Читать книгу THE CAVERN - Das Grauen aus der Tiefe - Alister Hodge - Страница 7
Kapitel 2
ОглавлениеEllie beugte sich über den Bildschirm des Bootssonars und ihr von Salz geküsstes Haar umspielte ihre Schultern, als sie die Darstellung des Riffs unter sich studierte. »Okay, ich glaube, wir sind an der richtigen Stelle. Anker los!«
Sam wuchtete daraufhin einen schweren, vierarmigen Stahlanker über den Bug. Er klatschte durch die Dünungswellen und verschwand in der Tiefe, eine Spur von Luftblasen hinter sich her ziehend. Augenblicke später spannte sich die Kette, als der Anker Halt fand und das Boot am Bug herumschwenkte. Da dies nun erledigt war, schlüpfte Sam an der kleinen Kajüte vorbei und betrat den hinteren Bereich, der mit zwei schmalen Sitzbänken ausgestattet war. Ihre Ausrüstung stapelte sich in der Mitte.
Mit dem Boot in stabiler Position verließ Ellie das Steuer und nahm hinten Platz, um ihre eigene Ausrüstung vorzubereiten. Sie trug einen langärmligen Taucheranzug, der den Blick auf ihren limettengrünen Bikini preisgab, bis sie den Reißverschluss bis oben hin hochzog. Dunkles, schokoladenbraunes Haar wehte leicht gelockt um ihre Schultern. Für den Tauchgang band sie es mit geübter Hand zusammen und flocht es anschließend zu einem langen Zopf, wobei sie ihm einen fragenden Blick zuwarf.
»Alles in Ordnung? Du kommst mir irgendwie ruhiger vor als sonst.«
»Sorry, hatte keine tolle Schicht heute Morgen«, sagte Sam, überrascht, dass sie ihn so leicht durchschaut hatte.
Ellie widmete ihm nun ihre volle Aufmerksamkeit. »Was ist denn passiert? Ist jemand gestorben?«
Sam nickte. »Ja, ein Kind.«
Als Rettungsassistent des Ambulanzdienstes von New South Wales war sein Team wie immer als Erstes an der Unfallstelle gewesen. Wenn er seine Augen schloss, konnte er immer noch den kleinen, toten Körper in dem riesigen Krankenhausbett sehen. Winzige, dünne Arme, blass und kraftlos. Die Augen trüb und blind, die Hornhaut bereits am Austrocknen.
»Ein Badeunfall. Das arme Kerlchen war erst fünf Jahre alt.«
Ellie hob vor Schreck eine Hand an ihren Mund.
»Sein älterer Bruder hat ihn gefunden, mit dem Gesicht nach unten im Familienpool. Der Junge hat sein Bestes getan, hat ihn rausgezogen und sofort mit den Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen, aber es war bereits zu spät.«
»Oh mein Gott, das ist ja furchtbar«, erwiderte Ellie. Sie beugte sich zu ihm und drückte seine Schulter. »Wie geht’s dir jetzt damit?«
Sam holte tief Luft und versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. »Schluss damit, ich will dich nicht auch noch belasten.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ich habe schließlich versprochen, mit dir Tauchen zu gehen, also legen wir los.«
»Bist du dir sicher?«
Dieses Mal war sein Lächeln echt. »Ja.«
»Okay.« Sie hob ein Paar Taucherflossen und reichte sie hinüber. »Wenn es ein Tauchziel gibt, das dich endlich restlos überzeugen wird, dann ist es dieses hier. Das Riff unter uns ist eines der besten rund um Sydney. Haufenweise Fische und wenn wir Glück haben, sehen wir vielleicht sogar ein paar Sandtigerhaie.« Ihre Augen strahlten, während ein begeistertes Lächeln ihr Gesicht erhellte.
»Fantastisch.« Er versuchte, etwas Begeisterung in seine Stimme zu legen.
»Sam, wir müssen das heute nicht machen. Angesichts der morgigen Höhlentour sollten wir wahrscheinlich sowieso lieber unsere Ausrüstung ein letztes Mal gründlich checken.«
Er schaute abrupt auf und merkte, wie sie ihn mit Sorgenfältchen in den Augenwinkeln musterte.
»Hey, ich habe nicht gesagt, dass ich das nicht machen will.«
Halb schmunzelnd sagte sie: »Es steht dir aber ins Gesicht geschrieben. Ich weiß, dass du einen schweren Tag hattest, aber jedes Mal, wenn du mit mir Tauchen gehst, ist es ziemlich offensichtlich, dass du es hasst unter Wasser zu sein.«
Sam verzog das Gesicht. »Das hast du gemerkt?«
Ellie biss sich auf die Unterlippe, als sie nickte.
»Okay, ich gebe es ja zu, ich bekomme immer Platzangst wie nur sonst was, wenn ich da unten bin«, seufzte er. »Ich weiß aber, dass es vollkommen unbegründet ist, also werde ich mich dieser dummen Angst so lange stellen, bis ich sie überwunden habe.«
»Warum die ganze Mühe, wenn’s dir sowieso keinen Spaß macht? Du musst mir nichts beweisen, erst recht nicht, nachdem ich dich klettern gesehen habe.« Ellie überprüfte noch einmal ihre Gasflasche und das Tragegeschirr, während sie sprach. »Um Himmels willen, letztes Wochenende hast du in neunzig Metern Höhe in der freien Luft herumgebaumelt, und das nur an zwei Fingern. Seil oder nicht, das würde ich mich nie im Leben trauen.«
Durch das Felsenklettern hatten sie sich vor vier Monaten überhaupt erst kennengelernt. Ellie war seiner Gruppe für eine Vorstiegs-Tour in den Blue Mountains beigetreten. Sam hatte sich von ihrem ansteckenden Lächeln sofort angezogen gefühlt und sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Seitdem verbrachten sie den Großteil ihrer freien Zeit miteinander. Er hatte schon bald festgestellt, dass Ellies ausgeprägter Sinn für Abenteuer sich nicht nur auf Felsenklettern beschränkte. Sie hatte außerdem ein Faible dafür, beim Höhlenwandern durch die Eingeweide der Erde zu kriechen. Ellie und ihr Bruder waren sogar zwei der besten Höhlentaucher des ganzen Bundesstaates.
»Es ist nicht nur die Platzangst. Ich weiß, du liebst das Tauchen über alles, deshalb möchte ich in der Lage sein, diese Seite an dir zu verstehen und ein paar dieser Erlebnisse mit dir teilen zu können.«
Ellie grinste. »Komm her, du Teddybär.« Sie beugte sich vor und küsste ihn. »Versuch’ einfach, dich zu entspannen und das Ganze zu genießen. Vergiss das Wasser und achte lieber auf die Schönheit um dich herum. Es ist immerhin eine komplette Welt, die die meisten Menschen niemals zu Gesicht bekommen.«
»Okay, ich versuch’s.«
Das Paar traf nun ihre letzten Vorbereitungen für den Tauchgang. Sie legten diverse Ausrüstungsteile an, bis sie schließlich mit Taucherflossen an den Füßen und Gasflaschen auf den Rücken am Rand des Boots saßen. Mit dem Atemregler locker zwischen die Zähne geklemmt, holte Sam noch mal tief Luft. Ellie gab ihm ein OK-Zeichen und nachdem er es erwidert hatte, ließ sie sich rückwärts ins Wasser fallen. Nach kurzem Zögern folgte Sam ihr.
Durch den Schock des kalten Wassers stockte ihm für einen Moment der Atem und er trat an der Oberfläche Wasser, bis er sich akklimatisiert hatte. Ellie dümpelte derweil geduldig neben ihm. Eine sanfte Dünung drückte Sam mit dem Rücken gegen das Boot.
»Alles okay?«
Sam nickte. Ellie schenkte ihm ein letztes Grinsen, bevor sie den Atemregler in den Mund nahm, abtauchte und unter der Wasseroberfläche verschwand. Sam atmete noch mal tief durch und folgte ihr.
Er blieb dicht hinter ihr, als sie auf den Grund zuhielt. Die Sicht war nicht die Beste, sie war auf etwa zehn Meter reduziert. Alles, was Sam sehen konnte, war leeres, dunkles Blau in alle Richtungen. Er konzentrierte sich wieder auf Ellie, die jetzt etwas Vorsprung gewonnen hatte und direkt auf das Riff zusteuerte, das nun langsam unter ihnen im Dunst zum Vorschein kam.
Sam achtete darauf, gleichmäßig mit den Flossen zu schlagen und ruhig zu atmen, um Luft zu sparen. Die Strömung war stärker, als er erwartet hatte, und zwang ihn dazu, immer fester zu treten, um auf Linie bleiben zu können.
Plötzlich schmetterte etwas gegen seinen Rücken, er verspürte einen festen Schlag gegen seine Flasche, was ihn mit der Kraft eines Rammbocks vorwärts katapultierte. Sein Atemregler rutschte aus seinem Mund.
Was zur Hölle war das denn gewesen?
Sein von Adrenalin durchströmtes Herz raste. War er gerade von einem Hai geschubst worden? Er stellte seine Schwimmbewegungen sofort ein und schwebte im Wasser, wobei er versuchte, in alle Richtungen gleichzeitig zu schauen. Bei dem Aufprall war etwas Wasser in seine Tauchermaske gelangt und füllte nun das untere Drittel. Er konnte deshalb weder Ellie, noch das Riff sehen und die Strömung hatte ihn vermutlich schon ein ganzes Stück weit weggetragen.
Er sah hinter sich, wieder zur Seite … nichts.
Dann entdeckte er plötzlich eine schnelle Bewegung … etwas Großes, Schwarzes.
Scheiße.
Sam wollte hinterherschwimmen, verlor den Schatten aber in der blauen Dunkelheit aus den Augen. Seine Brust brannte vor lauter Verlangen, zu atmen. Er angelte nach dem Schlauch des Atemreglers und zog ihn zu sich. Als er darauf biss und hektisch einatmete, inhalierte er allerdings versehentlich etwas Wasser und musste heftig husten.
Das Bild seines toten Patienten erschien jetzt vor seinem inneren Auge. Die weiße Haut, die schlaffen Muskeln, die trüben, leblosen Augen. Ertrunken. Beklemmung machte sich in ihm breit, als sich sein Atem unweigerlich beschleunigte. Er musste an die Oberfläche. Sofort!
Er trat so hart, wie er nur konnte, angetrieben von purer Furcht. Augenblicke später durchstieß sein Kopf die Oberfläche. Er spuckte den Regler aus und atmete hektisch ein und aus, bis der nächste Hustenanfall eintrat. Er sah sich hastig um, bis er endlich, vierzig Meter zu seiner Rechten, ihr Boot entdeckte. Unbeirrbar schwamm er darauf zu und bemühte sich dabei um geschmeidige Bewegungen, trotz seines Drangs, das Wasser so schnell wie möglich zu verlassen. Bei jedem Schlag wartete er darauf, dass sich rasiermesserscharfe Zähne in sein Bein gruben und ihn wieder in die Tiefe zogen.
Doch nichts geschah.
Als er das Bootsheck erreichte, streifte er die Flossen ab, warf sie über den Rand und kletterte hastig die Leiter hinauf. Er setzte seine Gasflaschen ab und ließ sich auf eine der Bänke sinken, wo er nach Luft schnappte und darauf wartete, dass seine Herzfrequenz wieder sank. Aus dem Augenwinkel konnte er jetzt eine Bewegung an der Wasseroberfläche seitlich des Bootes ausmachen.
Ein Strudel im Wasser.
Er stand auf und suchte die Oberfläche ab, denn die Sorge um Ellies Sicherheit stand nun an vorderster Stelle für ihn. Während er das Wasser absuchte, steckte ein Seehund den Kopf aus dem Nass und glänzende, schwarze Augen betrachteten ihn mit einem, wie Sam fand, schelmischen Ausdruck.
»Du freches, kleines Stück«, murmelte Sam, als ihm klar wurde, dass es vermutlich der Seehund gewesen war, der ihn spielerisch geschubst hatte.
Das laute Geräusch eines Atemreglers kündigte kurz darauf Ellies Erscheinen an der Wasseroberfläche an. Sie ließ das Atemgerät fallen, schob ihre Tauchermaske bis zu ihrer Stirn hoch und schaute Sam verwirrt an.
»Alles in Ordnung?«
Sam fühlte, wie Hitze in seine Wangen stieg, weil ihm nun klar war, dass er ganz umsonst in Panik geraten war. »Ja, ich hab’s geschafft, Wasser einzuatmen. Fühlte sich an, als müsste ich mir die Eingeweide raushusten.«
Ellie erklomm das Bootsheck und begann, ihre Ausrüstung abzulegen. »Heute ist offensichtlich nicht der richtige Tag für einen Tauchgang. Wie wär’s, wenn wir zurückfahren und gemütlich ein paar Bierchen trinken, bevor die anderen kommen?«
***
Mit einem Ellbogen auf die Bar gestützt, warf Sam den Kopf zurück und leerte den letzten Rest seines Glases. Er spülte das Bier in seinem Mund umher, bevor er hinunterschluckte, und stellte das leere Glas dann auf einen Bierdeckel. Ellie hatte gerade eine Textnachricht bekommen, dass die Leute, die sie treffen wollten, nun angekommen waren, und war losgegangen, um sie zu suchen.
»Willst du noch eines?«, fragte der Barmann.
Sam zählte die Gläser zusammen, die er bereits vernichtet hatte, seit sie den Pub betreten hatten. Die Drinks verschwanden heute noch schneller als üblich.
»Ja klar, warum nicht.«
Sam reichte seine Kreditkarte rüber, als zwei Pacific-Ale-Flaschen vor ihm auftauchten.
Eine leichte Hand landete auf seiner Schulter. »Wir haben einen Tisch drüben in der Ecke. Komm mit, ich stelle dir die Gang vor«, sagte Ellie lächelnd.
Sie wartete, bis er von seinem Barhocker gerutscht war, ging voraus und schlängelte sich durch die Menschenmenge bis zu einer Sitzecke am anderen Ende des Pubs. Zwei Kerle und eine Frau saßen um den Tisch herum. Einer der Männer hatte einen ähnlichen Teint und fast die gleiche Gesichtsform wie Ellie und Sam vermutete deshalb, dass dies ihr Bruder war.
»Das ist mein Freund Sam«, sagte Ellie.
Sam war überrascht, weil sie diesen Titel zum allerersten Mal verwendete und ihn dann auch noch so betonte. Er sah sie mit fragend erhobener Augenbraue und einem halben Lächeln von der Seite an. Ellie grinste zurück und zuckte mit den Schultern. Dann wandte sie sich wieder den Leuten am Tisch zu. »Sam ist Rettungsassistent und da wir es hier mit einer komplett unerforschten Höhle zu tun haben, hielt ich medizinische Unterstützung für eine gute Idee.« Sie stellte ihm nun alle Anwesenden vor, angefangen bei dem rothaarigen Mann, der so viele Sommersprossen hatte, dass sie beinahe zu einer einzigen Masse verschmolzen. »Das ist Aaron, er hat mir so ziemlich alles beigebracht, was ich weiß.«
Aaron nickte. »Jup, sie schuldet mir echt was.«
Ellie verdrehte die Augen. »Auf die Gefahr hin, sein sowieso schon überdimensioniertes Ego zum Platzen zu bringen, muss ich sagen, dass er wirklich eine gewaltige Menge an Erfahrung mitbringt. Es gibt in Australien kaum jemanden, der so viele Höhlen erforscht hat oder ihm im Höhlentauchen das Wasser reichen kann. Als Nächstes wäre da mein Bruder, Max.«
Sam beugte sich vor, um die angebotene Hand zu schütteln, und musste sich beherrschen, nicht das Gesicht zu verziehen, als seine Hand dabei fast zerquetscht wurde. Max hielt seinem Blick ausdruckslos stand, bevor er sich wieder auf seinem Stuhl niederließ.
»Max scheint zu denken, dass er meine Beziehungen absegnen darf, aber da er mein kleiner Bruder ist, wird er seine Meinung schön für sich behalten«, sagte Ellie und warf ihm einen strengen Blick zu.
Sam betrachtete Max, während der seine Schwester ansah. So klein kam er ihm gar nicht vor. Er war gebaut wie ein Rugby-Stürmer, hatte ein enorm breites Kreuz und Sam wäre nicht überrascht gewesen, wenn Max mehr als eins-achtzig groß war.
»Max unterrichtet die sechste Klasse an der hiesigen Schule, aber er weiß genug, um sich unter der Erde nützlich zu machen. Zu guter Letzt hätten wir noch Frida. Wir arbeiten zusammen an der Uni und sie ist eine angesehene Biologin mit Schwerpunkt Höhlen-Ökosysteme.«
»Nicht halb so angesehen wie Ellie unter den Geologen«, erwiderte Frida mit einem schüchternen Lächeln. Sie gab ihm einen warmen, festen Händedruck. »Schön, dass du mit dabei bist, Sam.«
»Man weiß schließlich nie, was für eine Scheiße auf einen in einem neuen Höhlensystem zukommt, da ist es durchaus beruhigend, einen ausgebildeten Sani zur Hand zur haben«, meinte Aaron. Kurz danach zog er eine Landkarte aus seinem Rucksack, schob ein paar Gläser beiseite und breitete die Karte auf dem Tisch aus.
»Nun, da die Vorstellungsrunde vorbei ist, können wir doch direkt loslegen, oder nicht?«
Ellie und Sam zogen Stühle heran und nahmen ebenfalls Platz. Die Karte zeigte die Umgebung eines Ortes namens Pintalba im Westen von New South Wales. Mit einem roten Marker machte Aaron ein kleines Kreuz, etwa fünfzehn Kilometer südwestlich des Stadtzentrums.
»An dieser Stelle befindet sich unsere Höhle, unter einer privaten Schaffarm, die einem Kerl namens Shane Anastas gehört. Das System ist komplett unberührt, unerforscht von …«
»Ich dachte, ein Pärchen wäre letzten Monat reingegangen?«, warf Frida ein.
Ellie, Max und Aaron warfen ihr ernste Blicke zu.
»Wir wissen nicht genau, was mit diesen Leuten passiert ist. Offiziell gelten sie als vermisst«, sagte Aaron. »Anastas hat zwar bestätigt, dass sie ihn für den Zugang zu seinem Land und der Höhle bezahlt haben, aber es gab an der Stelle nicht die geringste Spur von ihrem Equipment. Im Bericht der örtlichen Polizei hieß es, dass es auch keine Hinweise darauf gab, dass sie jemals da waren.«
»Sie sind extra nach Pintalba gefahren, um die Höhle zu erforschen, und haben sich dann plötzlich in Luft aufgelöst? Das kommt mir aber sehr suspekt vor«, meinte Frida.
»Willst du nun mitkommen oder nicht?«, murmelte Aaron, dem gerade eindeutig die Geduld ausging. »Wir haben hier die einmalige Gelegenheit, als Erste dieses neue System zu erkunden. Falls wir da unten Beweise finden, die es widerlegen, habe ich nichts dagegen, aus unserem Trip eine Bergungsaktion zu machen. Doch weiß Gott, so lange hält es da unten niemand lebend aus.« Er seufzte. »Können wir jetzt wieder zurück zum Thema kommen?«
Frida presste ihre Lippen aufeinander, nickte aber und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
Aaron rieb sich kurz die Augen und tippte dann mit seinem Zeigefinger auf das rote Kreuz. »Unser Farmer hat die Doline beim Schafehüten entdeckt. Der arme Kerl ist wohl beinahe mit dem Motorrad reingefahren und konnte gerade noch anhalten, als er gesehen hat, wie eines seiner Schafe von jetzt auf gleich vom Erdboden verschluckt wurde.«
»Da haben wir ja noch mal Glück gehabt, was?«, sagte Ellie grinsend.
»Kannst du laut sagen. Als er sah, wie tief das Loch ist und dass womöglich ein Tunnel davon abgeht, hat er die Drohne seines Sohnes runtergeschickt und die hat gezeigt, dass tatsächlich die Decke eines kompletten Höhlensystems eingestürzt ist.« Er sah wieder auf. »Ellie, du bist die Geologie-Expertin unter uns, was glaubst du, womit wir es hier zu tun haben?«
»Dieser Teil des Landes lag vor hundertvierzig Millionen Jahren unter einem Binnenmeer, wobei sich Sedimente und Schichten von zahllosen mikroskopischen Pflanzen und Tieren dort angesammelt haben. Daraus ergibt sich eine Mischung aus Sandstein- und Kalksteingebieten, wir könnten dort unten also beides finden. Pintalba war außerdem mal für seine Opale bekannt, richtig, Aaron?«
»Ja, aber nach allem, was ich online zu diesem Thema finden konnte, ist diese Industrie vor über vierzig Jahren aus irgendeinem Grund den Bach runtergegangen. Jetzt ist es nichts weiter als ein vergreisendes Städtchen umgeben von unwirtschaftlichen Farmen. Die Haupteinnahmequelle sind offenbar Touristen, die mit ihren Wohnwagen durchfahren. Ziemlich traurig eigentlich.«
»Na, jedenfalls wird es laut Ellie höchstwahrscheinlich trocken dort unten sein, aber es besteht dennoch die Möglichkeit, auf mit Wasser gefüllte Passagen zu treffen. Aus diesem Grund werden wir auch unsere Tauchausrüstungen mitnehmen.« Aaron sah zu Sam hinüber. »Da du neu auf diesem Gebiet bist und deshalb wahrscheinlich keine eigenen Gerätschaften hast, habe ich was für dich mitgebracht.«
Sam spürte einen Hauch von Beklemmung bei dem Gedanken an das unterirdische Tauchen. Das war nicht Teil der Abmachung gewesen. »Äh, okay, aber ich glaube, ich bleibe an diesen Stellen lieber als medizinische Rückendeckung. Falls wir solche Stellen finden, meine ich.«
Aaron zuckte mit den Schultern. »Du kannst aber doch tauchen, oder?«
Sam nickte.
»Gut, das ist die Hauptsache. Niemand wird dich zu irgendwas zwingen, aber falls es mal ernst werden sollte, bist du besser vorbereitet.« Aaron wandte sich wieder an Ellie. »Hattest du Glück mit den Vermessungsgeräten von der Uni?«
»Ja.« Ellie holte ihr Smartphone hervor, um ihnen ein Bild zu zeigen. Darauf sah man ein Lasergerät, einen Akku und einen Laptop. »Ich stelle vor: Zebedee, das mobile Kartierungssystem. Dieses Baby wird uns so viel Zeit sparen.«
Max betrachtete das Foto und sah mit leicht verwirrter Miene hoch. »Wo ist der Rest davon? Ich dachte, diese Dinger wären gigantisch.«
»Das waren sie einmal. Dieser hier ist klein genug zum Herumtragen und wird die gesamte Höhle vermessen, während wir unterwegs sind.«
Aaron gab ein leises Pfeifen von sich. »Mann-o-mann, das Ding hat bestimmt eine schöne Stange Geld gekostet.«
»Noch einiges mehr«, sagte Ellie mit einem verkniffenen Gesicht. »Das hat mich so ziemlich jeden Gefallen gekostet, der noch irgendwo ausstand. Falls wir das Gerät verlieren oder kaputtmachen, werde ich wohl nie wieder zur Uni gehen können. Aber das ist es trotzdem wert. Wenn wir durch sind, wird uns der Zebedee ein dreidimensionales Bild und die genauen Maße der Höhlen liefern können.«
Sam wandte sich nun an Frida. »Ich habe Erste-Hilfe-Material für alle üblichen Verletzungen, aber ich habe gar nicht an die Behandlung von Vergiftungen gedacht. Du bist doch Biologin, stimmt’s? Gibt’s da unten irgendwas, weswegen ich mir Sorgen machen müsste?«
Fridas Augen erstrahlten, sobald es um ihr Spezialgebiet ging. »Ökosysteme in Höhlen variieren natürlich enorm, aber für gewöhnlich begegnet man dort einigen Spinnen, Schlangen und diversen Insektenpopulationen. Da dies ein vollkommen unberührtes Biotop ist, wer weiß, vielleicht entdecken wir sogar eine ganz neue Spezies dort unten.«
»Wirklich?«, fragte Sam skeptisch. »Ich dachte, dass so ziemlich jedes Tier bereits entdeckt worden ist.«
»Erst vor ein paar Jahren wurden über dreißig neue Spezies in einem kroatischen Höhlensystem entdeckt. Zugegebenermaßen waren es nur Insekten, aber trotzdem – das ist ziemlich cool.«
»Die waren nicht zufällig von der bissigen Variante, oder?«, fragte Sam beunruhigt.
»Das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht.«
»Okay. Ich habe Druckverbände, Antihistaminika und Adrenalin, das sollte reichen. Mit ein bisschen Glück werden wir das alles aber gar nicht brauchen.«
Sam lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nippte an seinem Bier. Alles ging nun ziemlich schnell vonstatten. Ellie hatte ihm erst letzte Woche von dem Trip erzählt und er hatte Glück gehabt, ein paar Tage freinehmen zu können. Damit sich andere Forscher mit mehr Geld nicht beim Farmer vordrängelten, hatten Ellie und Aaron ihr Bestes gegeben, um die Aktion einigermaßen geheimzuhalten. Wie Sam langsam feststellen musste, konnte Caving offenbar zu einem richtigen Wettbewerb ausarten. Er war immer noch neugierig, wie sie überhaupt davon erfahren hatten.
»Hey, Aaron, wie hast du eigentlich Wind von der ganzen Sache bekommen?«
Aaron verzog das Gesicht. »Das war wahrscheinlich nicht mein stolzester Moment. Es ging durch die üblichen bürokratischen Kanäle. Normalerweise gibt es eine Warteschlange von Cavern, die sich den Papierkrieg geben, um die ganzen Genehmigungen zu erhalten, aber ich habe die Vorschriften weiträumig umgangen und dem Farmer sofort ein Angebot gemacht, das er einfach nicht ausschlagen konnte.«
»Dem Himmel sei Dank, dass Aaron mit ‘nem Silberlöffel im Mund zur Welt gekommen ist und immer etwas Geld rumliegen hat«, spottete Max.
»Hey, von euch hat sich doch wohl bisher noch keiner beschwert. So oder so, morgen geht’s los, und ich zumindest kann’s kaum noch erwarten.« Aaron sah auf seine Uhr. »Scheiße. Wir sollten jetzt besser mal die Kurve kratzen, wenn wir um fünf loswollen.«
Sam nahm noch einen Schluck Bier und beschloss, den Rest stehen zu lassen. Wenn er so früh aufstehen musste, wollte er keinen Kater haben. Nach einer kurzen Diskussion, wo sie sich am Morgen treffen wollten, löste sich die Gruppe auf, um noch ein wenig Schlaf zu finden.