Читать книгу Rondaria - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 6

15 Jahre später

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»Wagen Sie es ja nicht, noch einmal von Freundschaft zu reden!«

Aleyna

Der Himmel war wolkenverhangen, und das trübe Wetter passte ausgezeichnet zu ihrer Stimmung. Heute war der Tag, an dem sie ihren Vater zu Grabe tragen würde. Sein Verlust traf sie härter als der ihrer Mutter, die bereits verstarb, als sie erst drei Jahre alt gewesen war. Die Erinnerung an sie war schon lange verblasst.

Aber dieses Mal war es anders, denn ihr Vater war immer an ihrer Seite gewesen. Und jetzt? Jetzt war er fort, und sie allein. Stumm stand sie vor dem Leichenwagen, in dem ihr Vater seine letzte Reise antreten würde. Sie betrachtete ihr verzerrtes Spiegelbild in dem auf Hochglanz polierten Auto.

Aleyna erkannte sich kaum wieder. Sie wirkte verhärmt in ihrem schlichten schwarzen Kleid und dem dunklen Mantel. Ihr sonst frisches Gesicht sah um Jahre gealtert aus.

Seufzend wandte sie sich vom Wagen ab und blickte dem Bestatter entgegen, der mit würdevoller Miene auf sie zu kam. Aleyna hatte die Beerdigung geplant, die Beisetzung fand so statt, wie sie es sich irgendwann auch für sich wünschen würde. Ohne Trara, wie ihr Vater es immer genannt hatte, denn eine Trauerfeier würde es nicht geben. Sie hasste diesen Leichenschmaus und fand allein die Vorstellung furchtbar, auf sein Wohl zu essen und zu trinken, während er tot unter der Erde lag.

Der Bestatter öffnete ihr die Tür, stieg ein und fuhr los. Aleyna griff nach ihrer Halskette und kämpfte gegen Tränen und Wut an, die in ihr hochstiegen. Dieses Schmuckstück war außer ihren Erinnerungen das Letzte, das ihr von ihren Eltern blieb. Ihr Vater war Goldschmied gewesen und hatte die Kette einst für ihre Mutter angefertigt. Ein grüner Stein in einer schlichten, goldenen Einfassung. Aleyna trug den Schmuck schon, solange sie sich erinnern konnte.

Langsam gewann sie ihre Fassung zurück und atmete durch. Als der Leichenwagen auf das Gelände des Friedhofs einbog, schob sie die Kette unter den Mantel und sah aus dem Fenster. Am Eingangstor standen zwei dunkel gekleidete Personen, ein junger Mann und eine Frau, etwa im Alter ihres Vaters. Beide blickten dem Wagen entgegen und Aleyna schloss für einen Moment seufzend die Augen. Der Bestatter hatte ihr gesagt, dass die Beisetzung ihres Vaters die einzige an diesem Tag sein würde, daher war klar, auf wen sie warteten. Es hätte ihr bewusst sein müssen, dass sich nicht alle an den Wunsch halten würden, dem Friedhof fern zu bleiben.

Als der Wagen zum Stillstand kam, nickte sie dem Bestatter kurz zu und stieg aus. Während sie an der Tür innehielt, atmete sie die kühle Morgenluft ein. Nein, sie war nicht bereit für Beileidsbekundungen - einer der Gründe, warum sie gewünscht hatte, am Tag der Beerdigung allein zu sein.

Noyan

Schon seit Jahren suchte er gemeinsam mit Palina die andere Welt auf, wenn einer von ihrem Volk starb, der aber nicht in Rondaria beheimatet war. Wegen eines Solchen waren sie auch heute hier. Über andere Wandler, die unerkannt zwischen den beiden Welten pendelten, hatten sie erfahren, dass der Verstorbene keines natürlichen Todes, sondern an der Seuche gestorben sein sollte. Ob das stimmte, hätte er auch allein überprüfen können. Er wollte nicht, dass sie das Portal mit ihm durchschritt, denn es war in seinen Augen völlig unnötig, dass sie ihn begleitete.

So oft schon hatte er mit ihr darüber gesprochen, doch sie war nicht umsonst die Gefährtin des Herrschers und ihr Wille stark. Sie wollte die Aura der Verstorbenen sehen und sich selbst von deren Todesursache überzeugen. Am Ende hatte er ihr wie jedes Mal nachgegeben, nur in einem war er hart geblieben. Sie durfte nicht ohne ihn durch das Portal zur Erde gehen. Immerhin gehörte er dem inneren Zirkel an und seine Aufgabe bestand darin, Palina wieder sicher in den königlichen Hort zu bringen. Das Volk hatte in den letzten Jahren genug gelitten, und er wollte verdammt sein, wenn der Herrscherin aus Unachtsamkeit etwas passieren würde.

Ärger wallte in ihm auf, als er den dunklen Wagen des Bestatters erblickte, der an ihnen vorbei fuhr. Normalerweise nahmen sie keinen Kontakt zu den Hinterbliebenen auf, sondern bemühten sich darum, im Verborgenen zu agieren. Es störte ihn gewaltig, dass sie nun offenbar gleichzeitig auf dem Friedhof eintrafen und gesehen wurden. Mit finsterer Miene musterte er Palina, die ihre Hand auf seinen Arm gelegt hatte.

»Halt dich zurück«, sagte sie bestimmt.

Er knurrte unwillig und warf ihr einen vernichtenden Blick zu, den sie mit einem amüsierten Lächeln quittierte. Genervt sah er wieder nach vorn. Dort stieg die Tochter des kürzlich Verstorbenen aus einem dunklen Wagen - Aleyna. Palina hatte ihm die Informationen weitergegeben, die sie von den anderen Wandlern erhielt, auch wenn er diese gar nicht haben wollte. Vor vielen Jahren hatten die beiden in Rondaria gelebt. Die menschliche Partnerin des Wandlers war schon lange tot und auf der Erde beigesetzt. Sollte er ihr jetzt etwa Honig ums Maul schmieren? Was kümmerte ihn eine Göre, die nicht einmal reinrassig war?

Nachdem sie einen Moment verharrt und auf den Boden gesehen hatte, setzte sich die junge Frau langsam in Bewegung. Ein Blick aus grünen Augen traf ihn und Noyan erstarrte. Das Tier in ihm erwachte urplötzlich, jaulte auf und drängte auf Befreiung. Nur mit Mühe gelang es ihm, dem Wunsch nach Verwandlung nicht nachzugeben. Es zog ihn mit all seinen Sinnen zu ihr. Sie sah so unfassbar traurig aus, was ihn zutiefst rührte. Nur mühsam konnte er sich davon abhalten, auf sie zuzustürmen, sie an sich zu reißen und ihr zu versichern, dass alles wieder gut würde.

Verwirrt schüttelte er den Kopf, um diese seltsamen Gedanken loszuwerden. Langsam drang ein Schmerz zu ihm durch und er riss den Blick von Aleynas Augen los. »Aua!« Palinas Hand hatte sich in seinem Arm verkrallt.

»Sie ist es!«, wisperte die Königin ihm zu, während sie ihren Griff löste, aufgeregt nach Luft schnappte und nervös die Finger knetete. Für eine Sekunde glaubte er, dass sie ihm die soeben erlebten Gefühle im Gesicht ablesen konnte, doch dann fuhr Palina fort: »Noyan, ihre Aura!«

Er rieb seinen schmerzenden Arm und runzelte die Stirn. Angestrengt darum bemüht, sich seine innere Unruhe nicht ansehen zu lassen, sah er erneut zu Aleyna. Erst jetzt, auf den zweiten Blick erkannte er, was Palina meinte. Das verschwommene Licht um ihre zierliche Gestalt schimmerte Violett. Er stutzte. Violett? Das konnte nicht sein! Sie war ein Mischling und diese Farbgebung total verkehrt. Orange müsste sie sein. Das Ergebnis der roten Aura eines Wandlers, kombiniert mit dem hellen Gelb einer Menschenfrau!

Aleyna blieb vor ihnen stehen. Die Königin hibbelte noch immer unruhig. So aufgeregt hatte er sie noch nie erlebt. Schweigend sah er dabei zu, wie die junge Frau Palina musterte, während sie seinen Blick offensichtlich mied. Doch er hatte andere Probleme. Er versuchte mit aller Kraft, den ungewollten Beschützerinstinkt zu unterdrücken, der in ihm aufstieg.

»Sie ... kommen wegen meines Vaters?«, fragte sie. Ihre Stimme war rau, sie hatte hörbar geweint.

Palina nickte, während er weiterhin schwieg. Aleynas Blick glitt an beiden vorbei zum Friedhof. Dort hatte der Bestatter inzwischen den Sarg ihres Vaters an der Grabstätte aufgebahrt und sich diskret entfernt. »Ich ... Eigentlich habe ich darum gebeten, dass niemand zum Friedhof kommt. Ich wollte ihn allein beerdigen.«

Noyan sah deutlich, wie erneut der Kummer in ihr hochstieg. »Das respektieren wir«, sagte er leise, aber nachdrücklich und ergriff Palinas Arm. »Wir kommen später wieder!«

Bei seinen Worten hob Aleyna den Blick und sah ihn überrascht an. »Danke«, flüsterte sie.

Er wollte Palina wegziehen, doch ihr sturer Blick ließ ihn ahnen, dass sie nicht ohne Weiteres gehen würde.

»Bitte, Aleyna«, sagte sie, und die Angesprochene blieb wie erstarrt stehen, ohne sich umzudrehen. »Ihr Vater ist ... Er war ein alter Freund von mir. Geben Sie mir nur fünf Minuten!«

Eine deutliche Veränderung ging mit Aleyna vor. Ihre Aura wurde dunkler und die Trauer wich eisiger Wut. Sie fuhr herum. Ihre Augen sprühten Funken.

»Mein Vater war also ein alter Freund von Ihnen, ja?«, fragte sie gefährlich ruhig und Noyan wurde nervös. Palina schien den Stimmungsumschwung jedoch nicht zu bemerken und nickte. Aleyna machte einen Schritt auf die Königin zu und er versteifte sich. Bereit, sofort einzugreifen, trat er ihr in den Weg. Sie sah zu ihm hoch, und er stellte erstaunt fest, dass sie keinerlei Angst vor ihm zu verspüren schien. Er überragte sie um mindestens einen Kopf, dennoch gab sie ihm mit ihrem finsteren Blick das Gefühl zu schrumpfen.

»Falls das wirklich der Fall ist, dann frage ich mich eins«, fauchte sie in Richtung Palina. »Wo zum Teufel waren Sie dann in den letzten Monaten? Wo waren Sie, als es ihm von Tag zu Tag schlechter ging? Wo waren Sie, als er damit begonnen hat, tagelang zu verschwinden? Wo, als ich stundenlang durch die Kälte gelaufen bin, um ihn zu suchen, wenn er wieder einfach abgehauen ist?« Aleynas Stimme überschlug sich, als sie sich an ihm vorbei drängte und vor Palina aufbaute. »Und wo, verdammt noch mal, wo waren Sie, als ich ihn zerkratzt und geschunden im Wald fand, einsam und allein erfroren, weil er nicht mehr Herr seiner Sinne war?« Mit jedem Satz, den Aleyna ihr entgegen feuerte, wurde Palina blasser.

Als sie den Mund öffnete, hob Aleyna die Hand und gebot ihr, zu schweigen. »Wagen Sie es ja nicht, noch einmal von Freundschaft zu reden!« Mit einem letzten Blick, der ihre gesamte Abscheu ausdrückte, wandte Aleyna sich um. Sie schluchzte auf und lief in Richtung der Gräber davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Palina machte Anstalten ihr nachzulaufen, doch Noyan hielt sie am Arm fest. »Warte.«

Die Königin sah ihn entrüstet an.

»Wenn du sie jetzt nicht in Ruhe lässt, dann wirst du gar nichts mehr erfahren!«, sagte er leise.

Palina versuchte, seine Hand zu lösen. »Noyan, ich muss ihr hinterher! Du hast es doch mit eigenen Augen gesehen. Hier geht es nicht mehr nur noch um ihren Vater. Sie ist es! Die Aura, nach der wir schon so lange suchen.«

»Im Moment ist sie vor allem hilflos und verzweifelt. Sie hat gerade ihren Vater verloren, verstehst du? Und so wie es aussieht, hat sie nicht die geringste Ahnung von dem, was ihn getötet hat. Ich hege den Verdacht, dass sie nicht einmal weiß, wer oder was ihr Vater in Wirklichkeit war!«

»Aber wir können sie doch jetzt nicht einfach gehen lassen!«, widersprach sie.

»Du warst gerade ziemlich unsensibel, um es vorsichtig auszudrücken.« Noch ehe sie dem erneut etwas entgegensetzen konnte, sagte er: »Lass mich versuchen, das zu regeln.« Sein Angebot überraschte ihn selbst und auch Palina musterte ihn erstaunt.

»Unsensibel? Das sagt mir ja der Richtige!«, schnaufte sie und seufzte dann resignierend. »Nun denn, Mister Sensibel, versuch dein Glück. Ich werde im angrenzenden Wald auf dich warten.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ließ ihn allein.

Rondaria

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