Читать книгу So viele Killer: Vier Kriminalromane - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 11
II
ОглавлениеObwohl es schon nach einundzwanzig Uhr dreißig war, fasste Raymond Taggart spontan den Entschluss, Captain Benham aufzusuchen, und er setzte seine Absicht auch in die Tat um, denn er hatte ganz einfach intuitiv das Empfinden, die Unterredung mit Benham nicht auf die lange Bank schieben zu dürfen.
In den Akten war natürlich Benhams Adresse angegeben. Danach wohnte er in Kingston, und Taggart scheute die zehn Meilen Fahrt nicht, sondern machte sich unverzüglich mit seinem Cisitalia mitten durch das nächtliche London auf den Weg.
Kurz vor zweiundzwanzig Uhr bog er in eine gerade Straße ein, die rechts von uralten Ulmen, links von der Themse gesäumt war, und fuhr bis zu dem kleinen Platz durch, wo sie sich in vier verschiedene Richtungen gabelte. Ein Constabler, der sich vom Revierdienst auf dem Nachhauseweg befand, fuhr mit ihm, da er ganz in der Nähe Benhams wohnte, und wies ihn zu dem pavillonartigen Gebäude inmitten eines kleinen Parkes ein, das der junge Offizier gemietet hatte.
Ein paar Minuten nach Glockenschlag zehn suchte sich Taggart im Schein seiner Taschenlampe einen Weg durch den verwilderten Park. Er fand nur eine angelehnte, also nicht verschlossene Tür, betrat ein holzverkleidetes Vestibül und stand dort erst vor der Abschlusstür, an der Stanley Benhams Visitenkarte mit einem Reißnagel befestigt war.
Benham schien zu Hause zu sein, denn durch die verglaste Türfüllung drang ein Lichtschimmer ins Vestibül hinaus, aber er schien offenbar wenig davon zu halten, zu so später Stunde einen Besucher zu empfangen, denn de r Inspector musste mehrere Male kräftig klingeln, ehe drinnen endlich zögernde Schritte näher kamen.
„Wer ist draußen?“, fragte eine sonore Männerstimme mit einem Unterton von Furcht — wie es schien.
„Inspector Taggart. Spreche ich mit Captain Benham?“
„Allerdings — kommen Sie vom Yard?“, klang es misstrauisch zurück.
„Hatten Sie gedacht, von der Gesundheitsbehörde?“ Taggart wurde allmählich ärgerlich.
„Ja — hm — soso ... — Etwa in der gleichen Angelegenheit, in der Inspector Strush schon bei mir war?“
„Kann durchaus sein. Aber hören Sie, ich habe keine Lust, mich durch die Tür hindurch mit Ihnen zu unterhalten.“
„Warten Sie einen Moment — muss erst die Schlüssel holen ...“
„Bitte, ich habe Zeit! Aber nicht so viel, um sie zu vergeuden!“, fügte Taggart beziehungsreich hinzu.
Zögernde Schritte entfernten sich — und dann erfolgte nahezu fünf Minuten lang nichts. Allmählich geriet Taggarts Temperament in Wallung.
„Zum Teufel, Benham“, rief er unterdrückt, „sagen Sie's doch gleich, wenn Sie mich heute nicht mehr empfangen wollen, ich kann Sie nicht zwingen, aber halten Sie mich nicht zum Narren! — Goddam ...!“
Der Inspector wurde auf tragische Weise unterbrochen, durch einen Schuss, der ihm angesichts der ringsum herrschenden Stille wie eine ganze Batteriesalve in den Ohren gellte.
„Benham!“, rief Taggart entsetzt. „Benham! Zum Teufel, Mann, so melden Sie sich doch ...!“
Keine Antwort ...
Hier gab es kein Besinnen und kein Zögern. Sekundenlang betrachtete Taggart die Abschlusstür abschätzend, ehe er zurücktrat, einen kurzen Anlauf nahm und sich wuchtig mit der rechten Schulter gegen die Schlossseite fallen ließ. Die Tür sprang mit hässlichem Krachen auf. Taggart stürzte vornüber und richtete sich sofort wieder auf. Durch den Sturz hatte er die Taschenlampe aus der Hand verloren, aber sie war nicht erloschen, sodass er sie sofort wiederfand und in ihrem Schein weitergehen konnte. Der winz ige Korridor war beleuchtet, aber aus der einen Spalt klaffenden ersten Zimmertür drang ein vager Lichtschimmer heraus.
Taggart stieß die Tür mit dem Fuß auf, trat auf die Schwelle und blieb entsetzt stehen.
Die Einrichtung des mäßig großen Raumes war nicht gerade teuer, aber hübsch und gemütlich. Auf einem kleinen Tisch neben dem Büchergestell lag ein Stapel Pariser Magazine, daneben stand ein gerahmtes Foto einer hübschen, schlanken Frau.
Vor dem Tischchen lag in verkrümmter Haltung ein junger Mann halb auf der Seite. Er trug Offiziersuniform mit den Rangabzeichen eines Captain. Sein hübsches, vielleicht etwas leichtfertiges Jungengesicht war nur zur Hälfte sichtbar. Der Kopf lag in einer sich rasch vergrößernden Blutlache. Der fade Geruch verbrannten Cordits reizte Taggart zum Husten. Entsetzt kniete er neben dem Leblosen nieder; der Mann war tot, daran gab es keinen Zweifel. Neben der Brust ruhte die rechte Hand, die immer noch die Griffschalen eines 7,65er Brownings umklammert hielt.
Taggart erhob sich und untersuchte flüchtig die beiden Fenster. Sie waren von innen fest verschlossen. Der Raum hatte nur den einen Ausgang zum Korridor, und dieser wiederum nur einen Ausgang zum Flur. Ein eventueller Mörder musste sich also noch in der Wohnung befinden ... Da Taggart nach dem Schuss keinerlei Geräusche mehr gehört hatte, durfte er sicher sein, dass es einen Mörder nicht gab. Schon nach der ersten flüchtigen Untersuchung stand für ihn fest, dass Stanley Benham Selbstmord verübt hatte. Taggart strich sich verwirrt durchs Haar. Kein Zweifel, sein unvermuteter, unangemeldeter Besuch hatte den jungen Captain in wilde Panik versetzt und die tragische Kurzschlusshandlung ausgelöst.
*
Raymond Taggart hatte mehrere Minuten dazu gebraucht, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Als sich danach außerhalb des Hauses immer noch nichts rührte, konnte er annehmen, dass die Schussdetonation von dritten Personen nicht gehört worden war, was ihm, nachdem es sich bei dem Selbstmörder um einen Angehörigen des Kriegsministeriums handelte, nur angenehm sein konnte.
Im Haus selbst schien sich Benham — zumindest im Augenblick — ganz allein aufgehalten zu haben, was Taggart angesichts des delikaten Charakters der Angelegenheit ebenfalls nur recht sein konnte. Benhams Appartement umfasste die drei Räume des Erdgeschosses; zur einzigen Etage führte eine Wendeltreppe hinauf, die bei einer verschlossenen Tür endete. Dahinter mochte die Haushälterin wohnen.
Als er das alles festgestellt hatte, ging der Inspector zum Tatort zurück und rief den Yard an. Er ließ sich mit dem Nachtdienst verbinden, teilte den Sachverhalt mit und bat um Entsendung der Mordkommission sowie um äußerste Diskretion. Danach führte er ein kurzes Gespräch mit dem zuständigen Revier, dessen Leiter er ebenfalls zu strengstem Stillschweigen verpflichtete, und jetzt erst rief er das Kriegsministerium an. Er verlangte Colonel Ashburton zu sprechen, was erst nach längerem Hin und Her möglich war.
„Ashburton am Apparat“, sagte die bekannte arrogante Stimme. „Was ist denn jetzt schon wieder los?“
Taggart sagte es klar und deutlich. Ashburtons erste Reaktion war bezeichnend. Er fragte:
„Ist der — hm! — unangenehme Vorfall allgemein bemerkt worden?“
„Glücklicherweise nicht, Sir“, gab der Inspector verstimmt zur Antwort. „Revier und Mordkommission habe ich bereits zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet.“
„Sehr umsichtig. Ich bin in spätestens dreißig Minuten bei Ihnen. Noch eine Frage: Glauben Sie, dass Benhams Selbstmord mit dem Verschwinden meiner Frau zusammenhängt?“
„Das lässt sich im Augenblick weder bejahen noch mit Sicherheit verneinen, Sir ...“
„Hm ...“ Ashburton schien kurz nachzudenken und schloss das Gespräch mit einem unverschämten: „Sie warten auf jeden Fall auf mich!“ ab.
*
Bis zum Eintreffen der Mordkommission nahm Taggart aus gewohnter Routine die Durchsuchung des Pavillon-Hauses auf.
Im Arbeitszimmer nahm er sich zuerst den Bücherschrank vor, der geographische Werke sowie, erstaunlicherweise, eine Fülle pornographischer Literatur enthielt.
Das ist für Benhams Charakterbild immerhin bezeichnend!, überlegte der Inspector.
Die Ebenholzsäule zwischen Bücherschrank und Schreibtisch, auf der eine imitierte Ming-Vase stand, nahm sich ausgesprochen deplatziert aus. Taggart schenkte ihr erst dann nähere Beachtung, als er sie beinahe versehentlich umgestoßen hätte und dabei bemerkte, dass sie abnorm leicht — also vermutlich innen hohl war. Dieser Umstand erregte seine Aufmerksamkeit. Vermutlich hatte der Selbstmörder die Höhlung als Aufbewahrungsort für Gegenstände benützt, die ein etwaiger Besucher weder sehen noch finden sollte.
Nachdem Taggart die Ming-Vase auf dem Schreibtisch abgesetzt hatte, untersuchte er die Säule und fand fast auf Anhieb eine kleine Warze, scheinbar eine Unebenheit im Holz, in Wirklichkeit aber einen geschickt eingefügten Druckknopf, der mit dem Öffnungsmechanismus in Verbindung stand. Taggart drückte kräftig auf den Knopf, worauf sich das obere Drittel der Säule wie ein Deckel abheben ließ. Jetzt brauchte er nur mehr den hohlen Teil umzudrehen und den Inhalt auszuschütteln: vier Stangen amerikanische Zigaretten und eine fünfte, bereits angebrochene.
Taggart bückte sich und hob eines der Päckchen auf, die sämtlich ohne Steuerbanderole waren. Er zog eine Zigarette heraus und roch an ihr. Dann schob er sie zwischen die Lippen, brannte sie an und rauchte einen tiefen Zug. Dieser eine genügte; danach drückte er die Zigarette wieder sorgfältig im Aschenbecher aus.
Gleichzeitig hörte er im Park Motorengeräusch. Er verließ das Zimmer, eilte durch den Korridor und trat vor das Haus, wo eben ein Polizeiwagen vorfuhr. Diesem entstiegen zwei Beamte, ein Sergeant und ein Constabler; der Sergeant, ein älterer, fuchsgesichtiger Mann, stellte sich als Harry Lies vor.
Taggart begegnete den Revierbeamten mit diplomatischem Takt, vermied es aber ängstlich, Einzelheiten über den Selbstmord preiszugeben. Im Gespräch mit den beiden stellte sich heraus, dass Captain Benham nicht polizeibekannt war.
„Tja — da können wir auch nichts machen ...“, meinte Lies geistvoll. „Das Beste wird wohl sein, wir warten auf die Mordkommission, ohne ihr vorher ins Handwerk zu pfuschen ...“
Genau das hatte Taggart hören wollen.
Fast zugleich mit der Mordkommission traf ein Dienstwagen des Kriegsministeriums mit Colonel Ashburton und drei weiteren Offizieren ein, deren Namen Taggart bei der Vorstellung nicht verstand.
„Entschuldigen Sie mich noch einen Augenblick, Colonel“, bat Taggart, „ich muss zuallererst den Kommissionsleiter, Inspector Collins, einweisen. Danach stehe ich Ihnen voll und ganz zur Verfügung.“
Collins, ein schweigsamer, älterer Beamter, der sich im Verlauf von Jahrzehnten zu seinem Rang hochgedient hatte, fragte argwöhnisch:
„Stimmt bei dem Selbstmord etwas nicht. Taggart, weil Sie es so sehr eilig haben ...?“ Ein musternder Blick streifte den C.I.D.-Mann.
„Die Unstimmigkeiten liegen lediglich beim Motiv“, erklärte dieser, „nicht aber bei der Technik der Ausführung. Wenn ich auch die Routine ablaufen lassen muss, so werden Ihre Untersuchungen doch kaum etwas an dem Ergebnis ändern. Lassen Sie Ihre Leute ruhig anfangen, ich selbst muss die Herren vom Kriegsministerium verarzten.“
„Dazu wünsche ich Ihnen viel Vergnügen!“, versetzte Collins brummig und ging an die Arbeit.
Erst jetzt fand Inspector Taggart Zeit, sich den vier Offizieren zu widmen. Während er sie ins Haus führte und vom Flur aus einen Blick auf den Toten werfen ließ, schilderte er zum soundsovielten Male die näheren Umstände. Er schloss mit der lakonischen Bemerkung:
„Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mein zu so später Stunde erfolgter Besuch Captain Benham einen Schock versetzt und dadurch die ganze Tragödie ausgelöst hat.“
„Unsinn“, widersprach Ashburton, „Benham hat sich ja auch nicht umgebracht, als Strush bei ihm vorsprach.“
„Nein, das ist kein echter Einwand, Sir“, korrigierte Taggart mürrisch. „Bei Strush hat Benham sofort gewusst, worum es ging, während er — so war zumindest mein Eindrude — bei mir von der intuitiven Überzeugung befangen war, es ginge diesmal um andere Dinge. Eine Frage, Colonel Ashburton: Reiste Benham regelmäßig dienstlich ins Ausland?“
„Komische Frage!“, mischte sich ein kleiner, stämmiger Major ein, der bisher geschwiegen hatte. „Wie kommen Sie darauf? Aber es stimmt. Benham war seit sechs Monaten als Kurieroffizier eingesetzt und flog jeden Monat zweimal, wenn auch nicht an bestimmten Tagen, zum Festland hinüber. Meist nach Paris, manchmal aber auch nach Brüssel, Berlin oder Rom. Spielt das eine Rolle?“
„Ich denke, ja!“ Taggart machte eine hoffnungslose Geste. „Bitte, kommen Sie mit, meine Herren!“
Er führte sie in das Arbeitszimmer des Selbstmörders und zeigte ihnen die Zigarettenpackungen und -stangen, die neben der umgekippten Hohlsäule am Teppich lagen. „Marihuana-Zigaretten, rund gerechnet vierhundertfünfzig Stück.“
„Schockschwerenot — jetzt fällt bei mir der Groschen!“ Ashburton sah den Yard-Beamten entsetzt an. „Sollte Benham Rauschgiftschmuggler gewesen sein? Nein, das wäre nicht zu fassen! Ein Offizier der Royal Army tut so etwas nicht!“
„Dann haben Sie eine andere Erklärung für den Fund?“, fragte der dickliche Major bissig. „Sie schweigen. Ihr Schweigen sagt mir genug. Ich möchte ja einem Toten nicht Unrecht tun, aber ich weise darauf hin, dass ich Sie immer wieder auf Benhams labilen Charakter aufmerksam gemacht habe. Ich meine, es wird nur gut sein, wenn wir parallel zu den polizeilichen Ermittlungen einen eigenen Untersuchungsausschuss einsetzen und die Angelegenheit röntgen.“
„Versäumen Sie nicht, Miss Peacock, die Braut des Captain, die in der gleichen Abteilung arbeitet, unauffällig überwachen zu lassen!“, mahnte Taggart ernst. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Miss Peacock sofort selbst aufsuche?“
„Warum gerade Sie?“, wollte der Colonel mürrisch wissen.
„Kann ich vor den Herren ganz offen sprechen?“
„Aber selbstverständlich!“
Taggart zögerte. „Ich möchte das Eisen schmieden, solange es noch heiß ist. Ich möchte eruieren, was Miss Peacock nach Benhams Tod über die letzte Begegnung mit Ihrer Gattin zu sagen hat.“
„Versprechen Sie sich etwas davon?“
„Allerdings, Sir, wenn auch nichts Konkretes.“
„Na, dann gehen Sie, wenn es Sie beruhigt“, polterte der kleine Major, „aber halten Sie sich an unsere Spielregeln: Von der peinlichen Marihuana-Affäre erwähnen Sie kein Wort! Soweit Miss Peacock darüber informiert ist, wollen wir sie selbst in dieser Angelegenheit vernehmen.“
„Einverstanden!“
„Goddam, wo stecken Sie denn, Taggart?“, fragte Collins grämliche Stimme.
Taggart wandte sich rasch um, und die Offiziere sahen den Mordkommissionsleiter stumm an, der lässig nähertrat.
„Einzelheiten sind wohl kaum erwünscht“, begann Collins achselzuckend. „So viel mag Ihnen genügen: Ein einwandfreier Fall von Selbstmord. Falls sich im Zuge unserer Ermittlungen nicht doch noch Komplikationen einstellen — was ich übrigens für ausgeschlossen halte — werde ich schon morgen die Akten abschließen. Wäre noch die Frage des Motivs zu klä...“
„Unterhalten Sie sich über diesen Punkt mit den Herren“, unterbrach ihn Taggart eilig, „ich muss weiter. Ich habe noch einen Besuch in Ealing vorzunehmen.“
*
9 Westgate Terrace, Ealing, bei Cartridge, lautete die Adresse. Gegen ein Uhr fünfzig fand Taggart das Haus in einer stillen, etwas öden Wohngegend des Vororts und parkte seinen Wagen am Bordstein. An der Tafel der Klingelknopfreihe war der Name „Cartridge“ bei Wohnung C in der dritten Etage aufgeführt. Der Inspector läutete dreimal Sturm, worauf ein Fenster in der dritten Etage hell wurde und gleich darauf die beiden Flügel klirrten.
„Wer ist denn da?“, fragte eine dunkle Frauenstimme. „Wollen Sie etwa zu mir?“
„Sofern Sie Mrs. Cartridge sind, zu Ihrer Untermieterin“, erwiderte Taggart geistesgegenwärtig. „Ich komme von Miss Peacocks Dienststelle.“
„Moment, Sir, ich lasse Sie herein!“ Zorniges, wenig liebenswürdiges Gemurmel und abermaliges leises Fensterklirren folgten.
Nach etwa vier Minuten öffnete eine stämmige Frau in verwaschenem Bademantel und starrte den späten Besucher misstrauisch an.
Taggart wies seine Dienstmarke vor, ohne Namen oder Rang zu nennen, und gab Miss Peacocks Zimmerwirtin keine besondere Audienz. Diese fügte sich nach einigem Zögern brummend und führte den Inspector zu einem vorsintflutlichen Lift, der beide, asthmatisch stöhnend, in die dritte Etage hinauftrug.
Mrs. Cartridge öffnete die Wohnungstür und sagte: „Treten Sie bitte ein, Sir, und warten Sie einen Moment in der Diele. Miss Peacock wird Sie empfangen, sobald sie präsentabel ist. Mich werden Sie sicher entbehren können.“
„Selbstverständlich, Mrs. Cartridge“, erwiderte Taggart höflich, „gehen Sie ruhig wieder schlafen; im Übrigen bitte ich wegen der späten Störung um Entschuldigung.“
„Na ja, schon gut, schon gut“, brummte die resolute Frau und verschwand.
Kurz danach trat eine hochgewachsene Blondine in das gemütlich eingerichtete Vestibül, von der der Inspector im ersten Augenblick nur den lässig übergeworfenen Morgenrock aus dünner gelber Honanseide wahrnahm. Sie kam langsam, mit aufreizender Lässigkeit näher, starrte Taggart dreist ins Gesicht und sagte mit heiserer Stimme:
„Mein Bester, Sie sind nicht vom Kriegsministerium, Sie sind ein Lügner.“
„Ich bin Inspector Taggart C.I.D. von Scotland Yard. Miss Peacock, wie ich vermute?“
„Welcher Glanz in meiner Hütte!“, spottete die Sekretärin. „Vermutlich hat man festgestellt, dass ich im letzten Urlaub einige silberne Löffel mitgehen ließ? Würden Sie mir bitte folgen?“
Eleanor Peacock führte den Inspector in ein mäßig großes Zimmer, den typischen möblierten Raum der teureren Preisklasse. Er war mit uralten, aber sehr gepflegten Nussbaummöbeln eingerichtet; lediglich das Murphy-Bett war neu und flüchtig zurechtgemacht. D er Isfahan am Boden hatte in der Mitte eine dünne Stelle.
„Nehmen Sie Platz, Inspector, so Sie welchen finden, und schießen sie los; ich bin rasend neugierig!“, bat Miss Peacock und ließ sich erschöpft in den Chintz-Sessel vor dem Toilettentisch fallen. Ihre bloßen Arme hatte sie vor der Brust verkreuzt, das Kinn trotzig aufgereckt und die Beine übereinandergeschlagen. In der fließenden Linie, die Kopfsilhouette, Hals und leicht gekrümmter Rücken bildeten, lag lässige Arroganz.
Sie wandte langsam den Kopf und blickte Taggart kühl an.
„Ich nehme an, dass Sie nicht wegen einer Bagatelle gekommen sind“, fuhr sie fort und warf einen Blick auf die Armbanduhr. „Es ist schon sehr spät — sprechen Sie ohne Scheu!“
Wider Willen war Taggart amüsiert. Er richtete sich auf, betrachtete gespannt und ein wenig bang das klare, wild-schöne Mädchengesicht seines Visavis und versetzte zögernd:
„Ich wollte, ich hätte auf diesen Besuch verzichten könne, Miss Peacock!“
„Das tollste Kompliment, das mir je gemacht wurde!“, unterbrach sie ihn und drehte sich überrascht zu ihm um. Ihr langes, blondes Haar fiel bis auf die Schultern und wurde durch den Spiegel indirekt hell beleuchtet.
„Sie haben mich missverstanden“, nahm Taggart ernst einen neuen Anlauf. „Denken Sie bitte daran, dass ich nur der Überbringer einer schlechten Nachricht bin — Sie wird Ihnen einen gehörigen Schock versetzen, sofern Ihnen Captain Benham etwas bedeutet hat.“
„Wieso hat ... ? Sie sprechen doch von einem Lebenden!“ Angst stand deutlich in ihren Augen.
„Leider nein“, widersprach Taggart.
„Nein …?“ Es klang wie ein unterdrückter Aufschrei. Eleanor Peacock stach kerzengerade in die Höhe, trat einen Schritt auf ihren Besucher zu, beugte sich vor und legte ihm schwer beide Hände auf die Schultern.
Mit einem Male hatte Taggart den sauberen Geruch teurer, überfetteter Toiletteseife und einen Hauch Chanel Nummer sieben in der Nase.
Nur nicht irritieren lassen!, dachte er und war in diesem Augenblick auf sich selbst wütend. So gelassen wie möglich, und nicht minder unpersönlich, sagte er in einem Zuge:
„Miss Peacock, ich bedaure unendlich, Ihnen mitteilen zu müssen, dass sich Ihr Verlobter, Captain Benham, kurz nach einundzwanzig Uhr dreißig in seiner Wohnung in Kingston erschossen hat.“
„Stan ...? — Tot ...? Er hat sich ... erschossen?“ Ihre Stimme war kaum mehr vernehmlich. Sie wandte sich langsam, wie von einer Zentnerlast beschwert, um, taumelte einige Schritte zum Plattenspieler, öffnete mit puppenhaften Bewegungen den Deckel, nahm eine Platte vom Bücherbord und legte sie auf. Der Teller begann sich zu drehen und der Saphir senkte sich auf die Platte. Die ersten gedämpften Töne des 'Candlelight Walk' ertönten.
Miss Peacock wandte Taggart den Rücken zu und hörte sich, steil aufgerichtet, regungslos, ohne zu zittern, den langsamen Walzer an, mit dessen getragenen Tönen sich in ihr ganz bestimmte Vorstellungen zu verbinden schienen.
Taggart wäre kein Mensch gewesen, wenn ihn das eigenartige Bild nicht gefangen genommen hätte. Dann hielt er es nicht mehr aus. Er griff fahrig in die Tasche, ließ sein Zigarettenetui aufschnappen, nahm zwei Pall Mall, schob sie sich zwischen die Lippen und zündete sie an. Danach erhob er sich, trat zu der um Fassung Ringenden und schob ihr die eine der beiden amerikanischen Zigaretten sanft zwischen die Lippen. Sie schien es gar nicht mit Bewusstsein wahrzunehmen, rauchte aber in hastigen, gierigen Zügen.
Die letzten Takte verklangen, und der Tonarm glitt zum Zentrum der angehaltenen Platte.
„Aus ...“, sagte Miss Peacock, „alles aus ...!“, und es klang wie der wehe Ton einer springenden Geigensaite. Langsam wandte sie sich zu Taggart um. Ihre Augen erglommen in düsterem Feuer, ihr Gesicht war tränennass. „Sagen Sie mir alles, Inspector. Bitte, alles. Und ... noch ... etwas ...“ — sie suchte nach Worten — „... was ich Ihnen noch sagen muss, Inspector Taggart: Sie haben es mir genau richtig beigebracht, das Furchtbare, Unfassliche — Sie sind ein guter Mensch! Und jetzt bitte erzählen Sie. Ich vertrage die Wahrheit. Ich bin keine hysterische Ziege ...“
Taggart erfüllte ihren Wunsch, so behutsam und schonend wie möglich. Es war eine spukhafte nächtliche Stunde, die die beiden miteinander verlebten. Während der Inspector knapp und prägnant berichtete und seine Worte manchmal durch sparsame Gesten unterstrich, saß Eleanor steil aufgerichtet in ihrem Sessel und lauschte mit gefrorener Ruhe. Taggart musste sich widerwillig eingestehen, dass er eine Frau von einer Art vor sich hatte, wie sie ihm nie zuvor begegnet war, und dass ihre Aura Persönliches in ihm zu berühren begann. Er hatte sich — wenn überhaupt — Eleanor als eines von tausend gut gewachsenen Mädchen vorgestellt und musste jetzt die Erfahrung machen, dass sie mehr war: Ein reifer, in sich fest gegründeter Mensch und — eine bildschöne Frau. Die unbekümmerte, ja sogar gleichmütige Weise, in der sie ihren körperlichen Reiz mit in die Rechnung einbezog, ohne sich — welch merkwürdiger Widerspruch — über die Wirkung Gedanken zu machen oder sie wenigstens bewusst zu registrieren, machte ihren Sexappeal keineswegs steril oder absurd. Von ihr ging jene gefährliche Lockung aus, der sich kein richtiger Mann auf die Dauer entziehen kann, und zugleich eine massive Warnung: Versuch' es ruhig mit mir, wenn du dich stark fühlst, aber ich sage dir jetzt schon, dass du dir dabei die Finger verbrennen wirst, mein Lieber ...
Ihre Haut war gesund gebräunt und hatte Make-up nicht nötig, der Mund war kaum geschminkt. Trotzdem wirkte sie ganz als „femme fatale“, was sie nur zu genau wusste und sie, normalerweise, nicht wenig zu amüsieren schien.
Im Augenblick war ihr allerdings von Amüsement herzlich wenig anzumerken, als sie den Inspector unpersönlich anblickte und leise sagte:
„Sie sehen wie ein Mann aus, der seinen Job aus dem Effeff versteht, und wenn Sie sagen: Selbstmord, dann ...“
„... dann war es auch Selbstmord“, fiel Taggart eilig ein und sah sie mitleidig an. „Bliebe natürlich noch die Frage des Motivs zu klären.“
„Das scheint mir auch so“, pflichtete sie ihm mit plötzlicher Schärfe im Ton bei. „Nehmen Sie folgende Fehlanzeigen zur Kenntnis, Taggart, um es einmal im Amtsjargon zu sagen: Liebeskummer, finanzielle oder dienstliche Schwierigkeiten, Erpressung. — Stan ist — pardon: war“, verbesserte sie sich und wechselte dabei die Farbe, „ein lieber, guter, etwas leichtfertiger Junge — was sich mit den Jahren eingerenkt hätte — und hatte einige wenige gute Seiten. Aber die machten ihn so liebenswert und hinreißend, dass er alle Frauen um den kleinen Finger wickeln konnte, sogar mich. Hell and damnation — er hatte ganz einfach kein Motiv ...“
„Vielleicht ist es beim Inhalt der hohlen Säule zu suchen“, schoss der Inspector widerwillig einen Giftpfeil ab.
„Welche hohle Säule denn?“, fragte sie ehrlich erstaunt.
„Im Arbeitszimmer, die Ming-Vase steht darauf.“
„Ach!“ Sie dachte eine Sekunde nach. „Die Säule ist hohl? Und sie hatte einen Inhalt?“
„... oder mit dem Verschwinden Elga Ashburtons“, ergänzte er, eingedenk der Ermahnungen, die er erhalten hatte, verdächtig eilig.
„Sie machen mir Spaß — hätte ich jetzt beinahe gesagt! Elga Ashburton? Was hat denn das wieder zu bedeuten?“ Sie zog die Stirne kraus und nahm sich aus der Tabatiere am Toilettentisch eine Zigarette. Taggart gab ihr Feuer. „Ach so! — Nee, lassen Sie sich den Zahn ziehen, mein Bester! In puncto Frauen war Stan konservativ bis zur Verbohrtheit. Ein Engländer kann nur eine Engländerin lieben — klar? Mit Elgas Verschwinden hat er bestimmt nichts zu tun.“
„Hab' ich ja gar nicht behauptet. Ich spielte nur auf Ihr Erlebnis bei Dunster Castle an.“
„Auf welches Erlebnis denn?“
„Am 25. August, als Sie zwischen Lynhead und Minehead die Autopanne hatten.“
Rede und Gegenrede flitzten wie klickernde Pingpong-Bälle hin und her.
„Und was hatte die Autopanne mit Mrs. Ashburton zu tun?“
„Na, Sie sind gut! Sie beide — Benham und Sie, Miss Peacock — sahen doch gegen zweiundzwanzig Uhr, wie Mrs. Elga aus Richtung Dunster Castle zur Bezirksstraße ging, in einen dort wartenden schwarzen Daimler einstieg und davonfuhr ...“
„Aber davon ist kein Wort wahr, Taggart!“, sagte Eleanor entrüstet.
„Nein? Dann hören Sie sich mal die Aussage des Captain in der fraglichen Angelegenheit an ...“
Glücklicherweise steckte die Akte „Todd, verehelichte Ashburton, Elga“ in Taggarts Aktenmappe. Er brauchte sie nur herauszunehmen, aufzuschlagen und Captain Benhams Vernehmungsprotokoll vorzulesen. Prompt begann Eleanor zu weinen. Sie stammelte schluchzend:
„Dass wir am 25. August zwischen einundzwanzig Uhr dreißig und — sagen wir — zweiundzwanzig Uhr zwanzig an der fraglichen Stelle festsaßen, entspricht durchaus den Tatsachen, nicht aber, dass wir Mrs. Ashburton und einen schwarzen Daimler gesehen haben. Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, Taggart!“
Just a moment, dachte der Inspector und zog sein berühmtes Pokergesicht, jetzt lügt sie! Benham hat sich von sich aus an Ashburton gewandt und ihm sein unheimliches Erlebnis mitgeteilt. Er hatte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass man darüber auch seine Braut wie eine Zitrone ausquetschen werde, und konnte nicht mit dem Zufall rechnen, der das verhindert hat. Also hätte er sich gehütet, sich durch eine erfundene Story wichtig zu machen, deren Lügenhaftigkeit im nächsten Augenblick offenkundig gewesen wäre ...
„Bitte“, sagte er und zeigte Eleanor die Unterschrift, „vorgelesen, genehmigt und unterschrieben: Stanley David Benham, Captain Royal Army.“
„Oh Himmel“, schluchzte sie, „ich sehe es und kann es doch nicht glauben, dass Stan einen solchen Wahnsinn begangen haben soll! Ich bin jederzeit bereit, zu beschwören, dass meine Darstellung stimmt!“
„Aber ich bitte Sie, Miss Peacock, bedenken Sie doch, was Sie da reden ...!“, bat Taggart bestürzt.
Sie stand auf, trat näher und blieb dicht vor ihm stehen, sodass er wieder ihren sauberen, klaren Duft spüren musste, und die undefinierbare Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit. „Behandeln Sie mich gefälligst nicht wie ein Baby, Mann!“, fuhr sie ihn an. „Was ich sage, stimmt — da beißt die Maus keinen Faden ab. Und wenn Sie mir komisch kommen ...“
Diese wohlfeile Bemerkung ernüchterte den Befangenen jäh. Er erhob sich und sagte reserviert:
„Von Komik ist unsere Situation himmelweit entfernt, dachte ich. Will mich jetzt zurückziehen. Können Sie sonst noch etwas von Belang aussagen?“
„Jetzt wird er auch noch böse!“, steckte sie um.
„Wie alle Männer, wenn die Wahrheit, die reine Wahrheit, nichts als die Wahrheit, nicht in ihr Konzept zu passen scheint. Scheinbar nicht. Hören Sie zu: Ich habe Wort für Wort die reine Wahrheit gesagt, Taggart. Und was Sie betrifft — Sie waren der sympathischste Polizeibeamte meines Lebens. Wollen Sie jetzt den guten Eindruck zerstören?“
Sie hatte es plötzlich eilig, ihren Besucher loszuwerden und verabschiedete ihn geschäftsmäßig nüchtern und sehr beherrscht. Fünf Minuten nach halb drei saß der Inspector wieder in seinem Cisitalia und hätte sonst etwas dafür gegeben, wenn er bei Eleanor Peacock hätte Mäuschen spielen können. Da dies nicht möglich war, musste er sich darauf beschränken, über Funk vom Yard ein Beschatterteam anzufordern und eine volle Stunde auf die beiden Beamten zu warten. Erst als sie eingetroffen und von ihm unauffällig eingewiesen waren, fuhr er in dem sicheren Empfinden nach Hause, dass der Aufwand vergebliche Liebesmüh sei — was sich später durchaus bestätigen sollte.