Читать книгу Die Magie der Mandalas - Alicia Sérieux - Страница 7
Ein guter Anfang
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„Natürlich ist das eine gute Idee! In einem ungezwungenen Rahmen klappt das doch bestimmt viel besser als in diesem öden Hotelzimmer!“ sagte meine Schwester fast euphorisch, während ich an ihrem großen Küchentisch saß und meinem Neffen Ben dabei zusah, wie er mir ein Bild malte. Ich hatte schon tausende von Bildern von ihm geschenkt bekommen und liebte jedes einzelne von ihnen heiß und innig. Ganz geschäftig sah der Kleine aus während er zeichnete. Er war gerade eingeschult worden und stolz auf seine nagelneuen Bundstifte, die ich ihm zu diesem Ereignis geschenkt hatte. „Vielleicht hast du Recht. Ich hoffe nur, dass er von niemandem erkannt wird,“ entgegnete ich, ohne Ben aus den Augen zu lassen. „Das glaube ich kaum. Er ist hier ja noch nicht so bekannt wie in Indien,“ meinte Laura und stellte eine dampfende Tasse Tee vor mir auf den Tisch. Der ungewöhnliche Geruch ließ mich skeptisch die Stirn in Falten legen und ich fragte: „Das ist aber nicht der Tee, den du mir sonst machst, oder?“ Meine Schwester grinste verschmitzt und antwortete: „Das, meine Liebe, ist indischer Chai-Tee. Um dich auf dein Treffen heute Abend einzustimmen.“ Ich schüttelte schmunzelnd den Kopf und trank einen Schluck. Er war ganz okay. Den Schwarztee konnte ich herausschmecken, doch die Flut an Gewürzen überforderte meine Geschmacksnerven. „Du wärst erstaunt gewesen. In der Lobby des Hotels hatten sich tatsächliche einige Fans versammelt,“ erzählte ich ihr und stellte die Tasse wieder ab. Sie hob erstaunt die Augenbrauen und entgegnete: „Wirklich? Das hätte ich nicht erwartet. Wie ist er denn so?“ Ich dachte kurz nach. Das war eine schwierige Frage. Ich musste zugeben, dass ich noch nicht wirklich viel über ihn sagen konnte. „Naja, er ist ganz nett, würde ich sagen. Unsere ersten Unterhaltungen waren nicht gerade sehr informativ,“ erklärte ich nachdenklich. Meine Schwester setzte sich neben mich, stütze ihr Kinn auf ihrer Hand ab und fragte mit verschwörerischem Blick: „Sieht er gut aus?“ Auf diese Frage kicherte Ben leise. „Er ist nicht unattraktiv, wenn du das meinst. Was soll diese Frage eigentlich?“ fragte ich empört und streckte meinem Neffen die Zunge heraus als meine Schwester sich umdrehte, um ihre Tasse vom Küchentresen zu nehmen. Der Kleine kicherte wiederum und streckte mir ebenfalls die Zunge raus. „Reine Neugier. Charles kann ich sowas ja nicht fragen. Er hat mir übrigens von deiner gestrigen Blamage erzählt,“ bemerkte sie fast beiläufig. Mein Magen krampfte sich zusammen. „Ach ja?“ fragte ich bloß und nahm noch schnell einen Schluck von meinem Tee. Sie nickte und fragte: „Hatte ich dir nicht gesagt, dass du dich vorbereiten sollst?“ Schuldbewusst senkte ich meinen Blick und entgegnete: „Doch, hast du. Und ich wollte es auch wirklich tun. Aber dann bin ich… eingeschlafen.“ „Na prima! Das sieht dir mal wieder ähnlich!“ seufzte sie. „Aber es ist ja noch einmal gut gegangen. Charles hat ihm irgendwelchen Papierkram unter die Nase gehalten und somit hat er mir noch eine Chance gegeben. Und die werde ich nutzen. Das kannst du mir glauben!“ erklärte ich und versuchte so zuversichtlich wie nur möglich zu klingen. „Das will ich für dich hoffen. So eine Chance bekommt man schließlich nicht alle Tage. Es würde deinem Leben mal eine neue Richtung geben,“ meinte meine Schwester ernst. Ich nickte und entgegnete: „Ja, das würde es. Ein Richtungswechsel ist wirklich überfällig, denke ich. Seit meiner Scheidung von James trete ich auf der Stelle. Ich muss meine Karriere unbedingt auf ein neues Level bringen,“ sagte ich und starrte nachdenklich in meine große Tasse. „Du solltest nicht nur deine Karriere auf ein neues Level bringen, meine Liebe,“ warf meine Schwester mit einem seltsamen Tonfall ein. Ich sah zu ihr auf und fragte verwirrt: „Wie meinst du das?“ Sie warf mir einen genervten Blick zu, dann wandte sie sich an meinen Neffen und sagte: „Ben, Schätzchen, malst du das Bild bitte in deinem Zimmer fertig? Mommy und Tante Leah müssen mal ein Erwachsenengespräch führen.“ „Ist gut,“ meinte der Kleine sofort, nahm sein Bild und seine Stifte und verließ die Küche. So folgsam war ich als Kind nie gewesen. Als wir die Kinderzimmertür ins Schloss fallen hörten, wandte sich meine Schwester wieder mir zu und sagte: „Ich meine damit, dass du vielleicht wieder anfangen solltest, dich zu verabreden.“ „Oh nein, nicht dieses Thema!“ seufzte ich auf und schob genervt meine Tasse von mir weg. „Doch, genau dieses Thema! Willst du denn ewig allein bleiben und deiner gescheiterten Ehe nachtrauern?“ fragte sie im selben Ton. „Das tue ich gar nicht! Ich bin gern allein,“ entgegnete ich. „Blödsinn! Niemand ist gerne allein! Zumindest nicht auf Dauer,“ widersprach mir meine Schwester. Ich hätte ihr gern widersprochen, doch sie hatte Recht. Tief in meinem Innern wusste ich das, doch ich hatte Angst. Liebe bedeutete Ärger. Meine Ehe hatte in einer schrecklichen Katastrophe geendet. Der liebste Mann, den ich je kennen gelernt und der mich auch noch über alles geliebt hatte, hasste mich nun. Und er hasste mich zu Recht. Ich hatte unsere Ehe sabotiert. Ich hatte unser Heim zerstört. Ich hatte unser beider Leben durcheinander gebracht und mein eigenes beinahe komplett zugrunde gerichtet. Nein, die Liebe war nichts für mich. Ich legte meine Hände in meinen Schoß und sagte: „Ich kann mit der Liebe nicht umgehen.“ „Was redest du da für einen melodramatischen Blödsinn?“ schimpfte meine Schwester und legte ihre Hand auf meine Hände. Ich sah auf zu ihr und begegnete ihrem besorgten Blick. „Was hast du denn? Findest du, dass ich unglücklich wirke?“ fragte ich sie. Sie dachte kurz nach und antwortete dann: „Ich bin mir nicht sicher. Wenn du über deine Arbeit sprichst, wirkst du glücklich. Aber über was sprichst du, wenn du nicht über die Arbeit redest?“ Ich wich ihrem Blick aus. „Und genau das ist es! Du kannst doch nicht nur für die Arbeit leben. Das ist nicht gut. Du musst dir wieder ein Leben aufbauen. Ein Leben neben der Arbeit, verstehst du?“ fügte sie mit eindringlicher Stimme hinzu. Ich spürte, wie sich mein Hals zuschnürte. Ich wollte das nicht hören. „Ich muss los,“ sagte ich kurz angebunden und stand auf. Sie sah mir zu, wie ich meine Jacke anzog, hielt mich jedoch nicht auf. „Du brauchst nicht weg zu laufen,“ meinte sie bloß. „Das tue ich gar nicht. Ich muss wirklich nach Hause. Immerhin habe ich heute Abend noch etwas vor,“ entgegnete ich bloß und machte meine Jacke zu. Dann drückte ich ihr einen Kuss auf die Wange und ließ sie in ihrer Küche zurück. Dafür, dass ich nicht weglief, verließ ich doch schneller ihr Haus als beabsichtigt.
*
Ich merkte, dass ich aus der Übung war. Konnte es denn so schwer sein, die passende Gardarobe für den Besuch in einem Pub zu finden? Gefühlte hundert Mal zog ich mich um und meine Unsicherheit erschreckte mich zutiefst. War ich so lange nicht mehr abends unterwegs gewesen? Am Ende entschied ich mich für eine braune Kordhose, eine weiße, eng anliegende Bluse und hellbraune Stiefel. Mein Haar band ich mir im Nacken zusammen und legte ein wenig Maskara auf. So ganz farblos wollte ich mich dann doch nicht auf die Straße wagen. Der Tag war lang gewesen und die Grübelei über die Worte meiner Schwester hatte mich irgendwie erschöpft. Ich wusste genau was sie meinte und vielleicht hatte sie ja auch Recht. Ein Dauerzustand sollte mein bisheriger Lebenswandel wohl besser nicht werden, aber ich konnte ihn nicht einfach ändern. Noch nicht. Ich fühlte mich noch immer wie gelähmt und nicht fähig, über Dinge wie Beziehungen, Dates oder Ähnliches nachzudenken. In meinem persönlichen Fokus stand meine Karriere, denn sie war der Schlüssel zur Veränderung. Schnell nahm ich meine Handtasche, zog meine Jacke an und machte mich auf den Weg nach unten. Der Wagen musste in den nächsten fünf Minuten da sein. In Gedanken versunken ging ich die Treppen hinunter und stieß fast mit meiner schlechtgelaunten Nachbarin zusammen, die gerade von ihrem Abendspaziergang mit ihrem Rauhaardackel zurückkam. „Ist heute Weihnachten oder warum verlassen Sie um diese Uhrzeit noch das Haus?“ krächzte sie und grinste mich boshaft an. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Aber Sie können sich gern auf ihren Besen schwingen und mir nachfliegen, wenn Sie so neugierig sind,“ konterte ich und ließ sie einfach stehen. Im Prinzip war ich ein sehr höflicher Mensch, aber diese Frau verdiente keine Höflichkeiten. Sie war eine alte Hexe und ich war froh, wenn ich ihr aus dem Weg gehen konnte. Unten an der Tür angekommen bemerkte ich einen großen, schwarzen Jeep, dessen Scheiben verdunkelt waren. War das Rahuls Wagen? Kaum war ich ins Freie getreten, öffnete sich die hintere Tür und ich konnte Ajit erkennen. Er winkte mich hektisch zum Auto heran und bedeutete mir, einzusteigen. Man hätte meinen können, er wäre auf der Flucht. „Hallo Ajit,“ begrüßte ich ihn und stieg ein. „Steigen Sie ein, bevor uns noch jemand erkennt,“ entgegnete er gehetzt und rutschte zur Seite, damit ich einsteigen konnte. Schnell tat ich, was er verlangte und schlug die Tür zu. Erst jetzt konnte ich mich ein wenig orientieren. Vorne saßen die beiden Bodyguards. Einer fuhr und der andere musterte mich misstrauisch durch den Rückspiegel. Ajit saß in der Mitte zwischen mir und Rahul und wirkte alles andere als entspannt. Was man von Rahul nicht behaupten konnte. „Guten Abend Miss Johnson,“ begrüßte er mich mit einem entspannten Lächeln auf den Lippen. „Hallo Mister Advani,“ erwiderte ich seinen Gruß und schenkte ihm ein nervöses Lächeln. Soweit ich es erkennen konnte, trug Rahul Jeans und ein helles Sweatshirt darüber. Auf seinem Schoß lag ein grauer Anorak. Vollkommen unscheinbar. Er würde in keinem Pub auffallen, wenn ihm nicht gerade diese Hardcore-Fans auflauerten, die ich im Hotel gesehen hatte. Seine honigbraunen Augen schienen mich ebenfalls kurz zu mustern. Wurde ich gerade rot? „Ich halte das noch immer für keine gute Idee, Rahul,“ unterbrach Ajits nervöse Stimme meine Gedanken. „Bleib locker, Ajit. Was soll schon passieren? Hier kennen mich nicht so viele Leute und ich denke nicht, dass ausgerechnet in einem Pub ein Massenauflauf meiner englischen Fans sein wird,“ entgegnete Rahul locker und klopfte seinem Agenten beruhigend auf die Schulter. Ich musste mir eingestehen, dass mich seine lässige Art für einen kurzen Moment beeindruckte. „Was meinen Sie, Miss Johnson?“ fragte mich Rahul plötzlich. Überrumpelt stotterte ich: „Ich.. ähm… ich denke nicht, dass es Probleme geben wird.“ „Siehst du!“ sagte Rahul an Ajit gewandt und lächelte zufrieden. „Das kann keiner vorhersehen, Rahul. Du solltest das wissen!“ schimpfte sein Agent und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sollte es Probleme geben, sind wir schnell zur Stelle,“ meldete sich der Bodyguard zu Wort, der auf dem Beifahrersitz saß. Anscheinend beherrschte er sehr gut unsere Sprache. „Du verwechselst England mit Indien, Ajit. Hier kann ich mich so gut wie unerkannt unter die Leute mischen. Und das werde ich auch tun. Egal, wie sehr du dich darüber ärgerst,“ erklärte Rahul gelassen. Von Ajit erntete er nur ein genervtes Schnauben. Rahul beugte sich soweit vor, dass er mich ansehen konnte und sagte: „Ich war so frei mir schon ein Pub auszusuchen. Ich war dort einige Male während meiner Studienzeit. Ist das in Ordnung für Sie?“ Ich nickte und antwortete: „Natürlich, wie Sie möchten.“ Insgeheim war ich sehr erleichtert, denn ich hatte mir nicht überlegt, wo ich mit ihm hingehen konnte. Das lag wohl daran, dass ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr ausgegangen war. Rahul sagte dem Fahrer die Adresse, die dieser in seinen Navi eingab und schon ging es los. Die Fahrt verbrachten wir schweigend. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Rahul. Er blickte aus dem Fenster und sah zu, wie das nächtliche London an ihm vorbeizog. Ab und zu umspielte ein Lächeln seine Lippen. Ich musste ab und an unwillkürlich ebenfalls schmunzeln, merkte es dann aber und wurde wieder ernst. Diese Wirkung auf mich fand ich mehr als seltsam. Wir fuhren etwas auswärts, sodass wir schon fast am Stadtrand Londons waren. Der Wagen hielt vor einem alten Pub, das von außen sehr schäbig wirkte. Ich kannte es nicht da ich mich selten in diesem Teil von London aufhielt. „Wir sind da,“ sagte Rahul und machte seine Jacke zu. „Sobald du erkannt wirst, verschwindest du. Hast du gehört?“ fragte Ajit aufgeregt. „Ja, schon gut. Sind Sie soweit?“ fragte Rahul an mich gewandt und legte die Hand an die Autotür, bereit, um sie auf mein Kommando hin zu öffnen. Ich nickte und öffnete die Tür auf meiner Seite. Fast gleichzeitig stiegen wir aus. Ich wartete bis er um das Auto herumgegangen war und vor mir stand. Ich verstaute meine Hausschlüssel noch in meiner Handtasche, die ich die ganze Fahrt über in der Hand gehalten hatte, und fragte dann: „Können wir, Mister Advani?“ „Bitte nennen Sie mich Rahul. Immerhin werden wir ja in den nächsten Wochen sehr viel Zeit miteinander verbringen und ich kann dieses Gesieze immer nur eine bestimmte Dauer über ertragen,“ sagte er und warf sich seine Jacke locker über die rechte Schulter. Etwas verwirrt über seine plötzliche Verbindlichkeit entgegnete ich: „In Ordnung. Ich bin Leah.“ Er nickte lächelnd und bedeutete mir mit einer galanten Handbewegung, vorzugehen. „Na schön,“ sagte ich und folgte seiner Aufforderung. Nach wenigen Metern betraten wir das Pub. Es war nicht viel los, aber es schien von innen sehr viel gemütlicher zu sein als es von außen gewirkt hatte. Die Männer, die an der Bar saßen, sahen interessiert zu uns herüber. Es waren alles ältere Leute, die mit Sicherheit noch nie etwas von Rahul Advani, geschweige denn von Bollywood gehört hatten. Das beruhigte mich irgendwie. „Setzen wir uns dort hin?“ fragte Rahul und wies auf einen Tisch im hintersten Winkel des Pubs, der direkt an einem der kleinen Fenster stand. „Warum nicht,“ sagte ich bloß und ging auf den Tisch zu. Er wartete, bis ich Platz genommen hatte. Dann nahm er mir gegenüber Platz. Er griff nach der Karte und überflog sie kurz. Wenige Sekunden, nachdem wir uns gesetzt hatten, kam auch schon der Wirt an unseren Tisch. Er war ein großer, kräftiger Mann mit Vollbart und wachen, blauen Augen. Er lächelte freundlich und fragte: „Was darf es denn sein, Freunde?“ Rahul sah mich fragend an und schien mir den Vortritt lassen zu wollen. „Ein Cider bitte,“ sagte ich. Der Wirt nickte und wandte sich an Rahul. „Ein Guiness,“ bestellte er. „Kommt sofort,“ sagte der Wirt und ging zurück hinter seinen Tresen, um unsere Getränke zu holen. Betretenes Schweigen breitete sich zwischen mir und Rahul aus. Kurz darauf kam der Wirt und stellte unsere Getränke vor uns auf dem Tisch ab. „Zum Wohl,“ sagte Rahul und hob sein Glas. „Zum Wohl,“ entgegnete ich und stieß mein Glas gegen seins. Er lächelte amüsiert und nahm einen großen Schluck. Dann atmete er durch und schien sich sichtlich zu entspannen. „Das ist einfach lecker. Es ist Jahre her, seit ich das letzte mal ein gutes Guiness getrunken habe,“ sagte er und stellte zufrieden lächelnd das Glas auf den Untersetzer. Auch ich hatte einen Schluck von meinem Cider getrunken und stellte es nun ab. „Wie hast du denn dieses Pub entdeckt?“ fragte ich und sah mich um. Es war wirklich sehr gemütlich und urig. Die massiven Holztische und die alten Lampen hatten etwas Authentisches. Nicht so wie die hippen, modernen Pubs in der City. „Ein Freund aus meiner Studienzeit hat es mir damals gezeigt. Er kam hier aus der Gegend,“ erklärte Rahul und sah sich ebenfalls zufrieden lächelnd um. „Was hast du eigentlich studiert?“ fragte ich ganz professionell und sah ihn wieder an. „Die englische Sprache. Mein Vater legte sehr viel Wert darauf, dass ich diese Sprache perfekt beherrsche,“ erklärte er. „Also hat er dich in deinem Wunsch, Schauspieler zu werden, unterstützt?“ fragte ich nach. Er lachte kurz auf und antwortete: „Nein, nicht in der Schauspielsache. Er hatte andere Pläne für mich.“ Auf meinen fragenden Blick hin fügte er hinzu: „Er wollte, dass ich Anwalt werde. Und ich ließ ihn in dem Glauben. Bis ich von meinem Sprachstudium zurück nach Hause kam und ihm eröffnete, dass ich nach Mumbai gehen würde um meine Schauspielkarriere ins Rollen zu bringen.“ Ich speicherte diese Informationen in meinem Gedächtnis ab. Das lief doch ganz gut. „Aber jetzt ist er doch bestimmt stolz auf dich. Immerhin bist du eine Berühmtheit in deiner Heimat,“ meinte ich und nahm einen weiteren Schluck von meinem Getränk. Ein bitteres Lächeln umspielte seine schön geschwungenen Lippen und er sagte: „Sagen wir mal, er hat sich einigermaßen mit meiner Entscheidung arrangiert.“ Ich nickte, da ich nicht wusste, was ich darauf entgegnen sollte. Ich spürte, dass ihm das Thema nicht wirklich angenehm war und hatte Skrupel, weiter zu fragen. Wir hatten genug Zeit. Früher oder später würde er mir vielleicht mehr von dem Verhältnis zu seinem Vater erzählen. „Was ist mir deiner Mutter? Was hält sie von deiner Schauspielkarriere?“ fragte ich ihn. „Oh, meine Mutter ist natürlich stolz. Aber ein Mutterherz zu enttäuschen ist auch ziemlich schwer. Sie wollte immer nur, dass ich glücklich bin,“ erzählte er. „Und bist du das?“ fragte ich frei heraus und merkte erst dann, wie persönlich diese Frage war. Er sah mich überrascht aus seinen wachsamen, braunen Augen an. Ich räusperte mich nervös und wollte mich gerade für meine Forschheit entschuldigen, als er entgegnete: „Du verlierst keine Zeit, was?“ Ich suchte verzweifelt nach den richtigen Worten und sagte dann: „Ich frage mich nur wie es wohl sein muss, als Filmstar verehrt zu werden. Wenn alle Menschen einen kennen und bewundern. Das muss einen doch glücklich und stolz machen. Man wird für seine Arbeit bewundert.“ Er schien kurz über meine Worte nachzudenken, sagte dann aber: „Da hast du wohl recht. Es ist schön. Meistens zumindest. Aber oft ist es auch ein wenig beängstigend.“ Ich musste sofort an die Fans in der Lobby denken und versuchte mir vorzustellen wie es wohl sein musste, wenn tausende solcher Menschen einem auf der Straße verfolgten. Ich schauderte bei dem Gedanken. Aber ich war ja auch kein Mensch, der gern im Mittelpunkt stand. Doch ich verstand, was er meinte. „Hast du Geschwister?“ fragte ich, um das Thema ein wenig zu entschärfen. „Eine Schwester. Sie ist drei Jahre jünger als ich. Und du?“ stellte er eine Gegenfrage. „Ich?“ fragte ich verwundert. „Ja, du. Hast du auch Geschwister?“ wiederholte er seine Frage. Ich war verwirrt. Warum wollte er das wissen? Immerhin ging es doch um ihn. Um seine Reportage. Er schien meine Verwirrung zu bemerken, denn er sagte amüsiert lächelnd: „Komm schon, interviewe mich doch nicht bloß. Unterhalte dich mit mir.“ Seine lockere Art verwirrte mich. Doch irgendwie schaffte er es auch, mich mitzureißen. Also fing ich mich wieder und antwortete: „Na schön. Ähm.. ja, ich habe Geschwister. Einen Bruder und eine Schwester. Beide sind jünger als ich.“ „Und wie verstehst du dich mit ihnen?“ fragte er interessiert nach und nahm einen Schluck von seinem Guiness. „Also… gut. Wir verstehen uns wirklich gut,“ antwortete ich knapp. „Leben sie in deiner Nähe?“ fragte er weiter. „Meine Schwester wohnt nicht weit von Camden entfernt. Mein Bruder lebt in Spanien. Ihn sehe ich nur zu Feiertagen und Familienfesten. Meine Schwester sehe ich sehr oft. Wie ist es mit deiner Schwester?“ stellte ich eine Gegenfrage um das Gesprächsthema wieder auf ihn zu lenken. „Sie lebt bei mir in Mumbai und studiert dort. Ich konnte meine Eltern überreden sie zu mir ziehen zu lassen,“ erzählte er und krempelte die Ärmel seines Sweatshirts etwas nach oben. Seine Haut hatte die Farbe von Karamell. „Das ist ja nett von dir. Meine Schwester nimmt mich auch immer wieder auf, wenn ich…,“ brach ich ab. Wenn ich mich einsam fühle hätte ich beinahe gesagt. Aber das ging ihn nichts an. Warum war mir das denn nur fast herausgerutscht? „Wenn du was?“ fragte er interessiert nach. „Ach nichts. Möchtest du etwas essen?“ fragte ich und nahm schnell die Karte, um seinem Blick ausweichen zu können. „Nein, danke. Aber ich kann verstehen, dass du die Nähe deiner Schwester suchst. Ich bin ebenfalls froh, Priya bei mir zu haben. Man fühlt sich dann und wann doch ein wenig einsam,“ sagte er und nahm mir die Karte aus der Hand, sodass ich ihn wieder ansehen musste. Der Blick aus seinen honigbraunen Augen machte mich irgendwie nervös. „Du und einsam? Wie passt denn das zusammen? Du hast doch so viele Fans, die dich verehren,“ sagte ich um von mir abzulenken. Er nickte und sein Blick wurde nachdenklich. „Fans sind keine Freunde, Leah. Freunde habe ich nicht viele,“ sagte er und über sein Gesicht huschte ein Anflug von Bedauern. Er tat mir in diesem Moment wirklich ein bisschen leid, denn ich verstand ihn. „Die habe ich auch nicht. Aber lieber wenige gute als viele schlechte, oder?“ fragte ich und lächelte ihn aufmunternd an. Er erwiderte mein Lächeln und sagte: „Da hast du wohl recht.“ Ich nickte zustimmend und griff wieder nach meinem Glas. Wir unterhielten uns lange über Gott und die Welt und das Interview entwickelte sich tatsächlich zu einer Unterhaltung. Der Mensch, der hinter dem großen Schauspieler steckte, machte mich immer neugieriger. Wenn man bedachte, was für einen Erfolg er hatte und wie wohlhabend er sein musste, war er doch ein relativ normaler und bescheidener Mann geblieben. „Wie geht diese Reportage jetzt weiter? Was steht auf dem Plan?“ fragte er, nachdem wir uns schon zum dritten mal Getränke nachbestellt hatten. „Naja, ich werde dich zu allen Veranstaltungen begleiten und über diese dann berichten. So läuft das,“ antwortete ich und lehnte mich entspannt zurück. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal eine so ungezwungene Konversation geführt hatte. Er nickte, dachte kurz nach und fragte dann: „Aber wir könnten solche Abende wie heute verbringen, oder? So unterhält es sich doch um einiges leichter als auf irgendwelchen steifen Veranstaltungen.“ Ich dachte kurz darüber nach und antwortete dann: „Ja, ich denke, das geht in Ordnung. Immerhin sind wir heute sehr weit gekommen. Ich habe einiges, was ich über dich schreiben kann.“ „Ja? Ich hoffe, nur Gutes,“ scherzte er. Ich lachte auf und merkte, dass mir das Cider langsam zu Kopf stieg und antwortete: „Natürlich. Ich schreibe eine Reportage, keine Filmkritik.“ Er lachte ebenfalls auf und sagte: „Autsch! Du hältst wohl nicht viel vom indischen Film?“ Fangfrage!! Meine Alarmglocken schrillten. Ich fasste mich schnell und antwortete: „Ich muss zugeben, dass ich bisher nicht viele indische Filme gesehen habe. Und das was ich gesehen habe, habe ich teilweise nicht verstanden.“ „Wie meinst du das?“ fragte er interessiert nach. „Naja, mal abgesehen von der Tanzerei und der Sprache verstehe ich die Körpersprache nicht. Oder die Rituale, die oft eine Rolle zu spielen scheinen,“ erklärte ich und war überrascht über meine eigene Ehrlichkeit und darüber, dass es ihm nichts auszumachen schien. Er dachte kurz über meine Worte nach und sagte dann: „Wenn du möchtest, können wir uns in nächster Zeit einen Film zusammen anschauen. Ich könnte es dir erklären. Vielleicht findest du dann ja einen Zugang zu meiner Welt.“ Er sagte das mit einem schelmischen Augenzwinkern, das mich amüsiert schmunzeln ließ. Sein Vorschlag überraschte mich. Er würde sich die Zeit tatsächlich nehmen? Aber warum? Ein Blick in seine Augen schien mir die Antwort zu verraten. Er versuchte, eine freundschaftliche Atmosphäre zwischen uns zu schaffen. Vielleicht half ihm das, mehr von sich Preis zu geben und das sollte mir recht sein, wenn es meiner Arbeit diente. „Das wäre sehr nett von dir, Rahul,“ sagte ich und prostete ihm nochmals zu. Er lächelte und stieß mit seinem Glas an meins. „Dann machen wir das,“ sagte er und trank sein Glas fast in einem Zug aus. Ich musste lachen und hätte mich beinahe verschluckt. „Du meine Güte, ich glaube, ich bin angetrunken!“ lachte er und stellte sein Glas mit einem lauten Scheppern ab. „Dann sollten wir lieber gehen,“ meinte ich und wischte mir die Tränen aus den Augen, die ich gelacht hatte. „Du hast vielleicht recht,“ stimmte er mir ebenfalls lachend zu. Ich griff in meine Handtasche und holte meinen Geldbeutel heraus. „Nein! Bitte! Ich möchte dich einladen,“ sagte er und hob abwehrend die Hand. „Das ist doch nicht nötig,“ entgegnete ich verlegen. „Ich möchte es aber. Das war der unterhaltsamste Abend, den ich seit langem hatte. Tu mir den Gefallen,“ bat er. Ich spürte, wie ich rot wurde. „Na gut. Aber das nächste Mal zahle ich,“ gab ich nach. Er nickte und winkte dem Wirt zu. Nachdem er bezahlt hatte, gingen wir hinaus zu dem Wagen und lachten noch immer wie zwei alberne Teenager. „Was ist denn mit euch los?“ fragte Ajit verwirrt, als er uns die Autotür öffnete. „Rutsch mal zur Seite!“ sagte Rahul und schob ihn an die Autotür, damit er in der Mitte zwischen Ajit und mir sitzen konnte. Wieder musste ich lachen, als ich Ajits verdutzten Gesichtsausdruck sah. „Bist du betrunken?“ fragte er entsetzt und sah Rahul forschend ins Gesicht. „Nein du Spaßbremse! Wobei.. vielleicht ein bisschen,“ fügte er kichernd hinzu. Auch ich musste albern kichern. „Miss Johnson! Was hat das zu bedeuten? Ist das Ihre Vorstellung von Professionalität? Ich glaube, ich muss mit ihrem Chef ein ernstes Wort reden!“ ereiferte sich Ajit. Plötzlich schien Rahul wieder komplett nüchtern zu sein, denn er hob warnend den Finger und sagte an Ajit gewandt mit ernster Stimme: „Untersteh dich! Leah ist wie geschaffen für die Reportage! Wenn du ein Problem damit hast, machen wir die Reportage gar nicht!“ „Ist ja gut. Reg dich nicht auf,“ entgegnete Ajit mit etwas versöhnlicherem Ton, warf mir aber einen vorwurfsvollen Blick zu. Schuldbewusst senkte ich den Blick. Vielleicht war ich wirklich etwas zu weit gegangen. Aber das Eis war nun gebrochen und ich wusste, dass an diesem Abend etwas Bedeutsames passiert war. Was das jedoch war, wusste ich in diesem Moment noch nicht. Doch ich würde mich immer an diesen Abend zurückerinnern als den Beginn von etwas Großem.
*
„Ich habe Frühstück mitgebracht!“ begrüßte ich strahlend meine Schwester und hielt ihr eine Tüte voller frischer Brötchen unter die Nase. Sie trug noch ihren Schlafanzug und sah ziemlich verschlafen drein als sie mir die Haustür öffnete. „Mir war nicht klar dass du am Wochenende so eine frühe Uhrzeit überhaupt kennst,“ sagte sie verwundert und nahm die Tüte entgegen. „Da siehst du mal wie schlecht du mich kennst,“ entgegnete ich und folgte ihr in Richtung Küche. Charles und Ben saßen am Frühstückstisch und sahen mich ebenfalls verwundert an. „Seht mal wen der Wind uns ins Haus geweht hat,“ scherzte Laura und stellte die Tüte auf den Tisch. „Tante Leah!“ rief Ben und stürzte auf mich zu. Schwungvoll fing ich ihn auf und schloss ihn in meine Arme. „Hey du Rocker! Ich hoffe, du hast Lust auf frische Schokocroissants,“ sagte ich lachend und drückte ihm einen Kuss auf sein Haar. „Jaaaa!“ rief er, ließ mich los und rannte zurück an seinen Platz. Ich lachte und setzte mich auf den freien Platz zwischen Charles und Laura. „Kaffee?“ fragte meine Schwester und schmunzelte, als Ben herzhaft in ein großes Schokocroissant biss. „Ja, bitte,“ antwortete ich und grinste Charles vergnügt an. „Wer sind Sie und was haben Sie mit meiner missmutigen Schwägerin gemacht?“ fragte er und hielt mir ebenfalls die Tüte mit den frischen Brötchen hin. Ich nahm eines heraus und entgegnete: „Jetzt übertreib mal nicht so. Ich habe einfach gute Laune. Das Interview verlief einfach fantastisch gestern Abend! Ich glaube, ich habe einen Draht zu ihm gefunden.“ „Das freut mich für dich! Dann steht der Story ja nichts im Wege,“ freute sich Charles und schenkte sich Orangensaft ein. „Wie war er denn so?“ fragte meine Schwester, stellte die dampfende Tasse Kaffee vor mir ab und setzte sich wieder an ihren Platz. Ich überlegte kurz und sagte dann: „Er ist wirklich nett… und richtig witzig. Wir haben viel gelacht und er hat mir von seiner Familie erzählt. Allerdings erst nachdem ich ihm auch von meiner erzählt hatte.“ Ich schrak zusammen, als sich Charles an seinem Kaffee verschluckte und nach Luft rang. Laura warf ihm einen besorgten Blick zu, wandte sich dann aber wieder mir zu und fragte: „Wie meinst du das?“ Ich biss in mein Brötchen und antwortete mit vollem Mund: „Naja, er meinte, dass eine Unterhaltung doch viel netter sei als ein stupides Interview und so hat sich dann ein sehr nettes Gespräch entwickelt, bei dem vor allem ich viele wichtige Fakten über ihn erfahren habe. Anscheinend muss ich die Sache von dieser Seite angehen. Aber was soll´s! Solange ich meine Story kriege soll es mir recht sein.“ Laura nickte und warf Charles einen bedeutsam wirkenden Blick zu. Ich sah zwischen den beiden hin und her. Was sollte dieser Blickwechsel bedeuten? „Ist doch gut. Solange er dir Informationen über sich gibt,“ meinte Charles dann und nahm noch einen Schluck Kaffee. „Hast du mich erwähnt?“ fragte plötzlich Laura. „Klar. Warum fragst du?“ wollte ich wissen. Doch bevor sie antworten konnte sagte Charles schmunzelnd: „Deine kleine Schwester hat sich einige Filme von Rahul Advani besorgt und findet ihn ganz entzückend, nicht wahr Schatz?“ „Hör doch auf mit dem Quatsch!“ schalt sie und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Auch ich musste grinsen und nahm einen großen Schluck Kaffee.
*
An diesem Morgen schienen alle zufrieden zu sein. Ich war vor allem mit mir selbst zufrieden und diesen Zustand hatte ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr erreicht. Dieser Job tat mir gut. Er bescherte mir Erfolgserlebnisse. In den darauf folgenden Wochen trafen Rahul und ich uns fast täglich. Er erzählte mir vom Beginn seiner Karriere, seiner Familie und seinem Leben in Indien. Davon, dass er sich nicht mehr frei bewegen konnte und in seiner Heimat sehr verehrt wurde. Doch das erzählte er mir alles immer auf eine so bescheidene Art und Weise, sodass er keinen einzigen Moment arrogant wirkte. Er schien sich darüber bewusst zu sein, was für ein Segen dieser Erfolg war und dass er fleißig und einfallsreich sein musste, um dem kein Ende zu setzen. Wir trafen uns immer in diesem abgelegenen Pub zu unseren abendlichen Interviews und lachten jedes Mal ausgiebig. Eines Abends ließen wir uns wieder dort hin fahren, doch das Pub war geschlossen. „Geschlossene Gesellschaft“, las ich laut das Schild vor, das an der Eingangstür hing. „So ein Pech. Und jetzt?“ fragte er. Aus irgendeinem Grund kam mir das Pub in den Sinn, das schräg gegenüber von meiner Wohnung lag. Doch war es da auch wirklich sicher? „Ich denke nicht, dass ausgerechnet in diesem Pub ein Fanpulk auflaufen wird,“ meinte Rahul, als ich es ihm vorschlug und meine Bedenken äußerte. Natürlich war Ajit da anderer Meinung und, natürlich, ignorierte Rahul seinen Agenten wieder einmal. Als wir eintraten beschlich mich ein seltsames Gefühl. Das letzte Mal als ich dieses Pub betreten hatte, war ich mit meinem Exmann dort gewesen. Es war immer unser Lieblingspub gewesen. Zu dieser Zeit hätte ich nie gedacht, dass ich eines Tages schräg gegenüber in einer Einzimmerwohnung leben würde. Als geschiedene Frau. Wir setzten uns an einen etwas abgelegenen Tisch und ich sah mich um. Ich konnte kein bekanntes Gesicht erkennen. „Hier ist es ja auch ganz nett, nicht wahr?“ fragte Rahul vergnügt und winkte der Bedienung. „Ja, ist es,“ stimmte ich ihm zu und musterte ihn kurz. Er trug Jeans und einen beigen Pullover, der seinen dunklen Teint perfekt betonte. Er war ein attraktiver Mann, das musste man ihm lassen. Einige Frauen in dem Pub drehten sich nach ihm um. Anfangs hatte ich befürchtet, sie würden ihn erkennen. Doch das war nicht der Fall. Erleichtert atmete ich auf, als einige Minuten vergangen waren und er immer noch unerkannt geblieben war. Immer wieder sah ich mich um. Eine seltsame Unruhe erfasste mich. Als würde meine Vergangenheit jede Sekunde aus einer dunklen Ecke hervorspringen und über mich herfallen. „Stimmt etwas nicht?“ fragte Rahul mit besorgtem Gesichtsausdruck. „Doch, alles ist in Ordnung. Ich… ich habe nur einige Erinnerungen an diesen Pub,“ erklärte ich und biss mir sogleich auf die Zunge. Warum hatte ich bloß gerade gesagt? Er hob fragend seine Augenbrauen und fragte: „Ja? Welche denn?“ Ich ärgerte mich über meine Indiskretion. Wieder einmal hatte er mir offenbar unbeabsichtigt persönliche Dinge entlockt. Wie schaffte er das bloß immer wieder? Doch jetzt kam ich da nicht mehr raus. Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen und davon abgesehen bekam ich so vielleicht auch etwas persönlichere Infos über ihn. Also schluckte ich den bitteren Geschmack in meinem Mund herunter und sagte: „Ich war früher einige Male mit meinem Exmann hier. Das ist alles.“ „Du bist geschieden?“ fragte er überrascht. Ich nickte knapp. Er schien diese Information kurz zu verarbeiten und sagte dann: „Naja, das kommt vor.“ Ja, so etwas kam wohl vor. Ich setzte mein Pokerface auf und fragte, um von mir abzulenken: „Wie ist es mit dir? Bist du verheiratet?“ Ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen als er antwortete: „Nein, bin ich nicht. Und ich war es auch noch nie.“ „Okay. Aber.. gibt es jemanden in deinem Leben?“ hakte ich gleich nach. Er musterte mich mit einem seltsamen Blick. Als wüsste er nicht genau, wie er diese Frage einordnen sollte. Doch dann sagte er: „Nein, es gibt niemanden. Mir fehlt die Zeit für diese Dinge. Leider.“ „Das musst du doch nicht bedauern. Immerhin bist du doch sehr erfolgreich und wenn du doch einsam sein solltest, stehen bestimmt tausende aufregender Frauen vor deiner Tür,“ meinte ich und nahm einen Schluck von meinem Cider. Er strich mit dem Finger einen Wassertropfen fort, der sein Glas herunter lief und sagte ohne aufzusehen: „Erfolg ist nicht alles, Leah. Und die Frauen, die vor meiner Tür stehen sind bestimmt nicht die, die ich suche.“ Sein nachdenklicher, fast trauriger Blick berührte etwas in mir. Ich bekam einen Eindruck von dem Menschen, der hinter dem Schauspieler existierte. Dass er mir diesen Einblick erlaubte, rührte mich. „Was für eine Art Frau suchst du denn?“ fragte ich vorsichtig nach. Er sah zu mir und seine honigfarbenen Augen schienen förmlich zu funkeln. Wurde ich etwa rot? „Wenn ich das wüsste, wäre es um einiges einfacher, sie zu finden. Ich glaube an Schicksal. Wenn ich sie finde, werde ich es wissen,“ erklärte er. Sein Blick schien mich gefangen zu nehmen. Mir fiel kein passender Kommentar dazu ein. Plötzlich lächelte er amüsiert und sagte: „Das könnte glatt aus einem meiner Filme stammen.“ Ich musste ebenfalls lächeln und merkte, wie diese seltsame Anspannung wieder von mir abfiel. „Ja, das stimmt. Allerdings kann ich das nicht beurteilen. Ich habe leider noch keinen deiner Filme gesehen,“ gab ich zu und spürte, wie die Verlegenheit im mir aufstieg. „Das können wir ändern. Ich hatte dir doch sowieso noch eine Einführung in den indischen Film versprochen. Wie wäre es mit morgen Abend?“ fragte er frei heraus. Ich fühlte mich überrumpelt. Außerdem war dies ein Tag, den normale Menschen nicht mit Arbeiten verbrachten. Und ich wusste, dass meine Schwester mich töten würde, wenn ich ihn mit Arbeit ausfüllen würde. Aber vielleicht konnte ich es ja auch verbinden. „Ich habe morgen Geburtstag,“ erklärte ich. „Oh, dann geht es natürlich nicht. Du wirst bestimmt mit Freunden feiern wollen. Dann verschieben wir das natürlich,“ sagte er gleich. Ich dachte kurz nach. Was würde ich denn tun, wenn ich nicht arbeitete? Allein zu Hause sitzen und Talkshows schauen, falls meine Schwester nicht vorbeikam. Also fasste ich einen Entschluss. „Ach, weißt du, ich habe eigentlich nichts geplant. Immerhin werde ich dreißig und das ist kein Grund zum Feiern. Lass uns den Termin morgen Abend machen,“ erklärte ich und lächelte ihn an. Er zog überrascht die Augenbrauen nach oben und fragte: „Bist du sicher? Du willst an deinem Geburtstag arbeiten?“ Ich nickte und entgegnete: „Warum nicht? Es ist ein Tag wie jeder andere auch.“ Er schien kurz über meine Worte nachzudenken, dann sagte er: „Na schön, wie du willst. Wir treffen uns in meinem Hotelzimmer. Da steht ein überdimensional großer Fernseher, den ich noch nicht ausprobiert habe. Einverstanden?“ Ich nickte lächelnd und trank mein Glas aus. Er tat das gleiche und fragte: „Machen wir Schluss für heute?“ „Ja, morgen geht es dann ans Eingemachte,“ scherzte ich und wollte meinen Geldbeutel aus meiner Tasche fischen. Doch wieder hob er die Hände und sagte: „Nein, bitte nicht. Lass mich das machen.“ „Rahul, du hast bisher jedes Mal bezahlt. So war das nicht abgesprochen,“ protestierte ich. „Bitte, lass mich das übernehmen. Ich mach es gern,“ bat er und sah mich mit seinen honigbraunen Augen so flehend an, dass ich seufzte und meinen Geldbeutel zurück in die Handtasche gleiten ließ. Zufrieden grinsend winkte er die Bedienung heran und bezahlte. „Danke für die Einladung,“ bedankte ich mich wieder einmal und stand auf. Galant nahm er meine Jacke und half mir hinein. „Nichts zu danken,“ erwiderte er und stand in diesem Moment so nah hinter mir, dass sein Atem meinen Nacken streifte. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Verwirrt registrierte ich diese Reaktion und brachte gleich einen größeren Abstand zwischen uns, indem ich auf den Ausgang zuging. Er folgte mir und gemeinsam traten wir hinaus in die Kälte. Mittlerweile war es Mitte November und der Winter hatte London fest im Griff. Ich fröstelte. „Lass uns schnell ins Auto einsteigen. Die Kälte ist ja schrecklich!“ jammert er und schlang seinen großen Schal enger um seinen Hals. „Oh, ich gehe zu Fuß. Ich wohne in der Nähe,“ erklärte ich. „Das kommt nicht in Frage! Ich lasse dich doch nicht allein in der Dunkelheit nach Hause gehen!“ protestierte er fassungslos und winkte seinem Wagen. „Das ist wirklich nicht nötig. Ich wohne doch gerade dort drüben,“ erklärte ich und wies auf die gegenüberliegende Straßenseite. Er folgte meinem Blick und sagte dann erstaunt: „Tatsächlich. Da ist es ja schon.“ Ich musste über seinen überraschten Gesichtsausdruck schmunzeln und sagte: „Ja, also, ich denke nicht dass mir auf dem kurzen Stück etwas passieren wird.“ Er schmunzelte ebenfalls und erwiderte: „Das lasse ich durchgehen. Also, dann morgen Abend um sieben?“ Ich nickte und entgegnete: „Um sieben, ja. Bis morgen, Rahul.“ „Bis morgen,“ sagte er mit einer seltsamen Sanftheit in der Stimme, die ich bislang noch nicht bei ihm bemerkt hatte. Der kalte Herbstwind wirbelte sein Haar durcheinander und einige Strähnen fielen ihm in seine Stirn. Fasziniert beobachtete ich dies. Seine ausdrucksstarken Augen waren auf mein Gesicht gerichtet und nahmen einen seltsam nachdenklichen Ausdruck an. Ich schenkte ihm noch ein nervöses Lächeln und ging dann über die Straße in Richtung meiner Wohnung. Sah er mir etwa nach? Mir war, als würde ich seinen Blick noch auf mir spüren, bis ich durch die Eingangstür in das Mietshaus gegangen war. Doch ich wagte nicht, mich noch einmal umzudrehen und ihn anzusehen.