gewirkt. Und jetzt das: hatte vor sich freie Bahn und versuchte trotzdem, sich in den Verkehr einzufädeln, was natürlich keiner dieser stets in Eile befindlichen Autofahrer erlaubte. Eben weil sie selber sahen, dass er eigentlich nicht zwingend die Spur wechseln mußte. Was war denn eigentlich los mit Niels?
Es stockte ihr deshalb der Atem, weil es nur eine mögliche Antwort auf diese Frage gab: Er mußte irgendwie doch etwas gemerkt haben. Oder gab es bei ihm sogar einen... ähnlichen Traum?
Sie mußte kurz die Augen schließen und sich sammeln, sonst hätte sie jetzt womöglich vor Schreck aufgeschrien. Nein, jetzt bloß nichts anmerken lassen. Niels mußte sich endlich auf die Straße konzentrieren, sonst baute er noch einen Unfall, so verwirrt wie er zur Zeit war.
Die rote Ampel hielt sie auf. Sara schielte nach Niels neben sich und atmete erleichtert durch. Gottlob, er hatte sich wieder gefangen. Und jetzt konnte er sogar lächeln.
"Manchmal ist man blind und blöd zugleich. Wenn man dann noch einen Funken Verstand übrig hätte, müßte man auf der Stelle den Führerschein abliefern."
"Oder einem anderen das Steuer überlassen", erinnerte ihn Sara und versuchte ein Lächeln: "Schon vergessen: Ich habe ebenfalls den Führerschein, wenn ich auch zur Zeit kein Auto besitze. Aber logisch, wer läßt schon gern eine Frau ans Steuer, zumal, wenn man ein richtiger Mann ist."
Niels mußte laut lachen, denn er wußte, daß Sara das nicht ernst meinte: Er war alles andere als ein Macho und hatte Sara deshalb nicht angeboten, das Steuer zu übernehmen, weil erfahrungsgemäß seine Freundin sowieso nicht gern Auto fuhr. Das war auch der Grund, wieso sie keins besaß.
Er erwiderte ihren Blick und meinte leichthin: "Jetzt bist du wieder ganz die Alte."
"Wie bitte? Ich und alt? Wir sind noch längst nicht verheiratet und schon nennst du mich deine Alte?"
Niels lachte abermals. Sara fiel in das Lachen ein.
"Du weißt ja, wie ich es meine.
"So, Niels, weiß ich das? Was ist denn jetzt anders als noch vorhin?"
Schlagartig wurde er wieder ernst. Er schaute auf die Ampel, die gerade umsprang. Im Anfahren antwortete er auf die Frage: "Du warst heute morgen schon ganz durch den Wind, als hättest du eine schlechte Nacht hinter dich bringen müssen. Was war denn los?"
Sie zögerte kurz und musterte ihn erst prüfend, ehe sie darauf einging: "Ich hatte einen blöden Traum, der mich irgendwie beschäftigte", gab sie zu.
"Bis vorhin?"
"Das hast du erkannt?"
"Ja, habe ich."
"Dann sage mir mal, was deinerseits dazu beigetragen hat, daß du vorhin so verwirrt warst. Wenn ich mich recht erinnere, warst du heute morgen auch schon ziemlich durch den Wind. Ich meine, es war mehr als ungewöhlich, daß du aufgetaucht bist, ohne vorher anzurufen. Das Ganze hättest du mir echt auch am Telefon sagen können. Dann hätte ich Zeit gehabt, mir alles gründlich zu überlegen."
"Richtig." Er schürzte die Lippen und konzentrierte sich auf das Fahren, ehe er weitersprechen konnte: "Ich hatte ebenfalls einen seltsamen Traum. Jetzt, wo du es erwähnt hast, kommt er mir noch viel seltsamer vor. Ich habe noch nie in meinem Leben so etwas geträumt. Und als dann heute morgen Vater mir eröffnete, ich solle kurzfristig seine und Mutters Reise mit dieser Yacht übernehmen... Da bin ich sozusagen aus allen Wolken gefallen."
"Weil dein Traum mit genau dieser Segelyacht zu tun hatte?" erkundigte sich Sara erschrocken.
Trotz des dichten Verkehrs mußte er einen Blick auf Sara werfen. "Du hattest das auch?"
"Ja, in der Tat. Aber erzähle mir erst deinen Traum. Hatte er auch zu tun mit dem... Geisterpiraten?"
Er runzelte die Stirn und dachte nach.
"Geisterpirat? Nie gehört!"
"Na, dann erzähle doch mal", verlangte Sara.
"Irgendwann in der Nacht sah ich mich auf einem luxuriösen Segelschiff. Wir waren beide dort, aber ich konnte dich nirgendwo finden. Ich fragte die Besatzung und durchsuchte die ganze Yacht. Kein Glück. Es war schrecklich, und ich hatte auf einmal eine Heidenangst, daß dir etwas passiert sein könnte. Schließlich war es mitten in der Nacht und dann auf hoher See. Aber der Mann am Ruder beteuerte hoch und heilig, dich nicht an Deck gesehen zu haben. Zwei der Seeleute waren ebenfalls auf Deck gewesen, weil es unter Deck ziemlich schwül war und sie frische Luft schnappen wollten, wie sie behaupteten. Wärst du an Deck gewesen, hätten zumindest diese es bemerkt. Aber wo warst du dann abgeblieben? Wir hatten uns beide in unsere Kabine zurückgezogen. Daran konnte ich mich deutlich erinnern. Dann wurde ich wach, und du warst verschwunden. Alle deine Sachen waren noch da. Aber wohin konntest du mit nur dem Nachthemd bekleidet...?"
"Nachthemd?" fiel ihm Sara ins Wort. "Ich schwöre dir, Niels, ich habe so etwas überhaupt nicht."
Er runzelte abermals die Stirn. "Ja, auch daran erinnere ich mich: Das Nachthemd war nicht von dir. Aber ich weiß nicht mehr, wieso du es angezogen hast. So ein Blödsinn aber auch..."
"Was geschah noch in deinem Traum?" wollte Sara unbedingt wissen.
"Nichts weiter. Ich wurde wach - und kann mich immer noch an jede Kleinigkeit erinnern." Er warf schon wieder einen Blick auf Sara, obwohl er weiter vorn abbiegen mußte. "Jetzt sage bloß, du hast geträumt, wo du dich befunden hast?"
"Nicht gerade das, aber..." Sara brach ab.
Niels lachte humorlos. "Wäre ja noch schöner gewesen. Ist sowieso völlig unlogisch, daß wir anscheinend beide von der Segelyacht träumten, zu einem Zeitpunkt, wo wir überhaupt noch nicht wissen konnten, was uns echt bevorstand."
"In der Tat!" entfuhr es Sara.
"Jetzt erzähle doch mal selber. Wie kommst du eigentlich auf die Bezeichnung Geisterpirat?"
"Ach, das?" Sie zögerte, und dann entschloß sie sich, nicht die Wahrheit zu erzählen, ohne selber zu wissen wieso. Als wäre da wieder jenes Fremde - oder jener Fremde? -, der die Wahrheit verhinderte: "Ich träumte ebenfalls von der Segelyacht. Es war Nacht, und wir waren auf hoher See. Ich ging an Bord, weil ich wegen der Schwühle nicht schlafen konnte. Und ich hatte dieses Nachthemd an, was ich überhaupt nicht begreifen will."
"Du gingst an Deck? Aber wieso haben die mich angelogen?"
"Weil es eben nur ein Traum war!" belehrte sie ihn.
"Da wäre ich mir nicht sicher. Wann jemals hatten zwei Menschen denselben Traum und dann noch von etwas, was zwei Tage später tatsächlich eintreten würde und wovon sie zum Zeitpunkt des Traumes nicht das Geringste ahnen konnten?" Es war das dritte Mal, daß er sie kurz anschaute, obwohl der Verkehr dies verbot. "Sag, Sara: Bist du etwa... ins Wasser gefallen oder was?"
"Im Traum?" Sara mußte unwillkürlich lachen. "Nein, bin ich nicht. Ich war einfach nur an Deck, und dann wurde ich wach."
"Aber wieso habe ich dich nicht finden können?"
"Bestimmt, weil ich vor dir wach geworden bin. Ich lag halt wieder in meinem Bett, während du noch allein an Bord geblieben bist."
Niels Orsted zuckte bei diesen Worten zusammen wie unter einem Peitschenhieb. "Tatsächlich?" murmelte er entgeistert. "Das könnte die Begründung sein."
"Spinnst du?" zog Sara ihn auf. "Das war doch jetzt nur ein Scherz gewesen."
Er schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, Sara, tut mir leid, aber im Zusammenhang mit dem Traum, da ist mir absolut nicht zu Scherzen zumute, glaube mir. Das war alles so total realistisch - und dann die Umstände... Wirklich, Sara, da halte ich alles für möglich."
"Auch daß es vielleicht besser wäre, diese Segelreise zu unterlassen?" erkundigte sich Sara vorsichtig.
"Ja, meinst du?" Er schüttelte ein weiteres Mal den Kopf. "Ich war regelrecht versessen darauf, den Trip zu unternehmen, heute morgen, nach der Eröffnung durch Vater. Ich wollte einfach wissen, was es mit diesem Traum auf sich hatte."
"Vielleicht wolltest du auch wissen, wo ich denn in diesem Traum abgeblieben war?"
"Sara!" rief er aus. "Verdammt, du sagst da Dinge... Ja und noch einmal: Ja! Das war so gruselig, und ich habe mir solche Sorgen gemacht, dich nicht zu finden. Ich meine, die Yacht ist zwar sehr groß, aber doch nicht groß genug, daß man sich darauf so gut verstecken könnte." Er stockte kurz. "Hattest du dich denn versteckt?"
"Niels, du redest ja wirklich so, als hätten wir beide den Traum gleichzeitigt!" warf Sara ihm vor, der allmählich das Gespräch gruseliger vorkam als der Traum an sich.
"Natürlich, wieso nicht? Hast du nun von derselben Yacht erzählt oder nicht?"
"Habe ich, klar, aber..." Beinahe hätte sie gesagt: "...aber es muß zu einem anderen Zeitpunkt sich abgespielt haben, denn als ich davon träumte, da war die ganze Yacht ohne Besatzung, und irgendwie stimmte etwas nicht mit dem Ruder. Und dann war doch noch jemand aufgetaucht, ein Fremder, der mir vertraut vorkam, als wärst du er oder er wäre du." Im letzten Moment konnte sie es sich verkneifen. Nicht nur, weil es ziemlich unpassend geklungen hätte, wie sie meinte, sondern vor allem, weil sie sich plötzlich fragte: Und wenn es trotzdem zum selben Zeitpunkt gewesen war? Für Niels war alles normal geblieben, aber ich befand mich zwar auf demselben Schiff, aber irgendwie in einer... anderen Sphäre! Und dort gab es keinen Niels und keine Besatzung mehr. Dafür gab es den Nebelberg - und jenen Fremden.
Niels sagte in diesem Moment etwas, aber Sara verstand es gar nicht. Sie murmelte vor sich hin, ohne es verhindern zu können: "Geisterpirat!"
"Schon wieder dieses Wort? Sara, was hat es zu bedeuten?"
"Ich war an Deck, ja, aber da war noch jemand."
"Der Geisterpirat?"
Sara sah den Fremden deutlich vor sich. Wie ein Schlafwandler war er ihr erschienen. Er hatte aber doch vom Geisterpiraten in dritter Person gesprochen. Wieso neigte sie jetzt zu der Meinung, er könnte es selber gewesen sein - nämlich der Geisterpirat? Auf einmal war sie nicht nur der Meinung, sondern hundertprozentig überzeugt davon!
"Sage es mir endlich Sara: Was war das für ein Traum, den wir beide hatten? Wir träumten irgendwie dasselbe, aber ich habe dich gesucht und nicht gefunden. Hatte es denn... mit diesem Geisterpiraten zu tun?"
"Ich weiß es nicht, Niels, ehrlich, weil ich wach wurde, kurz nachdem er aufgetaucht war." Damit hatte Sara noch nicht einmal gelogen. Sie war ja tatsächlich kurz nach dessen Auftauchen wachgeworden.
"Das war nie und nimmer ein Traum!" war Niels jetzt fest überzeugt. "Bleibt die Frage: Sollen wir nun wirklich das Wagnis eingehen oder nicht?"
"Wagnis?"
"Sara, überlege doch mal: Ich habe dich vergeblich gesucht. Was, wenn wirklich etwas Schreckliches dort draußen auf dem Meer auf uns wartet? Vielleicht hat uns eine Art göttliche Macht den Traum geschickt, um uns eindringlich zu warnen?"
"Das glaubst du wirklich, Niels?"
"Ich glaube gar nichts. Ich weiß nur, so einen Traum hatte ich noch nie, und ich kenne auch niemanden, dem Ähnliches widerfuhr. Außer dir, Sara. Bestimmt, weil unser beider Schicksal eng damit verwoben ist, aus welchem Grund auch immer."
"Wenn wir morgen die Reise nicht antreten, werden wir die Wahrheit nie erfahren", murmelte Sara tonlos.
"Und was ist, wenn einer von uns beiden diese Reise nicht lebend übersteht? Oder wenn wir beide gar...?"
"Wir wissen es nicht, weil der Traum aufhörte, ehe wir mehr erfahren konnten. Ich mache dir einen Vorschlag, Niels: Sage deinem Vater zu. Bringe mich natürlich erst heim und gehe sofort danach zu deinem Vater. Wir packen unsere Sachen für die Reise. Und dann legen wir uns hin, um zu schlafen."
"Und zu träumen?"
"Genau das!"
"Und wenn kein weiterer Traum kommt?"
"Das werden wir bis morgen wissen. Und dann können wir immer noch überlegen, was zu tun ist."
"Ich kann doch nicht heute meinem Vater noch einmal zusagen, daß er anschließend seinem Geschäftspartner Bescheid gibt, und dann morgen womöglich wieder absagen!" protestierte Niels.
"So, kannst du nicht? Dann nenn mir eine Alternative!"
Niels grübelte darüber nach, aber es fiel ihm offensichtlich nichts ein, weshalb er am Ende zustimmte: "Also gut, machen wir es so."
Gerade hatten sie Saras Adresse erreicht. Er stoppte am Straßenrand. Sie schauten sich lange und sehr ernst an, bevor sie sich zum Abschied umarmten und küßten. Beinahe fühlten sie sich dabei, als wäre es ein Abschied für lange Zeit. Vielleicht sogar... für immer?
*
Sara nahm zwei Reisetaschen, weil sie glaubte, das sei besser als ein großer Koffer, wenn sie mit Niels an Bord der Segelyacht ging. In die eine Tasche packte sie leichte Sachen für die Hitze des Tages und in die andere alles, was sie benötigte für möglicherweise kalte Nächte. In Rekordzeit war sie fertig mit dem Packen. Sie hatte es geschafft, dabei möglichst nicht an all das Mysteriöse zu denken, das mit der bevorstehenden Seereise zusammenhing. Nachdenklich betrachtete sie die Reisetaschen, eigentlich voll und ganz überzeugt davon, Wichtiges für unterwegs vergessen zu haben. Es wäre ja zu schön gewesen, jetzt schon zu wissen, was das im einzelnen sein würde!
Dabei fiel ihr ein, daß sie noch nicht einmal wußte, wie lange die Reise überhaupt dauern sollte. Sie schaute zum Telefon hinüber. Nein, sie hatte sich vorgenommen, Niels nicht mehr anzurufen. Bis morgen nicht. Erst wollte sie wissen, was die Nacht brachte. Aber war es morgen nicht schon zu spät, das zu klären? Sie entschied sich trotzdem gegen das Telefonat und hoffte, daß ihre Sachen ausreichen würden. Sie hatte vier Wochen Urlaub insgesamt, ab morgen gerechnet. Das waren Urlaubstage von zwei Jahren, denn letztes Jahr hatte sie keinen nehmen können. Ihr Chef war einverstanden gewesen damit, sie mit dem diesjährigen Jahresurlaub zusammenzunehmen. Voriges Jahr war viel zuviel los gewesen im Büro, und dieses Jahr war es deutlich weniger. Da war er wahrscheinlich froh darüber, wenn nicht alle seine Angestellten arbeiteten, ehe doch noch so etwas wie Leerlauf entstand. Nach den vier Wochen würde die Arbeit wieder anwachsen. Das war jetzt bereits absehbar.
Eigentlich paßte alles bestens zusammen, näher betrachtet. Sogar der Traum: Er war rechtzeitig gekommen, so rechtzeitig wie das anschließende Angebot mit dem Segeltrip.
Das paßt nicht nur gut, sondern im Grunde genommen... viel zu gut!, dachte Sara, der das zum ersten Mal so richtig bewußt wurde. Aber was sollte sie machen? Zumindest nichts anderes als das, was sie ohnehin vorhatte, nämlich mit Niels selbstverständlich das Angebot anzunehmen und hinauszufahren auf die hohe See, um zu erleben, was dort wirklich passieren würde.
Sie konzentrierte sich wieder auf das Gepackte: Falls sie wirklich ganze vier Wochen unterwegs sein würden, mußte es halt reichen. Mehr wollte sie jedenfalls auf keinen Fall mitnehmen. Es sei denn, vor der Abreise fiel ihr vielleicht noch was Wichtiges ein, das sie vergessen hatte.
Und jetzt? Was sollte sie noch tun?
Sie gähnte unwillkürlich. Dann lauschte sie in sich hinein. War sie schon müde genug, um sich hinzulegen? Besser wäre es gewesen. Dann war sie morgen wenigstens einigermaßen fit.
Reisefieber hatte sie seltsamerweise nicht. Das war zumindest ungewöhnlich. Sonst hatte sie immens Reisefieber, selbst wenn sie sich nur vorgenommen hatte, zu ihrer Tante auf das Land zu fahren. Und jetzt, wo eine Reise in das Ungewisse vor ihr lag...
Nun, ganz so ungewiss ist die Reise wohl nicht, mußte sich Sara eingestehen, wenn sie an den Traum dachte. Dann trug sie die beiden vollgepackten Reisetaschen zur Tür und setzte sie dort ab. Gottlob würde Niels sie morgen abholen kommen. Er würde dann die Taschen hinunter zu seinem Wagen tragen. Das blieb Sara erspart.
"Sara Perres, und jetzt reiße dich zusammen. Mache deine Abendroutine und lege dich aufs Ohr. Und wehe, wenn dumme Gedanken kommen und dich vom Schlafen abhalten. Wehe!"
Als sie ins Bad trat, schnitt sie ihrem Spiegelbild erst eine Grimasse. Ihre Laune wurde dadurch leider nicht besser. Deshalb konzentrierte sie sich lieber auf die Abendroutine, wie sie es sich vorgenommen hatte.
Als sie später unter die Bettdecke schlüpfte und das Licht löschte, dachte sie noch: Eigentlich ist es viel zu früh zum Schlafen. Da gehe ich ja später ins Bett, wenn ich am nächsten Morgen früh aufstehen muß.
Aber vielleicht legte sie sich deshalb so früh hin, um endlich zu erfahren, ob sie die kommende Nacht wieder träumte? Vielleicht ging der Traum ja genau an der Stelle weiter, wo er geendet hatte? Dann wußte sie in der Tat mehr, und es würde sicher auch leichter sein, für morgen die richtige Entscheidung endgültig zu fällen. Obwohl ihr bei dieser Gelegenheit erneut bewußt wurde, daß die Entscheidung sowieso längst unverrückbar gefällt war: Sie würde mit Niels hinaus auf die See fahren. Komme da, was wolle. Nichts und niemand würde sie jetzt noch davon abbringen können. Es war wie ein magischer Lockruf, der einerseits einen zurückschrecken ließ, aber andererseits einen mit solcher Gewalt anzog, daß man sich dem unmöglich entziehen konnte.
Sara schloß die Augen - und war tatsächlich sofort eingeschlafen. Ruhe war eingekehrt in ihre kleine Wohnung, kaum gestört von Geräuschen, die gedämpft von irgendwo dort draußen zu ihr hereindrangen. Sie beeinflußten ihren Schlaf nicht, und der wurde so tief, wie sie ihn selten erlebt hatte.
Bis sie irgendwann die Augen aufschlug und von einer Sekunde zur anderen hellwach war. Sie schaute zu den Leuchtziffern der Uhr. Es war lange nach Mitternacht. Was hatte sie geweckt? Sara lauschte gebannt, aber da war nichts. Jedenfalls nichts, was anders gewesen wäre als sonst. Trotzdem spürte sie etwas. Sie tastete in aufkeimender Panik nach dem Lichtschalter und ließ das Licht aufflammen. Sekundenlang blendete sie die Helligkeit, aber dann konnte sie alles sehen. Ja, nichts hatte sich verändert, obwohl dieses Gefühl immer noch da war, als würde jemand mitten in der Wohnung stehen und sie aus dem Unsichtbaren heraus stumm mustern. Es gruselte sie trotz der Helligkeit. Aber nur kurz. Ihr Herz begann heftiger zu pochen - nicht etwa vor Angst. Weswegen denn sonst? Da war ein Kribbeln in ihrem Bauch, das sie dazu veranlaßte zu sagen: "Geisterpirat?"
Irgendwie klang es lächerlich, wenn sie diesem Wort nachlauschte. Aber wie sollte sie ihn denn sonst nennen? Er hatte ihr keinen Namen verraten. Ganz im Gegenteil: Er hatte vom Geisterpiraten sogar in dritter Person gesprochen. Oder hatte sie sich dabei verhört? Schließlich hatte sie ja zunächst angenommen, es müsse sich um ihren Freund Niels handeln.
Der Gedanke an Niels ließ sie zusammenzucken, als habe dieser sie soeben bei etwas Verbotenem erwischt. Was war das denn überhaupt für ein Kribbeln in ihrem Bauch? Behauptete man nicht, das hätte man nur, wenn man sich frisch verliebt hatte? Aber das war doch barer Unsinn: In wen sollte sie sich denn verlieben, wo sie doch aus ganzem Herzen nur Niels zugetan war?
Aber diese Vertrautheit mit dem Geisterpiraten schon bei ihrer ersten Begegnung im Traum...
Sie war auf einmal ganz sicher, daß er da war, hier im Zimmer. Sie konnte ihn nicht sehen und nicht hören, aber sie spürte ihn. Und das war auch der Grund für dieses Kribbeln. Als hätte sie sich in den Unsichtbaren verliebt. In einer Mischung von Verwirrtheit und Erschrockenheit fragte sie sich: Wie war das denn möglich?
"Du bist nur ein Geist. Dabei war ich bis letzte Nacht der festen Überzeugung, so etwas könnte es gar nicht geben. Was willst du eigentich von mir? Hast du mir diesen Traum letzte Nacht geschickt? Warum? Wolltest du mich damit warnen oder... locken?" Es gab keine Antwort, auch wenn sie noch so sehr lauschte. Nichts regte sich, nichts war zu hören, außer den gedämpften Geräuschen einer pulsierenden Großstadt, für die es keine Nachtruhe geben konnte. "Licht scheut dich auch nicht. Du bleibst hier, wo du bist - und unsichtbar. Obwohl ich deine Anwesenheit deutlich fühle, Geisterpirat. Hast du auch Niels den Traum geschickt letzte Nacht? Und wieso ihm?"
Diesmal kam nicht nur keine Antwort, sondern von einem Augenblick zum anderen verschwand dieses Gefühl seiner Anwesenheit. Er war gegangen, wie auch immer - auf dem gleichen Weg jedenfalls, den er gekommen war.
"Ich werde die Wahrheit herausfinden. Egal, was sie mir bringt! Und Niels wird mit dabei sein. Er ist der Mann, den ich liebe. Hörst du? Ich liebe Niels, nicht dich. Wie könnte ich auch, da ich noch nicht einmal weiß, wer oder was du wirklich bist? Ja, existiert du überhaupt?"
Diesmal erwartete sie keine Antwort, weil sie spürte, daß sie allein blieb.
Nach einer Weile löschte sie das Licht wieder und sank in ihre Kissen zurück. Die Bettdecke zog sie sich bis zum Kinn und starrte in die Dunkelheit. Nur noch verhältnismäßig kurz bis zum Tagesanbruch. Dann dauerte es nicht mehr lange, bis Niels sie abholen kam. Gemeinsam würden sie mit seinem Auto zum Yachthafen fahren. Allzu weit war das gar nicht. Die Yacht würde dort mitsamt Besatzung auf sie warten.
Was war eigentlich mit dem Besitzer? Es war bislang mit keinem Wort erwähnt worden, ob dieser mit von der Partie sein würde oder nicht. Obwohl, Sara konnte sich kaum vorstellen, daß wirklich eine ganze Hochseeyacht nur auf Niels und sie warten sollte. Das wäre ihr vorgekommen wie die schlimmste Verschwendung. Aber auch Niels hatte in seinem Traum anscheinend nichts gesehen von dem Besitzer, ob dieser mit an Bord war. Kein Wunder, denn er hatte ja verzweifelt seine Freundin Sara gesucht...
Ob ich jetzt doch noch die Fortsetzung von diesem Traum träume? fragte sich Sara und schien im nächsten Augenblick eingeschlafen zu sein. Sie konnte sich jedenfalls an nichts mehr erinnern, was danach gewesen war, als sie irgendwann wieder die Augen öffnete. Durch Ritze am Rolladen kam ein wenig Sonnenlicht herein. Der Tag war angebrochen. Geträumt hatte sie anscheinend überhaupt nichts in der vergangenen Nacht. Jedenfalls befand sich diesmal nichts dergleichen in ihrem Gedächtnis.
Noch nie war Sara über etwas so enttäuscht gewesen wie an diesem Morgen...
*
Als sie nach der Morgenroutine endlich zum Telefon ging, um Niels anzurufen, überlegte sie, ob sie ihm etwas über die nächtliche Begegnung berichten sollte. Sie entschied sich kurzerhand dagegen. Nicht weil sie vor Niels Geheimnisse haben wollte, sondern sie wußte einfach nicht, wie sie es ihm erklären konnte, ohne mißverstanden zu werden. Wenn er umgekehrt ihr so etwas erzählt hätte, wäre sie sicherlich eifersüchtig geworden. Das wollte sie vermeiden, weil sie es als unnötig sah.
Kaum streckte sie die Hand aus nach dem Telefon, als dieses zu läuten begann. Sara zuckte erschrocken zusammen und rührte sich nicht mehr. Nach dreimal Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter an. Sie hörte ihre eigene Stimme, die den Spruch aufsagte: "Wer auch immer du bist, ich melde mich bei dir, wenn ich wieder da bin, aber nur, wenn du deinen Namen und deine Telefonnummer hinterläßt. Und falls du ein Sie bist anstatt ein du, rufe ich natürlich auch zurück!" Es kam ihr jetzt sehr albern vor, daß sie das auf Band gesprochen hatte, obwohl es ihr die ganze Zeit lustig erschienen war.
Kaum war der Spruch beendet, ertönte das obligatorische Pfeifsignal, und die Stimme von Niels klang auf: "Hallo, Liebes, und guten Morgen. Schon aus den Federn? Na, wie war die Nacht?"
Sara hob ab. "Hast du was geträumt, Niels?"
"Nö, leider nicht. Und du?"
"Auch nicht. Ganz schön enttäuschend, was?"
"Und hat sich etwas an unserer Entscheidung geändert?"
"Sag du zuerst, Niels!"
"Also, wenn es nach mir geht: nein!"
"Und wenn es nach mir geht - auch nein!"
"Hast du fertig gepackt?"
"Ich denke schon. Mit dem Vorbehalt, wahrscheinlich wieder die wichtigsten Dinge vergessen zu haben. Dabei nehme ich mir immer vor, eine Liste zu erstellen, die für alle Zeiten gültig ist. Das würde jedenfalls weniger Streß machen als später aufkommt, wenn man das eine oder andere dringend vermißt."
"Recht hast du, aber wer kann schon von sich behaupten, immer vernünftig zu handeln?"
"Handeln wir denn zumindest vernünftig, wenn wir uns dazu entscheiden, das Angebot anzunehmen?"
"Wahrscheinlich nicht, aber das Risiko sollten wir trotzdem eingehen."
"Sollten wir nicht nur, Niels, sondern wir tun es einfach. Wann kommst du mich abholen?"
"Sofort! Ich habe meine Taschen schon im Auto."
"Keinen Koffer?"
"Ich dachte mir, das wäre vielleicht unpassend an Bord einer Hochseeyacht. Deshalb habe ich zwei Taschen gepackt. Eine mit den Sachen für den heißen Tag und..."
"...und eine für die kalte Nacht!" lachte Sara. "Zwei Menschen und ein Gedanke."
"Vielleicht sind wir deshalb ein so passendes Paar?" philosophierte er.
"Ja, vielleicht...", orakelte Sara, immer noch lachend.
"Ich eile. Kuß. Bis nachher!"
Schon hatte er wieder aufgelegt.
Sara betrachtete noch eine Weile das Telefon. Ihr hübscher Kopf war irgendwie leer. Bis sie sich wieder an die nächtliche Begegnung erinnerte. Es hatte zwar keinen Traum gegeben, aber dann doch dieses... Oder handelte es sich ebenfalls nur um einen Traum? Sie war zwar völlig sicher, es tatsächlich erlebt zu haben, aber wenn sie an den Traum in der Nacht zuvor dachte: War ihr dieser nicht auch völlig realistisch erschienen? Alles war so gewesen, als sei sie körperlich an Bord - um im nächsten Augenblik in ihrem Bett hier zu erwachen.
Sara schüttelte den Kopf, um diese Gedanken wieder loszubekommen. Es gelang ihr nur unzulänglich. Stattdessen kontrollierte sie ihre kleine Wohnung, ob sie alles so verlassen konnte. Vorsichtshalber drehte sie Wasser und Gas ab. Dann öffnete sie die Wohnungstür. Sobald Niels heraufkam, würde sie auch noch den Strom abschalten. Damit hier alles in Ordnung war. Auch für eine längere Reise.
Sie schaute sich in ihrer Wohnung um und hatte dabei das Gefühl, als würde sie das, was sie jetzt sah, niemals wiedersehen.
Niemals wieder?
Sie dachte darüber nach und empfand keinerlei Furcht, obzwar diese vielleicht angebracht gewesen wäre. Dafür empfand sie etwas völlig anderes: Ihr Herz schlug unwillkürlich höher, denn sie wußte, sie würde ihm näherkommen - dem Geisterpiraten! Wie auch immer: Sobald sie die Segelyacht betrat, um die Reise zu beginnen, würde sie diese Reise auf dem kürzesten Weg zu ihm hinführen.
"Niels, du wirst aber mit dabei sein. Oh, Niels!" seufzte sie.
In diesem Augenblick öffnete sich der Fahrstuhl, und Niels Orsted trat heraus, mit einem schiefen Grinsen.
"Na, wo sind die beiden Taschen, in die du alles Blei gepackt hast, dessen du habhaft werden konntest?"
"Ich wollte dich damit nur testen, ob du wirklich so ein starker Bursche bist, der du gern wärst!" scherzte Sara.
Er kam zu ihr, und sie umarmten und küßten sich zur Begrüßung.
Ganz anders als letzten Morgen, fiel Sara auf. Aber sie sagte nichts in dieser Richtung, sondern deutete auf die beiden Taschen.
Während er sich ihrer annahm, schraubte Sara die Sicherungen heraus und schloß hinter sich die Wohnungstür sorgfältig ab. Einen allerletzten Rundblick in ihrer kleinen Wohnung ersparte sie sich. Und schon während sie hinter Niels zum Fahrstuhl ging, hatte sie vergessen, wie es in ihrer Wohnung überhaupt aussah. Alles hier erschien ihr auf einmal sehr fremd. Das fiel ihr zwar selber auf, aber sie machte sich keinerlei Gedanken darüber. Möglicherweise aber wäre das besser für sie gewesen?
*
Unterwegs zum Yachthafen sprachen die beiden kein einziges Wort miteinander. Niels konzentrierte sich auf das Fahren, was auch durchaus angebracht erschien im morgenlichen Verkehr, und Sara schaute gedankenverloren hinaus, ohne überhaupt wahrzunehmen, was sich ihren Augen darbot.
Bis der Wagen endgültig stoppte.
Sara blinzelte verwirrt, als würde sie aus tiefstem Schlaf erwachen, und meinte: "Das ist ja die Kurzparkzone? Willst du erst das Gepäck ausladen und dann den Wagen wegbringen?"
"Nein, ich habe mit Vater abgesprochen, daß er mein Auto von einem seiner Angestellten abholen läßt. So lange kann es hier ruhig stehenbleiben, und wir haben nur ein paar Schritte zu gehen." Er deutete hinüber zum Durchgang.
Der Yachthafen war hoch umzäunt und konnte nur an dieser Stelle betreten werden. Natürlich gab es auch eine breite Durchfahrt für Bootsbesitzer, die ihr Boot auf dem Landweg zum Hafen brachten, aber der war geschlossen. Man hätte extra eine Genehmigung haben müssen.
Bewacht wie das berühmte Ford Knox! dachte Sara respektlos.
Als sie aber mit Niels Orsted an den Durchgang kam, der von zwei Uniformierten bewacht wurde, konnte sie einen Blick hinüberwerfen, wo die großen Hochseeyachten lagen. Diese waren nicht nur sehr groß, sondern vor allem sehr teuer. Da ankerten Millionenwerte, und so erschien es gar nicht mehr verwunderlich, daß man entsprechende Sicherheitsmaßnahmen getroffen hatte.
"Warte, Niels, ich gehe zurück zum Auto und hole meine beiden Taschen."
"Nein, Sara, ich gehe noch einmal zurück, wenn meine Taschen an Bord sind, und bringe dann deine Taschen ebenfalls an Bord."
"Ach was, Niels, sehr nett, daß du solche Rücksicht auf mich schwache Frau nimmst, aber schau dir das da an: Willst du insgesamt dreimal durch die Sicherheitskontrolle nur wegen meinen beiden Taschen? Das schaffe ich schon noch selber."
"Aber sie sind viel zu schwer für dich, Liebes."
"Ich bitte dich. Die paar Meter werden mich schon nicht umbringen."
Niels ließ seine Taschen einfach dort fallen, wo er stand, und kehrte mit Sara zum Auto zurück. Er öffnete und hievte die Taschen von Sara ins Freie. Dann ließ er es sich nicht nehmen, sie wenigstens bis zu seinen eigenen Taschen zu schleppen.
"Und wenn ich versuche, alle vier auf einmal...?"
"Jetzt hör aber auf, Niels, ich bin doch nicht aus Zucker."
"Das sagt man, wenn es regnet, und nicht, wenn..."
"Egal, jedenfalls werde ich ab jetzt meine Taschen selber schleppen. Falls sie zu schwer sind, bin ich schließlich selber schuld."
Sie nahmm sie probehalber auf und zeigte Niels ihr Lachen. "Nun, zufrieden? Siehst du, es strengt gar nicht an. Und jetzt gehe voraus. Du mußt den Sicherheitsleuten schließlich sagen, warum wir Einlaß begehren."
"Sagen allein genügt nicht!" behauptete Niels und winkte mit einem Wisch. "Den hat mir Vater mitgegeben. Er ist sozusagen unsere Eintrittskarte in den Hochsicherheitsbereich."
"Aha", machte Sara, und dann gingen sie beide endlich wieder weiter.
Die Taschen waren viel schwerer für sie als Sara ihrem Freund gegenüber zugegeben hätte. Aber sie hielt es immer noch für vernünftiger, wenn sie ihr Gepäck selber trug. Niels übertrieb seine Fürsorge sowieso immer gern. Meistens gefiel das Sara, aber heute ausnahmsweise nicht.
Mit ernster Miene hielt einer der Sicherheitsleute sie auf. Niels überreichte ihm den Wisch, der sorgfältig geprüft wurde. Der andere Sicherheitsmann telefonierte mit seinem Handy. Und dann sagte er:
"Bleiben Sie bitte hier stehen. Sie werden abgeholt."
Erstaunt schauten sich die beiden an.
Lange brauchten sie nicht zu warten. Zwei kräftig aussehende Matrosen kamen herbeigelaufen. Als sie das Eingangstor erreichten, fragten sie wie aus einem Munde: "Sara Perres und Niels Orsted?"
Die beiden vermochten nur zu nicken.
Ehe sie sich versahen, übernahmen die beiden Matrosen ihre insgesamt vier Taschen. Einer wandte sich an die Sicherheitsleute und meinte lapidar: "Das Gepäck braucht nicht kontrolliert zu werden. Mister Jordan bürgt für seine Gäste."
Die beiden Sicherheitsleute gaben sich respektvoll. Ganz anders als vorher gegenüber Sara und Niels.
Der andere Matrose sagte freundlich zu ihnen: "Miss Perres, Mister Orsted, wenn Sie uns bitte folgen wollen? Es ist nicht so weit. Sehen Sie dort hinten, der Viermaster?"
Sara sah nur eine einzige Yacht mit vier Masten. Das schien ungewöhnlich zu sein, denn die anderen Yachten hatten meistens nur einen Mast. Überhaupt war das ein richtiges Schiff, wie es aus dieser Entfernung aussah, also viel mehr als man sich eine Yacht vorstellte. Wie viele Meter Länge hatte es denn?
Sie dachte an ihren Traum zurück und wußte gleichzeitig, wie es an Bord war. In der Tat, das Schiff war ziemlich groß für seine Kategorie. Darauf hätte bequem eine ganze Urlaubsgesellschaft Platz gefunden. Und sie sollten nur zu zweit...? Da fiel ihr ein, daß sie das mit Niels immer noch nicht geklärt hatte. Aber jetzt war keine Gelegenheit, ihn danach zu fragen. Außerdem würde sie es bald selber erleben.
Die beiden Matrosen legten ein Tempo vor, daß die beiden Gäste sich beeilen mußten, um nicht den Anschluß zu verlieren.
"Siehst du - und da hast du gemeint, wieder zurück zum Auto gehen zu müssen wegen meinen beiden Taschen", raunte sie unterwegs ihrem Freund zu.
Dieser mußte lachen. "Ja, ja, hast recht gehabt - ausnahmsweise."
"Wie war das? Ausnahmsweise?"
"Gut, ich gebe ja zu, es ist nicht das erste Mal."
"Nicht das erste Mal?"
"Nun, vielleicht auch das zweite...?"
Sie knuffte ihn mit dem Ellenbogen an. Aber dann lachten sie beide.
Die beiden Matrosen taten so, als würden sie nichts davon mitbekommen. Sowieso taten sie sehr beflissen.
Und dann waren sie am Ziel.
So nah gesehen, blieben Sara und Niels unwillkürlich stehen. In der Tat, das Schiff war ungewöhnlich. Mindestens so ungewöhnlich wie sein Wert hoch war. An der Seite stand in riesigen Lettern der Name: Britta! Unter normalen Umständen hätten sie noch nicht einmal in die Nähe kommen dürfen. Was hatte der Vater von Niels eigentlich getan, um zu dieser Ehre zu gelangen und sein Privileg sogar auch noch weitergeben zu können an seinen Sohn und dessen Freundin? Eine Frage, die möglicherweise bald beantwortet werden würde, denn an der Reling oben, am Ende des Fallreeps, über das es an Bord ging, stand ein älterer, sportlich wirkender Herr und winkte ihnen fröhlich zu. Er war ganz in Weiß gekleidet und trug ein Halstuch. Genauso hatte sich Sara einen richtigen Yachtbesitzer immer vorgestellt. Mit seinen angegrauten Haaren und seinem leicht wettergegerbten Gesicht erschien er gerade so wie aus dem Bilderbuch für echte Hochseeyachtkapitäne entsprungen.
Und dann trat eine Dame neben ihn, die um einiges jünger wirkte, aber dennoch das ideale weibliche Äquivalent zum männlichen Yachtkapitän bildete. Auch sie winkte fröhlich zur Begrüßung.
"Damit erübrigt sich zumindest die Frage, ob wir denn allein in See stechen werden", murmelte Sara vor sich hin.
Niels hörte und verstand es. "Hast du denn was anderes vermutet?"
"Nein, eigentlich nicht: Ich habe nämlich gar nichts vermutet."
Sara und Niels folgten endlich weiter den beiden Matrosen und somit ihrem Reisegepäck hinauf an Bord.
"Sara und Niels!" rief ihr Gastgeber und umarmte erst Sara und dann Niels herzlich zur Begrüßung. "Ich bin Gregor Jordan. Das hier ist meine Frau Britta." Damit war den beiden klar, woher der Name des Schiffes stammte. "Willkommen an Bord!"
Seine Frau zeigte sich genauso hocherfreut, und es sah nicht danach aus, als würde sie es nur spielen. Sie umarmte die beiden jungen Gäste ebenfalls zur Begrüßung.
Dann entschuldigte sich Gregor Jordan ein wenig verlegen: "Verzeiht die herzliche Art. Wir sind das so gewöhnt. Zumindest bei besonderen Gästen, und ihr beide seid schon ziemlich besonders, muß ich zugeben." Er wechselte einen Blick mit seiner Frau. "Wahrscheinlich wundert ihr euch sowieso ein wenig. Äh, es macht euch doch nichts aus, wenn wir von vornherein alle Förmlichkeiten weglassen? Immerhin sind wir ein paar Wochen gemeinsam unterwegs. Da sind Förmlichkeiten eher störend, um nicht zu sagen langweilig. Oder soll ich es ätzend nennen, wie ihr jungen Leute euch heutzutage auszudrücken beliebt?"
"Ist schon recht so", stotterte Niels verdattert. Sara hatte ihren Freund noch nie so erlebt.
Gregor Jordan hieb ihm kameradschaftlich auf die Schulter. "Also gut, jetzt erst mal meine Frage: Was hat dir eigentlich dein Vater erzählt?"
"Nicht viel, muß ich zugeben. Gestern morgen hat er mir erst erzählt, daß er geschäftlich verhindert sei und deshalb die Reise nicht antreten könne. Ob ich denn einspringen wolle - mit meiner Freundin Sara nämlich."
"Also gut, bevor wir in die Bar zum Begrüßungscocktail schreiten, muß ich es euch erklären: Dein Vater hat mir geschäftlich sozusagen das Leben gerettet! Ohne den geringsten Eigenvorteil zu haben, hat er mich vor einem schlimmen geschäftlichen Fehler bewahrt. Er hat mich ganz unmißverständlich darauf aufmerksam gemacht. Mehr noch: Er hat sich sogar von mir beschimpfen lassen wegen seiner Einmischung, ohne jedoch lockerzulassen. Bis es ihm endlich doch gelang, mir die Augen zu öffnen. Gerade noch rechtzeitig. In meinem ganzen Leben ist mir so etwas noch niemals begegnet. Hast du eigentlich eine Ahnung davon, was für einen großartigen Vater du hast?"
"Äh, ja, irgendwie schon..."
"Und er hat es dir gar nicht erzählt? Wahrscheinich noch nicht einmal seiner lieben Frau. Das zeigt erst recht, was für ein großartiger Bursche er ist. Es zu erzählen, wäre ihm wahrscheinlich eher peinlich gewesen. Das einzige, was er überhaupt aus meiner Dankbarkeit heraus von mir annehmen wollte, nach langer, langer Überredungszeit, war diese gemeinsame Seefahrt... Also, wenn ich ganz ehrlich sein will: Als mir das so richtig bewußt wurde, was für eine Bescheidenheit und menschliche Größe er hat, habe ich mich echt gewundert, wieso dein Vater trotzdem geschäftlich so erfolgreich ist. Ja, das ist er ja in der Tat. Aber dann bin ich selber darauf gekommen: Es ist gerade seine Ehrlichkeit und Bescheidenheit, die ihn einen kühlen Kopf in geschäftlichen Dingen bewahren läßt, und all seine Angestellten stehen in einem Maße hinter deinem Vater..."
"Ach, laß doch, Gregor", unterbrach ihn seine Frau tadelnd. "Du siehst doch, daß du den jungen Niels Orsted ganz verlegen machst. Der schlägt seinem Vater nach, ganz eindeutig."
"Ja, ja, ist ja schon gut", lachte Gregor Jordan und winkte mit beiden Händen ab. Zu Sara sagte er: "Hast du wirklich eine Ahnung davon, wie großartig...?"
Schon wieder wurde er von seiner besseren Hälfte unterbrochen: "Das hat Sara ganz bestimmt, sonst wäre sie nämlich nicht mit ihrem Niels zusammen, nicht wahr, Sara?"
Sara nickte ihr lächelnd zu.
"Na, dann", rief der steinreiche Gregor Jordan ausgelassen, "auf gehts, alle folgen mir in Richtung Bar!" Er setzte sich in Bewegung. Doch dann stockte er kurz: "Äh, wenn einer von euch beiden keinen Alkohol mag, ist das kein Problem, denn ich habe zwei Sorten von Cocktails mixen lassen. Ich kann euch versichern, der Mann ist ein Genie. Deshalb habe ich ihn damals vom Fleck weg engagiert, damals in Rio. Nur für Cocktails, und in ein paar Minuten werdet ihr wissen, daß dies zu den besten Investitionen meines Lebens gehört." Er lachte über seine eigenen Worte wie über einen gelungenen Scherz. "Einmal abgesehen von meiner Heirat mit Britta natürlich und dem Kauf von diesem bescheidenen Boot hier." Er zwinkerte den beiden verschwörerisch zu. "Äh, unter uns gesagt, um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich sehe zwar aus wie ein richtiger Kapitän, aber ich habe genauso wenig Ahnung von der Seefahrt wie ihr beide, die ihr wahrscheinlich zum ersten Mal auf einem Schiff mitfahrt. Aber keine Sorge, ich habe sehr gute Leute, auf die wir uns hundertprozentig verlassen können."
Sara und Niels waren zwar alles andere als beruhigt, aber sie folgten ihren Gastgebern zur Bar. Unterwegs schielten sie nach den beiden Matrosen, die ihr Gepäck getragen hatten. Sie waren nirgendwo mehr zu sehen.
Am Eingang zur Bar wartete ein Mann ungefähr in Jordans Alter, aber mit noch aufwendigerer Uniform.
"Captain, meinetwegen können wir ablegen und in See stechen", sagte Jordan zu ihm.
"Meinetwegen auch", murmelte der brummig. Er nickte Sara und Niels zu: "Tach auch!"
Erst als er weg war, raunte Jordan den beiden zu: "Ist ein Norddeutscher. Den habe ich vor Jahrzehnten aufgegabelt. Wenn nicht, hätte ihn der Suff längst umgebracht. Aber ich habe ihm eine Aufgabe gegeben, und das hat wieder einen ganzen Kerl aus ihm gemacht. Allerdings ist er ziemlich brummig - und der eigentliche Grund, wieso ich keine Ahnung von der Seefahrt habe: Dann komme ich auch nicht in Versuchung, ihm in seinen Job reinzureden. Tut mir den Gefallen und trinkt niemals Alkohol in seinem Beisein. Ein prima Kerl und ein Seebär durch und durch - so lange er nüchtern bleibt, und das bleibt er schon, seit wir uns kennen. Na, wenigstens in dieser Beziehung hört er auf mich - immerhin!" Er lachte mal wieder.
Seine Frau schüttelte den Kopf und schnitt dabei eine Grimasse hinter seinem Rücken.
Gemeinsam betraten sie die Bar. Sara und Niels blieben unwillkürlich an der Schwelle stehen. So etwas Großartiges hatten sie noch niemals mit eigenen Augen gesehen. Das blitzte und glitzerte. Eine Bar wie in einem unbezahlbaren Luxushotel, nur kleiner, gemütlicher, privater. Hinter dem Tresen stand eine schmale, männliche Gestalt, von den Gesichtszügen her eindeutig ein Indio. Er lachte freundlich.
"Das sind unsere Gäste!" sagte Jordan wichtig und deutete auf Sara und Niels.
Der Barkeeper deutete in ihre Richtung eine Verbeugung an. "Herzlich willkommen an Bord. Ich habe mir erlaubt, Cocktails aus eigener Kreation zur Begrüßung vorzubereiten. Falls sie nicht schmecken, bin ich natürlich gern bereit, mich Ihren speziellen, individuellen Wünschen anzupassen!"
Die beiden probierten - und waren begeistert. Nicht schmecken? Das war absolut nicht vorstellbar.
"Ich versichere übrigens, daß meine Cocktails bekömmlich sind. Also, es gibt keine Reue danach", behauptete der Barkeeper selbstbewußt lachend.
"Na, habe ich euch zuviel versprochen?" erkundigte sich Gregor Jordan.
Sara und Niels schüttelten wie auf ein Kommando die Köpfe.
Wenig später bekamen sie mit, daß die Hochseeyacht ablegte. Draußen ertönten seemännische Befehle. Lieber hätten sie ja jetzt alles sich angesehen, den ganzen Vorgang, möglichst bis sie die offene See erreicht hatten, denn schließlich befanden sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben auf einem auslaufenden Schiff, aber ihre Gastgeber dachten gar nicht daran, daß es interessant für sie sein könnte. Sie ließen lieber wieder neue Cocktails mixen.
"Das müßt ihr unbedingt noch probieren!" schwärmte Gregor Jordan. Seine Frau nickte diesmal zustimmend.
Sara hatte da so ihre leisen Zweifel, ob das wirklich auf Dauer so bekömmlich sein konnte, wenn sie gleich dermaßen übertrieben...
*
Die nächsten Stunden bekamen sie keinen Fuß aus der Bar. Dort gab es nicht nur Cocktails, sondern zwischendurch wurde auch noch ein festliches Begrüßungsmahl serviert. Sara hatte prompt die Befürchtung, sich innerhalb der nächsten Wochen gewissermaßen zu verdoppeln - im wahrsten Sinne des Wortes -, bei diesem überreichlichen Angebot.
Andererseits hegte sie große Zweifel, ob sie wirklich so lange unterwegs sein würden. Sie ließ sich zwar nichts anmerken, aber mit jedem Meter, den sich die Yacht der offenen See näherte, schlug ihr Herz ein wenig schneller. Nach Stunden raste es förmlich. Sie fühlte sich einerseits wie in Trance und andererseits so wach wie kaum jemals zuvor. Sie nahm jede Kleinigkeit ganz genau wahr und beherrschte sich großartig.
Sowieso brauchten sie und Niels nur wenig zu der Unterhaltung beizusteuern. Dafür benötigte Gregor Jordan nämlich niemanden. Wenn ihn seine Frau Britta nicht ab und zu ausgebremst hätte, wäre er wahrscheinilch noch überschwenglicher geworden als er es ohnehin schon war.
Niels neigte inzwischen genauso wie seine Freundin Sara zu der Meinung, wie er mit einem entsprechenden Blick bestätigte: Möglicherweise hatte sein Vater die plötzliche Unabkömmlichkeit nur vorgetäuscht, weil er die Art von Gregor Jordan bereits kannte? Mit dem wurde es zwar keineswegs langweilig, aber dafür mit Sicherheit anstrengend - sehr anstrengend sogar.
Beinahe hätte Sara ergeben geseufzt. Ein Zurück gab es jedenfalls nicht mehr für sie. Und dann kam ihr wieder in den Sinn, daß es sich im Grunde genommen für sie eher um einen Kurztrip handelte. Sie waren mitgekommen, um zu ergründen, was es mit ihrem Traum und vor allem was es mit dem Geisterpiraten auf sich hatte. Vor allem Sara interessierte Letzteres. Nicht nur, weil ihr Herz wie wild schlug, wenn sie nur an ihn dachte und sich dabei bewußt wurde, daß sie ihm jetzt sehr nahe war... Zwar konnte sie nicht seine Anwesenheit spüren, aber der Geisterpirat war auf dem Meer zuhause - und sie waren auf dem Weg zu ihm. Dabei brauchten sie keinen speziellen Kurs einzuschlagen, denn Sara ahnte schon, daß jeder Kurs zwangsläufig zu ihm führen würde.
Inzwischen war bereits Nachmittag, und endlich erlaubte ihnen Gregor Jordan, die Bar zu verlassen. Es drängte ihn anscheinend selber hinaus, denn er sagte dabei: "Die beste Luft ist die draußen auf hoher See. Kommt mit. Ich werde es euch beweisen."
Sie traten alle vier vor die Tür, und Gregor Jordan machte es vor: Er schöpfte tief Atem, schloß ergeben die Augen und ließ dann ganz langsam die Luft wieder entweichen. Anscheinend sollte das jeder von ihnen nachmachen. Seine Ehefrau Bitta tat ihm als erste den Gefallen. Dann folgten Sara und Niels.
Nach dem Ritual fragte Gregor Jordan: "Na, habe ich zuviel versprochen?"
Hatte er auch diesmal nicht! Die würzige Seeluft war wirklich etwas Besonderes. Sara, die noch niemals draußen auf hoher See gewesen war, zeigte sich ehrlich überrascht. Dann schaute sie sich wie suchend um.
Geisterpirat, dies ist dein Zuhause, und ich bin jetzt hier, bei dir. Siehst du mich? Spürst du mich?
Gregor Jordan sah ihr Interesse, verstand es jedoch völlig falsch, weil er natürlich nichts von ihren heimlichen Gedanken ahnte - genauso wenig wie Niels.
"Ach, ich sehe schon, deine Freundin ist eine Genießerin, Niels. Sie hat sofort begriffen, daß es etwas Besonderes ist hier draußen. Allerdings gibt es auch Situationen, da ist man lieber an Land. Zum Beispiel, wenn ein Sturm aufkommt..." Er winkte beruhigend ab und lachte dazu. "Aber keine Bange, ich habe vorher das Wetter eingeholt und kann euch versprechen, wir werden schönstes Seewetter haben. Nicht zu heiß und vor allem nicht kalt. Hier draußen werden wir nicht nur von der heißen Sonne verwöhnt, sodnern auch von einer ständigen Brise. Und falls es uns dennoch zu warm werden sollte, gehen wir von Deck und schalten die Klimaanlage ein."
"Brauchen wir nicht", meinte Britta an seiner Seite, "weil sie längst eingeschaltet ist, nicht nur in der Bar."
"Aha?" wunderte sich ihr Mann. "Ist mir gar nicht aufgefallen. Jedenfalls, hier draußen ist es mal wieder klasse. Habt ihr Lust, jetzt einen kleinen Rundgang mit mir zu machen? Ich zeige euch dann noch eure Kabine. Für unsere Gäste nur das Beste!" Er zwinkerte mal wieder verschwörerisch.
Da seine Worte keinerlei Widerrede duldeten und die beiden sowieso über alle Maßen neugierig waren, ließen sie sich führen. Und es war auf das Detail genau das Schiff aus ihrem Traum! Sara hatte davon ja nur einen vergleichsweise kleinen Ausschnitt gesehen, während Niels sie überall gesucht hatte. Also kannte er eigentlich die Yacht schon ziemlich genau, durfte es sich jedoch nicht anmerken lassen.
Sara sah ihm an, daß ihm ziemlich mulmig zumute war. Kein Wunder, wenn man von etwas träumte und dann real das gleiche sah... Ihr erging es erst so, als sie vom Bug aus das Ruder erblickte. Das gab ihr regelrecht einen Stich ins Herz.
Am Ruder stand ein Uniformierter. Es war nicht der Kapitän selber, sondern anscheinend der Steuermann.
Logisch, dachte Sara leicht belustigt, deshalb nennt man ihn ja auch so: Weil er am Steuer steht.
Normalerweise hätte so etwas ihre Laune verbessert, aber diesmal ging das gar nicht.
Sie ließen sich weiterführen, bis sie die Kabine erreichten. Für Niels war sie nicht neu, aber Sara hatte nicht von der Kabine geträumt. Ihr Traum hatte erst an Deck begonnen.
Der Luxus verschlug ihr den Atem. Das war ja wie eine Suite in einem sündhaft teuren Hotel! Es wurde wirklich an nichts gespart. So etwas hatte Sara noch nicht einmal in entsprechenden Filmen gesehen. Wie reich war dieser Gregor Jordan eigentlich? Sie hatte noch nie seinen Namen gehört zuvor. War er einer von diesen extrem Reichen, von denen niemand etwas wußte, weil sie niemals öffentlich in Erscheinung traten? Es sah ganz danach aus. Aber irgendwie gab es eine Geschäftsverbindung zwischen Gregor Jordan und dem Vater von Niels. War dieser eine Art Subunternehmer im Unternehmensverbund von Jordan?
Sara verscheuchte schleunigst alle Gedanken wieder, die in diese Richtung strebten. Das alles ging sie nichts an, und eigentlich interessierte es sie auch nicht sonderlich. Deshalb würde sie auch Niels nicht danach fragen. Obwohl dieser sicher genauso wenig über die Hintergründe wußte.
"Soll ich jemanden abstellen, der eure Taschen auspackt?" erkundigte sich Gregor Jordan beflissen.
Sara und Niels lehnten dankend ab. Das wollten sie natürlich selbst erledigen.
Es grenzte an eine Wohltat, als Gregor Jordan sie anschließend endlich allein ließ, "damit sie sich akklimatisieren und frischmachen" konnten, wie er sich ausdrückte.
Sara verschwand prompt als erste im Bad, das keine Wünsche offenließ. Das war keineswegs wie an Bord einer Hochseeyacht oder wie man es sich auf einer solchen vorstellen mochte.
Als sie wieder auftauchte, hatte Niels komplett ausgepackt.
"Ob sich das überhaupt lohnt?" kommentierte er es, ohne dabei Sara anzusehen.
"Wie meinst du das?"
"Das weißt du ganz genau, Sara: Es naht die Nacht der Entscheidung. Auch wenn das jetzt theatralisch klingen mag, aber ich bin fest überzeugt davon. Mehr noch: Ich weiß es!"
Ich auch, dachte Sara, aber laut sagte sie: "Warten wir es ab."
Sie packte jetzt ebenfalls aus. Egal, ob es sich nun lohnte oder nicht: Was sollte sie sonst tun? Sie fühlte sich dermaßen aufgedreht, daß sie sich unmöglich still hinsetzen konnte, und zu Gregor Jordan und seine Frau wollte sie auch nicht so schnell zurückkehren. Es reichte, wenn sie bei denen wieder zum Abendessen auftauchten. Es sah ganz danach aus, als hätte Gregor Jordan dafür sogar vollstes Verständnis - gottlob.
Während dem Auspacken fiel Sara etwas auf: "Mist!"
"Was ist denn, Liebes?"
"Ich habe nichts für die Nacht, also nichts anzuziehen zum Schlafen."
"Das Nachthemd!" entfuhr es Niels unwillkürlich.
Sara schaute ihn verständnislos an. In diesem Moment klopfte es zaghaft an der Tür. Sie fuhren erschrocken zusammen. Sara stand der Tür am nächsten und ging deshalb hin, um zu öffnen.
Britta Jordan stand verlegen lächelnd davor. "Entschuldige die Störung, Sara, aber falls dir was fehlt... also, falls du was vergessen haben solltest beim Packen... Kein Problem. Ist alles da. Sogar ein passendes Nachthemd, falls du das brauchst."
Sara starrte sie an wie ein Gespenst. War das jetzt wirklich nur ein Zufall, daß Britta ausgerechnet in diesem Augenblick mit einem solchen Angebot hier auftauchte? Sie mochte nicht daran glauben! Aber wieso war sie sonst hier, um ihr das nit dem Nachthemd zu sagen?
"Äh, das gilt natürlich nicht nur für dich, Sara, sondern auch für Niels: Also, wenn was fehlt, einfach melden. Hier neben der Tür ist ein Klingelknopf. Wenn ihr ihn drückt, ruft ihr damit den Service, der jederzeit, rund um die Uhr, für euch da ist. Ich wette, mein Mann hat völlig vergessen, euch das zu sagen, ist es nicht so?" Sara nickte wie betäubt. "Na, dann will ich nicht länger stören. Wir sehen uns in zwei Stunden zum Abendessen. Ihr könnt natürlich auch früher in die Bar kommen, wenn ihr Lust habt. Ganz wie ihr wollt.
Sie zwinkerte noch aufmunternd Sara zu und zog sich dann zurück.
Sara schloß die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ihr war auf einmal schwindlig, und sie mußte die Augen schließen. "Das ist ja gerade so, als würde alles zusammenpassen... Eine ganze Kette von ungewöhlichen Zufällen - und wir sind die Betroffenen, Niels, wir beide."
Sie riß die Augen nach diesen Worten wieder auf und schaute zu ihm hin. Dabei hatte sie das Gefühl, als würde eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen greifen: Dort, wo Niels noch vor Sekunden gestanden hatte, stand auf einmal... ein anderer: Der Geisterpirat! Er hatte dasselbe an wie Niels, dieselbe Haltung, aber die Figur war ein wenig muskulöser und natürlich sein Gesicht sah anders aus.
Er lächelte Sara an und sagte: "Willkommen, meine Geliebte! Willkommen in meinem Reich!"
Im nächsten Augenblick war er verschwunden, und sie sah an derselben Stelle wieder Niels, der ihren forschenden Blick erschrocken erwiderte. "Was - was ist denn los mit dir, Sara?" erkundigte er sich besorgt. "Du schaust mich ja gerade so an, als sei ich ein Gespenst."
"Ach, nichts!" Sara winkte ab. "Oder meinst du nicht auch, daß dies alles ein paar Zufälle zuviel sind?"
"Wären nur die Ereignisse allein, wäre es schon ungewöhnlich genug. Aber hinzu kommt noch unser Traum.
Du hast leider keine Ahnung vom Geisterpiraten, weißt nur von ihm, weil ich ihn erwähnte habe, dachte Sara respektlos. Als es ihr bewußt wurde, regte sich ihr schlechtes Gewissen. Sie lief zu Niels hinüber und flüchtete sich in seine Arme.
Er drückte sie fest an sich, und das tat ihr unendlich gut. Beinahe hätte sie darüber sogar den Geisterpiraten vergessen. Ja, nur beinahe...
*
"Alles wird gut!" sagte Niels und streichelte Sara beruhigend über das Haar.
Sara stutzte: Die Stimme von Niels hatte seltsam anders geklungen. Und im nächsten Moment wußte sie auch schon wie. Sie wollte ihn von sich stoßen, doch er ließ es nicht zu. Mit unglaublicher Kraft hielt er sie in seinen Armen, und mit sanfter Stimme redete er gleichzeitig auf sie ein: "Hörst du, Sara? Alles wird gut! Nichts, was passiert, ist ohne Sinn. Das eine paßt zum anderen, bis sich die Dinge erfüllen, auf dem Höhepunkt, dann, wenn wir für immer ein Paar sein werden."
"Nein!" stöhnte Sara gequält, aber sie wollte jetzt gar nicht mehr aus seinen Armen flüchten. Nicht nur, weil er sie festhielt.
Er schien es zu spüren, denn sein Griff lockerte sich. Er streichelte ihr wieder über das Haar. Sie fühlte dabei deutlich, dass es Niels war, ihr Niels - einerseits. Er fühlte sich so vertraut an. Sie roch sein Rasierwasser, spürte, wie sein Herz in der Brust pochte, so nah war er ihr. Doch gleichzeitig war Niels ein anderer. Ein Fremder, der trotzdem nicht fremd erschien: Der Geisterpirat! Wie bei der ersten Begegnung, als sie ihn wegen dieser Vertrautheit sogar mit Niels verwechselt hatte.
Ist es denn die Möglichkeit? fragte sie sich höchst verwirrt. Ich liebe Niels und... gleichzeitig einen Geist? Wie ist das möglich? Wäre er ein lebendiger Mann, wäre das schon schlimm genug, nicht nur für Niels, sondern vor allem auch für mich. Niels weiß ja nichts davon. Aber er ist kein lebendiger Mann, sondern nur ein Geist. Nur?
Jedenfalls schien er wesentlich mehr Macht zu besitzen als ein Lebender. Hatte er sie nicht hierher gelockt, damit sie ihm in die Falle ging?
"Es ist kein Falle, Sara", sagte er sanft. Offensichtlich konnte er ihre geheimsten Gedanken lesen. "Du bist freiwillig hier. Nichts und niemand hat dich dazu gezwungen. Außer vielleicht dein Herz. Ja, so ist das halt, Sara: Wir können nichts für unsere Gefühle. Wir kommen nicht dagegen an, also sollten wir uns nicht so sehr dagegen wehren. Das bringt nur unnötig Unglück über alle, vor allem über Niels, der gar nichts davon ahnt. Ich spüre, daß dir noch viel an ihm liegt, aber ich spüre auch deine verzehrende Liebe... zu mir!"
"Nein!" widersprach sie heftig. Aber wieso floh sie dann nicht aus seinen Armen, jetzt, wo er es zugelassen hätte? Stattdessen klammerte sie sich an ihn, wie eine Ertrinkende.
"Nein!" wiederholte sie, doch diesmal war es kein Schrei, sondern nur noch ein Schluchzen. Sie wollte das alles gar nicht. Sie wollte nur einen einzigen, nämlich ihren Niels. Er sollte sie mit keinem anderen teilen müssen. Aber was sie tief in ihrem Herzen wirklich empfand, widersprach dem entschieden. Die ganze Zeit schon versuchte sie mit aller Macht, sich dagegen zu wehren, doch es gelang ihr einfach nicht. Wie war das nur möglich?
"Du - du hast mich beeinflußt, verhext!" warf sie ihm vor, ohne von ihm abzulassen, als befürchtete sie, er würde verschwinden, wenn sie es auch nur wagte, an ihm emporzuschauen.
"Verhext? Es ist die wahre Liebe, nicht irgendeine profane Macht der Magie. Ich bin genauso ihr Gefangener wie du, Sara. Wir beide lieben, ohne es zu wollen. Die Liebe hat uns zu ihrem Opfer gemacht."
"Aber du bist noch nicht einmal mehr ein Mensch. Du bist ein Geist. Du lebst gar nicht. Du bist tot, vergangen. Wie also...?" Sie brach ab und begann zu weinen.
"Bitte, Sara, keine Tränen. Ich kann es mir doch selbst nicht erklären. Nun, wer kann das schon, die Liebe verstehen? Sie ist das stärkste aller Gefühle und überrennt uns immer dann, wenn wir es am wenigsten vermuten."
"Ich liebe Niels!" schluchzte sie verzweifelt.
"Ich weiß, Darling, doch jetzt kennst du mich - und die Liebe zu Niels verschwindet, um der Liebe zu mir mehr und mehr Platz einzuräumen. Lausche in dich hinein. Dort findest du die Antwort. Und es liegt wirklich nicht an mir. Ich manipuliere dich nicht, sondern liebe umgekehrt genauso dich. Obwohl ich nur ein Geist bin."
Sara fiel etwas ein, was scheinbar dem widersprach, was der Geisterpirat hier erzählte: Sie dachte an den Traum und daran, was er dort gesagt hatte. Hatte er nicht vom Ruf des Geisterpiraten erzählt, dem niemand entrinnen kann?
Sie hatte es so wach im Gedächtnis, als sei es gerade eben erst geschehen: "Es gibt keine Aussicht auf Flucht..." Es klang, als würde er im Schlaf fantasieren. Und dann fügte er hinzu: "...wenn der Geisterpirat dich ruft!"
Irgendwo mußte also die eigentliche Wahrheit versteckt sein, in dem, was er soeben behauptet hatte. Er liebte sie? Sie wußte selbst, was sie für ihn empfand, obwohl sie es nicht verstehen konnte - und wollte. Aber der Traum, in dem sie ihn zum ersten Mal überhaupt in ihrem Leben gesehen hatte... Dieses Gefühl konnte unmöglich vorher entstanden sein, also schloß es für sie als Grund für den Traum völlig aus.
Jetzt war ihr Mißtrauen wach und half ihr, den Widerstreit ihrer Gefühle zu überwinden. Ihre Liebe zu Niels überwog diesmal wieder. Sie stieß sich von dem Körper ab, der nicht mehr ganz Niels gehörte, sondern zum Teil zu dem Körper des Geisterpiraten geworden war, auf wundersame Weise. Sie schaute Niels forschend ins Gesicht.
Er blinzelte überrascht, als würde er aus einem Traum erwachen, und meinte besorgt: "Aber, Sara, du hast ja geweint? Das - das habe ich gar nicht bemerkt. Gott, Liebling, was bist du denn so erschrocken?"
Sie spürte es mit aller Deutlichkeit: Der Geisterpirat hatte sich wieder vollständig zurückgezogen.
Sara nahm beide Hände von Niels und drückte sie ganz fest. "Eines mußt du mir versprechen, Niels."
"Alles, was du willst!" behauptete er und versuchte ein Lächeln, was ihm allerdings mißlang, weil er immer noch darüber grübeln mußte, was mit ihm geschehen war.
"Wir müssen immer zusammenhalten, hörst du? Was immer auch geschehen mag."
Das gilt vor allem für mich! dachte sie voller Ingrimm über sich selber, weil sie schon vorher wußte, daß dieses Gefühl wieder stärker werden würde, das sie für den Geisterpiraten empfand. Sie stand nicht zwischen zwei Männern, was allein schon schlimm genug gewesen wäre, sondern zwischen einem Mann und einem... Geist! Das war um ein Vielfaches schlimmer, wie sie meinte.
Aber sie wollte Niels weder verlassen noch ihm sonstwie wehtun. Das hatte er ganz einfach nicht verdient. Sie war sich völlig sicher, daß er wirklich hundertprozentig zu ihr hielt, egal, was auch passierte. Aber sie mußte umgekehrt genauso verlässlich für ihn sein und mußte endlich aufhören, zwischen ihm und dem Geisterpiraten hin- und herzupendeln. Eine klare Entscheidung des Herzens mußte gefällt werden. Hier und jetzt und für alle Zeit.
"Ja, ich verspreche es!" sagte Niels, und Sara glaubte ihm aufs Wort.
"Ich dir auch!" behauptete sie und lauschte ihren eigenen Worten nach. Klangen sie nicht irgendwie ein wenig... verlogen? Obwohl sie das ganz und gar nicht beabsichtigte?
*
Nach dieser feierlichen Szene war es erst einmal sehr still zwischen den beiden. Sie hockten nebeneinander auf dem Bettrand, und es hing ein jeder seinen eigenen, schweren Gedanken nach. Bis Sara spontan eine Entscheidung fällte.
"Der Geisterpirat...", begann sie zögerlich.
Niels horchte auf. "Ja, was ist denn mit dem?"
"Ich erzählte dir, daß er mir in meinem Teil des Traumes begegnet ist, wenn auch nur kurz, weil ich danach wach wurde."
"Ja, hast du. Ist er...?" Er brach ab und benötigte einen erneuten Anlauf für seine Frage: "Ist er dir noch einmal begegnet?"
Sara konnte und wollte darauf nicht antworten - verständlicherweise. Sie versuchte, davon abzulenken, wobei sie es nicht wagte, ihren Niels anzuschauen. "Er hat mit dem allem hier zu tun, Niels. Davon bin ich fest überzeugt."
"Wie kommst du zu der Annahme?" wunderte sich ihr Freund.
"Ich spüre es ganz deutlich." Jetzt wandte sie sich ihm voll zu. "Niels, eine Frau hat dafür ein Gefühl, glaube mir."
"Wofür?"
"Eine Frau spürt, wenn ein Mann sie begehrt!"
Jetzt war es heraus.
Niels reagierte völlig anders als erwartet: Er lachte amüsiert. "Aber, Sara, der Geisterpirat ist nur ein Geist, nichts weiter. Geister können vielleicht erschreckend sein, aber sie sind nicht wirklich gefährlich."
"Bist du da wirklich sicher?"
"Natürlich, Sara, weil man noch nie davon gehört hat, daß ein Geist irgendwie... sagen wir mal: straffällig geworden sei, wenn du verstehst, was ich meine."
Sara schüttelte den Kopf. "Was ist denn das jetzt für ein Unsinn? Willst du mich auf den Arm nehmen oder nur beruhigen? Das brauchst du nicht, denn ich habe keine Angst vor dem Geisterpiraten. Wenn er uns etwas wirklich Böses antun wollte, wäre es sicher schon geschehen." In Gedanken fügte sie jedoch hinzu: Dabei habe ich nicht die geringste Ahnung, wie das hier überhaupt enden wird. Zur Zeit kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen, daß alles wieder gut werden könnte.
Niels lachte abermals. Diesmal klang es ein wenig gekünstelt. "Ach, egal. Vieleicht habe ich mich nur unglücklich ausgedrückt. Jedenfalls, wie sollte ein Geisterpirat eine Frau begehren - eine lebende Frau wohlgemerkt?"
"Ich weiß es nicht, ehrlich, Niels, aber ich spüre deutlich, daß es so ist!" Mehr wollte sie auf keinen Fall zugeben. Wahrscheinlich hatte sie sowieso schon zuviel gesagt. "Du kannst es mir wirklich glauben, und es ist keineswegs ein Unsinn!"
"Du - du sagst das dermaßen überzeugt..." Niels schüttelte verdattert den Kopf. "Aber wenn da wirklich was dran ist...?"
"Was dann?" hakte Sara sofort alarmiert nach.
"Geisterpirat? Wie ist es dazu gekommen?"
"Du glaubst mir wenigstens, daß er existiert. Das ist ja schon etwas", meinte Sara resignierend.
"Warum sollte ich nicht daran glauben - nach dem Traum, den wir hatten und wo ich jedes Detail dieses Schiffes gesehen habe, wie ich es heute in Wirklichkeit haargenauso vorfinden konnte? Ich kenne mich so gut auf dem Schiff aus, wegen der verzweifelten Suche nach dir, daß ich mich beinahe blind zurechtfinden würde. Dabei handelt es sich offensichtlich um eine Sonderanfertigung. Zwar habe ich überhaupt keine Ahnung von Schiffsbau, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals so eine Yacht gesehen zu haben, noch nicht einmal auf Bildern. Ich meine, man bekommt ja immer wieder was zu sehen in dieser Richtung, zum Beispiel im Fernsehen, wenn es um die Reichen und noch Reicheren geht..." Er stutzte plötzlich. Dann entfuhr es ihm: "Apropos Reichen...!"
Sara schaute ihn forschend an. Was war denn jetzt auf einmal los mit Niels?
Er sagte es ihr nach einigem Nachdenken: "Dieser Gregor Jordan ist doch immens reich, sonst könnte er sich diese Yacht nicht leisten. Stimmst du mir darin zu?"
"Ja, aber worauf willst du hinaus?
"Ganz einfach, Sara: Was machen denn Piraten - oder besser gesagt: Was haben sie vor Jahrhunderten gemacht, als sie noch die Weltmeere heimsuchten? Denke einmal an den berühmtesten und gleichzeitig berüchtigsten Piraten des siebzehnten Jahrhunderts: Henry Morgan! Ein Engländer, der als wahrer Fluch die Karibik unsicher machte und dabei immense Reichtümer ansammelte. In seiner Heimt, Old England, wurde er später sogar geadelt, weil er der britischen Krone in die Hände spielte."
"Sir Henry Morgan? Ja, ich glaube, den kennt jeder."
"Genau. Aber es gab auch noch andere Burschen von ähnlichem Kaliber. Nicht ganz so erfolgreich zwar, aber dennoch hat es damals für einen gewissen Reichtum gereicht."
"Du meinst...?" Sara schlug sich unwillkürlich die Hand vor den Mund.
"Genau das: Gregor Jordan ist reich, und zwar nicht erst seit gestern, wie mir scheint. Vielleicht entstammt er einfach nur einer sehr reichen Familie, denn besonders geschäftstüchtig scheint er mir nicht zu sein. Er ist eher so der Typ, der vom vorhandenen Reichtum zehrt, anstatt Reichtümer erst noch zu schaffen. Ich habe zwar keine Ahnung, wobei ihm Vater geholfen hat, aber ein solcher Vorgang ist sicher bezeichnend für Gregor Jordan: Für ihn ist es nicht nur besser, wenn er sich nicht in seemännische Angelegenheiten einmischt, sondern sicher sollte er sich auch aus den Geschäften seines Konzerns heraushalten, ehe er mehr kaputt macht als fähigere Leute wiedergutmachen könnten."
"Das wäre ja ungeheuerlich: Der Vorfahre von Gregor Jordan - ein Pirat, der mit seinen Beutezügen den Grundstein für den Reichtum der Familie Jordan legte!" Sara sagte es und mochte es selber gar nicht glauben.
"Ich weiß nicht, ob ich richtig liege, aber vieles spricht dafür, Sara. Auch die Begegnung mit diesem Geisterpiraten. Du bist ihm begegnet, während ich dich verzweifelt gesucht habe. Du warst da und doch nicht da. Du hast mir erzählt, auf dem Schiff gewesen zu sein. Alle waren verschwunden - außer dem Geisterpiraten. Umgekehrt haben wir weder dich noch ihn sehen können. Als wärst du vorübergehend... Nun, wie soll ich es sagen? Als wärst du vorübergehend gemeinsam mit ihm in einer Art Geistersphäre gewesen. Aber hattest du das nicht auch schon so ähnlich angedeutet?"
Sara schüttelte den Kopf. Sie schaute Niels zwar an, aber sie sah ihn nicht, weil vor ihr noch einmal die Szene entstand am Ruder, als der Geisterpirat aufgetaucht war. Eigentlich gab es keine andere Erklärung als die von Niels. Zwar basierte alles nur auf Vermutungen, aber falls er wirklich recht hatte... Ja, was war dann?
Ihre Gedanken kehrten wieder in die Wirklichkeit zurück, als Niels entschlossen verkündete: "Ich werde jedenfalls der Sache noch auf den Grund gehen, eh die Nacht einbricht."
"Was hast du vor?" rief Sara alarmiert.
"Wirst schon sehen, Sara: Ich werde jedenfalls endlich mehr Licht in dieses Dunkel bringen. Und dann könnten wir immer noch überlegen, welche Rolle dieser Geisterpirat wirklich zu spielen gedenkt in diesem für uns undurchschaubaren Spiel."
Sara öffnete den Mund, um zu widersprechen und um zu versuchen, ihn umzustimmen. Aber sie brauchte ihn nur anzusehen, um überdeutlich zu erkennen, daß es sinnlos gewesen wäre. Niels hatte sich so sehr in seine Theorie verrannt, daß ihn nichts und niemand davon abhalten konnte, von dem, was er sich vorgenomen hatte.
Sara war auch sicher, daß Niels ihr nicht sagen würde, wie er im einzelnen vorgehen wollte. Deshalb verkniff sie sich auch von vornherein eine diesbezügliche Frage.
Sie dachte vielmehr wieder an "ihren" Geisterpiraten.
Die Braut des Geisterpiraten! überlegte sie dabei, fügte jedoch in Gedanken hinzu: Allerdings eine Braut wider Willen!
Obwohl es nicht ganz stimmte, denn sogleich regte sich wieder dieses Gefühl tief in ihrer bebenden Brust, und sie wußte ganz genau, was das bedeutete...
*
Nur Minuten waren vergangen, in denen sie wiederum kein einziges Wort miteinander wechselten und stumm nebeneinander saßen, in sehr betrübter Stimmung, jeder für sich.
Da spürte Sara auf einmal deutlich die Anwesenheit des Geisterpiraten. Er war unsichtbar zwischen ihnen.
Diesmal spürte auch Niels etwas, doch ehe er reagieren konnte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er sagte, zu Sara gewandt: "Du mußt es verhindern!"
"Was denn?" entfuhr es Sara.
"Daß er mit Jordan über mich spricht! Es ist nur eine Sache zwischen uns. Jordan hat nichts damit zu tun."
"Ach ja? Immerhin hat er uns überraschend diese Reise ermöglicht. Es gibt eine ganze Reihe von Zufällen, und alles paßt einfach zu gut zusammen: Du wolltest, daß wir zu dir kommen - meinetwegen."
Er hatte Niels vollkommen in seiner Gewalt, um nicht zu sagen: Er war perfekt selbst zu Niels geworden. "Du siehst das vollkommen falsch, Sara: Es ist wirklich ein Zufall, daß du hier an Bord bist. Ich habe Jahrhunderte darauf gewartet, auf eine Begegnung wie diese. Nach all dieser Zeit kamst du endlich."
"Hättest du uns nicht den Traum geschickt, wären wir möglicherweise gar nicht gekommen!" Sara ließ nicht locker. Diesmal hatte sie sich vorgenommen, sich nicht so leicht von ihm einlullen zu lassen.
"Falsch, völlig falsch: Ich habe euch nicht den Traum geschickt, sondern der Traum hat euch heimgesucht, genauso wie mich, der ich dir erschienen bin, ohne es selber zu wollen. Es ist die Macht des Schicksals, die manchmal die Fäden so verspinnt, daß wir gar nicht mehr an Zufälle glauben mögen."
"Du willst mir doch nicht etwa einreden, daß es quasi von allein geschehen ist, ohne dein Zutun?"
"Ich rede es dir nicht bloß ein, Sara, denn es ist tatsächlich so! Du hast im Traum die Zukunft gesehen. Heute nacht wird es geschehen - und weil das so ist, wirkte sich das auf die nahe Vergangenheit aus, manifestiert in diesem Traum. Dadurch erst wurde ich überhaupt auf dich aufmerksam. Ich erkannte deine Liebe - und begann, sie zu verstehen. Und jetzt weiß ich, wie echt deine Gefühle sind. Oh, Sara, bitte, halte Niels vor Unüberlegtheiten ab."
"Das schaffe ich nicht. Er läßt sich da nicht hineinreden. Er weiß noch weniger als ich über all dies, was uns widerfährt, und erträgt das nicht. Niels will den Dingen endgültig auf den Grund gehen, und in seiner Situation ist das eigentlich genau das, was wahrscheinlich jeder tun würde."
"Es gibt eine Möglichkeit, daß wir zueinander finden, Sara - und damit wären alle Probleme gelöst." Sie hörte seine Worte, aber es gefiel ihr nicht, was dahintersteckte, obwohl sie nicht einmal ahnte, was es sein könnte.
Er musterte sie aufmerksam, zwar mit den Augen von Niels, aber Sara konnte deutlich sehen, daß sie mit diesen Augen jemand anderes musterte als Niels. "Es ist ganz einfach, Sara: Wir können nicht zusammenkommen, weil ich nur ein Geist bin, richtig?"
"Ja", gab Sara vorsichtig zu, nur damit er weiterredete und sie dadurch mehr erfuhr.
"Niels ist dabei, eine Unüberlegtheit zu tun, von der ihn nichts und niemand abbringen kann. Auch richtig?"
Abermals bejahte Sara.
Dann kam es: "Wir könnten ganz normal zusammen sein, wir beide, du und ich. Als ein ganz normales Paar, und niemand würde auch nur das Geringste bemerken. Bitte, Sara, bei unserer Liebe: Ermögliche es mir, wieder zu leben!"
"Du willst...?" Die Stimme versagte ihr. Aber dann war ihre Entrüstung so groß, daß sie nicht mehr länger an sich halten konnte und ihn anschrie: "Du willst Niels den Körper wegnehmen, so wie jetzt, dann aber... für immer! Aber das wäre genauso, als würdest du ihn umbringen. Er wird nicht mehr sein, nur noch sein Körper würde existieren, vollkommen von dir besessen!"
"Aber sieh den Vorteil, Sara: Wir beiden werden vereint sein! Wir lieben uns doch so sehr. Was spricht dagegen?"
"Bitte? Was dagegenspricht? Hier ist immerhin die Rede von dem Mann, den ich wirklich liebe - und der lebendig ist, nicht etwa ein Geist! Ich soll deinetwegen das Todesurteil über ihn sprechen? Wie kannst du mir bloß ein solches Angebot machen? Du solltest mich besser kennen. Gelingt es dir denn nicht, meine Gedanken zu lesen? Dann müßtest du wissen, daß es darauf nur eine einzige Antwort von mir gibt: Nein, nie und nimmer!"
Er nickte traurig und sagte: "Ich habe es befürchtet. Dennoch, ich mußte es versuchen. Das war ich dir schuldig."
"Was soll das denn nun wieder heißen? Du warst es mir schuldig?"
"Ja, Sara, denn jetzt gibt es leider nur noch diese eine andere Möglichkeit. Niels wird wieder er selber sein dürfen, sein Leben lang, aber..."
"Aber?" fragte Sara und befürchtete das Schlimmste, aber der Geisterpirat blieb ihr darauf die Antwort schuldig.
Er schüttelte noch einmal den Kopf, bedachte sie mit einem unendlich traurigen Blick - und war im nächsten Moment aus dem Körper von Niels gefahren.
Niels Orsted erwachte wieder. Er griff sich stöhnend an den Kopf.
"Was hast du?" fragte Sara unwillkürlich.
"Gott, ich weiß nicht, was mit mir los ist. Mir wird auf einmal so seltsam zumute und dann habe ich so eine Art Aussetzer und kann mich später an nichts mehr erinnern. Werde ich verrückt oder was?" Er war ehrlich besorgt.
"Ach was, Niels, das ist doch nur, weil alles hier so verrückt ist. Seit diesem Traum halt. Aber was sollen wir wieder darauf herumreiten? Das wird ja mit der Zeit langweilig. Vergiß es einfach!"
"Wenn das wirklich gehen würde... Nein, Sara, ich werde es keineswegs vergessen, und es ist auch alles andere als langweilig. Ich werde so lange auf diesem Thema herumreiten, bis ich Gewißheit habe."
Sara dachte daran, was sie soeben mit dem Geisterpiraten erlebt hatte. Sie hatte noch immer diese starken, unerklärlichen Gefühle für ihn, die sich im argen Widerstreit mit den Gefühlen befanden, die sie für Niels hegte, aber dennoch konnte und wollte sie dem Geisterpiraten nicht verzeihen, daß er ihr einen solchen Vorschlag gemacht hatte. Deshalb sagte sie zu Niels: "Eigentlich hast du völlig recht!"
"Womit?" erstaunte er sich.
"Eben daß du den Dingen auf den Grund gehen willst. Meine Unterstützung hast du jedenfalls, hundertprozentig."
Es war eigentlich eine reine Trotzhandlung. Der Geisterpirat wollte unter keinen Umständen, daß Niels Gregor Jordan auf das Thema Geisterpirat ansprach. Also würde sie umgekehrt Niels sogar dazu ermutigen.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht von Niels.
"Siehst du, jetzt hast du es selber begriffen."
"Ja, Niels, habe ich!"
Niels schaute auf die Uhr. "Hast du eine Ahnung, wieviel Zeit vergangen ist? Dann schau mal selber. Ich denke, wir machen uns allmählich auf den Weg zum Abendessen."
Sara verzog die Miene. "Allerdings haben wir dabei ein kleines Problem."
"Ein Problemn? Was meinst du?"
"Nein, nein, nicht die Probleme, die wir ohnedies schon haben, sondern es geht diesmal eher um unsere... Garderobe."
"Was soll denn damit sein?" Verständislos blickte Niels an sich herab. "Ich finde sie völlig in Ordnung so: Leichte Fereizeitkleidung, na und?"
"Dann überlege mal, in welchem Aufzug die Jordans sind. Keiner von uns beiden hätte damit gerechnet, daß die es eher festlich mögen. Nun, kein Wunder, bei diesem Luxus an Bord."
"Ach, jetzt verstehe ich erst." Niels mußte herzhaft lachen. "Du meinst, weil ich keinen Smoking dabei habe und du kein Abendkleid, fallen wir negativ auf?" Er wollte sich gar nicht mehr einkriegen vor Lachen.
"Was ist daran so lustig?" beschwerte sich Sara verärgert.
"Ach, Sara, du hast recht: Wir haben eigentlich ganz andere Probleme. Ich jedenfalls gehe so, wie ich bin, und wenn das den Jordans nicht paßt... Denke an das Angebot von Britta Jordan. Ich denke mal, das hat sie durchaus auch damit gemeint, als sie uns anbot, mit allem aushelfen zu können. Also: Wenn alle Stricke reißen, ziehe ich einen Leihsmoking an und du ein Leihabendkleid. Ich denke mal, das werden Klamotten sein, wie wir beide sie uns ein Leben lang niemals wieder leisten können."
Sara war zwar nicht so ganz überzeugt davon, sondern schämte sich sogar ein wenig dafür, daß sie nur einfache Kleidung eingepackt hatte, weil sie nicht im Traum vermutet hätte, auf einem Schiff solchem Luxus zu begegnen, aber es blieb ihnen sowieso vorerst nichts anderes übrig, als eben so zu bleiben, wie sie waren.
*
Während sie zu den Jordans gingen, fragte Niels seltsam zurückhaltend: "Du bist ja inzwischen bereit, mich zu unterstützen, nicht wahr, Sara?"
"Ja, wieso?" Sie schaute ihn von der Seite an. Wieso benahm er sich so merkwürdig? Nein, mit dem Geisterpiraten hatte es nichts zu tun.
"Gut, Liebes, da hätte ich nur noch eine Frage, ehe es sozusagen ernst wird."
"Was hast denn eigentlich vor? Wieso willst du es mir nicht sagen?"
"Na, bist du jetzt auf meiner Seite oder nicht?" Klang das nicht eine Spur zu ärgerlich?
"Schon, aber warum soll ich keine Einzelheiten erfahren?"
"Du wirst erleben wieso. Ich will es einmal so ausdrücken: Es ist riskant, und ich weiß nicht, ob du mir nicht doch davon abraten würdest."
"So wenig Vertrauen hast du in mich? Hallo, Niels, ich bin es, deine Sara!" Sie tat beleidigt.
Niels Orsted blieb kurz stehen. Er schaute zu Boden. Dann hob er den Blick, und Sara sah in seinen Augen etwas, was sie noch niemals dort gesehen hatte. Nein, es hatte auch diesmal nichts mit dem Geisterpiraten zu tun. Ihr war so, als hätte sich Niels in den letzten Stunden verändert. Was war los mit ihm? Und was war wirklich der Grund für seine Geheimnistuerei?
Sie fühlte sich auf einmal ganz unsicher.
"Nein, Sara, glaube mir, ich mißtraue dir nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Aber es ist besser, wenn du nicht weißt, was ich im einzelnen vorhabe."
"Nun, du willst die Jordans auf den Geisterpiraten ansprechen, ob er nicht doch irgendein entfernter Vorfahre..." Sara brach ab.
"Ja, sicher, soweit bist du eingeweiht, aber es geht eigentlich darum, wie ich es tun werde. Ich hätte nur die Bitte an dich, halte dich einfach dabei zurück. Laß mich nur machen. Falls ich schiefliege, ist es eben Pech. Wenn nicht..."
Sie forschte in seinem Gesicht, konmte darin aber nicht den geringsten Hinweis erkennen. Noch einmal fragte sie sich, was die Geheimniskrämerei sollte. Noch in der Kabine hatte sie eigentlich geglaubt, sowieso halbwegs zu wissen, was Niels vorhatte. Aber jetzt?
"Du wolltest noch eine Frage stellen", erinnerte sie ihn.
"Hat Gregor Jordan die geringste Ähnlichkeit mit dem... Geisterpiraten?"
Sara konnte guten Gewissens den Kopf schütteln. "Nein, ganz und gar nicht!" Bang erwartete sie, daß er nun fragen würde, mit wem denn sonst der Geisterpirat zu vergleichen wäre, aber diese Frage kam gottlob nicht. Sara hatte Mühe, ihre Erleichterung nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Aber auch Niels schien über ihre Antwort erleichtert zu sein. Das steigerte Saras Neugierde nur noch.
Sie gingen weiter. Als sie die Bar betraten, sprangen die Jordans wie auf ein Kommando auf. Sara registrierte mehr am Rande, daß sie sich beide umgezogen hatten: Sie hatten sich ihren Gästen angepaßt und legere Kleidung gewählt. Es amüsierte Sara mehr als daß es sie beruhigte. Jedenfalls hatte sie sich ganz umsonst Sorgen um die Kleiderordnung gemacht.
Gregor Jordan eilte seinen Gästen in seiner gewohnt überschwenglichen Art entgegen. "Vor dem Essen vielleicht noch einen kleinen Cocktail?"
Die beiden lachten gezwungen. "Nein, danke!" war die einhellige Antwort.
"Hat es euch denn nicht geschmeckt?" erkundigte sich ihr Gastgeber enttäuscht.
"Nein, damit hat das überhaupt nichts zu tun", beteuerte Sara. "Ich muß zugeben, daß ich noch niemals in meinem Leben solch sensationelle Cocktails genießen durfte, aber wie mit allen besonders guten Dingen, sollte man es auch hier lieber nicht übertreiben."
Das beruhigte Gerog Jordan sichtlich. Er geleitete sie zum Tisch.
Unterwegs sagte Niels nachdenklich: "Entschuldigung, wenn ich es so direkt anspreche, aber die ganze Zeit habe ich über den Namen Jordan gegrübelt. Mit Sicherheit hat ihn Vater noch niemals erwähnt. Aber er spricht sowieso nie über seine Arbeit oder über seine Firma, geschweige denn über Geschäftspartner. Er gehört zu den Leuten, die Beruf und Privatleben sehr streng voneinander trennen."
"Umso mehr bedauere ich es, daß er keine Zeit gefunden hat, die kleine Reise mitzumachen." Gregor Jordan bemühte sich, gelassen zu wirken, aber irgendwie sah man ihm an, daß ihn die Einleitung von Niels nervös machte.
Sara wurde sofort sehr hellhörig. Sie begann zu ahnen, was ihr Freund vorhatte und wieso er sie nicht einweihen wollte: Wüßte sie Bescheid, wäre ihre eigene Reaktion darauf nicht so natürlich.
"Ich habe mal ein uraltes Buch gelesen, Gregor. Weißt du, das gehört zu meinen Interessengebieten. Keine Ahnung, ob du eingeweiht bist, aber ich studiere Geschichte."
"Aha?" machte Gregor Jordan und gab sich alle Mühe, Interessenlosigkeit zu heucheln.
Niels fuhr ungerührt fort: "Und jetzt ist es mir endlich eingefallen, woran mich der Name Jordan erinnert - gerade, als wir hier eintraten. Das uralte Buch, weißt du? Da war die Rede von einem Piraten."
"Einem - was?
"Einem Piraten namens Jordan. Ich bin mir ganz sicher, daß er so hieß. Die Umstände, unter denen er starb, waren recht ungewöhnlich, aber sein Vermögen, das er angehäuft hatte, wurde niemals gefunden. Du kennst ja die Geschichten von vergrabenen Schätzen und so. In der Regel verschwanden die Reichtümer, die von Piraten angehäuft wurden in der Glanzzeit der Seepiraterie, mehr oder weniger spurlos. Deshalb gibt es die Märchen von den vergrabenen Piratenschätzen. In Wirklichkeit wurden damit ganze Dynastien gegründet, die bis heute noch Bestand haben. Beispielsweise die Dynastie Jordan, wie sie hier und heute von dir repräsentiert wird."
"Das - das ist doch jetzt nicht dein Ernst!" Gregor Jordan hatte die Farbe gewechselt. Er stand da wie der sprichwörtliche begossene Pudel und schien noch zu überlegen, ob er jetzt explodieren oder im Boden versinken sollte.
Sara war völlig verblüfft. Weniger über die Worte von Niels, der ihrer Meinung nach nicht das Geringste wußte und jenes alte Buch nur erfunden hatte, um damit sozusagen auf den Busch zu klopfen, sondern eher über die ungewöhnlich heftige Reaktion von Gregor Jordan.
Aber auch dessen Frau Britta kam jetzt mit hölzernen Schritten näher. Sie konnte ihre Augen nicht von ihrem Mann lassen, den sie anscheinend ebenfalls noch niemals so erlebt hatte.
"Doch, ist es, Gregor!" blieb Niels unerbittlich. "Aber ich will dir damit nicht zu nahetreten. Es ist keine Schande. Was hast du heute mit den Schandtaten deines Vorfahren noch zu tun? Selbst wenn es herauskommen würde, wäre es nicht schlimm. Alles ist verjährt. Bis eben auf den Piraten Jordan. Der ist sozusagen längst nicht verjährt, denn er ist zwar tot, doch immer noch präsent!"
"Nein!" gurgelte Gregor Jordan und griff sich an die Kehle. Er sah Niels an wie ein Gespenst. "Das - das kann nicht sein. Dieses Buch... Es kann nicht existieren. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen über Jordan."
"Würde es das Buch nicht geben, woher sollte ich dann davon wissen?" belehrte ihn Niels mit sanfter Stimme. Er lächelte dazu ein gewinnendes Lächeln. "Keine Sorge, diese Information ist gut bei mir aufgehoben. Da hat damals Gregor Jordan ein Leben lang darunter gelitten, immer im Schatten stehen zu müssen eines viel größeren, der bis in die heutige Zeit einen klingenden Namen hat, nämlich Sir Henry Morgan, dabei war er seiner eigenen Meinung nach es viel eher wert, bekannt zu sein. Und selbst als Geisterpirat steht er im Schatten eines anderen, größeren, den praktisch jedes Kind kennt, nämlich im Schatten des... fliegenden Holländers!"
Wäre Britta nicht zu ihrem Mann gettreten, um ihn zu stützen, wäre Gregor Jordan auf der Stelle zusammengebrochen.
Vorwurfsvoll schaute sie Niels an. "Um Gottes Willen, was tun Sie da?" Sie hatte vergessen, daß sie sich eigentlich alle untereinander duzen wollten.
"Nichts Besonderes eigentlich. Es tut mir leid, aber ich hatte mir dabei gar nichts gedacht. Es ist mir soeben beim Eintreten erst eingefallen, ganz ehrlich. Wie hätte ich denn ahnen können, daß Ihren Mann die Wahrheit so hart treffen würde? Es ist doch nichts Schlimmes dabei, das Vermögen eines Piraten geerbt zu haben. Ihr Mann hat niemandem etwas Böses getan. Er macht noch nicht einmal selber Geschäfte, sondern überläßt alles anderen, um sein Leben zu genießen. Wer würde das nicht auch gern genauso machen wie er?"
"Aber das ist überhaupt nicht der Punkt", begehrte Gregor Jordan auf. "Es ist die Tatsache, daß du dies alles weißt, mein Junge. Es ist das bestgehütete Familiengeheimnis. Nicht einmal Britta weiß davon. Wäre sie eingeweiht gewesen, bestimmt wäre sie niemals mit mir hinaus auf die hohe See gefahren."
"Was sollte ich nie wissen?" erkundigte sich Britta jetzt mißtrauisch.
Niels sagte es ihr: "Er fährt nicht freiwillig hinaus. Er haßt das Meer sogar aus tiefstem Herzen. Aber er muß es tun. Das ist er seiner Familie schuldig. Jeder Gregor Jordan muß es. Dafür erbt er den Namen des Geisterpiraten, damit er zu Lebzeiten demjenigen nah ist, dem sie ihren unvorstellbaren Wohlstand alle verdanken."
"Es kann nicht sein!" weinte Gregor Jordan.
Britta und Sara standen mit offenen Mündern daneben.
"Ich wäre nicht so sicher gewesen, daß die Informationen aus jenem alten Buch mit der Familie Jordan von heute übereinstimmt, wenn ich ihn nicht selbst spüren würde, jenen Geisterpiraten. Zunächst dachte ich, er habe es auf mich abgesehen, doch inzwischen weiß ich, daß es nicht um mich geht, auch nicht um dich, Gregor, du kannst dich also wieder entspannen: Es ist nicht die Zeit gekommen, in der du die Schuld der Familie begleichen mußt."
"Nicht?" fragte er prompt, und so etwas wie neuer Lebensmut glomm in seinen Augen auf.
Niels klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. "Der Geisterpirat ist nicht gekommen, um dich zu holen. Glaube mir, das ist ein Märchen, das sich hartnäckig innerhalb der Familie hält. Der jeweils lebende Gregor Jordan muß immer wieder hinaus auf das Meer, muß dort den größten Teil seines Lebens verbringen - immer in der Angst, der Geisterpirat würde eines Tages wieder zu den Lebenden zurückkehren wollen, um sich endlich, nach dieser langen Zeit, zu rächen. Wie er es angedroht hat. Bisher ist es niemals passiert - und es wird auch diesmal nicht passieren, denn der Geisterpirat hat überhaupt kein Interesse daran. Eigentlich schade, daß es euch nie möglich war, das mit ihm zu klären. Ihr könnt zwar seine Anwesenheit spüren, wenn er bei euch ist, aber es gibt keinerlei Kommunikation zwischen ihm und euch."
Niels zeigte auf Sara.
"Ja, es geht nicht um die Familie Jordan, um die es noch nie ging, auch nicht um die Erfüllung irgendwelcher Racheglüste, denn der Geisterpirat hat ein wesentlich größeres Problem, das ihn seit Jahrhunderten so sehr beschäftigt, daß er niemals zur Ruhe gekommen ist. Ich weiß es seit vorletzter Nacht. Da hatten wir beide einen seltsamen Traum, der eher wie eine total realistische Vision erschien. Ich kenne diese Yacht hier in- und auswendig, obwohl ich noch nie zuvor an Bord gewesen war und die Yacht noch nicht einmal aus der Ferne gesehen habe. Auch habe ich niemals zuvor ein Bild davon zu Gesicht bekommen. Aber ich habe im Traum die ganze Yacht nach Sara abgesucht. Sie war spurlos verschwunden. Zumindest für uns alle hier. Dabei hatte sie uns nicht wirklich verlassen. Sie war zu dieser Zeit nämlich mit dem Geisterpiraten zusammen."
"Hier auf der Yacht?" rief Britta verdattert aus.
"Ja, Liebes", murmelte ihr Mann kläglich. "Er kommt immer wieder her, aber außer mir kann ihn niemand wahrnehmen. Hab keine Angst. Er tut dir nichts. Er hat kein Interesse an den Menschen oder an der Welt..."
"Auch nicht an dir!" betonte Niels. "Da habt ihr Jordans über Jahrhunderte völlig falsch gelegen. Aber er hat Interesse an Sara. Das ist mir jetzt erst so glasklar, daß ich mich wundere, wieso mir das nicht viel früher aufgefallen ist. Der Traum, meine vergebliche Suche... Sara war gleichzeitig hier, aber nicht bei uns."
Er schaute jetzt seine Freundin an und fragte mit einem deutlichen Zittern in der Stimme: "Bitte, Sara, was verschweigst du mir - uns?" verbessserte er sich.
Britta und Gregor Jordan schauten jetzt auch Sara an, die sich sehr unbehaglich fühlte.
"Was - was willst du wissen?" stotterte sie. In diesem Augenblick wußte sie selbst nicht, ob sie es zugeben würde, den Geisterpiraten zu lieben und daß sie es selbst nicht verstand. Eine Art Dreiecksbeziehung, weil sie ihren Niels genauso noch liebte wie zuvor. Ihre Liebe zu ihm hatte in keiner Weise Schaden daran genommen. Da war sie sich völlig sicher. Und dennoch diese starken Gefühle für den Geisterpiraten?
Inzwischen hatte sich Gregor Jordan wieder beruhigt.
"Ja, was will mein Urvorfahr ausgerechnet von dir, Sara? Bist du... bist du irgendwie verwandt mit den Jordans?"
Niels war jetzt an der Reihe, überrascht zu sein. Beinahe hätte er sich verraten, daß nämlich alle seine Behauptungen bloße Theorie waren, mit denen er Gregor Jordan aus der Reserve hatte locken wollen. Das war ihm ausgezeichnet gelungen, und wenn Sara vorher in alles eingeweiht gewesen wäre, hätte sie das wahrscheinilch gar nicht durchgestanden. Sie hätte sicherlich eine Bemerkung gemacht, die alles verdorben hätte. Es hätte schon gereicht, wenn sie versucht hätte, ihren Niels zu bremsen. So aber war sie selbst über alles so überrascht worden, daß es gar nicht dazu gekommen war.
"Mit Sicherheit bin ich nicht mit der Familie Jordan verwandt. Der Geisterpirat... liebt mich. Das hat er mir gesagt."
"Du hast mit ihm geredet?" verwunderte sich Gregor Jordan. "Das ist in all der Zeit, die seit damals vergangen ist, noch niemals einem Jordan gelungen. Aber was macht dich für ihn so besonders?"
"Eine Frage, die uns nur Sara beantworten kann", behauptete Niels.
Sara spürte sein Mißtrauen und hatte sich entschieden: Sie würde nicht zugegben, daß sie die Liebe des Geisterpiraten erwiderte.
"Aber ich weiß es doch selbst nicht!" Das war noch nicht einmal gelogen. "Er hat mir gesagt, daß er jahrhundertelang gesucht hätte, ohne zu finden - bis er auf mich traf. Es sei purer Zufall, daß wir an Bord kamen. Für ihn ein glücklicher Zufall. Das Ereignis ist so wichtig, wie er behauptet, daß nicht nur Niels und ich, sondern auch er den gleichen Traum hatten. Aber es ist eigentlich kein Traum, sondern die Vision dessen, was in dieser Nacht noch geschehen wird.
"In dieser Nacht?" echote Britta fassunglos.
Sara nickte ihr zu. "Wir werden uns nach Einbruch der Dunkelheit zurückziehen, Niels und ich, in unsere Kabine. Niels wird gegen seinen Willen einschlafen und später erwachen, wenn ich bereits verschwunden bin. Dann werde ich beim Geisterpiraten sein. Ich habe keine Ahnung, was dann passiert. An der Stelle, an der er mir zum ersten Mal begegnet, brach die Vision ab, und ich erwachte."
"Ich habe verzweifelt gesucht, auf dem ganzen Schiff, in jedem Winkel, aber niemand hatte dich auch nur gesehen."
"Waren auch Britta und Gregor da?" fragte Sara spontan. Darüber hatten sie bislang noch gar nicht gesprochen.
"Jetzt, wo du mich fragst... Ich wundere mich selber, aber ich habe sie nicht gesehen. Überhaupt nicht. Sonst hätte ich sie doch erkannt, als wir an Bord kamen."
"Das mag daran liegen, weil du einen einzigen Ort nicht durchsucht hast nach Sara!" murmelte Gregor Jordan geheimnisvoll.
"Welchen denn?" riefen Sara und Niels wie aus einem Munde.
"Wenn ich es euch jetzt sage, verändern wir den Verlauf der Ereignisse!" sagte Gregor Jordan lapidar. "Wenn dies die Nacht der Entscheidung wird, dürfen wir das nicht tun."
"Da bin ich mir nicht sicher!" widersprach Niels, aber die Miene von Gregor verschloß sich. Es würde keinen Sinn machen, weiterzubohren.
Da schien Gregor Jordan noch etwas einzufallen. Er wandte sich wieder an Sara. "Moment mal: Er hat über die Jahrhunderte gesucht und es anscheinend in dir endlich gefunden?" Seine Kinnlade klappte nach unten, und seine Augen wurden groß und rund. "Um alles in der Welt, Sara, dann bist du ja... Aber wie ist das möglich?"
Sara und Niels schauten ihn an und begriffen gar nichts.
Dann platzte es aus ihm heraus: "Du bist die Gründerin der Jordandynastie! Nein, nicht persönlich, aber sie wurde widergeboren, als Sara Perres! Deshalb dieser Traum, die Begegnung mit ihm, seine Liebe zu dir... Du warst damals seine große Liebe. Wegen dir hat er fast all seine Piratenkumpane verraten. Nicht nur das: Er hat sie bestohlen und sogar einen Teil des Vermögens von Henry Morgan beiseitegeschafft. Er war reicher als alle anderen dadurch, aber Henry Morgan hat sich an ihm bitter gerächt. Als Gregor Jordan den großen Fehler beging und dich damals im hochschwangeren Zustand nach Englad brachte, damit eurer Kind dort geboren wurde, haben sie ihn geschnappt, gleich nach seinem Abschied von dir. Er wurde wochenlang auf gräßlichste Weise gefoltert, damit er das Versteck seiner Schätze verrät, aber er verriet kein Wort. Damit du und euer Kind es nicht verliert. An dich kamen die ehemaligen Kumpane und jetzigen Todfeinde von Gregor Jordan nicht heran, denn die wenigen Piraten, mit denen Gregor Jordan noch gemeinsame Sache machte, weil er sie am Reichtum beteiligte, sorgten für dich und deine Sicherheit. Und dann hast du das Kind geboren - und bist bei der Geburt gestorben."
"Ich?" zweifelte Sara. Sie sollte vor Jahrhunderten als die Geliebte des Piraten Gregor Jordan gelebt haben? Aber wenn sie an dieses starke Gefühl dachte, das sie gegenüber dem Geisterpiraten empfand... Ihr Blick kreuzte sich mit dem von Niels. "Ehrlich", beteuerte sie, "ich habe nicht die geringste Ahnung!"
"Dabei ist alles völlig klar", murmelte Gregor Jordan erschüttert. "Er hat über die Jahrhunderte seine große Liebe gesucht und niemals gefunden. Das hat ihm keine Ruhe gelassen, weshalb er als ruheloser Geist auf den Weltmeeren herumirrte. Und wir Jordans haben geglaubt, er wollte sich eines Tages einen von uns schnappen, um mit dessen Körper wieder ins Leben zurückzukehren."
"Nein, gewiß nicht, aber es ist nicht so, als hätte er das überhaupt niemals vorgehabt. Bloß nicht im Körper eines Jordan." Sara schaute Niels an. "Er wollte Niels. Das sollte sein Rolle werden. Er hat mich gefunden, aber um seine Liebe wirklich zu leben und zwar so, daß ich seine Liebe erwidere, wollte er den Körper des Mannes, dem mein Herz gehört."
"Er wollte... mich?" fragte Niels fassungslos.
"Ja, aber ich habe ihm klargemacht, daß es so nicht funktioniert. Das würde ich niemals zulassen."
"Aber, um Gottes Willen, was hat er denn stattdessen vor?" Britta hatte es ausgerufen.
Sara schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht. Er hat mir diese Frage leider nicht beantwortet."
"Du bist spurlos verschwunden und warst bei ihm", stammelte Niels Orsted. "Er wird doch wohl nicht...?"
"Was?" riefen alle drei wie aus einem Munde.
Er winkte ab. "Nein, das kann nicht sein. Vergeßt es. Warten wir es einfach ab. Ich glaube, es wird nicht so schlimm, wie wir alle befürchten. Der Geisterpirat wollte sich an seinen Peinigern rächen, aber er hat es niemals getan. Es war ihm wichtiger, nach seiner Geliebten zu suchen, ohne auch nur zu ahnen, daß sie vor ihm gestorben war."
"Ja, er hat bittere Rache geschworen und alle verflucht. So wird es überliefert - familienintern!" Das letzte Wort von Gregor war an Niels gerichtet und klang sehr vorwurfsvoll. Dann fuhr Gregor Jordan nachdenklich fort: "Sie haben ihn auf seinem eigenen Schiff hinaus auf das offene Meer gebracht und an den Hauptmast gefesselt. Dann haben sie sein Schiff in Brand gesteckt und gewartet, bis das brennende Wrack in den Fluten versank. So lange Gregor Jordan noch lebte, hat er sie verflucht. Er hat geschworen, zurückzukehren und sich an jedem einzelnen zu rächen. Und in der Tat, als das Schiff versunken und Gregor Jordan tot war, ist er ihnen an Bord erschienen. Sie haben Stein und Bein geschworen, daß es so geschah, und sie hatten das Schlimmste befürchtet, aber er hat sie nur der Reihe nach bedauernd und irgendwie sogar mitleidig angesehen, um danach wieder zu verschwinden. Nichts weiter ist geschehen."
"Dieser Pirat Gregor Jordan muß ein besonders schlimmer Mensch gewesen sein", meinte Niels, "aber die Liebe zu einer Frau hat ihn zu einem anderen werden lassen. Er hat zwar andere Piraten bestohlen und betrogen, aber ansonsten nichts Böses mehr getan. Die angehäuften Reichtümer ernähren heute noch die Familie Jordan, die sich entwickelt hat aus diesem einen Baby, wie es seine Geliebte zur Welt bringen konnte, ehe sie selber verschied. Was für eine Liebestragödie..." Es schien so, als wagte er gar nicht, seine Sara dabei anzusehen.
"Äh, könnten wir jetzt essen?" fragte Britta und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Anscheinend hatte sie selber gar keinen Hunger mehr und wollte nur daran erinnern, wozu sie zusammengekommen waren.
Aber keiner hatte jetzt noch Hunger.
Sara dachte noch einmal: Was wird uns diese Nacht alles bringen - über das hinaus, was wir schon wissen und in unserer Vision erfahren haben? Sie lauschte tief in sich hinein und spürte diese brennende Sehnsucht nach "ihrem Geisterpiraten". Dann schaute sie auf Niels und spürte die Liebe, die sie auch ihm gegenüber empfand. Jetzt wußte sie, daß die Liebe zu dem Geisterpiraten zu einer Zeit entstanden war, die längst zur Vergangenheit gehörte. In einem völlig anderen Leben, an das sie sich überhaupt nicht mehr erinnern konnte, hier und jetzt als Sara Perres. Der Geisterpirat jedoch umso mehr, denn er hatte nicht nur diese starken Gefühle ihr gegenüber, sondern darüber hinaus sämtliche Erinnerungen, die ihr völlig fehlten.
Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als die Gefühle für ihn endlich genauso vergessen zu können...
*
Es kam, wie es kommen mußte: Britta gab Sara ein Nachthemd. Sara wollte zwar nicht, aber Britta drängte es ihr regelrecht auf. Damit und mit ihrem Niels zog sich Sara in ihre Kabine zurück. Sie legten sich beide hin. Niels wollte nicht schlafen, genauso wenig wie Sara, doch sie kamen nicht dagegen an.
Als Sara erwachte, herrschte Totenstille an Bord. Das Bett neben ihr war leer. Beunruhigt sprang sie auf und lief auf nackten Sohlen zur Tür. Auch draußen herrschte diese Totenstille.
Mit pochendem Herzen ging sie an Deck. Nichts und niemand. Bis nach vorn zum Bug des Schiffes ging sie. Dabei sah sie die fliehenden Nebelfetzen. Doch sie erinnerte sich, daß nicht die Nebelfetzen sich bewegten, sondern die Yacht: Völlig geräuschlos glitt sie dahin. Weiter vorn stieg der Nebelberg aus dem Meer, um zu bedrohlicher Größe heranzuwachsen.
Sara schaute zum Ruder hin und überlegte, ob sie wie in der Vision hineilen sollte, um dem Schiff eine andere Richtung zu geben. Aber sie erinnerte sich, daß sie das Ruder beliebig drehen konnte. Als hätte es in Wahrheit überhaupt keinen Einfluß auf die Fahrtrichtung. Deshalb ließ sie es diesmal bleiben und schaute wieder nach vorn. Tatsächlich, die Yacht nahm automatisch eine Richtungsänderung vor. Dabei hatte Sara in der Vision geglaubt, sie hätte es mittels Drehen am Ruder bewirkt. Der Nebelberg schoß regelrecht herbei.
Und dann erschien der Geisterpirat. Diesmal nicht im Körper von Niels, sondern so, wie er noch zu Lebzeiten ausgesehen hatte: Ein sehr stattlicher Mann. Sara konnte sich gut vorstellen, daß sich Frauen reihenweise in ihn verliebten. Doch nur eine einzige Frau hatte es geschafft, daß er ihre Liebe erwiderte.
Und ich bin die Reinkarnation von dieser Frau? zweifelte Sara immer noch, obwohl alles dafür sprach. Aber sie konnte sich nach wie nicht im geringsten daran erinnern. Das einzige, was von damals geblieben war, das war die Liebe zu diesem Mann. Kein Wudner, daß sie in ihrer Verwirrtheit den Geisterpiraten mit Niels verwechselt hatte. Es gab zwar eine gewisse Ähnlichkeit, aber diese war eher zufällig.
Oder ich habe immer noch denselben Geschmack, was Männer betrifft! dachte Sara leicht amüsiert, obwohl die Situation alles andere als lustig erschien.
Der Geisterpirat sagte seinen Spruch auf. Es war beinahe genauso wie in der Vision, mit dem Unterschied, daß Sara nicht am Ruder stand. Dies geschah, während die Yacht seitlich vom Nebelberg aufgesaugt wurde - und von einem Augenblicik zum anderen war alles anders. Diesmal erwachte Sara nicht, weil sie real hier war. Der Nebelberg entpuppte sich als eine Art Hülle, die sich um einen verborgenen Ort spannte wie Felswände einer riesigen Höhle. Alles war so gut zu sehen, als wäre hellichter Tag. Inmitten der Wasserfläche stand eine Fregatte, wie sie im siebzehnten Jahrhundert von Piraten wie Henry Morgan benutzt worden waren.
Und von Piraten wie Gregor Jordan! ergänzte Sara in Gedanken. Sie schaute sich nach ihm um.
"Es ist nur eine Illusion", murmelte er traurig. Die Augen hatte er inzwischen geöffnet. "Ich schlafe und träume. In diesem Zustand bin ich der Geisterpirat. Und wenn ich allmählich erwache, entsteht diese Sphäre der Illusion. Ich bin bei meinem Schiff, obwohl es dieses schon lange nicht mehr gibt. Genauso wenig wie mich." Sein Blick suchte Sara. "Aber jetzt spielt das alles keine Rolle mehr, Geliebte. Endlich bist du wieder bei mir - diesmal für immer!"
In diesem Augenblick begriff Sara endlich: "Du willst, daß ich sterbe, damit ich gemeinsam mit dir die Ewigkeit teile!"
Er lächelte sie an. "Willst du das nicht auch, Geliebte? Wir waren Jahrhunderte getrennt voneinander. Der Tod hat uns beide getrennt, aber nicht für immer, wie du siehst. Gemeinsam mit dir werde ich zur Ruhe kommen. Ich brauche nicht mehr länger zu suchen."
"Nein, Gregor, du wirst überhaupt nicht zur Ruhe kommen: Dann erst recht nicht mehr! Ich bin nicht deine Geliebte von einst, sondern wurde geboren als Sara Perres und liebe Niels, nicht dich. Diese Gefühl, das du in mir geweckt hast, das ist die einzige Erinnerung an mein damaliges Leben. Nichts sonst ist mir davon geblieben. Und jetzt willst du, daß ich aufhöre, Sara Perres zu sein, um wieder diejenige zu werden, die damals gestorben ist?"
"Was ist daran denn schändlich? Ich habe dich so lange gesucht, und deine Liebe zu mir ist nach wie vor wach."
"Ja, begreifst du es denn nicht?" rief Sara aus: "Wenn ich sterbe und die Wirklichkeit damit verlasse, sind wir zwar vereint, aber keineswegs erlöst: Wir werden gemeinsam die Weltmeere unsicher machen, als der Geisterpirat und seine Braut. Begreife es endlich: Es wird nicht deine Sehnsucht stillen, denn wir können niemals wieder Mann und Frau sein, denn wenn ich sterbe sind wir beide nur noch... Geister!"
"Nein!", schrie er verzweifelt. "Das ist nicht wahr!"
"Oh, doch! Du wirst Niels ins Unglück stürzen, indem du die Frau ermordest, die du angeblich so sehr liebst, daß du niemals die ewige Ruhe erhalten konntest. Dieser Mord wird dafür sorgen, daß alles nur noch schlimmer wird."
Er schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht. Seine Schultern zuckten vor lautlosem Schluchzen. Eine ganze Weile stand er so da. Dann ließ er langsamm die Hände wieder sinken und schaute Sara an. Tränen rannen über sein bleiches Gesicht. Seine Hände zitterten.
"Du hast recht, Sara, aber ich kann nicht anders. Verstehst du das denn nicht, Geliebte? Wie sollte ich dich einfach wieder gehen lassen können, wo ich dich doch so lange gesucht habe? Ich habe dich gefunden, und wir werden für alle Ewigkeit vereint sein. Das ist unser beider Schicksal. Unsere Liebe will es so!"
"Aber ich will das nicht!" sagte Sara bestimmt, obwohl sie dem Geisterpiraten deutlich ansah, daß er nicht umzustimmen war. Sie würde sterben müssen, um an seiner Seite als Geisterbraut bis in alle Ewigkeit die Weltmeere unsicher zu machen.
"Bitte nicht!" sagte in diesem Moment jemand: Gregor Jordan war aufgetaucht, mit Britta an seiner Seite. Er wandte sich kurz an Sara: "Das ist der Ort, wo auch wir waren. Deshalb konnte Niels uns nicht sehen. Es ist immer so, wenn der Geisterpirat die Yacht heimsucht: Britta fällt in einen tiefen Schlaf und bekommt von nichts was mit. Ein Schicksal, das jede Ehefrau von jedem Gregor Jordan seit Jahrhunderten erdulden mußte, ohne auch nur davon geahnt zu haben. Ich jedoch bin hellwach und weiß, daß mein Urvorfahr ebenfalls da ist. Ich bleibe in meiner Kabine und zittere vor Angst, weil ich glaube, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, vor dem sich jeder Gregor Jordan sein Leben lang gefürchtet hat. Das heißt, sonst war das immer so gewesen. Heute nicht. Endlich habe ich den Mut, meinen Vorfahr anzusprechen. Und ich sage ihm: Laß Sara! Begreife, daß es nichts nutzt. Ganz im Gegenteil: Deine Sehnsucht wird nur noch schlimmer! Und es würde das Gefühl der Schuld hinzukommen. Bedenke, Pirat: Mord an der eigenen Geliebten!"
Der Geisterpirat schüttelte entschieden den Kopf. Und dann ging er auf Sara zu, die Arme ausbreitend, um Besitz von ihr zu ergreifen.
Sara wußte, das war ihr Ende als Lebende, aber sie konnte nichts dagegen tun. Sie stand stocksteif da, wie gefesselt. Hier, in dieser vom Geisterpiraten selbst geschaffenen Sphäre, hatte nur er selbst die Macht. Sonst niemand. Aber wie wollte er sie umbringen? Durch bloße Berührung? Das konnte sich Sara nicht vorstellen. Was würde mit ihrem Körper geschehen? Würde er im Diesseits materialisieren?
Aber... war sie denn wirklich auch körperlich hier, in dieser Sphäre? Und die Jordans? Waren sie nicht einfach nur für die Menschen in der Ebene der Wirklichkeit unsichtbar geworden?
Fragen, die sie nicht beantworten konnte und zwar auch deshalb nicht, weil es ihr auf einmal schwindlig wurde, kurz bevor der Geisterpirat sie erreichte.
Er schrie auf und stürmte vorwärts, aber es war zu spät für ihn: Die Geistersphäre verschwand für Sara und machte einer anderen Umgebung Platz.
Verständislos schaute sich Sara um, in der aufkeimenden Erkenntnis, daß seit dem Angriff des Geisterpiraten bis zu ihrem Erwwachen viel mehr Zeit vergangen war als nur diese wenigen Augenblicke, die sie empfand. Aber wo war sie? Die Helligkeit über ihr blendete sie zunächst so sehr, daß sie keine Einzelheiten erkennen konnte.
Da, eine Stimme: "Sie kommt zu sich!" War das nicht die Stimme des bärbeißigen Kapitäns der Hochseeyacht?
Eine andere Stimme: "Gottseidank!" Das war eindeutig die Stimme von Niels. Sara hätte jubeln können, aber sie brachte kein Wort heraus.
Und dann hatten sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt, die von Lampen stammte, über ihr an der Decke. Sie begriff, daß man sie auf einer Art Liege gebettet hatte. Die Umgebung erinnerte an eine kleine Krankenstation. Neben dem Kapitän stand ein Mann, den sie bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Neben diesem wiederum stand Niels. Er deutete auf den Fremden und meinte lachend: "Kannst dich bei ihm bedanken. Das ist der Bordarzt. Ja, richtig gehört: Gregor Jordan kann es sich leisten, sogar einen waschechten persönlichen Leibarzt mitreisen zu lassen. Zur Not verarztet der natürlich nicht nur Gregor Jordan."
Der Arzt winkte ab. "Bedanken müssen Sie sich nur bei Niels Orsted, Miss Perres. Er hat Ihnen das Leben gerettet."
Niels druckste ein wenig verlegen herum. "Es ist doch nur, als du verschwunden warst, wußte ich ja wegen der Vision, daß du nicht an Bord sein kannst. Aber wenn nicht an Bord, wo dann sonst? Deshalb sorgte ich dafür, daß mit Scheinwerfern das Wasser abgesucht wurde. Und da fand ich dich, leblos treibend."
Der Arzt fuhr an seiner Stelle mit der Erzählung fort: "Todesmutig hat er sich in die Fluten gestürzt, um Sie zu retten. Das geschah buchstäblich in letzter Sekunde. Nur wenig später und jegliche Hilfe wäre zu spät gekommen."
Sara dachte an die Szene mit dem Geisterpiraten. Kurz bevor er sie in seine eisigen Arme nehmen konnte, hatte Niels sie zurückgeholt in die Welt der Lebenden! Wieviel Zeit war seitdem bis zu ihrem Erwachen eigentlich vergangen?
"Danke, Niels!" sagte sie und lächelte glücklich. Sein verlegenes Lächeln gefiel ihr besonders gut. Plötzlich dachte sie an die Jordans: "Wo sind eigentlich unsere Gastgeber?"
Die Miene von Niels verfinsterte sih: "Sie waren gleichzeitig mit dir spurlos verschwunden. Die Besatzung hat auf meinen Rat hin alles nach ihnen abgesucht. Sie sind aber auch nicht über Bord gegangen. Das ist sicher. Ihre Kabine war trotzdem leer."
"Keine Sorge, uns ist nichts geschehen!" rief Gregor Jordan von der Tür her. "Wir sind längst wieder zurück." Er trat näher und sah nach Sara. "Gottlob, Kind, dir geht es wieder gut!"
"Was - was ist eigentlich noch geschehen?" fragte Sara.
Gregor Jordan druckste ein wenig herum, bis Britta ihn mit dem Ellenbogen aufmunternd anstieß. "Also gut, es wird jetzt sowieso jeder an Bord erfahren, was die ganzen Jahre über los war: Wenn der Geisterpirat die Yacht heimsuchte, bekam das niemand mit, außer mir. Britta schlief, und ich verkroch mich in Todesangst unter der Decke, bis er wieder weg war. Die ganze Zeit wußte ich gar nicht, daß Britta und ich uns in einer anderen Sphäre befanden - und niemand hat etwas mitbekommen, weil zu dieser Zeit keiner die Kabine betreten hat."
"Aber heute nacht?" fragte Sara gespannt.
"Da war das anders. Ich weckte Britta, und wir gingen an Bord, um der Szene mit dir und dem Geisterpiraten beizuwohnen."
"Aber Sara war über Bord gegangen. Sie wäre beinahe ertrunken, wenn ich nicht...", warf Niels ein.
Gregor Jordan unterbrach ihn: "Es war nur ihre körperliche Hülle. Der Geisterpirat hat das getan, weil er wollte, daß Sara Perres stirbt und der Geist seiner damaligen Geliebten wieder frei wird... für ihn!"
"Aber das ist ja entsetzlich!" entfuhr es Niels.
"Du hast mich wirklich in letzter Sekunde gerettet", erzählte ihm Sara: "Der Feisterpirat wollte gerade nach mir greifen, um mich für alle Ewigkeit in Besitz zu nehmen. Dabei wäre mein Körper gestorben und mein Geist wäre bei ihm geblieben!"
"Wir haben es selbst mitansehen müssen", berichtete Gregor Jordan weiter. "Er war durch nichts davon abzuhalten gewesen. Aber er hat letztlich nicht mit deinem heldenhaften Eingreifen gerechnet, Niels. Damit hast du das Blatt gewendet!"
"Ich liebe dich so sehr", gestand Sara ihrem Niels.
Er lächelte sie an: "Und ich dich erst!"
Endlich umarmte er sie, küßte und herzte sie. Aber nur kurz, um sich danach wieder Gregor Jordan zuzuwenden. "Und was wird jetzt aus ihm, dem Geisterpiraten?"
Gregor zuckte die Achseln: "Keine Ahnung, aber soll ich ehrlich sein? Es interessiert mich auch nicht mehr im geringsten. Und soll ich noch etwas sagen? Ich breche mit dieser albernen Tradition und werde niemals mehr das geliebte trockene Land verlassen. Kann der Geisterpirat die Meere weiterhin heimsuchen, wie er lustig ist, aber in Zukunft ohne mich!"
"Aber was wird dann aus uns und der Yacht?" rief der Kapitän alarmiert, und auch der Brodarzt schaute betreten drein.
Gregor Jordan mußte herzhaft lachen: "Macht euch da bloß mal keine Sorgen: Ich überlasse euch einfach die Yacht, lebenslang. Tut damit, was ihr wollt. Ich brauche sie ja dann nicht mehr." Er stieß einen lauten Seufzer aus: "Ach, wäre ich bloß wieder an Land. Diese endlose Fahrt, die mir jetzt noch bevorsteht, bis wir endlich angelangt sind. Wie soll ich das ertragen?"
Britta an seiner Seite meine schmunzelnd: "Soll auch ich dir ein Geständnis machen, Liebling?" Noch bevor er antworten konnte, sagte sie weiter: "Ich hasse das Meer genauso wie du und bin eigentlich nur deinetwegen immer mitgefahren!"
"Na, dann ist ja alles bestens!" meinte Sara und wartete, bis sich endlich alle zurückzogen, damit sie allein blieb mit ihrem geliebten Niels.
Sie lauschte in sich hinein, aber da waren keine Gefühle mehr für den Geisterpiraten. Jetzt, wo sie alle Zusammenhänge begriff, war das Gefühl genauso Vergangenheit wie ihr damaliges Leben als die Geliebte des Piraten Gregor Jordan.
Verliebt schaute sie ihren Niels an und fragte provokativ: "Du bist zwar mutig genug, mir das Leben zu retten, aber wann wirst du endlich soviel Mumm haben, mir einen Heiratsantrag zu stellen?"
"Ja, würdest du denn ja sagen?" rief Niels mit großen, runden Augen.
"Würde ich dich denn sonst darauf aufmerksam machen?"
Er nahm sie wieder in die Arme und murmelte: "Damit machst du mich zum glücklichsten Mann auf der Welt!"
"Und ich bin die glücklichste Frau der Welt!" bekannte Sara und verdrängte die Erinnerung an den Geisterpiraten endgültig - in der Hoffnung für immer. Jedensfalls würde sie niemals wieder ihren Fuß auf ein Schiff setzen, sobald sie wieder an Land zurückgekehrt waren. Man sollte ja sein Schicksal nicht unnötig herausfordern...
Ende