Читать книгу Rondaria - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 8

Annäherung?

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»Also bist du das Schoßhündchen von Palina?«

Aleyna

Das Läuten der Türglocke riss sie unbarmherzig aus ihrem traumlosen Schlaf. Widerwillig öffnete sie die Augen und kehrte blinzelnd in die Wirklichkeit zurück. Draußen wurde es bereits dunkel. Schwerfällig erhob sie sich aus dem Bett und fischte nach ihren Pantoffeln. Die Müdigkeit hing bleiern in ihren Gliedern. Das war sicherlich eine Nachwirkung der Tablette, die sie vor dem Schlafen auf Anraten des Arztes hin genommen hatte.

Nachdem sie heute Vormittag in der kleinen Kapelle auf dem Friedhof wieder zu sich gekommen war, hatte der Bestatter sie nach Hause gefahren. Sie versuchte, ihm zu erklären, was passiert war. Als sie in ihrem Bericht bei dem Wolf angekommen war, hatte der Mann sie zweifelnd angesehen, etwas von einem »Schlag auf den Kopf« gemurmelt und darauf bestanden, einen Arzt zu rufen. Seufzend hatte sie nachgegeben, mit Doc Morrison telefoniert und um einen Hausbesuch gebeten. Er hatte ihren Vater behandelt, sie kannte ihn seit vielen Jahren und vertraute ihm.

Morrison hatte sich schweigend ihre Geschichte angehört, sie aber wenigstens nicht angesehen, als wären bei ihr einige Sicherungen durchgebrannt. Er hatte lediglich genickt und ihr, als er sich vergewissert hatte, dass mit ihr sonst alles in Ordnung war, ein Tablettenblister gereicht. »Ein leichtes Beruhigungsmittel«, erklärte er auf ihren misstrauischen Blick hin. »Sie haben eine schwere Zeit hinter sich, und die kommenden Tage werden sicher auch noch an Ihren Nerven zerren. Da wird es Ihnen nicht schaden, wenn Sie etwas Schlaf bekommen.«

Aleyna mochte es nicht, Medikamente zu sich zu nehmen. In einer Zeit, in der alle Welt glaubte, mit Pillen jedes Wehwehchen heilen zu können, war sie durch die Krankheit ihres Vaters eines Besseren belehrt worden. Aber heute hatte sie nach einer Weile des schlaflosen Hin- und Herwälzens eingesehen, dass sie eine Ausnahme machen sollte. Die Trauer hatte sie Dinge sehen lassen, die einfach nicht real sein konnten. Vielleicht war sie viel früher in Ohnmacht gefallen, als sie dachte und hatte einfach nur vollkommen verrückt geträumt? Ein Mensch, der sich in einen Wolf verwandeln konnte! Sie hatte den Schlaf wirklich dringend nötig gehabt.

Schlaftrunken tastete sie sich aus ihrem Zimmer durch den Flur. Sie machte das Licht nicht an, denn überall hingen Bilder von ihr und ihrem Vater und es fiel ihr immer noch schwer, diese zu betrachten. Sie nahm sich fröstelnd eine Jacke von der Garderobe und zog sie über, ehe sie die Tür öffnete.

Vor ihr stand Noyan.

Aleyna kniff die Augen zusammen und blinzelte, als könne sie so das Bild vor sich verändern. Als wäre er nur eine Halluzination. Vielleicht hatten die Tabletten doch mehr Nebenwirkungen, als sie dachte? Aber nein, selbst nach mehrmaligem Blinzeln stand Noyan immer noch vor ihr.

»Guten Abend«, sagte er leise.

Das war doch nicht zu glauben! Was wollte er hier? Hatte er denn gar keinen Respekt? Sie starrte ihn wortlos an. Er schien sich unter ihrem Blick äußerst unwohl zu fühlen.

»Also ich ...«, setzte er an.

Aleyna schlug ihm die Tür vor der Nase zu, ohne ihn ausreden zu lassen. Um Fassung ringend lehnte sie sich von innen dagegen. »Verschwinde!«

Durch die Tür konnte sie ihn seufzen hören, aber das interessierte sie nicht. Unglaublich, dass dieser Typ die Dreistigkeit besaß, hier aufzutauchen, immerhin hatte er sie heute Vormittag einfach auf dem Friedhof liegen lassen! Okay, es war nicht der Friedhof gewesen. Er hatte sie in die kleine Kapelle gebracht, auf eine Bank gelegt und sie sogar in eine Decke gewickelt. Zumindest hatte der Bestatter gesagt, dass er sie so vorgefunden habe. Aber es ging ja schließlich ums Prinzip! Dieser Kerl und seine Begleitung hatten ihr endgültig einen Tag vermiest, den sie sowieso am liebsten aus ihren Gedanken streichen wollte.

»Aleyna, bitte ...«, es klopfte mehrmals. »Ich möchte doch nur kurz mit dir reden!«, erklang es flehentlich.

»Aber ich will nicht mit dir reden, hörst du? Sieh einfach zu, dass du Land gewinnst!« Sie stieß sich von der Tür ab. Woher wusste er überhaupt, wo sie wohnte?

Sie lauschte nach draußen, doch außer dem monotonen Geräusch des Regens konnte sie nichts mehr hören. Müde schlurfte sie in die Küche. Ein Tee war genau das, was sie jetzt brauchte. Während sie Wasser aufsetzte und Pfefferminzblätter ins Teesieb gab, kehrten ihre Gedanken zu dem verwirrenden Traum zurück. Er hatte sich in ihr festgesetzt und wollte sie einfach nicht loslassen. Ihr Vater – ein Bär!

Aleyna entwich ein entrüstetes Schnauben. Was war in ihrem Kopf nur durcheinander geraten, dass sie der Gedanke an den Wolf und dass, was er gesagt hatte, einfach nicht losließ? Irgendetwas unterschied den wirren Traum von ihren übrigen Albträumen. Dieser hier wirkte irgendwie richtig.

Genauso real wie diese Frau, wie hatte er sie noch gleich genannt – Palina? Von all den Dingen, die sie an diesem Morgen erfahren hatte, war es deren in ihren Augen dreiste Aussage, sie sei eine Freundin ihres Vaters gewesen, die sie am meisten getroffen hatte.

Ob diese Frau auch nur im Geringsten eine Ahnung davon hatte, wie schwer die letzten Jahre gewesen waren? Sicherlich nicht! Aleyna goss heißes Wasser in die Tasse und schüttelte den Kopf. Sie hatte ihren Vater zu Grabe getragen, und war nicht sonderlich erpicht darauf, sich weiter Märchen erzählen zu lassen. Mit dem dampfenden Gefäß in den Händen machte sie sich auf den Weg ins Wohnzimmer.

Allem Widerwillen zum Trotz blieb sie an der Eingangstür stehen und äugte durch den Spion. Verblüfft wich sie zurück. Noyan war noch immer da draußen! War das zu fassen? Erneut spähte sie hinaus. Er wanderte vor ihrer Tür auf und ab, klatschnass. Er kann einem fast leidtun, dachte sie unwillkürlich. Vielleicht sollte sie ...? Nein!

Mit einem energischen Kopfschütteln wandte sie sich von der Tür ab und stapfte ins Wohnzimmer. Nachdem sie die Teetasse abgestellt hatte, entfachte sie mit geübten Handgriffen ein Feuer. Wie oft hatten ihr Vater und sie hier zusammengesessen, zumindest, als die Krankheit noch nicht so weit fortgeschritten war. Über dem Kamin hing ein Bild, das sie vor einigen Jahren fotografiert hatte, als noch keiner von beiden überhaupt an eine Erkrankung gedacht hatte.

Sie liebte diese Fotografie sehr. Es war die Einzige, die sie betrachten konnte, ohne dass ihr das Herz zerriss. Die Augen ihres Vaters funkelten lebensfroh, er strahlte innere Ruhe aus und wirkte wie ein ... wie ihr Fels in der Brandung. Gerade in den letzten Monaten vor seinem Tod hatte sie seinen Lebensmut schmerzlich vermisst. Seufzend ließ sie sich in den Ohrensessel vor dem Kamin fallen, nippte vorsichtig am Tee und betrachtete das Bild. Sie hatte das Gefühl, das ihr Vater vorwurfsvoll auf sie herabsah. »Denk nicht einmal daran!«, maulte sie in seine Richtung. »Er hat es nicht anders verdient, was kommt er auch einfach her? Soll er doch verrotten im Regen!«

Sie zog die Füße in den Sessel und kuschelte sich noch tiefer hinein, darum bemüht, das Bild des tropfnassen Noyan aus ihrem Kopf zu vertreiben. Doch so sehr sie sich einreden wollte, dass es sie nicht interessierte, wenn er sich da draußen den Tod holte - es gelang ihr nicht. Nachdem sie einige Minuten damit verbracht hatte, angestrengt ins Feuer zu starren, sprang sie mit einem Seufzer auf. »Ich weiß, ich werde es bereuen!«, erklärte sie in Richtung des Bildes. »Keine Ahnung, warum ich das überhaupt tue!«

Mit missmutigem Blick ging sie an die Eingangstür und öffnete sie. »Komm rein, ehe ich es mir anders überlege!«, murrte sie in die Dunkelheit und trat zur Seite.

Völlig durchnässt betrat Noyan ihr kleines Zuhause. »Danke«, flüsterte er.

»Halt. Schuhe aus! Du ruinierst mir das Parkett. Ich hol ein Handtuch«, wies sie ihn an. Er sollte bloß nicht glauben, dass sie jetzt auch noch freundlich zu ihm sein würde. Noyan sah verblüfft drein, nickte aber gehorsam und ging in die Knie, um die Schuhe auszuziehen. Sie verschwand im Bad und fischte ein Handtuch aus dem Schrank. Was war sie nur für ein Esel, dass sie ihrem Gewissen nachgegeben und ihn ins Haus gelassen hatte!

Aber sie musste Klarheit über die Dinge haben, die sie heute Morgen gehört und vor allem glaubte, gesehen zu haben. Nur aus diesem Grund würde sie ihm die Chance geben, sich zu erklären. Sie betrachtete sich im Badezimmerspiegel und seufzte. Ihr Gesicht wirkte bei weitem nicht mehr so müde wie noch heute Morgen. Dank der Tablette hatte sie wenigstens ein bisschen schlafen können. Das hatte gut getan, sie fühlte sich ausgeruhter und ihre Wangen wiesen etwas Farbe auf.

Mit dem Handtuch unter dem Arm verließ sie das Badezimmer. Noyans Schuhe standen ordentlich aufgereiht auf dem Fußabtreter, von ihm keine Spur, doch sie hörte das leise Knarzen des Dielenbodens im Wohnzimmer, wenn er sich bewegte. Ein kurzes Zögern, doch dann gab sie sich einen Ruck und betrat das Schlafzimmer ihres Vaters. Mit zittriger Hand holte sie ein Hemd und eine Hose aus dem Schrank.

Sie huschte zur Wohnzimmertür und spähte hinein. Noyan saß mit nacktem Oberkörper auf dem Fell vor dem Kamin und breitete sein nasses Hemd vor sich auf dem Boden aus, damit es schneller trocknen konnte. Neugierig musterte sie ihn. Seine dunklen Haare hatten eindeutig einen Schnitt nötig, seine Haut war von der Sonne gebräunt und um seinen muskulösen Körperbau würde ihn vermutlich so mancher beneiden. Er war genau richtig proportioniert. Aber das wirklich faszinierende an ihm jedoch waren seine Augen. Als er sich zu ihr und sie ansah, war sie aufs Neue überrascht, wie tief sie zu blicken glaubte.

»Soll ich mich einmal im Kreis drehen?« Ein amüsiertes Grinsen umspielte seine Lippen, dann stand er auf und drehte sich mit ausgebreiteten Armen.

Hitze schoss in Aleynas Wangen. Sie warf ihm das Handtuch entgegen, dass er leise lachend auffing. »Blödmann!«, murmelte sie.

Nachdem er sich umgezogen hatte - sie hatte mit hochrotem Kopf das Zimmer verlassen, um ihm einen Tee zu machen - seufzte Noyan sichtlich zufrieden auf und setzte sich auf das Sofa. »Danke!«, murmelte er, als sie ihm die dampfende Tasse reichte. Aleyna kletterte wieder in den Ohrensessel und starrte ins Feuer.

»Kennst du das, wenn du aufwachst und einen Traum hattest, der sich so real anfühlt, dass du glaubst, noch den Geschmack dessen, was du verzehrt hast, auf der Zunge spüren zu können?«, fragte sie nach einer Weile angespannten Schweigens.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Noyan zusammenzuckte und den Kopf zu ihr drehte. »Wie meinst du das?«

»Na ja ... klingt es etwa nicht verwunderlich, wenn ich sage, dass ich davon geträumt habe, dass du dich in einen Wolf verwandelst und mir erzählst, mein Vater sei ebenfalls ein Gestaltwandler gewesen?« Sie lachte tonlos auf und schüttelte den Kopf. »Ein Bär. Das ist doch vollkommen irre! Ein schlechter Traum ... oder vielleicht doch eher ein Märchen?« Sie fixierte ihn. »Aber Großmutter, warum hast du denn so große Augen?«

Noyan

Der Unglaube in ihrer Stimme war nicht zu überhören und er seufzte. Sie dachte, geträumt zu haben? »Pass auf. Ich weiß ja, dass es dir schwerfallen muss, mir das alles zu glauben. Aber es ist kein Traum gewesen, sondern die Wahrheit und allein deshalb bin ich hier.« Sie zog ihre Beine auf den Ohrensessel, schlang die Arme darum und vergrub ihren Kopf dazwischen. »Denkst du, mir macht es Spaß, gefühlt jeden zweiten Tag durch die Galaxie zu reisen? Aber Palina ist nun mal die Gefährtin des Alphas und was sie sagt, ist Gesetz.«

Aleynas Kopf ruckte hoch, sie starrte ihn mit offenem Mund an. »Durch die Galaxie zu reisen?«

Offensichtlich besaß er ein besonderes Talent dafür, in ihrer Gegenwart mit der ganzen Tür ins Haus zu fallen. »Ähm, also ... na ja, nicht direkt durch die ganze Galaxie«, stammelte er. »Um genau zu sein, eigentlich nur zur Erde.« Er leerte seine Tasse und stellte sie beiseite. »Es ist so. Ob du es glaubst oder nicht, für mich ist das hier genauso verwirrend wie für dich.«

Sie lachte frustriert. »Ach, bei euch ist es also nicht Standard, dass irgendwer daher kommt, und eure Weltansicht aus den Fugen reißt?«, fragte sie spitz. »Weil man angeblich nicht geträumt hat?«

Wider Willen musste er lachen. »Nein.«

Sie stellte ihre Tasse auf dem Tisch ab und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Okay, ich rekapituliere. Du bist also ein Wolf, und du reist durch die Galaxie. Du behauptest, mein Vater sei ein Bär. Bin ich dann ein Halb-Bär? Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte? Vielleicht ... Was mein Vater und ich mit dieser ganzen Sache zu tun haben? Denn weißt du, er ist tot, und ich wüsste nicht, wie er dir nützlich sein sollte.«

Noyan blinzelte, er war nicht sicher, ob Aleyna ihn grade auf den Arm nehmen wollte. »Würdest du mir überhaupt zuhören, wenn ich versuchte, es zu erklären?«, fragte er leise. »Ohne bissige Kommentare?«

Es dauerte eine Weile, ehe sie antwortete, was er als gutes Zeichen wertete. »Na ja ... ich könnte es versuchen«, sagte sie schließlich, und ihm war klar, dass dieses Zugeständnis das Beste war, was er erwarten konnte.

»Okay.« Er wandte den Kopf und sah zu ihr. »Also, dein Vater gehörte zu meinem Volk. Er war ein Gestaltwandler und wie ich schon erwähnte, ein Bär.«

Aleyna blickte zwar skeptisch drein, aber sie schwieg.

»Unsere Welt nennt sich Rondaria. Schon seit Jahrhunderten springen wir zwischen ihr und der Erde durch Portale hin und her. Wir versuchen zwar grundsätzlich, unsere Andersartigkeit vor den Menschen zu verbergen, aber manchmal kommt es dennoch vor, dass sich ein Wandler mit einem Menschen ... verbindet, wie im Fall deiner Eltern.«

Sie hob die Hand. »Soll also heißen, mein Dad ist ein Gestaltwandler und meine Mutter ist es nicht?«

»Aye.«

»Was wiederum bedeuten würde, dass ich tatsächlich eine Mischung aus beidem bin?«

»Genau.«

»Das ist doch absoluter Blödsinn!«

Er riss die Augen auf. Wie bitte?

»Meinst du nicht, dass ich es wüsste, wenn ich irgendein Mischlingsding wäre, so, wie du behauptest, ein Wolf zu sein? Findest du nicht selbst auch, dass deine Geschichte eher nach einer vielversprechenden Karriere in Hollywood klingt?« Sie lehnte sich wieder zurück. »Nur, weil ich als Kind eine Zeitlang glaubte, mit Tieren sprechen zu können, heißt das nicht, dass ich dir deine Story jetzt einfach so abkaufe!«

Er schloss die Augen und zählte langsam bis zehn, ehe er sie wieder öffnete. Sie war eine harte Nuss, dabei hatte er geglaubt, es würde einfacher werden, da sie ja schon zugegeben hatte, sich an ihre tierischen Kindheitsfreunde zu erinnern. »Weißt du«, setzte er an, erhob sich vom Sofa und trat einen Schritt zur Seite, »vielleicht sollte ich dir all das, von dem ich dir erzählen wollte, einfach zeigen!«

Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe und sie spannte sich sichtlich an.

Er hob die Hand und vollführte eine kreiselnde Bewegung. Was er jetzt tat, würde ihn zwar Energie kosten, aber anders konnte er ihr nicht beweisen, dass sie nicht geträumt hatte. Die Luft begann zu flimmern und ein leichter Luftzug war zu spüren, der sich in ihren Haaren verfing.

Eine im Raum schwebende, ovale Öffnung erschien. Ihr Rand schimmerte regenbogenfarbig und darin sah man wie durch einen Schleier hindurch eine Lichtung, die von großen, dunklen Bäumen gesäumt war. Ein erstickter Laut löste sich von Aleynas Lippen, ihre Augen wurden größer. Mit einem leisen Keuchen wich sie zurück und drängte sich tiefer in den Sessel.

»Was ist das?«, wisperte sie. Sie schien etwas verängstigt, aber auch neugierig und beide Gefühle machten sich in ihm breit, als sei er es, von dem sie ausgingen.

»Diese Lichtung liegt in der Nähe des königlichen Horts, wo Palina und ich leben«, erklärte er ruhig. »Ich kann das Portal von überall aus öffnen, aber für die Ankunft muss ich die Punkte kennen, an denen der Übergang möglich ist. Es gibt sowohl in Rondaria als auch auf der Erde nur ein paar Plätze, zwischen denen man als Ankunftsort wählen kann.«

Ihre Neugier drängte die Angst immer weiter zurück, das konnte er nicht nur spüren, sondern langsam auch sehen, denn ihre verkrampfte Haltung entspannte sich etwas und sie löste die Umarmung ihrer Beine. »Und wie hast du das gemacht?«

Irritiert runzelte er die Stirn. Sie hatte doch jede seiner Bewegungen gesehen, ihn nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen. Machte sie das mit Absicht? Seine Miene schien Bände zu sprechen, denn jetzt zeigte sich ein Schmunzeln auf ihrem blassen Gesicht. »Was ich meine, ist: Wie funktioniert das?«, änderte sie ihre Frage.

»Ähm ...«, war seine erste, wenig geistreiche Antwort. Ein wenig überfordert fuhr er sich mit der Hand durch die Haare und ihr Schmunzeln wurde zu einem breiten Grinsen.

»Der große, böse Wolf weiß nicht, wie sein Reisemittel funktioniert, oder?«

Mit zusammengekniffenen Augen sah er sie an. Er hatte sich nie damit beschäftigt, wie die Magie, die er nutzte, funktionierte. Für ihn war sie einfach da und er hatte ihre Funktionsweise noch nie hinterfragt. »Nein, ich weiß es nicht«, presste er knurrend hervor. Ernsthaft, sie sollte aufhören, ihn so zu nennen! »Großer, böser Wolf. Von wegen!«, murrte er und schloss das Portal mit einer erneuten Handbewegung.

»Dafür, dass du mir meine Geschichten nicht glaubst, hängst du dich ganz schön daran auf!« Verzweiflung machte sich in ihm breit. Hatte er sich tatsächlich freiwillig dazu erboten, sie nach Rondaria zu holen? Vielleicht sollte er sie doch Chiron oder der königlichen Garde überlassen. Er stand auf, zog sich das Hemd über den Kopf und schlüpfte aus seiner Hose.

Aleyna

Was, um Himmels Willen, tat er denn jetzt? Fassungslos sah sie ihm dabei zu, wie er sich entkleidete und ihr Herzschlag beschleunigte sich schon wieder. Nackt, wie er war, sah er sie an und seine grauen Augen flackerten.

»Ich präsentiere: Den großen, aber weniger bösen Wolf!«, sagte er und sie schluckte. Er wollte doch nicht etwa ... Doch, so wie es aussah, wollte er genau das.

Aleyna drückte sich tiefer in den Sessel, als könne dieser sie vor dem schützen, was jetzt kommen würde. Sie wusste nicht, wie sie das Gefühl beschreiben sollte, das sich in ihr anstaute. Auf der einen Seite war es Angst vor dem Tier, obwohl sie es schon einmal gesehen hatte, auf der anderen Seite war da diese tiefe Neugier, und sie wusste nicht, welche Empfindung stärker war.

Noyan stand in gebückter Haltung vor ihr und sein gesamter Körper begann, sich zu verändern. Seine Fingernägel verfärbten sich, krümmten sich zu Klauen. Die Hände wuchsen zu pelzbedeckten Pfoten, aus seiner Haut spross dunkles Fell, ähnlich seiner Haarfarbe. Arme und Beine wurden zu Läufen, sein Gesicht verzerrte sich, der Mund mutierte zu einem Maul, er riss es weit auf und seine Zähne verformten sich zu Fängen. Er beugte sich nach vorn, und seine Hände – nein, Pfoten! – berührten den Boden.

Langsam hob der Wolf seinen Kopf und sah sie erneut an. Seine Augen! Sie hatten sich überhaupt nicht verändert. So sehr sein Äußeres sie aus der Nähe im ersten Moment auch schockierte, der Ausdruck in seinen Augen war noch immer gleich - und wirkte seltsam vertraut.

»Groß ja – böse nein!« Das Tier setzte sich in Bewegung und kam auf sie zu.

Aleyna widerstand dem Drang, aufzuspringen und laut schreiend wegzulaufen, wie es wahrscheinlich jeder normale Mensch getan hätte. Sie hätte sowieso keine Chance, vor ihm zu fliehen. Das Tier ließ sich zu ihren Füßen vor dem Sessel nieder, ohne den Blick von ihr zu lösen. Wie von allein streckte sich ihre leicht zitternde Hand aus, hielt jedoch kurz vor seinem Fell inne. »Was tue ich hier eigentlich?«, murmelte sie und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich beiße nicht und ich stehe auch nicht unter Strom.« So seltsam es anmutete, dass ein sprechender Wolf vor ihr saß, so sanft war seine Stimme. Noyan neigte den Kopf und überwand die letzten Zentimeter, die ihre Hand von seinem Körper trennte.

Sein Fell war überraschend weich. Nicht struppig, wie sie es erwartet hatte. Sie konnte unter ihrer Hand spüren, wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Allerdings ging ein sonderbarer Geruch von ihm aus und sie rümpfte die Nase. »Puhhhh ...«, stieß sie hervor. »Du stinkst!«

Der Wolf drehte seinen Kopf so, dass sich ihre Blicke erneut trafen. Sie konnte es kaum glauben, aber - Noyan grinste! Er grinste wirklich und wahrhaftig, auch wenn die hochgezogenen Lefzen und die spitzen Zähne wirklich gewöhnungsbedürftig waren.

»Kein Stromschlag, stimmt. Aber Baden ist auch nicht so deins, was?«, wisperte sie.

Sie spürte das Vibrieren seines Körpers, noch bevor das missmutige Grollen aus seinem Maul kam. »Schon mal an einem nassen Hund gerochen? Ich habe eine ganze Weile im Regen gestanden, du erinnerst dich?«

Schlagartig wurde sie ernst und löste die Hand aus seinem Fell. Ihr Vater war tot und sie saß hier, machte Witze mit ... einem Wolf. Mit einem sprechenden Wolf!

»Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Ich kann das alles nicht so recht zuordnen. Heute Morgen noch wollte ich einfach nur in Ruhe meinen Vater beerdigen und jetzt sitze ich hier und rede mit einem Tier!«

Die innere Anspannung löste sich langsam von ihr und sie schob ihre Beine über den Rand des Sessels auf den Boden zurück. Das Fell unter ihrer Hand fühlte sich so unglaublich echt an, sie konnte sich das alles doch nicht einbilden, oder? »Und noch dazu sagst du, dass mein Vater ein Bär war!«

Noyan

Er hob seinen Kopf und sah Aleyna unverwandt an. Etwas veränderte sich. Warum er ihre Emotionen so deutlich wahrnehmen konnte, als seien es seine eigenen, wusste er zwar immer noch nicht, aber sie begann ihm zu glauben. Gut, das war nicht viel, aber immerhin ein Anfang.

»Wie war er so, dein Vater?«, fragte er. »Ich meine, bevor ...« Ihr Blick glitt von ihm weg zum Kamin und dann weiter zu einem Bild. Darauf war ein Mann abgebildet, der den Arm um eine jüngere Version von Aleyna gelegt hatte. Beide strahlten in die Kamera.

»Bevor er krank wurde?«, vollendete sie leise seinen Satz. »Er war alles, was ich hatte und gleichzeitig auch alles, was ich brauchte. Als meine Mutter starb, war ich noch so jung, dass ich mich kaum an sie erinnere. Alles, was ich über sie weiß, weiß ich aus den Geschichten meines Vaters. Aber er war mein Lebensinhalt und bis zum Ausbruch der Krankheit der fröhlichste Mensch, den ich kenne.« Sie schien sich nur mühsam von der Fotografie losreißen zu können, als sie ihren Blick wieder auf ihn richtete.

»Weißt du, ich glaube, jedes glückliche Mädchen behauptet in seiner Kindheit, dass es seinen Vater heiraten wird, wenn es groß ist. Einfach nur, weil niemand ihm das Wasser reichen kann. Er war immer für mich da und hat mich alles gelehrt, was er für wichtig erachtete. Wenn du wirklich weißt, wie diese Krankheit sich äußert, dann weißt du auch, dass unser Leben schon lange nicht mehr besonders einfach war. Ein Mädchen sollte sich nach der Schule einen Job suchen, tanzen gehen und Jungs kennen lernen.« Ihre Miene veränderte sich. »Weißt du, wie ich diese Jahre verbracht habe?«

Sie erwartete offensichtlich keine Antwort von ihm, denn sie fuhr gleich fort. »Ich verbrachte meine Tage damit, meinem Vater dabei zuzusehen, wie er zugrunde ging! Es begann schon, als ich noch zur Schule ging. Wenn ich mittags nach Hause kam, war er oft schon stundenlang unterwegs. Meistens war er wenigstens vernünftig angezogen, aber an einigen Tagen war der Drang in ihm so stark, dass er sich nicht einmal die Mühe machte, sich anzuziehen. Ich holte ihn in Pantoffeln und Bademantel nach Hause. An ein normales Leben war gar nicht zu denken.«

Sie machte eine kurze Pause, löste aber den Blick nicht von ihm. »Ich hörte auf, meine Freunde zu treffen. Ständig war da diese Angst in mir, dass ... Wie hätte ich Spaß haben können in dem Wissen, das mein Dad vielleicht ausgerechnet jetzt in den Wald geht und sich verirrt? Meine Freunde hatten Verständnis.« Sie verzog ihr Gesicht zu einem bitteren Lächeln.

»Am Anfang jedenfalls. In der ersten Zeit war ich nie allein, irgendjemand war immer bei mir, wenn es wieder darum ging, ihn zu suchen. Aber mit der Zeit wurde es immer weniger. Wir beendeten die Schule, und meine Freunde taten, was man halt so tut auf dem Weg zum Erwachsen werden. Sie gingen arbeiten. Einige von ihnen gründeten eine Familie, gingen auf Reisen. Und ich? ... ich lief spurenlesend durch den Wald und suchte meinen Vater. Willkommen in meinem Leben.«

Oh, er verstand. Wenn sie nur wüsste, wie sehr! Einem Instinkt folgend legte er den Kopf vorsichtig auf Aleynas Schoß ab, und augenblicklich vergrub sie ihr Gesicht in seinem Fell. Offenbar hatte sie sich an seinen Duft gewöhnt. Und wieder konnte er tief im Inneren spüren, wie die Trauer von ihr Besitz ergriff und auf ihn abfärbte. »Er hat auf der Terrasse gesessen, oft stundenlang. Und dann hat er in den Himmel gestarrt«, flüsterte sie in sein Fell. »Er sah so verloren aus, und ich konnte nichts tun. Ich war ein vollkommen hilfloser Teenager und musste dabei zusehen, wie mein Vater verwelkte wie eine Blume ohne Wasser.«

Er schluckte. »Er war in sich zerrissen. Das ist es, was diese Krankheit bewirkt. Er hat gespürt, dass er die Kontrolle über sein inneres Tier verliert.« Ihr Atem brannte heiß in seinem Nacken, während er erzählte. »In Rondaria wächst man mit dem Wissen auf, das dieses Tier untrennbar mit uns verbunden ist, wir nutzen es einfach, ohne darüber nachzudenken. Das ist wie ...«, er brach ab und suchte nach dem richtigen Wort.

»Atmen?«, fragte sie leise und er nickte.

Ja, so war es wohl. »Das Tier teilt sich mit dir eine Seele. Wenn du etwas als so selbstverständlich erachtest, dann ist das Schlimmste, was dir passieren kann, dass es dir entgleitet.«

»Kanntest du meinen Vater?«

»Nein.«

»Und warum warst du dann heute Morgen auf dem Friedhof?«

Palina hatte ihren Vater gekannt, aber er hütete sich, sie zu erwähnen - jetzt, wo sich Aleynas Verhältnis zu ihm gerade ein wenig zu entspannen schien. »Seitdem die Krankheit ausgebrochen ist, überprüft der innere Zirkel die Todesumstände in unserem Volk. Meine eigentliche Aufgabe wäre es gewesen, mir die Aura deines Vaters anzusehen.«

Sie hob den Kopf an. »Innerer Zirkel

»Der innere Zirkel dient dem Alphatier, also unserem Herrscher, in beratender und unterstützender Funktion. Einige Gestaltwandler besitzen besondere Fähigkeiten, und der Zirkel bildet sie aus.«

Sie kniff die Augen zusammen und schnaubte. »Also bist du das Schoßhündchen von Palina?« Ihre Stimme wurde abweisend und sofort spürte er die Veränderung ihrer Ausstrahlung.

»Ich bin niemandes Schoßhund! Der Zirkel ist vollkommen unabhängig!«, knurrte er unwillig und entzog ihr seinen Kopf. »In erster Linie bin ich ein Gestaltwandler. Wenn du es als einen Fehler betrachtest, dass ich versuche, mein Volk zu retten, dann habe ich mich offenbar in dir getäuscht!« Er erhob sich abrupt und funkelte sie an. »Dein Vater ist tot und das tut mir leid. Wirklich. Aber mein Volk stirbt auch!« Sie zuckte sichtbar zusammen bei seinen Worten. »Beantworte mir nur eins, Aleyna! Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, deinen Vater zu retten - hättest du es dann nicht versucht?«

Sie senkte betroffen den Kopf. »Natürlich hätte ich das ...«, flüsterte sie.

»Und warum bin ich dann ein Schoßhund, obwohl ich doch nichts anderes will?«, fragte er leise, schüttelte sein Fell aus und verließ das Wohnzimmer. In seinem Inneren jaulte das Tier auf, wollte ihn daran hindern, sie zu verlassen, aber es musste sein, sie musste Zeit zum Nachdenken haben.

Rondaria

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