Читать книгу Die Magie der Mandalas - Alicia Sérieux - Страница 5
Namen und Gesichter
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„Wie schaffst du es bloß, dich immer wieder in solche Situationen zu bringen?“ fragte ich mein eigenes Spiegelbild, das mich mit glasigen Augen aus meinem kleinen Handspiegel ansah. Energisch legte ihn auf den kleinen Hocker, der neben meiner Badewanne stand und nahm stattdessen mein Weinglas zur Hand. Die Badewanne war der einzige Ort, der mich nach so einem Tag noch retten konnte. Das Wasser war viel zu heiß und so begann der Alkohol noch schneller zu wirken. Im Radio wurden alte Songs von den Beatles gespielt und ich hing meinen Gedanken nach. Charles hatte Recht. Diese Story würde vielleicht mein Durchbruch werden. Würde alle meinen bisherigen Arbeiten in den Schatten stellen. Was hatte ich zu verlieren? Im schlimmsten Fall blieb ich freischaffende Journalistin und würde eben keine größere Wohnung haben. Und auch mehr Geld könnte ich mir abschminken. Es würde alles so bleiben, wie es war. Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. In weiser Voraussicht hatte ich es ebenfalls auf den Hocker neben der Wanne gelegt. Und ich wusste genau, wer dran sein würde. Es gab ja nur einen Menschen, der mich regelmäßig anrief. „Hi Schwesterchen,“ meldete ich mich ohne zu fragen, wer am anderen Ende der Leitung war. „Woher wusstest du, dass ich es bin?“ fragte sie verwundert. Sie lernte es wohl nie. „Wer sollte mich sonst anrufen? Du bist meine beste Freundin und vor allem meine einzige,“ kicherte ich. Ein kurzes Schweigen ihrerseits folgte bevor sie empört fragte: „Du liegst doch nicht etwa wieder mit einer Flasche Wein in der Wanne, oder?“ „Nein, natürlich nicht! Wer macht denn sowas! Ich benutze natürlich ein Glas!“ antwortete ich lachte herzhaft über meinen eigenen Scherz. Doch ich war anscheinend die einzige, die das lustig fand. „Du wirst noch zur Alkoholikerin, wenn das so weiter geht! Aber jetzt mal was anderes. Ich habe mit Charles gesprochen und er hat mir von der Story erzählt, die er dir besorgt hat. Das ist doch super, oder?“ fragte sie erwartungsvoll. „Jaaaa… suuuuper,“ krächzte ich und sah meinem Wein zu, wie er durch mein vorsichtiges Schwenken im Glas rotierte. „Wie? Freust du dich nicht?“ fragte meine Schwester verwundert. „Doch. Ich habe zwar keinen blassen Schimmer über dieses Bolly-Dings-Bums und werde mich total blamieren, aber sonst ist das wirklich grandios!“ brummte ich und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Ich wollte doch nicht mehr meckern. „Hat dir Charles nicht meine DVDs mitgegeben?“ fragte sie verwundert. „DEINE DVDs? Verarsch mich nicht!“ rief ich und verschüttete ein wenig Wein in mein Badewasser. „Ja, das sind meine. Ich bekam sie mal geschenkt und hab sie mir angesehen. Ist ganz nett. Solltest du dir anschauen vor deinem Termin morgen früh. Ein bisschen Hintergrundwissen schadet nie,“ meinte sie. „Ich weiß das! Ist ja nicht meine erste Story!“ entgegnete ich schnippisch und nahm einen weiteren Schluck aus meinem Glas. „Zick mich nicht an! Ich will dir nur helfen!“ entgegnete sie im gleichen Ton. „Ist ja gut, ist ja gut! Lass uns nicht streiten. Das ist das letzte, was ich heute Abend gebrauchen kann,“ brummte ich und stellte mein Glas ab. „Was brauchst du denn, abgesehen von deiner Flasche Wein?“ fragte sie in süffisantem Unterton. „Ich benutze immer noch ein Glas, ja? Prüf mal deine Quellen!“ protestierte ich. Jetzt musste auch sie lachen. „Ein bisschen Zuspruch wäre gut. Sowas wie, dass ich morgen überaus professionell sein und alle mit meine Scharfsinnigkeit beeindrucken werde. Und dass ich bestimmt fest eingestellt werde, weil ich den Artikel des Jahrhunderts schreibe,“ sinnierte ich. „Okay, du wirst das schaffen und alle umhauen. Aber schau dir zumindest einen der Filme an, ja?“ bat sie mich mit Nachdruck in der Stimme. Ich schnaubte genervt und antwortete: „Ja, mach ich. Ich leg jetzt auf. Meine Flasche ist leer.“
In meinen viel zu großen Bademantel gehüllt setzte ich mich kurze Zeit später auf meine alte, durchgesessene Couch. Auf meinem kleinen Wohnzimmertisch lagen die DVDs mit den viel zu bunten Covern und warteten nur darauf, dass ich mir eine von ihnen aussuchte. Erschöpft lehnte ich mich zurück und spürte, dass der Wein und das heiße Bad viel zu gut wirkten. Ich fühlte mich schläfrig und nicht mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Du solltest dich auf morgen vorbereiten sagte mir die Vernunft. Also setzte ich mich auf und wollte zu den DVDs greifen. Doch dann fiel mein Blick auf etwas, das jeden Abend auf mich wartete. Das schwarze, kleine Kästchen mit den grünen Steinen, das auf dem Regal über meinem Fernseher stand. Ich schluckte und wollte meinen Blick wieder davon abwenden. Aber ich konnte es nicht. Dieses unbedeutend wirkende Kästchen erinnerte mich immer wieder daran, wie ich es geschafft hatte, mein Leben zu ruinieren. Mein eigenes Glück zu torpedieren. Mir alles kaputt zu machen, was ich mir mühsam aufgebaut hatte. Plötzlich fühlte ich mich gar nicht mehr wie eine erfolgreiche Journalistin, die fähig war, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Ich fühlte mich einfach wieder nur wie… ich. Eine Chaotin, die nur unter größter Anstrengung nicht im Trubel dieser Welt unterging und die sich eigentlich schon innerlich auf ihr nächstes Versagen einstellen sollte, um es zu überleben. Langsam zog ich meine Hand von den DVDs zurück und ließ mich nach hinten sinken, jedoch ohne das Kästchen aus den Augen zu lassen. Ich fühlte mich wieder einmal wie gelähmt und hatte das Bedürfnis, meine Augen einfach zu schließen. Nur um dem Unausweichlichen für wenige Momente zu entfliehen. Zögernd schloss ich meine Augen und die Dunkelheit, die mich umfing, fühlte sich erleichternd an. Nur für ein paar Sekunden. Dann legst du los sagte ich mir und atmete tief durch. Nach und nach ließ der Druck hinter meinen Augen nach und ich entspannte mich ein wenig. Ich würde alles geben müssen für diese Story. Und ich würde mir alle Filme ansehen. Egal, wie schlecht ich sie persönlich fand. Es ging nicht um meinen Geschmack. Es ging um die Story. Nur um die Story. Es war nicht meine erste und ich durfte mich nicht verrückt machen. Andererseits hatte ich noch nie so eine große Reportage geschrieben. Das war doch etwas ganz anderes als meine bisherigen Aufträge. Und was, wenn dieser Rahul Advani ein arroganter Kerl war, der nicht einmal unserer Sprache mächtig war? Wie sollte ich unter solchen Umständen eine Story über ihn schreiben? Was, wenn er nicht mit mir kooperierte? Wenn er mich nicht leiden konnte? Ich gähnte und kuschelte mich noch ein wenig tiefer in meinen Bademantel. Was, wenn ich es vermasseln würde? Nein! Ich durfte es einfach nicht vermasseln! Dieses eine Mal würde mir etwas Großes gelingen! Da war ich mir sicher. Ich sagte es mir immer und immer wieder… bis ich in einen tiefen und traumlosen Schlaf fiel.
Ein lautes Rumpeln ließ mich aufschrecken. Mein Nachbar über mir schien seine Wand einreißen zu wollen. So hörte es sich zumindest an. Verschlafen sah ich mich um. Ich lag noch immer auf der alten Couch, in meinen Bademantel gehüllt, die DVDs auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet. Mein Kopf brummte und mir war übel. Hatte ich wirklich so viel getrunken? Ich kniff die Augen zusammen, da mich das hereinfallende Licht blendete und griff nach meiner Armbanduhr. Es war kurz nach sieben. Kurz nach sieben! Vor Schreck fiel ich fast von der Couch. Um halb acht würde meine Bahn fahren und ich brauchte gut fünfzehn Minuten bis zur Haltestelle. Ich hatte verschlafen! Noch schlimmer! Ich hatte mir keinen einzigen Film angesehen und war komplett unvorbereitet. Ich hatte mir nicht einmal die Homepage von Rahul Advani angesehen und wusste nicht, wie er überhaupt aussah! „Scheiße!“ fluchte ich, schnellte von meiner Couch hoch und stürzte in mein Schlafzimmer. Schnell zog ich eine saubere Jeans und eine hellblaue Bluse aus meinem Kleiderschrank. Panisch zog ich mich an und hetzte ins Badezimmer, wo ich hektisch meine Zähne putzte. Ich sah furchtbar aus! Als hätte ich die Nacht zum Tag gemacht. Verzweifelt versuchte ich mich zu schminken, damit ich wenigstens ansatzweise vorzeigbar war. Am liebsten hätte ich losgeheult, aber das hätte mir auch nicht weitergeholfen. Stattdessen atmete ich tief durch und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Nur noch zehn Minuten, dann würde die Bahn ohne mich losfahren. Schnell schnappte ich meine neuen Stiefel, die in meinem kleinen Flur verstreut lagen, packte meine Lederjacke und meine Tasche und stürzte aus meiner Wohnung. Die kühle Herbstluft war wie eine Wand, gegen die ich mit voller Wucht lief. Doch ich ignorierte den Schwindel und rannte los. Meine Lungen brannten als ich den ersten und zweiten Block hinter mir gelassen hatte. Ich wusste nicht wie viele Menschen ich wohl angerempelt hatte, doch ich war noch nie zuvor so oft und wüst beschimpft worden. Als ich endlich das Schild sah, welches auf die Underground hinwies, hätte ich vor Erleichterung beinahe aufgelacht. Ich hatte noch zwei Minuten. Todesmutig rannte ich die Treppen hinab und steuerte das Gleis an, auf dem meine Bahn wartete. Dort angekommen wollten sich die Türen meiner Bahn schon schließen, doch ich konnte gerade noch zwischen dem Türspalt hindurchschlüpfen. Keuchend ließ ich mich auf einen Sitzplatz fallen. Mein Magen rebellierte und mein Kopf pochte. Doch ich hatte es geschafft. Ich warf einen Blick auf mein Spiegelbild im Fenster neben mir und erschrak. Mein Haar stand in alle Richtungen ab und ich war total verschwitzt. Schnell band ich mein Haar so zusammen, dass es einigermaßen ordentlich aussah und tupfte mit einem Taschentuch die verlaufene Schminke unter meinen Augen vorsichtig ab. Als ich mit meinem Anblick einigermaßen zufrieden war, holte ich schnell mein Handy aus meiner Tasche. Ich wusste, dass ich damit Zugang ins Internet hatte. Doch ich hatte es bislang noch nie ausprobiert. „Komm schon!“ zischte ich es an, als würde es so schneller gehen. Doch selbst als ich herausgefunden hatte, wie ich ins Internet gelangen konnte… in der U-Bahn hatte ich keinen Empfang. „So eine verfluchte Scheiße!“ fluchte ich und erntete gleich einen bösen Blick von einer Frau, die mir mit ihrer kleinen Tochter gegenüber saß. „Verzeihung,“ entschuldigte ich mich zerknirscht und versuchte weiterhin verzweifelt, ins Internet zu kommen. Doch es half nichts. Ich bekam einfach keine Verbindung. Konnte das denn wirklich wahr sein? Das Universum schien sich gegen mich verschworen zu haben! „Na schön! Dann eben nicht!“ seufzte ich und verstaute mein Handy wieder in meiner Handtasche. Dann musste es eben so gehen. Ich würde ihn schon erkennen. Filmstars waren doch alle irgendwie gleich. Egal, ob sie jetzt nun aus Hollywood oder Bollywood kamen. So unterschiedlich konnten sie nicht sein. Als endlich meine Haltestelle angezeigt wurde, stand ich schnell auf und stellte mich direkt an die Bahntür. Jetzt würde nichts mehr schief gehen. Ich musste unbedingt pünktlich sein! Kaum dass die Tür sich geöffnet hatte, stürzte ich hinaus und ging schnellen Schrittes in Richtung der Redaktion. Mein Kopf tat immer noch weh, aber ich ignorierte das. Irgendjemand würde schon ein Aspirin für mich haben, wenn das Meeting vorbei war. Aber das musste fürs Erste warten. Ein zentnerschwerer Stein fiel mir von meinem Herzen als ich endlich das Gebäude der Londoner Times betrat. Atemlos trat ich zu dem Fahrstuhl und wollte den Knopf drücken. Doch dann bemerkte ich das „Out of order“ – Schild. „Auch das noch!“ jammerte ich und wandte mich an die Tür, die ins Treppenhaus führte. Es waren eigentlich nur drei Stockwerke. Doch das waren genau drei Stockwerke zu viel, wenn man einen Kater hatte. Ich brachte die Stufen so schnell hinter mich, wie es mir möglich war und als ich endlich oben ankam und die Tür in die Büroräume aufstieß, lief ich meinem Schwager direkt in die Arme. „Leah! Du bist aber früh!“ freute er sich. „Willst du mich verarschen?“ keuchte ich und unterdrückte ein Würgen. „Was ist denn los? Sag bloß, du warst gestern aus?“ fragte er vorwurfsvoll. „Natürlich nicht! Ist unser Mister Bollywood schon hier?“ fragte ich, um von meinem mehr als erbärmlichen Zustand abzulenken. „Ja, er wartet im Besprechungsraum. Geh schon mal vor und mach dich mit ihm bekannt. Ich muss noch einen kurzen Anruf tätigen. Dann komm ich nach. Schaffst du das?“ fragte Charles mit besorgter Miene. „Klar. Bis gleich,“ sagte ich knapp und wandte mich in Richtung Besprechungsraum. Die Tür war nicht ganz geschlossen, sondern nur angelehnt. Plötzlich wurde ich nervös. Der erste Kontakt war ausgesprochen wichtig und konnte ausschlaggebend sein, um eine gute Story zu bekommen. In Gedanken bereitete ich alle meine witzigen und charmanten Sprüche vor, die ich auf Lager hatte. Nur um sicher zu gehen. Als ich vor der Tür angekommen war, drückte ich sie behutsam auf und warf einen Blick in den Raum, in dem mein Interviewpartner der nächsten drei Monate auf mich wartete. Doch an dem großen, runden Besprechungstisch saß niemand. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen und entdeckte einen Mann, der mit dem Rücken zu mir gewandt am Fenster stand und hinaus auf die Straßen schaute. Das war er also. Showtime! Ich räusperte mich dezent und augenblicklich drehte er sich zu mir um. Ich war überrascht. Hatte ich mir einen Filmstar immer ausgesprochen attraktiv und sportlich vorgestellt, sah ich hier das krasse Gegenteil. Vor mir stand ein kleiner Inder, nicht viel größer als ich, vielleicht Mitte vierzig mit bereits grauen Schläfen. Er hatte ein rundes Gesicht und tiefbraune Augen, die schon fast schwarz wirkten. Seine Nase schien mir etwas zu knubbelig zu sein und man konnte erkennen, dass er einen kleinen Bauchansatz hatte. Doch er schenkte mir ein sympathisches Lächeln, legte die Handflächen aneinander und sagte: „Namaste.“ Etwas unbeholfen tat ich das Gleiche und erwiderte seinen Gruß. Dann ging ich auf ihn zu und sagte mit einem hoffentlich einladenden Lächeln auf den Lippen: „Guten Tag, Mister Advani. Es ist schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Leah Johson und werde die Reportage über Sie schreiben. Ich freue mich schon auf unsere Zusammenarbeit.“ Er sah mich verwundert an, warf einen Blick auf seine Uhr und wollte etwas erwidern. Doch ich war schneller. „Ich weiß, wir sind etwas später dran als geplant. Aber mein Chef, Mister Harris, muss nur noch kurz ein Telefonat führen. Aber dann können wir die Einzelheiten besprechen und sofort loslegen,“ sagte ich und legte meine Tasche auf dem Tisch ab. Dann schenkte ich ihm mein charmantestes Lächeln, das ich im Reportoire hatte und es schien seine Wirkung nicht zu verfehlen. Sein Blick war zwar noch etwas unsicher, aber er erwiderte mein Lächeln. „Setzten Sie sich doch. Sie müssen da doch nicht so rumstehen!“ sagte ich etwas mutiger und wies auf den Platz mir gegenüber. Gerade als er etwas sagen wollte, hörte ich hinter mir ein dezentes Räuspern. Ich fuhr herum um zu sehen wer es wagte, mich bei meinem ersten Treffen mit meinem Interviewpartner zu stören. Doch anstatt die Assistentin von Charles oder jemand anderen aus der Redaktion zu sehen, stand da ein Mann den ich noch nie zuvor in der Redaktion gesehen hatte. Er war einen guten Kopf größer als ich, trug dunkle Stiefel und eine braune Hose sowie ein knallbuntes Hemd, dessen Farben in meinen verkaterten Augen schmerzten. Sein rabenschwarzes Haar trug er etwas länger, sodass er es locker nach hinten kämmen konnte, wobei sich einige wenige Strähnen gelöst hatten und ihm in die Stirn fielen. Seine Lippen waren schmal, doch schön geschwungen und seine Nase ein wenig zu groß, doch er war nicht unattraktiv. Seine Augen konnte ich nicht erkennen, da sie hinter einer großen Sonnenbrille verborgen waren, aber seine Haut war leicht gebräunt. Sein Teint passte zu seinen exotischen Gesichtszügen, soweit ich diese hinter der großen Brille erkennen konnte. Lässig lehnte er im Türrahmen und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ein süffisantes Lächeln umspielte seine Lippen. Wer war er? Verwirrt sah ich von ihm zu meinem vermeintlichen Interviewpartner. Der wollte gerade etwas sagen, als Charles den Raum betrat. Er blieb hinter dem Fremden stehen, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte gut gelaunt: „Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, Mister Advani. Ich hatte noch ein dringendes Telefonat, das ich erledigen musste. Aber wie ich sehe, haben Sie sich schon mit Miss Johnson bekannt gemacht.“ Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte ausgestopft. Der Fremde war Rahul Advani und ich hatte ihn nicht erkannt. Schlimmer noch. Ich hatte ihn mit einem Mann verwechselt, der gut 20 Jahre älter war als er und im Vergleich zu ihm wirklich keine Verwechslungen zuließ. Nicht einmal im Entferntesten. Und so wie es aussah, hatte Mister Advani jedes Wort, das ich mit diesem älteren Inder gewechselt hatte, mit angehört. „So kann man es auch sagen,“ meinte Rahul Advani und sein Lächeln verschwand augenblicklich, als sich unsere Blicke trafen. Er hatte eine angenehm tiefe, melodische Stimme. Doch darauf konnte ich mich jetzt nicht konzentrieren. „Bitte, nehmen Sie doch Platz,“ sagte Charles höflich und folgte Rahul, der nun zu dem großen Tisch ging. „Das war dann alles, Ranjid. Vielen Dank,“ sagte Charles zu dem Mann, den ich für Rahul Advani gehalten hatte. Ranjid nickte lächelnd und verließ den Raum. Auf meinen fragenden Blick hin sagte Charles: „Ranjid ist unser neuer Portier. Ein sehr netter Mann. Sehr höflich und gewissenhaft.“ „Ah.. Ranjid..“ sagte ich und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Wie hatte mir so etwas nur passieren können? Ich spürte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg. Charles warf mir einen verständnislosen Blick zu und wandte sich dann an Rahul. „Wir freuen uns, Sie hier zu haben. Miss Johnson haben Sie ja schon kennen gelernt.“ Mein Gegenüber lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und sagte, ohne seine Sonnenbrille abzunehmen: „Ja, das habe ich tatsächlich.“ Ich schluckte und wollte gerade etwas entgegnen, als plötzlich die Tür erneut aufsprang und ein hochgewachsener, etwas älterer indischer Mann hereinstürmte und wild gestikulierend über sein Headset telefonierte. Da er Hindi sprach, verstanden Charles und ich kein Wort. Auf unseren fragenden Blick hin sagte Rahul mit einem Anflug von Langeweile in der Stimme: „Das ist mein Agent. Ajit.“ Als der Mann seinen Namen hörte, hob er fast warnend den Zeigefinger, hörte noch kurz seinem Gesprächspartner zu und beendete dann abrupt das Telefonat. „Bitte entschuldigen Sie. Das Gespräch kam leider unerwartet dazwischen,“ sagte er höflich und reichte uns seine Hand. Sein Händedruck war kräftig und sein Lächeln sehr professionell. Nicht unsympathisch, aber doch sehr routiniert begrüßte er mich und Charles. Er trug einen maßgeschneiderten, grauen Anzug und glänzende, schwarze Schuhe. Alles in allem schien er ein typischer Schauspielagent zu sein. „Kein Problem, Mister..“ entgegnete Charles und wartete darauf, das er den Nachnahmen des Agenten erfuhr. Doch der winkte ab und sagte salopp: „Einfach nur Ajit, bitte. Lassen wir die Förmlichkeiten.“ „Na schön. Sehr freundlich. Ich bin Charles und das ist Leah,“ entgegnete Charles, woraufhin mich Ajit aufmerksam beäugte. Ich schenkte ihm ein unbehagliches Lächeln und sah wieder zu Rahul, der nun endlich seine Sonnebrille absetzte. „Rahul Advani,“ stellte er sich vor und reichte mir über den Tisch hinweg seine Hand. „Leah Johnson. Freut mich sehr,“ sagte ich eingeschüchtert und ergriff seine Hand. Auch er hatte einen kräftigen Händedruck, allerdings wirkte er nicht ganz so aufdringlich wie der seines Agenten. Unsere Blicke trafen sich und endlich konnte ich auch seine Augen sehen. Sie waren braun, jedoch nicht so dunkel wie die von Ajit. Es war ein heller Braunton, der mich an Honig erinnerte. Kritisch musterte er mich, bevor er meine Hand wieder los lies. Am liebsten hätte ich mich für meinen Fauxpas entschuldigt, doch das konnte ich nicht vor Charles und Rahuls Agenten tun. Die Scham über meine Unfähigkeit ließ mich in eine Schockstarre verfallen. Konnte ich noch mehr beweisen, dass ich mich kein bisschen vorbereitet hatte? Gelassen lehnte er sich wieder in seinem Stuhl zurück „Das ist also Miss Leah. Die Frau, die eine großartige Story über unseren Rahul schreiben wird,“ freute sich Ajit und klatschte freudig in die Hände. Das laute Geräusch ließ mich zusammenzucken. „Ja, das ist sie. Sie schreibt außergewöhnlich gute Storys im Bereich Film und Unterhaltung. Niemand könnte diese Story besser schreiben als sie,“ pries mich Charles an. Es war mir schon fast peinlich. Vor allem nach dieser peinlichen Verwechslung, von der Charles überhaupt nichts mitbekommen hatte. Doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und sagte so selbstsicher wie möglich: „Es ist mir ein Vergnügen, diese Story schreiben zu dürfen.“ Ajit strahlte noch mehr, doch plötzlich sagte Rahul mit einem leicht spöttischen Unterton: „Und ich bin mir sicher, dass Sie sich gut vorbereitet und über meine Wenigkeit recherchiert haben.“ Er sprach perfektes Englisch. Im Gegensatz zu Ajit hatte er so gut wie keinen Akzent. Allein diese Tatsache brachte mich wieder ein wenig aus dem Konzept, doch ich hielt seinem prüfenden Blick stand und entgegnete: „Natürlich habe ich das.“ Charles und Ajit sahen leicht irritiert zwischen uns hin und her. Rahul beugte sich nach vorn und stützte sich lässig auf seinen Ellenbogen auf. Seine braunen Augen bohrten sich in meine und er fuhr süffisant lächelnd fort: „Dann sind sie ja mit meinen Filmen bestimmt bestens vertraut, nehme ich an. Was sagen Sie denn meinen Filmen? Was halten sie zum Beispiel von.. sagen wir, den Kussszenen? Finden Sie die besser oder schlechter als die aus Hollywood?“ Diese Frage verwirrte mich. Wer fragte denn so was? Ajit lächelte und wollte etwas sagen, doch Rahul hob warnend die Hand ohne seinen Blick von mir zu wenden und augenblicklich verstummte sein Agent. Ich sah Hilfe suchend zu Charles, doch der sah mich genauso verwirrt an wie ich ihn. Ich wandte meinen Blick wieder Rahul zu, der mich aufmerksam beobachtete. Was sollte ich darauf antworten? Ich hatte noch keinen einzigen Bollywood-Film gesehen und konnte folglich auch nicht wissen, in wie fern sich deren Filmküsse von den mir bekannten unterschieden. Abgesehen davon fand ich die Frage mehr als peinlich und unpassend. Doch ich musste etwas antworten. Irgendetwas. Etwas, das überzeugend klang und das nicht verriet, dass ich keinen blassen Schimmer davon hatte, was ich hier eigentlich tat. Ich räusperte mich und antwortete: „Ich scheue solche Vergleiche grundsätzlich. Jede Art von Film hat seinen eigenen Zauber. Also kann ich nicht sagen, welche Filmküsse ich persönlich schöner finde.“ Rahul warf seinem Agenten einen Blick zu, der zu sagen schien `Hab ich es dir nicht gleich gesagt?`. Charles sah mit verwirrtem Blick zwischen den beiden hin und her. Plötzlich stand Rahul auf, setzte seine Sonnenbrille wieder auf und sagte mit kühlem Ton an Chalres gewandt: „Das ist inakzeptabel. Melden Sie sich wieder, wenn Sie eine ernsthaft interessierte Journalistin für uns gefunden haben.“ Dann stürmte er an Ajit vorbei und verließ das Büro. „Rahul!“ rief dieser entsetzt, während Charles ihm bereits hinterher eilte. Ich blieb zusammen mit Ajit in dem Besprechungsraum zurück und beobachtete, wie Charles den beleidigt wirkenden Schauspieler im Flur einfing. Wie wild redete er auf ihn ein und seine Gesten wirkten beschwörend wie die eines Fakirs. Welch passender Verlgeich schoss es mir durch den Kopf. Doch Rahul blieb mit verschränkten Armen vor ihm stehen und ließ das Gesagte offensichtlich an sich abprallen. Ajit schüttelte den Kopf und nahm seine Aktentasche. „Was war das denn jetzt?“ fragte ich ihn, verwirrt über diese seltsame Reaktion. Ajit sah mich mit ernstem Blick an und antwortete: „Manchmal ist mein Job nicht gerade der leichteste. Ich vermute, dass Mister Advani über ihre angeblichen Kenntnisse über seine Filme nicht erfreut war.“ „Warum das denn? Was habe ich denn bitte Falsches gesagt?“ fragte ich entsetzt. Ajit warf einen kurzen Blick nach draußen und sah, dass Rahul noch immer nicht auf die Beschwichtigungen von Charles reagierte und anscheinend nur noch auf seinen Agenten wartete um endlich die Redaktion verlassen zu können. Dann sagte Ajit an mich gewandt: „In seinen Filmen, sowie in vielen indischen Filmen, gibt es gar keine Filmküsse. Das ist ein absolutes Tabu für ihn, meine Liebe.“ Ich spürte, wie mir augenblicklich die Röte ins Gesicht schoss. „Er hat mir eine Fangfrage gestellt,“ stellte ich unnötiger Weise fest. Und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln. Ajit nickte und sagte bedauernd: „Ich fürchte, dass er sich nun weigern wird mit Ihnen zusammen zu arbeiten. Es tut mir sehr leid. Auf Wiedersehen.“ Daraufhin verließ er den Raum und ging zu Charles und Rahul. Wie versteinert stand ich da und sah ihm nach. „So eine Scheiße!“ fluchte ich und ließ mich zurück auf meinen Stuhl sinken. Selbst von dort aus konnte ich verfolgen, wie Rahul und sein Agent sich bereits zum Gehen abwandten, jedoch von Charles ein letztes Mal aufgehalten wurden. Er ließ sie für einen kurzen Moment stehen, dann kam er zurück mit einer Mappe in der Hand, in der einige Dokumente lagen. Er reichte sie Rahul und Ajit und schien sie aufzufordern, sie sich anzusehen. Und das taten sie auch. Sehr ausführlich. Neugierig reckte ich mein Kinn um das Geschehen besser beobachten zu können. Was waren das wohl für Dokumente? Verträge vielleicht? Nach einigen endlos scheinenden Minuten sagte Ajit etwas zu Rahul. Er schien kurz darüber nachzudenken, nickte knapp und ging dann in Richtung Fahrstuhl. Das war es dann wohl gewesen! Meine Chance war mir durch die Lappen gegangen. Durch meine eigene Dummheit. Wir hatten die Story verloren und ich würde es verantworten müssen. Charles sah den beiden Männern noch so lange nach, bis sie im Fahrstuhl verschwunden waren. Dann ging er mit erschöpftem Gesichtsausdruck zurück in Richtung Besprechungsraum. Jetzt war ich dran. „Das war verdammt knapp,“ seufzte er, als er die Tür hinter sich schloss und wir alleine waren. Hatte ich mich verhört? „Was meinst du mit knapp? Hat er sich doch noch überzeugen lassen?“ fragte ich zögerlich. Ich fühlte mich nicht berechtigt, irgendwelche Fragen zu stellen. Immerhin hatte ich es vermasselt. Er warf mir einen wütenden Blick zu und fragte: „Wie konntest du dich bloß so blamieren? Ihn mit dem Portier zu verwechseln! Warum hast du dich nicht auf den Termin vorbereitet? Du weißt doch, was von dieser Story abhängt!“ Ich senkte beschämt meinen Blick und sagte kleinlaut: „Es tut mir so schrecklich leid. Ich.. ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ „Am besten gar nichts! Außer, dass du es ab jetzt nicht mehr vermasseln wirst,“ entgegnete Charles mit drohendem Unterton. Ich sah ihn ungläubig an. Hatte ich richtig gehört? „Was meinst du damit?“ fragte ich vorsichtig. Er ließ sich erschöpft auf einen Stuhl sinken und antwortete, während er nervös seine Stirn rieb: „Ich konnte ihn davon überzeugen, die Story doch mit dir zu machen. Also, wie gesagt, versuch bitte ab jetzt niemanden mehr zu beleidigen. Oder zu verwechseln.“ Ich spürte, wie ich wieder rot wurde und nickte beschämt. „Na schön. Dann mal an die Arbeit. Du solltest dir wenigstens seinen Lebenslauf einprägen. Schaffst du das?“ setzte Charles nach und warf mir einen Schnellhefter zu. Ich fing ihn auf und antwortete kleinlaut: „Ja, danke. Darf ich jetzt gehen? Ich würde mich gern übergeben, wenn du nichts dagegen hast“ Mein Schwager machte eine auslandende Bewegung in Richtung Tür, woraufhin ich wie von tausend Teufeln gejagt aus der Redaktion flüchtete.