Читать книгу Rondaria - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 7

Erinnerungen

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Konnte es wirklich sein, dass das Schicksal seines Volkes in den Händen einer Unwissenden lag?

Aleyna

Sie war vor dem Sarg ihres Vaters stehen geblieben und kauerte sich auf dem kalten Boden davor zusammen. Tränen liefen ihr über das Gesicht und doch kochte sie vor Wut über die Unverfrorenheit dieser Fremden. Wie konnte sie es wagen zu behaupten, eine Freundin gewesen zu sein? Erschrocken über die Intensität ihrer Gefühle hockte sie noch eine Weile vor dem Sarg und ließ ihre Antwort darauf Revue passieren. Jedes Wort hatte gestimmt.

Die letzten Monate im Leben ihres Vaters waren nicht leicht gewesen, für keinen von beiden. Das Schlimmste für Aleyna war, dass niemand ihr sagen konnte, woran ihr Vater gelitten hatte. Hilflos sah sie dabei zu, wie er zugrunde gegangen war. Die Wut über ihre Verzweiflung und die Unfähigkeit, ihm helfen zu können, hatten in ihrem Ausbruch der Fremden gegenüber ein Ventil gefunden. Fast tat Aleyna ihr Auftreten leid.

Aber nur fast.

Ihr Herz schmerzte beim Gedanken an ihren Vater und nicht zum ersten Mal seit seinem Tod wünschte sie sich, ihm mehr Fragen gestellt zu haben. Wie oft hatte sie ihn ertappt, wenn er auf der kleinen Veranda vor dem Haus gesessen und verloren in den Himmel gestarrt hatte? Eines Tages, so hatte er immer gesagt, würde er ihr viel zu erklären haben. Und jetzt konnte er das nicht mehr. Ihr drängte sich der Gedanke auf, dass das Auftauchen der beiden Fremden zu den Dingen gehörte, die ihr Vater eines Tages hatte berichten wollen. Aber das würde sie nie erfahren.

Gedankenversunken betrachtete sie das Grab. Damals, als ihre Mutter gestorben war, hatte ihr Vater die Ruhestätte selbst gestaltet. Sie lag am Rand des kleinen Friedhofs, angrenzend an den Wald. Jetzt fand er seine letzte Ruhe neben ihr, dicht an den eng wachsenden Bäumen, die er so geliebt hatte. Aleyna schluckte. In der ersten Zeit nach dem Tod ihrer Mutter war sie ständig mit ihm in der freien Natur gewesen. Sie hatten in einem Dorf unmittelbar am Waldrand gewohnt, ganz in der Nähe ihrer Großmutter.

Doch dann war irgendetwas passiert, dass alles verändert hatte. Von einem auf den anderen Tag waren sie nicht mehr in den nahen Forst gegangen. Sie hatten die Hütte und das Dorf verlassen und waren in eine kleine Siedlung gezogen, weg vom Wald und ihrer Großmutter. Das einzig bleibende Zugeständnis an die vergangenen Tage war das Grab gewesen.

Sie sah auf. Aus dem Wald erklang auf einmal ein durchdringendes Brüllen - fast wie eine Warnung.

Erschrocken stolperte Aleyna rückwärts und landete unsanft auf ihrem Hinterteil. Ihre Augen suchten die eng stehenden Bäume ab, doch dort war nichts, das auf den Ursprung dieses Lauts hinwies. Wurde sie jetzt verrückt?

»Alles klar bei dir?«

Sie kam eilig auf die Beine, in der festen Erwartung, die beiden Fremden zu sehen. Doch vor ihr stand nur der Begleiter der Frau und betrachtete sie mit eigentümlicher Miene.

»Sie ist weg. Nicht ganz freiwillig, aber immerhin ist sie gegangen. Sie wird an einem anderen Tag wiederkommen«, sagte er.

»Von mir aus kann sie gern wegbleiben«, murmelte Aleyna und stellte überrascht fest, dass der Mundwinkel des Fremden amüsiert zuckte.

»Darf ich dir etwas zur Krankheit deines Vaters erzählen?«, fragte er plötzlich und machte einen Schritt auf sie zu, doch sie verspürte keine Angst. Schon, als ihre Blicke sich das erste Mal getroffen hatten, war ein tiefes Gefühl von Vertrautheit über sie gekommen, auch wenn sie nicht verstand, warum. Was konnte er über ihren Vater wissen, dass sie nicht selbst wusste?

»Zuerst ist es nur ein Drang, eine innere Unruhe ...«, sagte er leise. »Er konnte nicht mehr schlafen, wanderte umher. Es hat ihn nach draußen gezogen. Seine Spaziergänge sind immer länger geworden, von Mal zu Mal. Und irgendwann kam er mit Kratzwunden nach Hause.«

Aleyna erstarrte und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, aber dennoch hing sie wie gebannt an den Lippen des Fremden. Sie kannte nicht einmal seinen Namen, und doch schilderte er genau das, was sie bei ihrem Vater beobachtet hatte. Als wäre er dabei gewesen.

»Irgendwann fing er damit an, nächtelang wegzubleiben. Rast- und ruhelos, wie ein wildes Tier in Gefangenschaft. Er wurde dir immer fremder, stimmts?«

Langsam nickte sie und Tränen liefen ihr über die Wangen. Genau so war es gewesen. Am Anfang hatte sie nicht einmal bemerkt, dass sich etwas veränderte. Aber irgendwann konnte sie ihre Augen nicht mehr vor dem Offensichtlichen verschließen. Ihr Vater hatte begonnen, richtiggehend durchzudrehen. Oft hatte sie ihn erst nach stundenlanger Suche gefunden. Und nicht selten war ihr Vater nackt gewesen, seine Kleidung in Fetzen auf dem Boden verteilt.

»Es erschien mir, als würden zwei Persönlichkeiten in ihm leben. An manchen Tagen war er einfach nur mein Vater und an anderen das, zu dem er wurde, wenn ein Schub kam. Ich konnte nichts dagegen tun«, flüsterte sie gepresst. Es herrschte einen Moment Schweigen und dann wurde ihr auf einmal bewusst, was sie da gerade gesagt hatte. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so das Gefühl der Vertrautheit abstreifen. »Warum zur Hölle erzähle ich dir das überhaupt? Und woher weißt du das alles? Ich kenne nicht einmal deinen Namen, und du sprichst von Dingen, die du eigentlich gar nicht wissen kannst.« Noch während sie die Fragen stellte, fürchtete sie bereits seine Antworten.

Er schloss die Augen und holte tief Luft. »Es ist ... kompliziert.« Der Typ hob die Hand und fuhr sich durch die dunklen Haare. War er etwa nervös? Sie musterte ihn, während er sichtlich mit sich rang und nach einer Erklärung zu suchen schien.

Er war einen Kopf größer als sie und sah ziemlich muskulös aus. Seine Haare waren leicht durcheinander, als würde er häufiger mit der Hand hindurchfahren und er hatte ein markantes Gesicht mit schmaler Augenpartie. Was ihn wohl mit der Fremden verband? Er hatte sich ihr sofort in den Weg gestellt, als sie fast auf die Frau losgegangen war. Sie hätte schwören können, dass seine grauen Augen sich verändert und einen bedrohlichen Schimmer bekommen hatten.

Er seufzte und straffte die Schultern. »Palina war wirklich so etwas wie eine Freundin deines Vaters. Es gab Gründe, warum sie ihn nicht aufgesucht hat, als es ihm so miserabel ging.«

Aleyna versteifte sich augenblicklich und biss sich auf die Lippe. Versuchte er etwa gerade, diese Frau in Schutz zu nehmen? Es interessierte sie nicht im Geringsten, warum sie nicht da gewesen war. Schweigend wandte sie sich von ihm ab und blickte auf die Grabstätte ihrer Eltern.

»Aleyna ...« Seine Stimme klang bittend. Aus dem Augenwinkel heraus nahm sie eine Bewegung wahr und spürte eine Berührung an der Schulter. Mit sanftem Druck zwang er sie, sich zu ihm umzudrehen und ihn anzuschauen. Er sah verwirrt aus und betrachtete seine Hand, als sei sie ein Fremdkörper. »Ich weiß, dass es dir nicht leichtfällt, mir das zu glauben. Aber das nächtelange Verschwinden deines Vaters hatte am Ende nur einen Sinn«, flüsterte er und Aleyna registrierte mit einem Anflug von Enttäuschung, dass er die Hand wegnahm. »Er tat es, um dich zu schützen.« Ihr entwich ein ungläubiges Schnauben. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Es ist nicht so einfach. Kannst du dich noch an deine Kindheit erinnern?«

Etwas verwirrt von seinem abrupten Themenwechsel nickte sie. Was hatte das eine mit dem anderen zu tun?

»Was soll ich dazu sagen? Ich hatte eine gute Kindheit, glaube ich. Wir haben lange am Waldrand gewohnt, ganz in der Nähe meiner Oma. Ich habe gespielt, wie jedes Kind halt so spielt!«, entgegnete sie etwas unwirsch.

Alles war vollkommen normal gewesen, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihr Vater alle Zelte abgebrochen hatte und mit ihr umgesiedelt war. Sie dachte gern an die Zeit vor dem Umzug zurück. Der Wald war ihr zweites Zuhause gewesen und eine Zeitlang hatte sie sich sogar eingebildet, dort gemeinsam mit tierischen Kameraden unterwegs zu sein.

Unwillkürlich glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. So lange schon hatte sie nicht mehr an diese Begleiter gedacht. Ihr Vater hatte ihr schmunzelnd gelauscht, wenn sie am Abend von ihren Erlebnissen berichtet hatte. Aber dann war irgendetwas passiert, an dass sie sich nicht mehr erinnerte, und sie waren umgezogen. Ab dem Tag veränderte sich alles.

Ihr Vater war verbissen geworden, weniger fröhlich als zuvor. Auch ihre Geschichten wollte er nicht mehr hören. Und irgendwann sprach Aleyna einfach nicht mehr davon. Sie hatte aufgehört, sich an ihre tierischen Freunde und die vielen Abenteuer zu erinnern.

Noch immer machte er keine Anstalten, zu reden. Er sah sie weiterhin nur an, sein Blick erinnerte sie irgendwie an den eines Hundewelpen.

Sie wollte ihm nichts von ihren Gedanken erzählen, doch sein Blick und dieses ungewöhnliche Gefühl von Vertrautheit, dass sie jedes Mal überkam, wenn sie ihn anschaute, ließ sie dennoch reden. »Früher hatte ich imaginäre Begleiter. Wir haben viel Zeit im Wald verbracht. Dad liebte ihn, und er lehrte mich, es ebenfalls zu tun. Andere Kinder hatten einen unsichtbaren Freund, aber ich ...«, ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, »ich hatte Tiere.«

»Tiere?«, echote er leise.

Aleyna wandte sich wieder zu ihm um, musterte sein Gesicht. Sie hatte ein spöttisches Lächeln erwartet. Doch sein Blick war vollkommen ernst und wahrscheinlich nur deshalb sprach sie überhaupt weiter. »Keine ... normalen Tiere. Sondern Menschen, die sich in Tiere verwandelten, wann immer sie es wollten. Es waren viele Verschiedene. Löwen, Tiger, Füchse, Panther, Bären ... sogar ein Eichhörnchen war dabei. Und sie sprachen mit mir. Ich erlebte Abenteuer mit ihnen und erzählte Dad abends davon. Aber eines Tages ...« Sie brach ab, senkte den Blick.

»Auf einmal sagte er, ich würde mir das alles nur einbilden. Menschen, die sich in Tiere verwandelten, gäbe es nur im Märchen. Dann zogen wir weg vom Wald, und er ging nie wieder zurück dorthin, bis ...«

»Bis die Krankheit bei ihm ausbrach?«, vollendete er ihren Satz und sie nickte.

Ja, genau so war es gewesen. Am Anfang wusste sie nicht, wohin ihr Vater aufbrach, wenn er verschwand. Aber dann fand sie die Erde. An seinen Schuhen, der Kleidung. Überall haftete dieser Duft, an den sie sich noch so gut erinnern konnte. Er roch nach Wald. Sie begann zu hoffen, dass alles gut werden würde. Doch das wurde es nicht. Schließlich verlor er sogar seinen Job und der Verfall ihres Vaters schritt immer weiter voran, genau wie der Fremde es beschrieben hatte. In diesem Moment wurde Aleyna bewusst, dass er ihr noch immer nicht offenbart hatte, woher er das alles wusste oder wie er hieß.

»Dein Vater und seine Krankheit ... dort, wo Palina und ich herkommen, gibt es noch mehr Kranke«, sagte er, als ob er ihre Gedanken hätte lesen können. »Was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass du dir die Wesen, die sich in Tiere verwandeln können, nicht eingebildet hast? Das sie wirklich existieren?«

Aleyna widerstand nur knapp dem Drang, sich an die Stirn zu tippen. »Sicher. Und im Himmel ist Jahrmarkt.«

Er seufzte. »Hast du schon mal etwas von Gestaltwandlern gehört?«, fragte er.

Jetzt konnte sie nicht anders, als spöttisch zu lächeln. »Menschen, die zum Werwolf werden? Heiße ich etwa Bella und du Jacob?«, entgegnete sie.

Sichtlich entrüstet riss er die Augen auf. »Werwölfe sind etwas völlig anderes, sie haben nur die Wolfsform. Gestaltwandler sind wesentlich vielfältiger. Die Tiergestalt ist schon vor der Geburt festgelegt, und es kann so ziemlich alles sein. Wölfe, Tiger, Leoparden, Löwen, Adler ... Dein Vater zum Beispiel war ein Bär!«, zählte er auf.

Aleyna musterte ihn eingehend. Der Kerl war doch vollkommen irre, denn er meinte das, was er da gerade von sich gab, offenbar vollkommen ernst! Sie hob die Hand und gebot ihm zu schweigen. »Pass auf, Fremder. Ich weiß nicht, was du komischer Vogel geraucht hast, aber ...« Sie brach ab und stutzte. »Moment. Hast du grade gesagt, mein Vater war ein Bär?«

Er raufte sich erneut die Haare. »Mein Name ist Noyan, und ja ... dein Vater war ein Bär.«

»Pass mal auf, Noyan.« Sie kniff die Augen zusammen. »Du tauchst hier einfach mit deiner ach so tollen Freundin auf ...«, ihre Hand fuhr nach vorn und tippte mehrfach gegen seine Brust, »und wagst es dann auch noch, dich über mich lustig zu machen?«

Noyan schien verwirrt zu sein. »Ich mache mich keinesfalls über dich lustig. Es ist schlicht und ergreifend die Wahrheit.«

Aleyna wich einen Schritt zurück und holte tief Luft. »Okay, ... ich weiß nicht, aus welcher Anstalt du entlaufen bist, aber ... mein Vater war mit Sicherheit kein Bär ...!« Sie zeigte ihm einen Vogel. Dann wandte sie sich kopfschüttelnd ab und entfernte sich eilig von Noyan und dem Grab ihres Vaters. Der Bestatter war sicher noch irgendwo hier, und das Ganze wurde ihr unheimlich. Sie horchte auf Schritte, doch Noyan schien ihr nicht zu folgen. Kurz darauf vernahm sie jedoch ein Knurren hinter sich, blieb stehen und drehte sich langsam um.

Ihr Herz machte einen Satz und überschlug sich mehrfach, nur um dann rasend schnell weiter zu klopfen. Sie musste mehrfach blinzeln, ehe ihr klar wurde, dass das, was sie vor sich sah, tatsächlich real war.

Dort, wo Noyan eben noch gestanden hatte, saß jetzt ein riesiger Wolf. Aus seinen Nasenlöchern drang warme Luft, die in kleinen Nebelschwaden nach oben stieg. Aleyna erstarrte - denn der Wolf saß inmitten eines Kleiderhaufens - Noyans Kleidern. Das Tier machte keine Anstalten, ihr zu folgen. Es sah sie aus grauen Augen an, und der Situation vollkommen unangemessen überkam sie das Gefühl, noch nie in vertrautere Züge geblickt zu haben.

Der Wolf fixierte sie und seine Lefzen hoben sich, sodass es aussah, als lächelte er. »Dein Vater war ein Bär!«, drang eindeutig Noyans Stimme an ihr Ohr.

Erneut beschleunigte sich ihr Herzschlag. All das war einfach zu viel. Wie konnte das sein? Ihre Gedanken rasten, überschlugen sich und gerieten ins Stolpern. Sie war wahnsinnig. Vollkommen irre. Aleyna wurde leicht schwindelig. Hilfesuchend griff sie nach ihrer Kette. Sie ergab sich willig der Dunkelheit und sank ohnmächtig zu Boden.

Noyan

»Du hast was?« Palina starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. Sie hatte, wie angekündigt, im Wald auf ihn gewartet. Nun saß er ihr gegenüber und sah sie zerknirscht an. Ein tiefes Knurren entwich Palinas Kehle, und er zuckte zusammen. Ihre Tiergestalt war ein Leopard und sie marschierte vor ihm auf und ab, bis sie schließlich dicht vor seiner Schnauze stehen blieb und ihn fixierte.

»Du hast ihr also deine zweite Gestalt gezeigt?!« Bei jedem Wort peitschte ihr Schwanz auf den Boden. Er zog den Kopf zwischen die Schultern. »Und dann ...«, Palina holte scharf Luft, »... dann hast du die bewusstlose Kleine zur Kapelle gebracht, damit der Bestatter sie findet und sich um sie kümmert?« Sie setzte sich vor ihm auf die Hinterpfoten und starrte ihn an, während er kleinlaut nickte. »Was sagtest du noch gleich über meine Unsensibilität?«

Finster betrachtete sie ihn, während er sich unter ihren Worten wand. »Du weißt doch, wie wichtig das Mädchen für uns sein könnte, wenn sie das ist, was ich glaube! Was ist in dich gefahren, Noyan? Warum, bei der Göttin, hast du sie nicht hergebracht?«

Noyan schloss die Augen. Palina konnte nicht ahnen, dass er sich genau das seit heute Morgen auch fragte. Er hatte schon viele Besuche auf dieser Seite der Welt hinter sich. Auch Mischlinge waren ihm zu Genüge über den Weg gelaufen. Doch Aleyna war eine vollkommen neue Erfahrung für ihn, den Einzelgänger in selbst gewählter Einsamkeit. Er hatte ihre Emotionen gefühlt, als wären es seine eigenen. Was also war in ihn gefahren, warum hatte er sie dort gelassen, anstatt sie einfach mit nach Rondaria zu nehmen?

Er schüttelte sein Fell aus. »Ich hab es doch versucht!«, setzte er dennoch zu einer Verteidigung an. »Meine Gabe hat bei ihr nicht gewirkt!« Er hob die Pfote an und musterte sie erneut. Die Fähigkeit, wegen derer man ihn im Zirkel aufgenommen und ausgebildet hatte, nannte sich Mediation. Durch bloßes Handauflegen konnte er andere Wesen beeinflussen. Nur Aleyna nicht. Für ihn war es unbegreiflich, dass es bei ihr nicht geklappt hatte. Ein leiser Seufzer entwich ihm. »Sie wird uns helfen, wenn sie diejenige ist, für die du sie hältst!« Die Königin knurrte und Noyan erhob sich. »Ich werde mich darum kümmern, gib mir noch eine Chance.«

Palina warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Diese Sache ist wichtig, Noyan! Ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln, dass dieser Mischling das Wesen aus meinem Traum ist.«

Urplötzlich meldete sich der ungewollte Beschützerinstinkt wieder und ein tiefes Grollen wollte in ihm aufsteigen. Es gelang ihm nur mit Mühe, es zu unterdrücken und seine Königin nicht anzuknurren. Was war nur los mit ihm? Schon zum zweiten Mal verspürte er diesen unbändigen Drang, Aleyna zu beschützen, obwohl sie ihm völlig fremd war. Und verdammt: Palina war die Anführerin seines Volkes! »Der Mischling heißt Aleyna, und ich weiß, dass sie wichtig ist!«, presste er nur mühsam beherrscht hervor.

Nein, er hatte die Prophezeiung nicht vergessen. Wie könnte er auch, wo sie doch allgegenwärtig war? Die Königin war nicht nur die Gemahlin des Alphatiers, sondern auch eine Sehende. So nannte man in Rondaria die Wandler, die die Fähigkeit besaßen, Ereignisse vorherzusehen. Meist waren es Träume, die eine Zeit des Umschwungs oder Gefahren ankündigten. Aber manchmal waren auch schwerwiegende Weissagungen dabei.

Zwei Jahre, nachdem der König verschwunden und die Seuche, damals noch unerkannt, über das Land gekommen war, hatte die Königin einen solchen Traum gehabt. Das war mittlerweile lange her, aber noch immer wusste man ihre Vision nicht recht zu deuten, obwohl der innere Zirkel, zu dem auch er gehörte, es immer wieder versucht hatte.

Es war weithin bekannt, dass ein Wesen mit violetter Aura eine zentrale Rolle darin spielte. Und Palina schien zu glauben, dieses Wesen in Aleyna gefunden zu haben. Gut, ihre Aura war violett, aber weder lebte sie in Rondaria, noch schien sie zu wissen, wer und vor allem was sie wirklich war. Konnte es wirklich sein, dass das Schicksal seines Volkes in den Händen einer Unwissenden lag?

Palina

Aufmerksam beobachtete sie Noyans Mienenspiel, während er grübelte. Diese fürsorgliche, fast schon beschützende Seite kannte sie nicht an ihm. Vor gut vier Jahren war er im inneren Zirkel aufgenommen worden, weil auch er eine besondere Gabe besaß, die es zu fördern und richtig auszubilden galt. Diesen Zirkel gab es schon seit Hunderten von Jahren, er war einst von einem Alphatier gegründet worden und ein wichtiger Bestandteil der rondarischen Gesellschaft.

»Es wird einen Grund dafür geben, dass du sie nicht beeinflussen konntest. Du bist ein guter Mediator! Dieser Ansicht ist sogar Chiron. Und wenn er das sagt ...« Sie unterdrückte das Schmunzeln, das in ihr aufsteigen wollte, als sie den Bären erwähnte. Es war ein offenes Geheimnis, das Noyan und Chiron, der Anführer der königlichen Garde, sich nicht sonderlich grün waren.

Der Wolf murrte ungehalten. »Chiron redet dir bloß nach der Schnauze. Ihm bleibt ja nichts anderes übrig, schließlich ist er dein Gefährte.«

»Das ist er nicht«, widersprach sie heftig. »Jedenfalls nicht ... so.« Der Bär teilte ihr Bett. Und sonst nichts. Sie wusste zwar, dass er viel mehr wollte, aber - bislang hatte sie sich immer dagegen gewehrt. »Daeron ist mein Gefährte!«

Es war jetzt fünfzehn Jahre her, dass ihr Mann Daeron, das Alphatier des Volkes, verschwunden war. Die wochenlange Suche nach ihm war nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Mit der Zeit wurden immer mehr Stimmen laut, die sagten, dass er tot sei, aber sie wollte dies aus verschiedenen Gründen bis heute nicht wahrhaben. Sie war davon überzeugt, dass sie es hätte spüren müssen, wenn er tot wäre.

Noyan hob die Pfote und berührte damit ihre. »Daeron lebt nicht mehr, Palina«, sagte er leise.

»Das wissen wir nicht mit Sicherheit!« Unmut machte sich in ihr breit. Daeron war ihr Seelengefährte gewesen, ihre große Liebe. In einer besonderen Zeremonie hatten sie ihr Blut miteinander getauscht, eine tiefe Verbindung, die weitaus mehr bedeutete als nur die Worte, die man dabei sprach. Mit ihrem Versprechen an den weißen Löwen war sie Königsgemahlin geworden, die Frau an der Seite des Herrschers.

Deshalb akzeptierte das Volk sie als Anführerin, aber der eigentliche Anführer des Volkes war nun einmal das Alphatier. Und genau diese Tatsache war ein weiterer Grund, aus dem sie bezweifelte, dass ihr Ehemann tot war. »Wenn er wirklich tot ist, warum wurde dann noch kein neues Alphatier geboren?«

»Ich weiß es nicht.« Noyan setzte sich auf die Hinterpfoten und warf ihr einen bedauernden Blick zu. »Aber es liegt die Vermutung nahe, dass in der Prophezeiung auch dafür eine Erklärung enthalten ist. Wir haben sie nur noch nicht entschlüsselt. Es gibt so viele Fragen, auf die wir noch keine Antwort haben.«

Wie all ihre Vorhersagen war der Traum sehr verworren gewesen. Er sprach von Intrigen, Eifersucht und einer bösartigen Krankheit. Aber er wies auch auf Rettung hin. Ein Wesen mit violetter Aura sollte das Unglück zum Guten wenden. Palina wusste weder von einer solch schlimmen Krankheit, noch kannte sie ein Wesen, das eine solche Aura besaß, also wurde dem Traum nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Und dann war der Ausbruch der Seuche bemerkt und ein Teil der Vision zu erschreckender Wirklichkeit geworden.

»Du meinst, wir finden die Lösung für sein Verschwinden ebenso in meinem Traum wie den Hinweis auf die Krankheit?«, hakte sie nach und Noyan nickte.

Es hatte einige Zeit gedauert, bis überhaupt bemerkt worden war, dass es ein Problem gab. Natürlich gab es Krankheiten in Rondaria, aber keine war so gewesen wie diese. Es hatte mit einigen wenigen Kranken begonnen. Die Seuche nahm einen langsamen und langwierigen Verlauf, und sie endete immer tödlich. Einen Grund für ihren Ausbruch konnten sie nicht finden, so sehr sie es auch versuchten.

»Es hat doch alles überhaupt erst mit seinem Verschwinden angefangen, oder?«, sinnierte sie nachdenklich.

»Wie kommst du darauf?«

Erst, als sie den erstaunten Ausruf von Noyan neben sich vernahm, wurde ihr bewusst, dass sie laut ausgesprochen hatte, worüber sie sie sich schon länger Gedanken machte.

Die Betroffenen wussten lange nicht einmal, dass sie krank waren. Das erste sichtbare Zeichen für deren Ausbruch war die Aura des Leidtragenden. Sie begann sich zu verändern, aus einem satten Rot wurde mit der Zeit trübes Grau. Nach und nach verloren die Gestaltwandler die Kontrolle über das ihnen innewohnende Tier und wurden unberechenbar - ein langer und grausamer Prozess für die Erkrankten.

»Es gäbe doch Aufzeichnungen in der großen Bibliothek darüber, wenn so etwas schon einmal vorgekommen wäre. Alles, was wir wissen, wissen wir aus der direkten Erfahrung heraus. Die Seuche bricht unterschiedlich schnell aus. Bei einigen nach wenigen Monaten, bei anderen wiederum dauert es Jahre.«

Seit dem Bekanntwerden der Krankheit gab es viel mehr Selbstmorde in Rondaria. Die Wandler hatten miterlebt, wie sich die Seuche entwickelte und kaum einer ertrug es, den Einfluss auf etwas zu verlieren, was ihnen von Kindesbeinen an gegeben war. Die meisten setzten ihrem Leben spätestens dann ein Ende, wenn der Kontrollverlust einsetzte.

Palinas Gedanken kehrten zu dem Mischlingsmädchen zurück. Sie hatte immer daran geglaubt, dass sie das Wesen mit der violetten Aura eines Tages finden würden.

Aber ... Aleyna?

Sie sollte die Rettung sein? Ein Mischling, der nicht einmal in Rondaria lebte, sondern von einem Wandler groß gezogen worden war, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte? Sollte sie tatsächlich all ihre Hoffnung in jemanden setzen, der so offensichtlich nichts Besonderes war?

Sie blickte zu Noyan. Er hatte sich auf dem Boden zusammengerollt und beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. Vielleicht wäre es eine gute Idee, zu sehen, was sich aus dem seltsamen Verhalten Noyans und dem Mädchen entwickeln würde.

»Nun denn!«, seufzte sie. »Ich werde es auf einen Versuch ankommen lassen.« Der junge Wolf rappelte sich hastig auf. »Ich kehre in den Hort zurück und werde dem Zirkel berichten, was wir entdeckt haben. Du hast eine Woche Zeit, das Mädchen nach Rondaria zu holen. Was wirst Du tun?« Sie sah ihn fragend an.

Noyan zögerte mit der Antwort. Es war offensichtlich, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was er tun sollte. Sie wusste, dass Noyan es gewöhnt war, mit Hilfe seiner Gabe zum Ziel zu kommen. An Aleyna aber war er gescheitert und das verwirrte ihn. Wie dem auch sei - er würde lernen müssen mit Niederlagen umzugehen. Und in diesem Fall musste eine Woche genügen, um einen anderen Weg zu finden als die Mediation. Die Zeit drängte. »Nun?«

Noyan wand sich unwohl. »Ich weiß es nicht!«, winselte er dann. »Aber ... mir wird etwas einfallen, in Ordnung?« Palina nickte, vorerst zufrieden.

»Sieben Tage, Noyan, vergiss das nicht!« Mit einem letzten, ermahnenden Blick musterte sie den Wolf, dann machte sie kehrt und verschwand im Wald.

Noyan

Er sah Palina hinterher und schluckte. Dabei war er sich durchaus darüber im Klaren, was es hieß, dass sie ihm eine Frist gesetzt hatte. Sollte er scheitern, würde sie garantiert zu drastischeren Mitteln greifen. Vermutlich würde die Königin die Garde, oder noch schlimmer, Chiron persönlich damit beauftragen, Aleyna nach Rondaria zu bringen. Es blieb ihm also wenig Zeit, sie zu überzeugen. Er ging noch einmal die Informationen durch, die er hatte und versuchte, diese mit dem, was Aleyna ihm erzählt hatte, zu kombinieren.

Er wusste, dass sie als Kind tatsächlich in Rondaria gelebt hatte, gemeinsam mit ihrem Vater. Doch dann hatte sich irgendetwas ereignet, was ihn dazu veranlasst hatte, den Kontakt zu seiner Heimatwelt abzubrechen. Leider wusste bislang keiner, was vorgefallen war. Es war vorher einfach nicht wichtig gewesen und jetzt war der Einzige, der alles aufklären konnte, tot.

Aleyna schien kaum Erinnerungen an ihre Zeit in Rondaria zu haben, oder sie verdrängte sie. Vielleicht war das sein Weg zum Erfolg. Es musste ihm gelingen, ihr die Kindheit wieder ins Gedächtnis zu rufen. Sie schien empfänglich zu sein für Dinge, die ihren Vater betrafen. Es blieb ihm sowieso nichts anderes übrig, als es zu versuchen. Die Worte der Königin hallten in seinem Kopf nach.

»Sieben Tage, Noyan. Vergiss das nicht!«

Rondaria

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