Читать книгу So viele Killer: Vier Kriminalromane - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 15
VI
ОглавлениеEine Stunde später hatte sich das Rätsel gelöst, das freilich für die beiden Beamten schon nach dem ersten Schuss kein Rätsel mehr gewesen war:
Bei dem Getöteten handelte es sich um den ledigen, seit zwei Jahren stellungslosen Importkaufmann Gordon Tresk. „Mister Fitzherbert“, war die letzte Ausflucht eines in die Enge Getriebenen gewesen, der dadurch allerdings dem selbstverschuldeten Untergang auch nicht mehr hatte entgehen können.
Die Mordkommission erschien mit ihrem Beamtenstab, eine Spezialkommission des C.I.D., und sogar Superintendent Heytesbury und Colonel Ashburton tauchten vorübergehend auf. —
Am späten Abend fand in Heytesburys Dienstzimmer eine Konferenz statt, an der außer dem Superintendenten Inspector Taggart, Sergeant Hulbert und Colonel Ashburton sowie ein weiterer Beamter vom Generalstabsgeheimdienst teilnahmen, der als Major Playfort vorgestellt wurde. —
Der Superintendent räusperte sich, und die andern sahen ihn gespannt an.
„Über die näheren Umstände von Tresks Tod möchte ich kein Wort verlieren“, begann der Superintendent, „denn die Tatsachen sprechen klar und eindeutig für Taggart und Hulbert. Eindeutig geklärt ist auch, dass es Tresk war, der gestern Abend auf den Inspector einen Mordanschlag verübt hat. Das ist alles, was ich zu sagen habe ...“ — Heytesbury deutete mit dem Kinn auf Taggart — „... jetzt sind Sie dran, mon cher.“
Der Inspector sah von seinen Aufzeichnungen auf. „Gordon Tresk war nicht vorbestraft und genoss einen guten Leumund. Bis vor zwei Jahren war er Managing Director der Chingfort Export-Import-Company. Bei dieser Firma schied er freiwillig aus, obwohl man sich die größte Mühe gab, ihn zu halten. Was er danach trieb, ist unklar. Von größeren Reisen — insbesondere Auslandsreisen — ist nichts bekannt. Nicht minder unklar ist, wovon er nach Aufgabe seiner Stellung gelebt hat, da sein Bankkonto kaum Kontokorrent-Bewegungen ausweist, und am heutigen Tage einen Guthabensaldo von etwas mehr als fünfhundertfünfzig Pfund Sterling. Die Haussuchung verlief negativ. Seine Beziehungen zu Eleanor Peacock sind familiärer Natur; er war ihr Stiefbruder.“
„Ach, herrje!“, kläffte der Super.
„Das ist auch schon alles, Sir — wenigstens für den Augenblick.“
„Wir haben Miss Peacock in die Zange genommen“, ergriff Major Playford das Wort. „Natürlich weiß sie nichts von dem gemeinen Anschlag auf Taggart, natürlich war sie über die Nachricht vom Tode ihres Stiefbruders aufs Tiefste erschüttert, natürlich hat sie ihn vor langen Monaten zuletzt gesehen und gesprochen. Und das Ferngespräch, das sie in der vergangenen Nacht mit ihm geführt hat, wollte ich ihr nicht vorhalten, weil sie anderenfalls jetzt wusste, dass man ihren Telefonanschluss überwacht. Die Recherchen über Captain Benhams Auslandstätigkeit laufen in Paris, Berlin, Brüssel und Rom, sind aber bis jetzt ergebnislos geblieben, was angesichts der kurzen Zeit niemanden verwundern dürfte. Im Übrigen sollten wir kurz treten und zunächst den Komplex Benham — Peacock — Tresk dilatorisch behandeln, da die Genannten meiner Meinung nach einem großen, den zuständigen Behörden seither unbekannt gebliebenen Rauschgiftring angehören. Jetzt gilt es, das Wild nicht zu vergrämen.“
„... denn hier kommt es nicht auf das kleine Rädchen Eleanor Peacock an, sondern auf die großen Bosse im Hintergrund!“, pflichtete ihm Heytesbury bei. — Man trennte sich ohne greifbares Ergebnis.
*
„Ich weiß, ich bin unverschämt“, sagte Major Playford nach der Konferenz zu Taggart, „aber ich möchte Sie und Sergeant Hulbert heute Abend noch kurz sprechen, wenn es irgend möglich ist.“
„Gehen wir in mein Büro“, schlug der Inspector seufzend vor, „grundlos werden Sie mich ja nicht gerade belästigen, wie?“
„Darauf können Sie spucken!“, sagte der mittelgroße, drahtige Offizier burschikos. „Muss Ihnen einmal sagen, Taggart, wie sehr es mir imponierte, dass Sie Helen Craigie als Lorna Chilten identifiziert haben.“
Thomas Playford musste etwa fünfundvierzig sein, wirkte aber gut zehn Jahre jünger. Seine ganze Erscheinung war die eines Leistungssportlers der Altersklasse. Dazu passte sein längliches, schmales Gesicht mit dem gebräunten Teint, den hellblauen Augen und den blitzenden, regelmäßigen Zähnen recht gut, während es Intelligenz und Wissen geschickt verbarg. Dass beides vorhanden war, ließ sich angesichts der Position des Majors nicht gut anzweifeln.
„Drei Prozent Erfahrung, zwei Prozent Gewusst-wie, ein Prozent Gedächtnis, vier Prozent Psychologie und neunzig Prozent Glück“, meinte Taggart leichthin, „da haben Sie mein Geheimrezept.“
„Ah — bescheiden sind Sie also auch noch, mein Bester! Sie gefallen mir.“
„Das hab' ich Colonel Ashburton abgeguckt ...“
Playford lachte schallend. „Darin ist Philip allerdings unerreichtes Vorbild!“
Inzwischen hatten sie Taggarts Büro erreicht, und der Sergeant erbot sich, Kaffee zu kochen — wogegen die beiden andern nichts einzuwenden hatten. Der Major setzte sich zu dem Inspector an den Rauchtisch und sagte offen:
„Wenn wir auch in manchen Punkten die gleiche Schulung haben — Sie und ich — so sind Sie mir doch als Kriminalist weit überlegen. Deshalb würde es mich interessieren, Ihre Ansicht über den Fall Elga Ashburton zu hören.“
„An Bescheidenheit stehen Sie mir in nichts nach, mon cher“, grinste der Inspector und bediente sich aus dem Etui des Majors. „Wenn Sie eine amtliche Theorie zu hören erwarten, muss ich Sie enttäuschen. Ich habe keine. Denn Theorien sind bei uns an gewisse Grundlagen gebunden, die im Fall Ashburton fast völlig fehlen.“
Playford nickte verständnisvoll.
„Meine unmaßgebliche Privatansicht dagegen ist kein Geheimnis. Wenn ich sie linear-schematisch entwickle, dann nur, um meiner Darstellung die Übersicht zu erhalten.“
Jetzt endlich ließ er sich Feuer geben, rauchte genussvoll einige Züge und sprach weiter:
„Das Problem: Klärung von Elga Ashburtons Schicksal seit 21. August, dreizehn Uhr dreißig.
Seitheriges Ergebnis: Zweieinhalb Tage später war Elga noch am Leben und augenscheinlich Herr ihrer selbst. Siehe Aussage Benham.
Nebenergebnis: A: Zugehörigkeit des Zeugen Captain Benham zu einem Rauschgiftring in Gemeinschaft mit seiner Braut Eleanor Peacock und deren Stiefbrude r Gordon Derek Tresk.
B: Feststellung, dass Ort, wo Elga zuletzt gesehen, also Dunster Castle, Verbrecherschlupfwinkel.
C: Freundin des Ehepaars Helen Craigie war 1944 unter ihrem richtigen Namen — Hermione Lorna Chilten — spionageverdächtig und wurde damals nur durch eine Verkettung für sie günstiger Zufälle vor der Verurteilung bewahrt.
D: Korrespondenz Elgas mit J.T., Worcester: vermutlich laufende Geldsendungen an diesen. J.T. kann die Abbreviatur für Juro Todd — den Namen von Elgas Vater — durchaus sein.
Deduktive Überlegungen:
Ad A: Ob Benham und Genossen in den Wirbel um Elgas Verschwinden verwickelt sind, wird sich zeigen. Simon Suglar hat sich der Beschattung durch die Organe der Grafschaftspolizei entzogen und ist verschwunden. Man sucht ihn angeblich auf Dunster Castle wie die berühmte Stecknadel im sprichwörtlichen Heuhaufen.“
Sergeant Hulbert, der eben auf einem Tablett eine dampfende Kanne nebst drei dicken Tassen, Zuckerdose und Milchbüchse hereinbrachte, hatte die letzten Worte seines Vorgesetzten mitangehört und bemerkte düster:
„Demnach heißt Samuel Sherwood jetzt Simon Suglar. Und verschwunden ist er. Den sehen wir unter Umständen niemals wieder. Die Moore von Somerset haben Platz für viele.“
„... nicht zuletzt auch für Elga Ashburton, geborene Todd“, murmelte Playford scheu. „Hell and damnation — wenn jetzt noch jemand spurlos verschwindet, explodiere ich und beginne Zeter und Mordio zu schreien!“
*
Hulberts Kaffee war stark und aromatisch. Er schuf im Magen angenehme Wärme und stimulierte von dort aus die Lebensgeister und die kleinen grauen Gehirnzellen.
Der Sergeant nahm dankend eine Zigarette aus Taggarts Etui und rauchte eine Weile gedankenverloren, bis er endlich sagte: „Ich habe im Vorzimmer alles mitbekommen, was hier gesprochen wurde. Ihre Darstellung, Sir ...“ — er nickte dem Inspector zu — „... ist meiner Meinung nach korrekt, aber nicht erschöpfend ...“
„Nein ...?“ Der Inspector hob den Kopf.
„... denn dazu gehörte — meiner Meinung nach — eine Analyse von Mrs. Ashburtons Persönlichkeit.“
„Stimmt“, pflichtete ihm Taggart bei, „aber in dieser Beziehung sind wir seither mehr als schlecht bedient worden. Man hat uns immer nur Brocken hingeworfen: Elga ist entzückend, Elga ist eine gereifte Persönlichkeit, Elga liebt ihren Mann, Elga ist eine treue Ehefrau, Elga passte sich vortrefflich in den Rahmen des Hauses Ashburton ein, Elga dies und Elga jenes — und in Wirklichkeit stimmt das alles nicht, genauer gesagt, ist es nur die halbe Wahrheit. Wenn sie wirklich die absolut einwandfreie Persönlichkeit wäre, beziehungsweise gewesen wäre, als die man sie uns hinstellt, dann hätte sie nicht vierundzwanzig Monate lang heimlich, hinter dem Rücken ihres Mannes, mit J.T. in Worcester korrespondiert, sondern sich Ashburton eröffnet.“
„Pardon, Sir, aber auch Sie sehen und erkennen nur die halbe Wahrheit“, widersprach der Sergeant bescheidenen Tones. „Rein objektiv betrachtet, haben Sie recht, aber man kann an Mrs. Elgas Verhalten nicht den Maßstab theoretischer Regulative anlegen, weil dem der schwierige Charakter ihres Mannes entgegensteht. Philip Ashburton ist nicht der Mann, dem sich eine Frau in jeder Art von Not bedingungslos anvertrauen kann, selbst dann nicht, wenn sie sich persönlich frei von jeder Schuld weiß.“
„Ganz richtig“, rief Taggart heftig und warf seinem Adlatus einen zürnenden Blick zu, „aber das widerlegt meine Ansicht nicht, sondern bestätigt sie geradezu. Wenn bei Elga ein solcher Fall vorlag, und sie zum einen sich frei von Schuld wusste, zum anderen aber auf Hilfe und Verständnis ihres Mannes nicht rechnen konnte, dann hätte sie eben — entsprechend den Schilderungen ihres Charakters — alle Konsequenzen ziehen müssen, selbst die schmerzlichsten.“
„Wer sagt Ihnen denn, dass sie das nicht getan hat, Sir?“, parierte der Sergeant gelassen.
Taggart fixierte ihn entgeistert. „Mann, Mann, Sie sind wirklich ein Augentrost!“ Er griff zerstreut in die Schublade und holte einige Abzüge von Fotos heraus, die ihm Colonel Ashburton überlassen hatte, um sich zum x-ten Male hineinzuvertiefen.
Besonders Elga Ashburtons Gesicht hatte es ihm angetan. Nicht gerade ein Gesicht, das man als bildschön hätte bezeichnen mögen, aber hübsch, gut gegliedert, mit feingeschnittenen Zügen, ohne verschwommene Konturen oder unvollkommen durchgezeichneten Linien. Es war das Willensstärke Antlitz einer an einem schweren Leben vorzeitig gereiften Frau, das auch durch harten Kampf nichts von seiner lockenden Reife und seinem hinreißenden Charme eingebüßt hatte — wenn man eine gewisse Verschlossenheit und Züge misstrauisch beobachtender Diplomatie großzügig übersah.
„Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich mein Bild Elga Ashburtons zeichne“, meinte Major Playford behutsam. „Ich kenne Elga recht gut, möchte aber trotzdem nicht behaupten, dass ich ihr in allen Punkten voll gerecht werde ...“
Das Schweigen der beiden andern als Zustimmung nehmend, fuhr er fort:
„Elga ist entzückend, ja, das ist sie. Aber sie kann auch — freilich meist mit Berechnung — das Gegenteil dieses Begriffs verkörpern. Elga ist eine gereifte Persönlichkeit, das kann ihr niemand im Ernst abstreiten. Leider übersieht man bei derlei Feststellungen immer wieder, dass Reife — Frucht bedeutet, Erfüllung, nicht aber gleichbedeutend ist mit Güte, Wärme und Anstand. Auch die Tollkirsche und der Giftsumach werden reif.
Elga liebt ihren Mann, mag sein. Aber ich frage Sie: Kann eine Frau einen so wenig liebenswerten Mann wie Philip Ashburton wirklich mit letzter Hingabe, bedingungslos, bis zur Aufopferung ihres Selbst lieben?
Elga ist eine treue Ehefrau, wird nicht bestritten. Leider gibt es nicht nur edle Motive ehelicher Treue, sondern auch unedle, berechnende. Lassen Sie mich's durch eine Parabel zum Ausdruck bringen. Eine Frau ist durch das Stahlbad bitterster Not, härtester Bedrängnis, fortwährender Furcht und unaufhörlicher Unsicherheit in die Freiheit geflohen. Auch dort ist sie von Not und Unsicherheit noch nicht befreit. Sie heiratet einen Mann, der sie — materiell gesehen — mitten im Schlaraffenland Wurzeln schlagen lässt. Sie mag es tausendmal höher veranschlagen als wir, die wir nur die Freiheit kennen. Sie weiß, dass sie ein einziger Fehltritt aus diesem höchst irdischen Paradies vertreiben wird. Sie wird sich hüten, ihn zu begehen — was sie unwiderlegbar zur treuen Ehefrau stempelt ...“
Taggart und Hulbert hatten dem Major fasziniert zugehört. Als Playford achselzuckend verstummte, fragte der Inspector behutsam:
„Finden Sie Ihre Darstellung nicht selbst ein wenig einseitig, um den Ausdruck degoutant zu vermeiden? Sie haben uns ein plastisches Bild Elga Ashburtons gezeichnet, aber dabei hat sich der liebenswerte Engel allmählich in ein gerupftes Suppenhuhn verwandelt. Aber das mag angehen ...“ Er unterbrach sich und stellte eine Frage:
„Darf ich indiskret werden?“
„Sie sind es schon!“, wies ihn Playford zurecht. „Sie irren übrigens, Taggart. Aus mir spricht der geschulte Menschenbeobachter und -kenner, nicht — wie Sie zweifellos annehmen — der enttäuschte abgeblitzte Liebhaber. — Es hat auch solche gegeben, einer meiner besten Freunde befindet sich darunter. Alle sind abgeblitzt, alle, aber ich kann darin ehrlich und objektiv weniger Beweise für Elgas Tugend als vielmehr solche für — nennen wir das Kind ruhig beim richtigen Namen — ihre eiskalt und klug rechnende Vorsicht erblicken.“
Er erhob sich abrupt und sagte schroff:
„Schluss der Debatte, wir alle brauchen Ruhe — Sie am allermeisten, Inspector Taggart. Wir bleiben miteinander in Verbindung und werden eng zusammen arbeiten. Gute Nacht!“ —
„Nach wem sollen wir nun suchen, Sir?“, fragte Chris Hulbert trocken, nachdem Playford gegangen war. „Nach dem charmanten Engel, den wir bisher trotz aller Vorbehalte in Elga Ashburton sahen, oder nach Major Playfords Trick-Baby?“
„Die Wahrheit dürfte, wie zu allermeist, in der Mitte liegen“, meinte der Inspector zögernd. „Unsere Sache ist es, die Synthese zu finden. Meiner Meinung nach spielt die psychologische Seite des Falles eine dominierende Rolle. Uns mag es ein Trost sein — für Elga Ashburton bedeutet es eine ernste Gefahr. Das wird unsere Aufgabe leider bis ins Uferlose erschweren ...“