Читать книгу So viele Killer: Vier Kriminalromane - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 13

IV

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Mit reichlich hundertvierzig Meilen Geschwindigkeit flog die De Havilland in etwa siebenhundert Meter Höhe nach Westsüdwest. Porter, ein zuverlässiger, verheirateter Mann, Vater von vier Kindern, bot Inspector Taggart jede Sicherheit. Er pflegte sich nicht auf Mätzchen einzulassen, die seine Frau zur Witwe und seine Kinder zu Waisen gemacht hätten. Er hatte übrigens alle Überlegungen Taggarts bestätigt. Er kannte die Umgebung von Dunster Castle genau, wusste einen als Landefläche geeigneten Platz ganz in der Nähe und verfügte sowohl über die dazu notwendigen Instrumente als auch über die entsprechenden Kenntnisse, um bei Nacht zu landen und zu starten. Noch war es nicht so weit.

Im Glanz der Abendsonne lag die Grafschaft Berkshire unter der Maschine, die sich bald nach Wiltshire weiterschob und nach knapp anderthalb Stunden Flugzeit Somerset erreichte. Rechter Hand lagen der Severn, die Bridgwater Bay und der Bristolkanal, voraus die Moore und Wälder von Exmor.

„Bitte die Zigarette zu töten, Inspector“, bat der Pilot. „Außerdem dürfte es sich empfehlen, sich anzuschnallen. Könnte sein, dass es bei der Landung etwas rumpelt ...“

So kam es dann auch. Porter brachte die Spaltflügel in Landestellung, drosselte den Motor bis auf langsamstmögliche Geschwindigkeit und setzte von Osten her zur Landung an. Die Maschine ging in Spiralen nieder, wurde aufgerichtet und schwenkte relativ langsam in geringer Höhe über den Wipfeln von Birken und Weiden ein, bis sie einen Sturzacker erreichte.

Heavens, dachte Taggart entsetzt, dein letztes Stündlein hat geschlagen ...!, als er sah, wie kurz der Sturzacker war.

Noch ehe der Gedanke zu Ende gesponnen, hatte Porter bereits eine saubere Dreipunktlandung „hingelegt“. Die Federbeine des Fahrgestells fingen die schlimmsten Stöße ab, die Maschine rollte, wurde langsamer und kam drei Meter vor dem jenseitigen Waldrand zum Stehen.

Noch einmal heulte der Motor auf. Mit Geschick wendete der Pilot die De Havilland und schaltete endlich Zündung und Benzinzufuhr ab.

Bleierne Stille folgte dem Motorenlärm.

„Da die Landung geglückt ist und wir noch am Leben sind, Taggart, dürfte es sich vielleicht empfehlen, auszusteigen“, meinte Porter gemütlich.

Taggart schnallte sich ab und öffnete die Kabinentür.

„Ab heute sind Sie für mich der Meister aller Klassen, Porter“, sagte er, immer noch zitternd. „Warten Sie hier, länger als anderthalb Stunden werde ich kaum weg sein ...“

„All right!“, erwiderte der Pilot. „Meinetwegen lassen Sie sich nur Zeit. Ich habe einen spannenden Kriminalroman mitgebracht, und den will ich ohnehin zu Ende lesen.“

*

Durch den Frieden der Dämmerung schritt Taggart nach Norden. Der Fußpfad war von Weidenbüschen gesäumt, in denen Rohrdommeln nisteten; Möwen strichen kreischend von der Somerset-Küste her ein, ein einsamer Geier zog hoch droben in den Lüften Kreise und schien hochmütig alle Vorgänge auf der Erde zu ignorieren.

Das Ziel des Inspectors war eine Raubritterburg, die sich als dunkle Silhouette vom helleren Abendhimmel deutlich abhob. In dem diffusen Licht der Übergangszeit zwischen Tag und Nacht schien sie weit entfernt, in Wirklichkeit aber hatte Taggart nur etwa eine Meile zu gehen, bis er vor der ehemaligen Zugbrücke stand, die sich längst nicht mehr hochziehen ließ, und in neuerer Zeit eine Asphaltdecke erhalten hatte.

Angesichts der Dunkelheit war vom Erhaltungszustand des Schlosses nicht viel zu sehen, aber der gepflasterte Innenhof war sauber instand gehalten und nirgends von Grasbüscheln überwuchert.

„Was darf ich für Sie tun, Sir?“, fragte plötzlich eine dreiste Stimme.

Taggart blieb stehen und musterte die Umrisse eines bulligen Mannes, der scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht war und ihn um mindestens zwei Köpfe überragte.

„Inspector Taggart, Scotland Yard. Ich möchte Mr. Waynal sprechen.“

„Bitte mir zu folgen, Sir.“

Der Diener führte Taggart zum Hauptbau, hielt sich auf der Treppe an seiner Seite und ließ ihm den Vortritt. Durch ein geschnitztes Portal betrat er eine Gewölbehalle, die aus dem elften Jahrhundert stammen mochte. Dicke Säulen, gotische Bögen, klobige Bänke und Tische sowie einige auf Sockeln aufgestellte rostige Ritterrüstungen machten die Illusion täuschend, dass das Eintreffen von König Artus und seiner Tafelrunde in der nächsten Minute erfolgen werde.

Vermutlich hatte es König Artus nie gegeben, und falls doch, dann waren seine Gebeine längst vermodert, aber der Schlossherr, der an seiner statt in der düsteren Halle erschien, war nur ein kümmerlicher, enttäuschender Ersatz. Der nur mittelgroße, dicke, ja pastöse Fünfziger hatte einen völlig kahlen, buckeligen Schädel und machte einen unangenehmen, ausgesprochen schleimigen Eindruck, der durch den Umstand noch ins Unerträgliche verstärkt wurde, dass er sich wie ein typisch englischer Landlord trug.

Er kam mit polternder Großspurigkeit — hinter der sich vermutlich Unsicherheit, ja Angst verbargen — auf den Besucher zu, blieb breitbeinig vor ihm stehen und starrte ihm dreist ins Gesicht, vermied es aber, Taggarts kühnem Blick standzuhalten.

„Ich bin Hammond Waynal, Sir“, begann der Schlossherr. „Inspector Taggart? Fein! Ich heiße Sie willkommen. Nehmen Sie irgendwo Platz. Platz ist ja hier genug vorhanden, ha, ha, ha!“ Hände reibend fuhr er fort: „Ich würde Ihnen gern einen guten Schluck und einen Imbiss vorsetzen lassen, nehme aber an, dass Sie dienstlich ...“

„Ein guter Schluck und ein Imbiss wären genau das, was ich nötig hätte, Mr. Waynal“, unterbrach ihn der Inspector kurz, „aber ich darf nichts annehmen, weil ich tatsächlich im Dienst bin. Ich habe Sie in einer Angelegenheit aufgesucht, in der bereits mein Kollege Strush mit Ihnen gesprochen hat ...“

Höflich führte Waynal den Inspector zur Bank, wartete ab, bis Taggart sich gesetzt hatte und nahm dann ihm gegenüber Platz. Sein grobes, verschlagenes Gesicht blieb starr auf den Beamten gerichtet, aber in seinen tief in den Höhlen liegenden, verschlagenen Augen spiegelte sich eine ganze Skala schwer zu deutender Gefühle wider.

„Falls es sich wieder um die Dame handelt, die am Abend des 25. August ums Schloss geschlichen sein soll, hätten Sie sich die Mühe Ihres Besuches ersparen können, Sir“, begann Waynal unaufgefordert und verstummte abrupt.

„Das habe ich mir selbst schon vorgehalten, Mr. Waynal“, pflichtete ihm Taggart begütigend bei. „Leider bin ich an meine Dienstanweisung gebunden und kann manchmal nicht darauf verzichten, leeres Stroh zu dreschen. Überhaupt besteht die Arbeit des Kriminalisten zu neunundneunzig Prozent darin, mühsam enttäuschenden Fehlspuren nachzugehen und sich dabei von der Hoffnung leiten zu lassen, endlich doch einmal zum Erfolg zu kommen. Darf ich Ihnen einige Fragen vorlegen?“

Er durfte.

Er blieb eine reichliche halbe Stunde bei dem Schlossherrn, erfuhr aber nichts, was er nicht schon dem Vernehmungsprotokoll entnommen hatte, und musste sich am Ende eingestehen, dass er wieder einmal im abgeschlagenen Feld gelandet war.

Als er das Rennen endlich aufgab und sich verabschiedete, konnte Waynal seinen Triumph nur mühsam verbergen.

Nachdem Taggart das Schloss hinter sich gelassen hatte, schritt er zügig aus. Er sehnte sich nach seiner gemütlichen Londoner Wohnung, einem kräftigen Abendessen und einem warmen Bad.

Komisch, dachte er, das ist wieder einmal ein Fall, in dem alles „drin“ ist. Captain Benham verübt Selbstmord, ehe ich mit ihm sprechen kann. Seine Braut straft den toten Verlobten wider besseres Wissen Lügen. Helen Craigie scheint etwas zu verbergen und was Hammond Waynal betrifft, so bin ich ein Massenmörder, wenn er ein ehrlicher, redlicher Bürger ist.

Als der starke Motor aufheulte und die De Havilland sich zögernd und widerwillig in Bewegung setzte, starrte der neben dem Piloten sitzende Inspector wie gebannt die vom Landescheinwerfer nur vage beleuchtete Startfläche an, die schon für die Landung fast zu knapp gewesen war, zum Start aber — seiner Meinung nach — ganz bestimmt nicht ausreichte.

Die ersten fünfzig Meter führten rechts so dicht an einem ausgedehnten Erlengebüsch vorbei, dass die Tragfläche die Ranken schier zu streifen schien. Wild schlingerte die Maschine auf der unebenen Scholle hin und her, das Motorengeräusch erschlug jeden anderen Ton, und die Beklemmung, die Taggart während des Starts empfand, machte ihn für jede andere Wahrnehmung unzugänglich, sodass ihm die ganze Serie zuckender blauer Flämmchen erst viel später zu Bewusstsein kamen und zu denken gaben.

Natürlich waren die Bedenken des Inspectors ungerechtfertigt. Porter, der Pilot, wusste ganz genau, was er seiner Maschine und sich selbst zumuten durfte, und so gelang der Start ohne Zwischenfall, wenn das Fahrgestell der Maschine auch im Hochziehen verdächtig knapp über den Weiden- und Birkenwipfeln hinwegzog, die den Sturzacker an der nordostwärtigen Seite begrenzten.

„Einundzwanzig Uhr“, sagte der Pilot befriedigt, während die De Havilland im Steigflug auf Höhe Tausend stieg. „Wir werden voraussichtlich noch vor zweiundzwanzig Uhr dreißig in Croydon landen. Für heute steht's mir wieder einmal bis zum Hals.“

Während der folgenden zwanzig Minuten beschäftigte sich Inspector Taggart eingehend mit den Aufzeichnungen in seinem Tagebuch. Danach klappte er es zu, steckte es befriedigt aufseufzend ein und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Als er den Kopf wandte, konnte er das massige Profil des gelassen hinter dem Knüppel sitzenden Piloten erkennen.

„Für Sie auch eine, Porter?“, fragte er.

„Gern, Taggart — wenn es auch verboten ist. Nanu ...?“

Der Motor begann unrund zu laufen, zu kotzen und zu stottern.

Porter griff blitzschnell zum Instrumentenbrett und legte zwei Hebel um. Sofort beruhigte sich der Drehzahlmesser und der brausende Orgelton des Motors nahm wieder normale Klangfarbe an.

„Was war los?“, fragte Taggart interessiert.

„Kein Druck mehr auf der Benzin-Hauptleitung“, erklärte Porter verbissen. „Man möchte fast an Hexenspuk glauben!

Ich verstehe das gar nicht!“, fuhr er besorgt fort. „Ich habe die Maschine eine Stunde vor dem Start persönlich bis zur Eichmarke vollgetankt!“

Taggart begann plötzlich hemmungslos und wenig vornehm zu fluchen. Als er sich von seinem Anfall wieder erholt hatte, sagte er bitterböse: „Ich weiß schon Bescheid, Porter. Wir beide haben heute Geburtstag.“

„Geburtstag ...?“ Der Ausdruck in Porters Gesicht war für den Inspector wenig schmeichelhaft.

„Jawohl! Leider war ich während des Startes viel zu sehr mit meinen Ängsten beschäftigt, um einem verdächtigen Umstand die gebührende Beachtung zu schenken. Ich sah nämlich rechts im Erlengebüsch zuckende Flämmchen. Jetzt erinnere ich mich wieder daran. Ich kann es eigentlich nur so deuten, dass ich das Mündungsfeuer einer MP-Salve gesehen habe ...“

„Sie sind ja komplett verrückt! Wenn uns jemand den Tank zerschossen hätte, hätten wir doch die Aufschläge hören müssen!“

„Oh, keineswegs. Auf dem unebenen Boden rollte, stampfte und krachte die Maschine so sehr, dass sie jeden Augenblick aus den Fugen zu gehen schien. Mit anderen Worten: Etwaige Aufschläge gingen in dem allgemeinen Rütteln und Schütteln unter, und die Abschussdetonationen wurden vom Motorengeräusch übertönt.“

„Meinen Sie allen Ernstes, dass jemand bei Nacht ein so sicheres Ziel hätte, um sich eine Chance auszurechnen, den Tank einer startenden Maschine zu zerschießen?“

„Unsinn!“, widersprach der Inspector grob. „Der Kerl hatte es nicht auf den Tank, sondern auf die Kanzel abgesehen. Mit anderen Worten: Er wollte uns nach Strich und Faden umlegen! Goddam — der Mörder kam aus Dunster Castle!“

„Es kann sich überhaupt nur um einen Verrückten gehandelt haben, denn man hätte hinterher in unseren Leichen ...“ Porter schüttelte sich entsetzt, er mochte an Weib und Kinder denken „... Schussverletzungen gefunden und ...“

„Keineswegs! Die startende Maschine wäre in das Kusselgelände hinter dem Sturzacker gestürzt und mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit in Flammen aufgegangen. Was man von unseren Kadavern hinterher gefunden hätte, hätte sich ganz bestimmt nicht mehr für eine eingehende kriminalistische Autopsie geeignet. Wollen froh sein ...“

Nein, sie hatten keine Veranlassung, froh zu sein, denn jetzt begann der Motor abermals unrund zu laufen, und man konnte deutlich hören, dass die Vergaser nur mehr ab und zu einige Spritzer Benzin bekamen, im Wesentlichen aber leere Luft ansaugten.

Nur wenige Sekunden hörte sich Porter das mit an. Dann sperrte er mit einem entschlossenen Griff den Reservetank ebenfalls und schaltete die Zündung aus.

Ohne eine Erklärung abzugeben, schaltete er das Funkgerät ein, ging auf Senden und rief unaufhörlich mit monotoner Stimme den Fliegerhorst Wells an.

Kaum fünfundvierzig Sekunden vergingen, bis sich der Kontrollturm des Militärflugplatzes meldete. Der Sinn des weiteren Funksprechverkehrs war Taggart im Wesentlichen unklar.

„Kontrollstation Wells verstanden!“, quäkte eine Stimme im Lautsprecher. „Bitte kommen.“

„Polizeimaschine De Havilland G Dora Anton Zeppelin ohne Benzin in Gleitflug Höhe Tausend im Raum Glastonbury. Glaube im Gleitflug Ihren Flughafen erreichen zu können. Bitte Platzfeuer einzuschalten sowie Feuerwehr und Rettungswagen zu alarmieren!“

Die letzte Bemerkung verursachte Taggart ganz besonderes Unbehagen.

„Hallo, G-DAZ“, fragte die Lautsprecherstimme interessiert, „verfügen Sie über NDB oder FM?“

„Weder, noch!“, erwiderte Porter ungerührt. „Bestimmung des eigenen Standortes nach Standlinie.“

„Also so ungenau wie möglich!“, kommentierte der Offizier der R.A.F. gelassen. „Befehl für Sie, G-DAZ: Gehen Sie auf Kurs drei-sechs-null und schalten Sie Landescheinwerfer ein. Schicke Ihnen einen Seenottrainer entgegen, der Sie einweisen wird. Bitte bestätigen.“

„Kurs drei-sechs-null liegt an, Landescheinwerfer eingeschaltet.“

Weitere vier Minuten vergingen, ehe die beiden Yard-Beamten eine neue Stimme im Lautsprecher hörten.

„Lieutenant Evans an G-DAZ. Neuer Kurs: drei-fünf-acht. Entfernung zwoeinhalb.“

„Danke!“, bestätigte Porter trocken. „Kann den Platz bereits sehen.“

„Schätze, dass Sie es gerade noch schaffen werden ...“

Langsam bildeten sich auf Porters Stirn Schweißperlen. Von seinen Bedienungsgriffen verstand Taggart so gut wie nichts — aber soweit er überhaupt erkennen konnte, schien sich der Gleitflug mehr und mehr zu verlangsamen.

„Ich schaffe es gerade noch!“, murmelte Porter verbissen. „Aber ich riskiere, dass wir zu langsam werden und ...“ Er verstummte erschrocken, weil sich die De Havilland über die rechte Tragfläche zu neigen begann. Im nächsten Augenblick drückte er sie. Die Nase senkte sich unendlich langsam, der Eindecker verlor rapid die Höhe. An die nun folgenden neunzig Sekunden erinnerte sich der Inspector später nur sehr unklar. Mit heulenden Flächen schoss die Maschine dicht über den Boden hinweg. Vor ihr türmte sich ein massiges Gebäude zum Himmel, die De Havilland schien genau darauf zuzurasen. Pfeifend holte der Inspector durch die Zähne Atem, wurde gegen den Sitz gepresst, als Porter den Hangar übersprang, im nächsten Augenblick nach vorne geschleudert, und dann erfolgte die nicht gerade sanfte Landung. Ein schmetternder Schlag — sofort hob es die Maschine wieder in die Luft, sie machte einen Sprung von etwa fünfzehn Meter, setzte wieder auf — diesmal etwas sanfter — rollte noch einige dreißig Meter und blieb dann endlich stehen.

„Hell and damnation! Heute haben wir mehr Glück als Verstand gehabt!“, murmelte der Pilot erschüttert.

*

Am Mittwochmorgen erschien Inspector Taggart nach einer zweiten nahezu durchwachten Nacht um neun Uhr dreißig in seinem Yard-Büro, wo Sergeant Hulbert schon emsig tätig war.

Hulbert stürmte seinem Vorgesetzten förmlich entgegen und schüttelte ihm die Hand. „Gratuliere!“, sagte er herzlich. Nur das eine Wort.

„Danke, Chris!“ Ray Taggart ließ sich müde in seinen Sessel fallen. „Die Untersuchung der De Havilland durch den technischen Offizier in Wells hat alle meine Überlegungen bestätigt. Die rechte Tankseite der Maschine war von Einschlägen förmlich zersiebt. Von Schüssen, die eigentlich Porters und meinem Kopf zugedacht waren. Haben Sie schon Nachricht aus Dunster?“

„Eine Stunde nach Ihrem Anruf, Sir, ist das Untersuchungskommando losgefahren. Es hat sich aber noch nicht gemeldet. Würden Sie mich bitte ins Bild setzen ...?“

Mit nervösen, fahrigen Bewegungen zündete sich Taggart eine Zigarette an und begann zu berichten. Je weiter er kam, desto ruhiger wurde er, und am Ende meinte er vollkommen unbewegt:

„Es besteht wohl kein Zweifel, dass Waynal das Karnickel war, das uns den Scharfschützen auf den Hals hetzte. Ich halte es für dringend erforderlich, über Waynal Nachforschungen anzustellen.“

„... was ich bereits bei der Zentralkartei veranlasst habe, Sir.“

Taggart blinzelte seinem Adlatus befriedigt zu. „Es ist eine Freude, Sie als Mitarbeiter zu haben, Chris!“, sagte er herzlich, und der Sergeant brachte es tatsächlich fertig zu erröten.

„Ich bin ebenfalls etwas weitergekommen“, meldete er schnell. „Die vollständige Adresse, unter der Mrs. Ashburton am Fünfzehnten jeden Monats einen dicken Brief absandte, lautet:

J.T., Worcester, hauptpostlagernd, Sir, Claire ist ziemlich sicher.“

Taggart nickte seinem Mitarbeiter freundlich zu. „Gut gemacht, Chris!“

J.T., Worcester, hauptpostlagernd, wiederholte er nachdenklich. „Wer mag sich hinter dieser Anschrift verbergen? — Wir müssen dem Betreffenden eine Falle stellen.“

„... in die er kaum gehen wird, sofern er Mrs. Elgas Verschwinden auf dem Gewissen hat. Hm — die Odds stehen fünfzig zu fünfzig ...“

„Ich kann Sie nicht recht verstehen, Chris!“ Taggart sah erstaunt auf.

„Und warum denn nicht, Sir? Addieren wir wieder einmal die Tatsachen: Jeden Zehnten hebt Mrs. Elga Ashburton einhundertvierzig Pfund von ihrem — sagen wir 'mal: Taschengeldkonto — ab. Jeden Fünfzehnten schickte sie einen dicken Brief nach Worcester. Was macht den Brief so dick? Zeitungsausschnitte? Seitenlange Liebesschwüre? Das wohl kaum.“

„Natürlich nicht, old guy ...“ — der Inspector sprang wie elektrisiert auf — „... sondern Geld, Money, Pinkepinke! — Halt, sagen Sie jetzt nichts. Die Akte bitte ...“

Hulbert reichte ihm den Schnellhefter über den Tisch. Taggart schlug ihn auf, überflog den zusammenfassenden Bericht seines Kollegen Strush und sagte echauffiert:

„Hören Sie, was hier steht, Chris:

Elga Todd ..., ... Tochter des Ingenieurs Juro Todd ... — ... der Vater verschwand im März 1935 spurlos … Goddam, man könnte auf die dümmsten Gedanken kommen.“

„Zumindest auf den Gedanken, dass sich hinter der Postlageranschrift J .T. Elgas Vater Juro Todd verbirgt“, bestätigte der Sergeant trocken. Trotzdem kann ich nicht glauben, dass J.T. — wer sich auch immer hinter diesem Monogramm verbergen möge — die goldene Gans geschlachtet hat, die für ihn, oder für sie, Monat für Monat ein goldenes Ei legte.“

Der Inspector setzte sich an die Schreibmaschine. Während er einen neutralen Briefbogen einspannte, sagte er:

„Das ist mir ganz egal. Auf jeden Fall werde ich J.T. auf die Pelle rücken!“

Er schrieb — und Chris Hulbert sah ihm dabei über die Achsel:

August 31

My dear J.T.,

man ist Ihnen auf die Schliche gekommen, und die Sache sieht bös' für Sie aus. Eigentlich sollte ich die Fallentür hinter Ihnen verriegeln, aber ich gebe Ihnen vorher eine Chance, sich mit mir zu arrangieren, weil ich ein reizender Mensch bin. Falls Sie dazu bereit sind, m.a.W., falls Sie die Katastrophe vermeiden wollen, müssen Sie unverzüglich eine Anzeige folgenden Inhalts im „Worcester Mirror“ unter Vermischtes aufgeben:

Bill!

Das goldene Ei ist verkäuflich. Setz' Dich mit mir unter der alten Postlager-Anschrift sofort in Verbindung.

J.T.“

Sie können es natürlich auch bleiben lassen.

Bill

„Raffiniert!“, hauchte Chris Hulbert ehrfürchtig, während der Inspector einen Briefumschlag einspannte und die Adresse schrieb.

*

Sergeant Hulbert verließ das Büro, um den Brief sofort einzuwerfen, und gab einem Boten des Zentrallaboratoriums die Türklinke in die Hand.

Taggart sah auf. „Von Mister Logan? Geben Sie her!“ Er nahm dem Boten ein Formblatt und sein eigenes silbernes Zigarettenetui aus der Hand und unterschrieb dafür im Quittungsbuch. Dann vertiefte er sich in den Inhalt der Expertise:

„... fanden sich, über Vorder- und Rückseite des Etuis gleichmäßig verteilt, diverse Fingerabdrücke Inspector Taggarts. Außerdem wurde an fremden Abdrücken festgestellt:

a) auf der Vorderseite: Zeige-, Mittel- und Ringfinger

sowie

b) auf der Rückseite: Daumenabdruck,

also insgesamt vier Fingerspuren, die von der gleichen Hand stammen. Diese konnten agnosziert werden und sind unter der Nummer 1359/4344/5 109a der Abgelegten-Kartei registriert. Personalangaben:

Hermione Lorna Chilten-Adams, geboren am 6.3.20 in Glasgow, Schottland, derzeitiger Aufenthalt nicht bekannt. Lorna Chilten heiratete am 14.3.43 den US-Major (U.S. Air Force) George Adams. A. fiel am 4.1.44 im Luftkampf. Seine Witwe nahm ihren Dienst beim Weiblichen Hilfscorps wieder auf — letzter Dienstgrad: Lieutenant — und wurde am 13.2.43 zur Außenstelle Glasgow der Admiralität versetzt. Am 14.8.44 wurde sie unter dem Verdacht verhaftet, Mitschuldige der sogenannten Spionageaffäre Roget zu sein (Näheres hier nicht bekannt), musste aber nach dem am 16.8.44 erfolgten Selbstmord des Hauptverdächtigen Richard Roget wegen Mangel an Beweisen wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Am 1.10.44 wurde Ch.-A. zur Magazinabteilung Northeast versetzt, wo sie bis zu ihrer Demobilisierung — 25.20. 48 — blieb.

Zentrallabor: Logan Zentralkartei: Bicloe-Sounders

In seiner Verblüffung musste Taggart zweimal hinsehen, ehe er begriff, was er gelesen hatte. Danach fiel ihm plötzlich wieder ein, warum ihm die angebliche „Miss Helen Craigie“ gleich so bekannt vorgekommen war, wenn auch sehr nebulös: Er hatte einige Jahre zuvor an einem Aufbaulehrgang der Polizeiakademie teilgenommen, der unter dem Motto „Kriminalpolizei und Geheimdienst“ veranstaltet worden war, und später in London ein Referat „Spionageabwehr und Kriminologie“ halten müssen. Vorher hatte er sein neu gewonnenes Wissen durch fleißig zusammengetragenes Archivmaterial ergänzt und war dabei auch auf die spärlichen Akten des Falles Richard Roget gestoßen, in denen unter anderem H. Lorna Chilten erwähnt worden und ihr Bild enthalten gewesen war. —

„Colonel Ashburton, Sir!“

Unhörbar war der Vorzimmerbeamte eingetreten, um den Besucher zu melden.

„Soll 'reinkommen!“, murmelte Taggart. „Bin gerade scharf auf ihn ...“

*

In seinem Dress — gestreifte Hose, schwarzes Jackett, Melone, Regenschirm, Wildlederhandschuhe — wirkte Ashburton äußerlich wie ein gehobener Ministerialbeamter, konnte aber bei näherem Hinsehen den etwas einseitigen Offizier nicht verleugnen. Sein gemessener Gruß ließ deutlich erkennen, dass er Ray Taggart — der schließlich „nur“ C.I.D.-Inspector war — neuerdings für voll nahm, aber aus seinem sauber geputzten Monokel blitzte dem Beamten immer noch der alte Dünkel entgegen.

Taggart hatte sich erhoben und gab den Gruß des Eingetretenen reserviert zurück: ,,'n Tag, Colonel Ashburton! Bitte Platz zu nehmen.“ Eigenhändig rückte er seinem Besucher den Sessel zurecht. „Inzwischen haben sich interessante Details ergeben, aber nichts Entscheidendes.“

Das könne man nach knapp zwei Tagen billigerweise nicht verlangen, versetzte Ashburton gemessen und blickte sich neugierig um. „Sehr feudal haben Sie's hier gerade nicht, mon cher.“

„Stimmt genau!“ Der Inspector lachte. „Wissen Sie, wir haben eine geradezu krankhafte Animosität gegen das, was wir Ämter-Luxus nennen, denn wir wollen uns nicht gern den Vorwurf machen lassen, wir würden Steuergelder vergeuden.“

„Aber wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, brüllt der biedere Bürger nach der Polizei, wie?“ Der Colonel seufzte. „Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, lieber Taggart, dass wir uns endgültig dazu entschlossen haben, die weitere Bearbeitung des Falles Benham vom — ehem! — Fall meiner Frau abzutrennen. Ich komme eben von Super Heytesbury, und wir sind so verblieben, dass die Rauschgiftaffäre gemeinsam von der Generalstabsabwehr in Zusammenarbeit mit Ihrem Rauschgiftdezernat unter Einschaltung von Interpol bearbeitet werden soll. Alle Ermittlungsergebnisse werden nachrichtlich an Sie weitergeleitet.“

„Eine faire Lösung“, erkannte der Inspector gerechterweise an. „Ich möchte eine Bemerkung machen, Sir: Meiner Meinung nach war Miss Peacock Benhams Komplicin.“

„Naturellement!“ Plötzlich lief Ashburton rot an. „Was Miss Peacocks Behauptung, Benham habe sich die Dunster-Begegnung aus den Fingern gesogen, bedeuten soll, ist mir allerdings völlig unerfindlich.“

„Mir ganz und gar nicht“, versetzte Taggart kurz. „Es gibt da verschiedene Theorien ...“

„Da bin ich ja ganz erschlagen!“, murmelte Ashburton, als er alles wusste. „Immerhin möchte ich nicht annehmen, dass Elga mit der Affäre zu tun hat.“

„Das wäre auch zu weit hergeholt, Sir, wenn ich auch leider bekennen muss, dass es im Leben Ihrer Gattin ebenfalls einen Punkt gibt, der mir Kopfschmerzen verursacht ...“

„Sie werden geschmacklos, Taggart!“

„... den Sie sicher aufklären können, Sir.“ Der Inspector fixierte sein Visavis gespannt. „Erzählen Sie mir bitte, was Sie über Mrs. Elgas Korrespondenz mit Worcester wissen.“

„Comment ...?“ Ashburton hob irritiert den Blick. „Korrespondierte Elga mit Worcester? Mir neu!“

Die alte Leier, dachte Taggart, der Ehemann ist immer der Allerletzte, der was merkt! Er nickte reserviert und erklärte:

„Seit Juli oder August 1958 schickte Ihre Gattin pünktlich am Fünfzehnten jeden Monats einen dicken Brief an die Adresse 'J.T., Worcester, hauptpostlagernd' ab. Wussten Sie das nicht?“

Ashburtons Miene fror ein. Er murmelte mit gepresster Stimme:

„Sollte sich damit vielleicht Elgas enormer Geldbedarf aufklären? Erpressung also ...! — Aber nein, wer sollte sie schon erpressen ...“

„Fällt Ihnen an der Abbreviatur 'J.T.' nichts auf, Colonel?“

„J.T.? Nicht, dass ich wüsste! — Goddam“, fluchte Ashburton plötzlich los, „meinen Sie etwa, dass es Juro Todd bedeute?“

„Das werden wir demnächst wissen, Sir! Es ist überhaupt der Fall der Mysterien. Hören Sie zu: Ihre Gattin führt eine geheimnisvolle Postlager-Korrespondenz, Benham erschießt sich, die Peacock straft ihn wider besseres Wissen dreist Lügen, und der Besitzer von Dunster Castle regt sich über meinen Besuch so auf, dass er mir glatt einen Mörder auf den Hals hetzt ...“

Ashburton schnaubte: „Mann, Sie faseln!“, wurde aber zusehends kleiner, als er die makabre Geschichte erfahren hatte.

„Wie beurteilen Sie übrigens Miss Craigie?“, fragte Taggart, ohne ihm Zeit für eine Bemerkung zu lassen.

Ashburton nahm einen tiefen Zug aus seiner „Simon Arzt“ und beugte sich ein wenig vor. „Helen?“, kläffte er im Ton ungläubigen Erstaunens. „Eine Lady — muss ich mehr sagen? Wir sind seit zehn Jahren befreundet. Für Helen lege ich die Hand ins Feuer, verbürge ich mich mit allem, was ich bin und habe!“

Na, warte, du widerlicher Snob!, dachte Taggart erbarmungslos. Ringrichter, aufgepasst, jetzt schlage ich ihn k.o. „Hoffentlich haben Sie eine gute Brandsalbe zu Hause“, sagte er schneidend, „und einen neuen Job in Aussicht! Da haben Sie Ihre Busenfreundin Helen Craigie ...!“ Mit diesen Worten schob er den Bericht der Zentralkartei zu seinem Visavis hinüber.

Ashburton nahm zornig Kenntnis und meinte am Ende verächtlich:

„Was soll der Hokuspokus, Mann? Ich erinnere mich an den Fall Roget, aber ich kann mit dem Namen Lorna Chilten nichts anfangen.“

„Die unter a und b näher bezeichneten sogenannten 'fremden Fingerspuren' auf meinem Zigarettenetui stammen ...“ — hier lächelte der Inspector sardonisch — „... von der Dame, für die Sie die Hand ins Feuer legen wollen, Sir.“

Ashburton ging wie angestochen in die Höhe, wandte sich um und ging minutenlang — den Rücken Taggart zugekehrt — mit sich zu Rate. Als er wieder vor dem Schreibtisch Platz nahm, hatte er einiges von seiner Größe und Schönheit verloren.

„Knapp achtundvierzig Stunden haben Sie den Fall in den Händen — und schon krempeln Sie mein ganzes Weltbild um“, sagte er heiser. „Mein Kompliment, Taggart, Sie sind mir über!“

„Nun ja“, widersprach der C.I.D.-Beamte mit sympathischer Bescheidenheit, „ich beherrsche nur meinen Beruf, wie Sie den Ihren — das ist auch schon alles.“

„Na, na“, wurde ihm zweifelnd entgegengehalten, „jetzt machen Sie sich kleiner, als Sie in Wirklichkeit sind! — Irgendwie ist es mir jetzt eine Beruhigung, S i e mit der Suche nach meiner Frau betraut zu wissen.“

„Danke für Ihr Vertrauen, Sir“, bemerkte Taggart schlicht, „Sie dürfen sicher sein, dass mir auch die menschliche Seite Ihres Falles klar geworden ist, und dass ich alles, was in meiner Macht steht, tun werde, um Ihnen so bald wie möglich Gewissheit zu verschaffen.“

„Danke!“ Der Colonel sah plötzlich Taggart mit einem Male mit gänzlich anderen Augen an. „Fassen Sie es bitte nicht als Kritik auf, wenn ich Ihnen sage, dass Sie nach meiner Ansicht bei der Behandlung des Problems 'J.T.' einen großen Fehler gemacht haben.“

„Konstruktive Kritik ist immer von Nutzen“, ermunterte der Inspector sein Gegenüber, „außerdem habe ich mir nie eingebildet, allmächtig und allwissend zu sein.“

„Eigentlich hätten Sie es selbst merken müssen!“, ereiferte sich Ashburton. „Sobald J.T. in Worcester Ihren Brief in Händen hat, wird er den Teufel tun, sich mit Ihnen ins Benehmen zu setzen, sondern schleunigst alle Brücken hinter sich abbrechen und das Weite suchen.“

„Das deckt sich genau mit meiner Ansicht, Sir“, schmunzelte Taggart. „J.T. soll ruhig glauben, ich würde ihm eine Chance lassen. In Wirklichkeit ist das nicht der Fall. Selbstverständlich steht ab morgen ein Beschatterteam in Worcester bereit, das J.T. sofort nach Abholen des Briefes in seine Obhut nehmen wird.“

„Genial!“, murmelte Ashburton und erhob sich. „Sie hören wieder von mir“, verabschiedete er sich brüsk. „Im Augenblick habe ich keine Zeit mehr für Sie — der Dienst ruft.“

Er reichte dem Inspector kühl die Hand und ließ sich von ihm zur Tür begleiten. Dort wandte er sich noch einmal um und sagte in völlig verändertem Ton:

„Danke, Taggart — tausend Dank! Sie sind ein großartiger Bursche!“

Vielleicht ist er doch kein ganz so übler Kerl, wie ich ursprünglich gedacht habe ..., überlegte der Inspector, während er seinem Besucher nachblickte, und ging dann achselzuckend wieder zur Tagesordnung über.

So viele Killer: Vier Kriminalromane

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