Читать книгу So viele Killer: Vier Kriminalromane - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 17

VIII

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Raymond Taggart bewohnte seit Jahren in einem alten Haus am Cumberland Square ein luxuriöses Junggesellenappartement, das er sich freilich nicht hätte leisten können, wenn er allein auf sein Inspectorengehalt angewiesen gewesen wäre. Er hatte eine anstrengende Woche hinter sich und nicht minder anstrengende Tage vor sich und deswegen war er am Samstagabend bereits gegen acht Uhr zu Bett gegangen, um möglichst auf Vorrat zu schlafen.

Als er erwachte, wusste er nicht, was ihn aus dem Schlaf geschreckt habe. Gewohnheitsmäßig warf er einen Blick auf die Armbanduhr, die er vom Handgelenk abzunehmen vergessen hatte, und stellte fest, dass es eben zweiundzwanzig Uhr geworden war. Er lauschte. In dem alten Haus war es ganz still. Nur einige Möbel, deren Holz sich in nächtlicher Kühle zusammenzog, knackten leise und erzeugten ein spukhaftes Geräusch.

Obwohl ihm im Allgemeinen atavistische Regungen fremd waren, machte ihn das Knacken und Knistern allmählich nervös. Er erhob sich geräuschlos, schlüpfte in seine Pantoffel und nahm seinen griffbereiten Hausmantel um. Er packte Taschenlampe und Pistole und trat einen Inspektionsgang an — obwohl er sich im nächsten Augenblick einen hirnlosen Neurotiker schimpfte. Auf Zehenspitzen durchquerte er das Zimmer und öffnete lautlos die Tür. Überall verschluckten dicke Teppiche seine Schritte.

Im Wohnzimmer war weder etwas Verdächtiges zu hören noch zu sehen. Der schwere rote Vorhang vor dem geöffneten Fenster wurde vom Wind sanft bewegt. Taggart trat zum Fenster, teilte den Vorhang und warf einen langen Blick hinaus. Er bemerkte die Standlichter eines schräg gegenüber abgestellten Wagens.

Achselzuckend trat er zurück und wandte sich um.

Im nächsten Moment hörte er aus dem Korridor Geräusche, die sein Interesse sowie seinen Verdacht weckten. Sie machten vor der Tür halt.

Unwillkürlich fasste der Inspector die Pistole fester. Der Eindringling musste jetzt genau vor der Tür stehen.

Lange Sekunden vergingen, ehe ein leises Quietschen ertönte und die Tür vorsichtig geöffnet wurde.

Mit dem Rücken zum Fenster blieb Taggart stehen. Obwohl er keine weiteren Geräusche hörte, fühlte er körperlich, dass er nicht mehr allein im Zimmer war.

Taggart hielt den Atem an und hob vorsorglich die Pistole.

Die Person, die sich mit ihm im Zimmer befand, verstand es meisterhaft, sich geräuschlos zu bewegen. Ein einziges Mal nur vernahm der Inspector Atemzüge. Dann vergingen Sekunden, bis sich der andere endlich dazu entschloss, behutsam zur Schlafzimmertür zu schleichen. Jetzt sah Taggart ihn als nebulösen Schatten, der sich niederkauerte, durchs Schlüsselloch zu starren schien, sich hernach wieder aufrichtete und eine Weile lauschte, ehe er es wagte, leise die Tür zu öffnen und ins Schlafzimmer einzudringen.

Nun begann sich auch Taggart lautlos zur Tür hin zu bewegen. Langsam und behutsam hob er den ausgestreckten linken Arm, ertastete den Kippschalter und legte den Hebel um. Licht flammte auf.

Der Eindringling stieß einen entsetzten Schrei aus, federte herum und starrte zitternd in die auf ihn gerichtete Pistolenmündung.

„Hände hoch!“, befahl der Inspector ohne jede Erregung.

Der andere gehorchte sofort — immer noch von Entsetzen übermannt. Er mochte etwa fünfunddreißig sein, war dicklich-muskulös, und trug sein rötliches Haar zu einem sogenannten Rasierpinsel verschnitten. Seine großen Ohren standen grotesk vom Kopf ab. Das Gesicht war grob aber nicht dumm und wies außer dem der Furcht keinerlei Ausdruck aus.

„Zur Wand!“, befahl Taggart eisig. „Lass die Hände brav oben, stütz dich mit ihnen von der Wand ab, tritt danach drei Schritt zurück und spreiz die Beine!“

Es klappte wie am Schnürchen. Widerspruchslos brachte sich der Fremde in eine hilflose Lage.

Taggart trat rasch näher, bohrte dem Zitternden von hinten die Pistolenmündung gegen die Nieren und tastete ihn ab. Die Ausbeute war bestürzend, wenn auch nicht informativ:

Etwas Kleingeld, zwei neue Zehn-Pfund-Noten und ein geladener Webley & Scott-Revolver, den der Mann in einem improvisierten Brustholster getragen hatte. Ausweis oder Dokumente, die seine Identifizierung ermöglicht hätten, fehlten.

Taggart straffte sich. „Ich bin Inspector Taggart von Scotland Yard, was Ihnen keine Neuigkeit sein dürfte. Ich verhafte Sie wegen unbefugten Waffenbesitzes und beschuldigte Sie gleichzeitig des Hausfriedensbruchs. Bleiben Sie so stehen, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.“

Rückwärtsgehend trat Taggart zum Einbauschrank, öffnete ihn, ohne den Verhafteten aus den Augen zu lassen, und tastete sich mit der linken Hemd an einen Koffer heran, dessen Deckel er zurückschlug, worauf er ein Paar Handschellen herausnahm, die er dem Fremden anlegte. Danach zwang er ihn in einen Sessel und setzte sich ihm gegenüber. Seine freie Hand griff zum Telefon. Er rief den Nachtdienst des Yards an und sagte schmunzelnd:

„Privatwohnung Inspector Taggart, siebzehn Cumberland Square. Ich habe soeben einen Einbrecher in meiner Wohnung verhaftet. Weisen Sie über Funk den nächsten Streifenwagen an, zu mir zu fahren und den Kerl abzuholen ..

Als er aufgelegt hatte, beschäftigte er sich erneut mit dem Fremden.

„Name?“, fragte er barsch.

Der andere stierte ihn mit verschlagenem Augenaufschlag an und erwiderte verlegen:

„Geben Sie sich keine Mühe, Sir, von mir erfahren Sie nichts!“ Er sprach ein kultiviertes, fast akzentfreies Englisch, schien aber kein geborener Brite zu sein.

In diesem dreckigen Fall scheine ich es nur mit Leuten von einiger Erziehung zu tun zu haben, überlegte Taggart ärgerlich. Kein Wunder, er bewegte sich ja auch in der Sphäre zwischen Rauschgifthandel und Spionage ...

In dozierendem Ton begann er von Neuem:

„Sie scheinen die Situation falsch einzuschätzen — vermutlich, weil Sie Ausländer sind. In Wirklichkeit ist es aber so, dass es hier in England für unbefugtes Führen von Schusswaffen normalerweise Gefängnis ohne Bewährung gibt, aber angesichts der ganz besonderen Tatumstände zweifle ich nicht daran, dass man Sie für einige Jahre ins Zuchthaus schicken wird.“

Der andere zuckte zusammen und verfärbte sich. „Davon hat Dom nichts gesagt!“, entfuhr es ihm gepresst. „Gehen Sie zum Teufel; Sie wollen mir ja bloß Furcht einjagen ...!“

„Meinen Sie!“ Taggart lächelte spöttisch. Plötzlich glaubte er eine Bewegung hinter seinem Rücken zu spüren und federte herum. Tatsächlich — die um einen Spalt klaffende Schlafzimmertür hatte sich eben bewegt. Ein Komplice des Verhafteten? Oder hatte der Wind die Bewegung ausgelöst?

Die Aufklärung des Vorfalls erfolgte schnell. Der Unbekannte, dem er jetzt den Rücken zuwandte, nahm blitzschnell die erkannte Chance wahr, schnellte auf, und versetzte ihm einen derben Faustschlag in den Nacken.

Taggart stolperte vorwärts, sah sekundenlang eine zweite Gestalt in der Tür erscheinen und krümmte durch. Er hörte die Schussdetonation und den klatschenden Aufschlag im Holz, gedämpft und wie aus weiter Ferne, stürzte und rammte dabei mit dem Kopf gegen die Wand. Sekundenlang sah er nur mehr Funken, kreisende Sterne und Meteore, aber er riss sich mit eiserner Gewalt zusammen, wälzte sich zur Seite und sah gerade noch das rechte Bein des Mannes durch die Tür verschwinden, der trotz seiner Fesselung die Flucht angetreten hatte.

Lautlos vor sich hin fluchend, erhob sich Taggart, stürmte durchs Wohnzimmer auf den Korridor hinaus, dessen Tür weit offen stand und setzte wütend die Verfolgung über Treppenhaus und Vorgarten bis zum Bürgersteig fort.

Im gleichen Augenblick strahlten die Scheinwerfer des schräg gegenüber parkenden Wagens auf, der Motor lief an, mit einem Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung und verließ Cumberland Square in südlicher Richtung. Er begegnete dabei einem sich mit Flackerlicht und Sirene in rasender Fahrt nähernden Streifenwagen der Polizei.

Dieser stoppte vor Nummer siebzehn und zwei Beamte sprangen heraus.

Taggart eilte auf sie zu. „Inspector Taggart, Scotland Yard“, rief er ihnen aufgeregt zu, drängte sie in den Wagen zurück und stieg hinter ihnen ein.

„Sie sind eben einer Limousine begegnet, die ich für einen alten Rolls-Royce halte“, sprudelte er hervor. „Verfolgung aufnehmen, aber ohne Flackerlicht und Sirene!“

Glücklicherweise begriff der Fahrer sofort, worauf es ankam. Er startete, wendete mit aufheulenden Reifen und nahm die Verfolgung in Richtung Westminster auf.

„Wer ist Streifenführer und welche Nummer hat der Wagen?“, fragte Taggart schnell.

„Wagen sechsundsiebzig, Sergeant Jellicoe“, meldete der links neben ihm sitzende Beamte.

„Well — auf Senden gehen, Kopfhörer und Kehlkopfmikrofon ...“

Der Funker gehorchte.

Aber schon bei der übernächsten Querstraße gestand sich Taggart ein, dass man den Rolls-Royce verloren hatte, gab aber die Hoffnung noch nicht auf, seine Spur noch zu entdecken. Fürs Erste setzte er einen Rundspruch ab:

„Inspector Taggart C.I.D. aus Streifenwagen sechsundsiebzig — Rundspruch an alle Streifenwagen; Rundspruch an alle Streifenwagen: Eigener Standpunkt Nähe Victoria-Bahnhof. Zeit zweiundzwanzig Uhr fünfundzwanzig. Gesucht schwarze Rolls-Royce-Limousine, Baujahr vermutlich 1935 bis 1938, auf der Flucht in Richtung Themse, Planquadrat F fünf. Ich unterstelle hiermit alle nicht bereits in Sondereinsatz befindlichen Streifenwagen meinem Kommando. Ich leite die Aktion aus Nummer sechsundsiebzig. Schwarzer Rolls-Royce ist bei Auftauchen zu verfolgen und zu stellen. Äußerste Vorsicht geboten, da Insassen vermutlich Handfeuerwaffen mit sich führen. Ende ...“

„Stoppen Sie hier!“, befahl er dem Fahrer. Müssen erst auf Meldung warten. Es hat keinen Sinn, einfach ins Blaue hinein zu suchen.“

Er streifte den Kopfhörer ab und bat den Funker, den Lautsprecher des Empfängers einzuschalten, damit die Besatzung jede eingehende Meldung mithören könne.

Nach wenigen Minuten begann es im Lautsprecher zu rauschen und zu knacken, eine Stimme quäkte:

„Hier Wagen einunddreißig, hier Wagen einunddreißig; Wagen sechsundsiebzig bitte melden ...!“

„Einunddreißig — ich höre!“

„Zeit: zweiundzwanzig Uhr einunddreißig. Gesuchter Rolls-Royce Nordgrenze Hyde Park in Richtung Acton gefahren. Haben Verfolgung aufgenommen.“

„Danke, einunddreißig“, quittierte der Inspector. Er schaltete das Mikrofon ab und befahl dem Fahrer zur Bayswater Road hinaufzufahren.

Aber ganz so einfach war es nicht. Der Fahrer des Rolls-Royce schien alle Schliche und Tricks zu beherrschen. Im Verlauf der nächsten fünfundachtzig Minuten wurde das Fahrzeug zwar immer wieder gesichtet, aber jedes Mal verlor man es aus den Augen. Die Verfolgungsjagd führte kreuz und quer durch West- und Süd-West-London. In Twickenham musste sich Taggart endlich widerwillig dazu entschließen, die Verfolgung abzubrechen, weil sie sinnlos geworden war.

„Schalten Sie ab!“, befahl er dem Funker niedergeschlagen — aber im gleichen Augenblick kam für ihn eine Durchsage:

„Kontrollstation acht an Wagen sechsundsiebzig. Inspector Taggart, bitte melden.“

Taggart ging auf Senden und meldete sich.

„Soeben hat das Teddington-Revier angerufen. Wo stehen Sie, Taggart?“

„Twickenham-Mitte.“

„Fein! Fahren Sie sofort nach Teddington und nehmen Sie im dortigen Revier mit dem Nachtdienst Verbindung auf. Sergeant Woodall hat angerufen, er kann Ihnen unter Umständen im Fall Rolls-Royce weiterhelfen ...“

„Ein Lichtblick — hoffentlich“, murmelte Taggart ungläubig, „vielen Dank ...!“

*

Sergeant Woodall, ein im Dienst ergrauter Mann an der Grenze des Pensionsalters, machte große Augen, als ein mit Schlafanzug, Schlafrock und Hausschuhen bekleideter Mann gegen Mitternacht das Teddingon-Revier betrat und sich als Inspector Taggart vorstellte.

„Können Sie sich legitimieren?“, fragte er misstrauisch.

„Leider kann ich das nicht“, lachte der Inspector, „denn ich pflege nicht mit Ausweis und Dienstmarke schlafen zu gehen. Aber wenn es sein muss, können wir Superintendent Heytesbury anrufen ...“

„Wird nicht nötig sein“, versetzte der Beamte und hatte mit einem Mal keine Zweifel mehr — offenbar weil gerade Sergeant Jellicoe mit einem seiner Beamten nachgekommen war.

„Well — Kontrollstation acht hat mir durchgegeben, dass Sie unter Umständen etwas über den gesuchten Rolls-Royce wissen“, drängte der Inspector. „Ich höre.“

Erst als er eine Zigarette angeboten bekommen hatte, taute Woodall etwas auf. Er hatte ein von tausend roten Adern marmoriertes Gesicht und einen faltigen Hals, aber seine Augen waren jung geblieben und blickten aggressiv.

„Eine prima Sorte, die Sie rauchen“, bemerkte er. „Also, das war so: Bei uns in Teddington ist nicht viel los. Deshalb vertreibe ich mir, wenn ich Nachtdienst habe, manchmal die Langeweile durch Abhören des Streifen-Funkverkehrs. Auf diese Weise habe ich rein zufällig Ihre Jagd auf den Rolls-Royce mitbekommen. Und ich kenne jemanden, der einen Rolls-Royce fünfunddreißig fährt und ihn wie seinen Augapfel hütet. Es handelt sich um den jungen Taugenichts, der vor acht Monaten Julian's Lodge gemietet hat.“

Schade, das Ganze wird auf eine Fehlanzeige hinauslaufen!, überlegte Taggart ärgerlich. Er fragte:

„Halten Sie etwa den jungen Mann für einen Verbrecher?“

„Eigentlich nicht“, bekannte der Sergeant verlegen und kratzte sich nervös am Hinterkopf. „Es ist nur so: Er sieht wie ein Gigolo aus, arbeitet nichts, hat aber alle Taschen voller Geld. So viel habe ich festgestellt ...“

„D. Edward Squire. D. bedeutet Dom — komischer Vorname, finde ich ...“

Wie elektrisiert zuckte der Inspector zusammen. Hatte nicht der Pistolenheld den Vornamen „Dom“ erwähnt? Ja, natürlich! Jetzt erinnerte sich Taggart genau.

„Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet“, sagte er anerkennend. „Wo finde ich Julian's Lodge?“

„Fahren Sie nach Isleworth hinunter, biegen Sie in die alte Straße nach Feltham ein, und dann kommen Sie nach genau einer Meile zu einem kleinen Park. Dort steht ein sonderbares Haus mit vielen Türchen, das Sie, ganz nach Belieben, als große Villa oder als kleines Schloss bezeichnen können. Es stand viele Jahre leer. Ich glaube, Verwalter ist ein Steuerberater, der in der City wohnt.“

Um nichts zu versäumen, unterhielt sich Taggart noch einige Minuten mit dem Beamten, gewann aber bald die Überzeugung, dass er alles erfahren hatte, was dem Sergeanten bekannt war, und verabschiedete sich mit höflichem Dank.

Ehe er mit Sergeant Jellicoe den Schlachtplan besprach, gab er einen zweiten Rundspruch an alle Streifenwagen durch und hob ausdrücklich die Fahndung nach dem Rolls-Royce fünfunddreißig auf. Das entsprach zwar nicht den üblichen Gepflogenheiten der Kriminalpolizei, aber der Fall, an dem Taggart arbeitete, war ohnehin ganz anormal und forderte dilatorische Behandlung.

„Sie finden den Weg?“, vergewisserte sich der Inspector.

„Jawohl, Sir!“, bestätigte der Fahrer und startete.

Es war eine finstere Nacht. Eine steife Brise jagte die Wolken über den Himmel, sodass dem zunehmenden Mond kaum eine Chance blieb, und die empfindlich kühl gewordene Luft roch nach salzigem Wasser und Regen. Taggart war das erste gerade recht.

Gegen null Uhr fünfzig stoppte der Streifenwagen am Fuß eines Hügels, auf dem eine alte Windmühle stand. In mäßiger Entfernung schräg gegenüber hob sich der kleine Park, von dem der Sergeant gesprochen hatte, als dunkle Silhouette vom helleren Himmel ab.

Die Scheinwerfer des Polizeiwagens erloschen, der Inspector schickte sich an, in Begleitung zweier Konstabler den Wagen zu verlassen.

„Pardon, Sir“, wandte Sergeant Jellicoe ein. „Sie können doch nicht ... in diesem Aufzug ...“

Taggart lachte leise. „Haben Sie eine Ahnung, was ich alles kann! Und wenn ich splitterfasernackt wäre, ich würde mich nicht zurückhalten lassen!“

Die Constabler Brown und Williams waren genau informiert. Ihnen fiel die Aufgabe zu, Taggart den Rücken zu decken und ihm in einiger Entfernung zu folgen. Nur im äußersten Notfall hatten sie einzugreifen.

Taggart machte eine Runde um das eingezäunte Grundstück, nachdem er das Haupttor verschlossen gefunden hatte, und fand — als es gerade ein Uhr schlug — an der Rückseite ein zweites, schmales Tor, dessen Flügel weit offen standen. Er ging in die Hocke und ließ für Sekunden die Taschenlampe aufblitzen. Was er in diesem einen Augenblick gesehen hatte, befriedigte ihn. Abdrücke eines Reifenprofils, frische Abdrücke.

Vorsichtig drang der C.I.D.-Beamte in das Grundstück ein. Er folgte dem Weg so lange, bis er Julian's Lodge vor sich sah. Bis auf zwei Fenster im Erdgeschoss, durch die gedämpftes Licht ins Freie drang, war das Haus völlig finster.

Nachdem er erneut gelauscht und vorsichtig beobachtet hatte, ging er bis zur Garage weiter, wo er die Torflügel nur angelehnt vorfand. Schnell schlüpfte er hinein und zog die Tür hinter sich zu, ehe er die Taschenlampe anzuknipsen wagte.

Wieder ging ein Teil der schwierigen Gleichung auf. Der Wagen, der hier stand, war ein alter Rolls-Royce. Der Kühler war noch ganz heiß. Mit anderen Worten, das Liebhaberstück war vor Kurzem für längere Zeit in Betrieb gewesen.

Höchst befriedigt entfernte sich Taggart wieder und machte mit äußerster Vorsicht eine Runde um das Haus. Er ging kurz mit sich zu Rate, denn er musste als vernünftiger Mensch die Risiken bedenken, die er auf sich nahm, ehe er sich in Gefahr begab. Sowohl der Vorder- als auch der Hintereingang des pittoresken Schlösschens war versperrt.

Schade!, überlegte Taggart kalt. Auf diese Weise wird die Chose noch gefährlicher ... Eine zweite Möglichkeit, ins Haus einzudringen, hatte er bereits bei seinem ersten Rundgang erkundet und der verwilderte Zustand des Parkes kam ihm dabei zu Hilfe. Büsche wucherten bis ans Haus heran und boten bei finsterer Nacht günstige Sichtdeckung. Die Standlinie der Mauerfront, in der die beiden erleuchteten Parterrefenster lagen, war ornamental gezackt. Von seinem unpraktischen Dress behindert, robbte Taggart durch das Gesträuch, bis er den Mauersockel mit der Hand ertastete. Jetzt galt es nur noch, ein offenes Fenster zu finden und eine Möglichkeit, zu diesem hinaufzuklettern ...

Das Kriminalistenglück ließ ihn nicht im Stich. Er richtete sich auf und stellte fest, dass zwischen dem linken der beiden erleuchteten und dem nächsten unbeleuchteten Fenster das Führungsrohr eines Blitzableiters verlief. Nachdem er abermals nach allen Seiten gelauscht hatte, erfasste er mit der rechten Hand das Stahlblechrohr und tastete mit der linken nach dem Fenstersims. Unter Anspannung aller Kräfte gelang es ihm, sich hochzuziehen, nachdem er den linken Fuß auf die Sockelleiste der Mauer aufgesetzt hatte, mit einem kräftigen Ruck weiter an Höhe zu gewinnen und mit der linken Hand — heavens, das Fenster war offen! — das Mittelkreuz zu packen. Er griff mit der rechten Hand nach, machte einen reichlich kläglichen Klimmzug und lag nun bäuchlings auf dem Sims. Danach wand er sich mit dem Oberkörper weiter in den Raum hinein, stemmte die Handflächen auf den Fußboden auf und zog den Unterkörper geräuschlos und vorsichtig nach.

Er richtete sich in die Hocke auf. Wie du mir — so ich dir!, dachte er und hätte beinahe gelacht. Zuerst waren ihm die Bewohner von Julian's Lodge auf den Pelz gerückt, und nun beschlich er sie. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit und seine Ohren an die Stille gewöhnt. Im Zimmer war es finster, aber Taggart konnte die Konturen der Möbel erkennen und dadurch der Gefahr entgehen, lärmend irgendwo anzustoßen.

Wenn ich Pech habe, überlegte er, sind die beiden Verbrecher — es sind mindestens zwei — bereits zu Bett gegangen ... Unsinn, ich brauche jetzt nicht mehr nachzudenken, wo ich direkt vor der Situation stehe!

Er wandte sich nach rechts, weil er dort eine Verbindungstür zu dem Raum vermutete, dessen erleuchtetes Fenster ihn angelockt hatte.

Als er sein Ohr lauschend an das Holz legte, hörte er keinen Ton.

Sollte tatsächlich alles umsonst gewesen sein?, fragte er sich. Blitzschnell knipste er seine Lampe an und ließ den Lichtstrahl rundum gleiten. Er sah einen schäbigen, verblichenen Teppich, verstaubte Möbel im Jugendstil und eine kitschige Deckenlampe, die ihren Glasschirm zu zwei Dritteln eingebüßt hatte. Höchstwahrscheinlich war der Raum, in dem er sich gerade aufhielt, seit Jahren nicht mehr regelmäßig benutzt worden ...

Sekundenlang spielte er mit dem Gedanken, den altmodischen Sekretär, der der Tür gegenüber an der Wand stand, zu durchsuchen, gab diese Absicht aber gleich auf, weil dort der augenblickliche Mieter des Hauses wohl kaum etwas aufbewahrte.

Ein Knall ließ ihn zusammenfahren — Taggart erstarrte zu vollkommener Regungslosigkeit. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Der Lärm kam aus dem Nebenraum. Vermutlich war dort jemand eingetreten und hatte die Tür achtlos hinter sich ins Schloss geworfen.

„Goddam, Hubert, dass du doch das Saufen einfach nicht sein lassen kannst!“, sagte eine Taggart unbekannte Stimme in aristokratisch gedehntem Tonfall, der aber nicht zwanglos-natürlich, sondern wie in späteren Jahren krampfhaft erlernt klang. „Das ist ein Ultimatum: Entweder du gibst endlich das Saufen auf oder wir beide sind geschiedene Leute. Merk' dir das!“

„Ach was, geh doch zum Teufel mit deinen Moralpredigten, blöder Kerl!“, grölte eine zweite Stimme, in der Inspector Taggart sofort die „seines“ Einbrechers erkannte. „Ich saufe nämlich so lange und so oft es mir passt — und ich nicht im Einsatz bin, verstanden?“

„Und das ist alles, was du mir zu sagen hast?“, fragte die erste Stimme ärgerlich. „Du bist mir vielleicht ein undankbarer Wechselbalg! Dabei habe ich vor wenigen Stunden mein Leben riskiert, als ich dich bei Taggart herauspaukte.“

Wieder ein Schritt vorwärts; „mein“ Mann heißt also Hubert, registrierte der Inspector. Der andere wird wahrscheinlich Squire sein, der Gigolo.

Auch diese Kombination bestätigte sich, Hubert brüllte seinen Komplicen an:

„Das hast du aus purer Nächstenliebe getan, Dom, wie? Dass ich nicht lache! Dir stand das Wasser auch bis zum Hals, als ich nicht wiederkam. Wenn mich nämlich die Polizei tatsächlich in die Fänge bekommen hätte, hätte es immerhin sein können, dass ich den Mund nicht hielt, und damit wäre dann auch dein letztes Bett gebaut gewesen.“

„Gib nicht so an, Großmaul!“, schimpfte Squire. „Stimmt — du hast recht, es stand Spitz auf Kopf. Und das alles für nichts und wieder nichts.“

„Warum für nichts und wieder nichts?“, fragte Hubert. „Wyschinsky muss sonst etwas im Kopf gehabt haben — bloß keinen Verstand — als er auf die Idee kam, das Metier zu wechseln. Dabei haben die Unkosten den bisherigen Ertrag bei weitem überschritten.

Derek ist ausgefallen, Benham ist ausgefallen. Sam ist ...“ sekundenlang zögerte Squire — “... ausgefallen, wie ich einmal sagen will, und wir beide wären heute Nacht beinahe aufs Kreuz geflogen. Und warum das alles? Bloß weil Wyschinsky, der große Herr und Meister, seinen gierigen Hals nicht voll genug bekommen kann und das Geschäft ausweiten musste! Keiner kann eben auf zwei Hochzeiten zugleich tanzen.“

„Goddam, wie du mich langweilst, Dom!“, spottete Hubert. „Mit dem neuen Geschäft dürfte es ohnehin zu Ende sein, denn einen solchen Kurier wie Benham kriegen wir doch nie im Leben wieder. In dieser Hinsicht war er einmalig. Übrigens kannst du dich abregen, denn das Mary-Ann-Geschäft ist durch Benhams Totalausfall ohnehin futsch. Und Wyschinsky wird doch nicht so blöde sein, es wieder aufleben zu lassen, nachdem die Tecks auf der Burg ein- und ausgehen.“

„Ha, wunderbar logisch!“, lobte Squire. „Jetzt brüllt ihr allesamt nach der Feuerwehr — jetzt, wo das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Und die Mitwisser rechnet wohl keiner ein, wie?“

„Gib nicht so an, Dom! Wyschinsky weiß genau, was von uns Alten zu halten ist, und die Neuen sind tot.“

„Bis auf Eleanor. Die vergisst du wohl. Ich überlege mir schon die ganze Zeit, ob ich nicht einfach zu ihr hingehen und ...“

„Nein, keine Extratouren! Du würdest mehr schlecht als gut machen. Wyschinsky ist der Kopf — und das ist auch gut so. Und wenn er eine Aktion gegen Miss Peacock starten will, wird er es sagen. Du, lass die Finger von dem Girl! Höchstwahrscheinlich ist sie ahnungslos.“

Eine Weile blieb es im Zimmer drüben still, aber an gewissen charakteristischen Geräuschen erkannte der Inspector, dass die beiden erregt auf und ab schritten.

„Übrigens bist du im Irrtum“, begann Hubert plötzlich von Neuem, „wenn du annimmst, die Polizei sei auf unser Nebengeschäft aufmerksam geworden. In Wirklichkeit ist der Stein erst durch den Blödsinn mit der doofen Ziege ins Rollen gekommen.“ Die Stimme wurde womöglich noch gemeiner. „Du — Dom ...“

„Ja?“

„Ob Wyschinsky nicht doch das blöde Stück gegriffen hat und es auf der Burg gefangen hält?“

Diese Verdächtigung schien Squire aufzuregen.

„Nein“, zischte er seinen Komplizen an, „die Antwort lautet nein! Schreib dir das hinter die Ohren! Wyschinsky wird sich hüten, sich ausgerechnet mit der Frau eines im Kriegsministerium tätigen Offiziers anzulegen.“

„Mit ihr hätten wir, meine ich, ein herrliches Loch bohren können ...“

„Mensch, bist du dumm! Dich kann man wirklich nur für die grobe Arbeit einsetzen — aber selbst dazu reicht's nicht bei dir, siehe heute Abend ...“

Unter dem Eindruck des Vorwurfs wurde Hubert kleinlaut und zeigte das Bestreben, das Thema zu wechseln.

„Schließlich hat jeder von uns schon mal eine Panne erlebt“, warf er bitter ein. Nachdenklich fügte er hinzu: „Eines möchte ich allerdings wissen: Wer ist John Smith?“

„Hör mal, Söhnchen“, versetzte Squire in einem Tonfall, der wohl gemütlich klang, aus dem aber Taggart deutlich eine Drohung heraushörte, „der Name John Smith ist tabu! Den vergisst du am besten schnellstens — wenn du klug bist. Und wenn nicht, bestell dir sofort einen Sarg! Särge gibt's auf Abzahlung, wie ich mir sagen ließ, ha, ha, ha!“

„Danke für die Belehrung!“ Hubert wurde zusehends nüchtern.

Abermals schlief das Gespräch für eine ganze Weile ein bis — wieder Hubert — sagte:

„Also — gehen wir endlich schlafen!“

Taggart zog sich vorsichtig von der Tür zurück. Was er gehört hatte, war für ihn ungeheuer wertvoll gewesen. Und auf das meiste konnte er sich einen Vers machen.

Vorsichtshalber wartete er fünf Minuten ab, ehe er zum Fenster schlich, um sich abzusetzen.

Ein Geräusch auf dem Flur ließ ihn innehalten. Es klang wie wenn jemand auf Strümpfen näher käme.

Da — da war es wieder! Es wurde für Sekunden lauter, ebbte wieder ab, erstarb.

Taggart ließ sich nicht täuschen. Jemand stand vor der Tür des Zimmers. Er zog sich blitzschnell zur gegenüberliegenden Wand zurück und ging neben dem alten Sekretär, der ihm Deckung bot, in die Hocke. Mit der Hand maß er die Höhe der Füße aus. Zur Not mochte es angehen. Schnell schob er sich unter das mächtige Möbelstück.

Keine Sekunde zu früh; die Tür wurde aufgerissen. Der Boden dröhnte, als sich die beiden Männer fallen ließen. Taggart hob die Pistole.

Statt das Zimmer systematisch abzusuchen, verharrten die beiden in ihrer Erstarrung. Zwei Minuten vergingen — danach standen die beiden auf und schalteten das elektrische Licht ein.

Taggart zog sich so dicht wie möglich an die Wand zurück und verzichtete darauf, einen Blick auf Squire zu werfen ... Er konnte lediglich die Schuhe und Hosenbeine der beiden sehen, die misstrauisch durchs Zimmer schlichen, sich aber darauf beschränkten, in allen Winkeln zu schnüffeln. Auf die Idee, unter dem Sekretär nachzusehen, kamen sie nicht. Squire sagte:

„Nein, ist nichts hier — hast es dir nur eingebildet! Bei jedem äußert sich eben das Delirium tremens anders, Hubert. Der eine sieht weiße Mäuse, der andere hört die Polizei ...“

Die beiden stritten noch eine ganze Weile miteinander, ehe sie das Zimmer wieder verließen, nachdem sie das Licht ausgeschaltet hatten.

Währenddessen kochte Inspector Taggart im eigenen Saft. Haarscharf war die Situation gewesen, im wahrsten Sinne des Wortes haarscharf ...

Er wartete volle zwölf Minuten lang ab, obwohl ihn die Ungeduld beinahe umbrachte, ehe er sich endlich dazu entschloss sich zurückzuziehen. Weitere zwanzig Minuten dauerte es, bis er den Streifenwagen ohne Zwischenfall erreichte. Brown und Williams folgten ihm wie getreue Schatten.

„Gott sei Dank!“, stöhnte Sergeant Jellicoe auf, als der Inspector wieder neben ihm saß. „Sie ahnen ja gar nicht, welche Sorgen ich mir um Sie gemacht habe!“

So viele Killer: Vier Kriminalromane

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