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Verwirrung

„Merle, hast du schon einen Termin bei deinem Psychotherapeuten?“ fragt mich Max.

„Nein, ich bekomme noch Antwort. Es wird wohl wahrscheinlich eher eine kurzfristige Sache werden. Die Fragen jedoch habe ich heute bereits zu ihm gemailt, wegen der Vorbereitung.“

„Alles klar. Du denkst mit. Gibst du mir dann Bescheid? Sag mal, geht es dir heute nicht so gut? Du siehst schlecht aus – entschuldige, wenn ich das so sage. Gestern warst du auch schon so zerfahren, ich musste einiges an deinen Pressemitteilungen nacharbeiten, was ich ja nun gar nicht von dir gewohnt bin“, stellt Max fest.

„Ich bin schon in Ordnung, schlafe im Moment nur schlecht. Liegt vielleicht am Vollmond.“

Max geht. Dieses Mal ohne Kommentar. Das ist ungewöhnlich für ihn.

Und mir ist das Ganze peinlich.

Es ist kein Wunder, dass ich so daneben bin. Ich muss ständig an Nina denken. Sie geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Vielleicht könnte ich Herrn Peterson um Rat fragen…

Aber ich muss mich auch mit mir beschäftigen, ob ich das will oder nicht. Irgendetwas stimmt ebenso mit mir nicht, auch wenn ich das eigentlich nicht wahrhaben will. Wie war das in der Suchtklinik? „Mit Ihrer Sucht nur etwas überdeckt…ein ganz anderes psychisches Problem…“, von dem ich damals ja gar nichts hören wollte. Aber eigentlich wollte ich jetzt auch nicht daran denken. In mir herrscht riesiges Chaos und ich weiß nicht, wie ich es bewältigen soll.

Nina ist in meine Arbeitswelt gerutscht – sie hat hier nichts zu suchen.

Ich ziehe mich in die Raucherecke mit Kaffee und Zigarette zurück. Es wird eine lange Pause mit vier Zigaretten und drei Kaffees. Ich musste nachdenken…und komme zu keinem Ergebnis.

Paula reißt mich aus meinen Gedanken: „Merle, Telefon für dich. Eine Frau Doktor Delling will dich sprechen. Ist wichtig.“

Ich kenne keine Frau Doktor Delling.

„Leonardt“, melde ich mich.

„Guten Tag, Frau Leonardt.“ Eine sehr nette Stimme empfängt mich am Telefon.

„Sie sind die Freundin von Nina Harbig?“ Ich stehe wie steif da und kann nicht klar denken.

„Ja, ich kenne sie …“

„Gut. Ich bin ihre behandelnde Ärztin und soll Sie informieren, dass sie hier im Klinikum liegt. Sie ist eingewiesen worden. Sie möchte, dass Sie sie besuchen. Und ich möchte mich gern mit Ihnen unterhalten. Passt es Ihnen heute um vierzehn Uhr? Es ist die Psychiatrische Station Eins.“

„Ja, aber…aber wieso kommen Sie auf mich?“ frage ich stotternd.

„Frau Harbig hat Sie als Angehörigen angegeben. Sie sind doch ihre Freundin?“

„Was ist denn passiert?“

„Das möchte ich dann gern hier mit Ihnen persönlich besprechen und nicht unbedingt am Telefon.“

„Ja, ist gut, ich werde da sein“, sage ich so ziemlich hilflos.

„Bis dahin, Frau Leonardt.“

„Auf Wiederhören, Frau Doktor Delling.“

Langsam lasse ich mich auf meinen Bürostuhl nieder, denn ich hatte während des Telefongespräches gestanden. Gerade jetzt, in diesem Moment, verstehe ich die ganze Welt nicht mehr.

Paula schaut mich erschrocken an.

„Oh mein Gott, was ist denn passiert, Merle? Kann ich etwas für dich tun?“

Zum Sprechen komme ich nicht. So schüttle ich nur mit dem Kopf.

Was sollte das Ganze? Ich kann es mir nicht erklären.

Mein Kopf fährt Karussell.

Bis zwei sind es noch zwei Stunden.

Ich muss hier raus! Ich sage Paula Bescheid, packe meine Sachen zusammen und gehe zu Emilio ins Café. Ich muss mich wieder fangen, um klar denken zu können.

Noch bevor Emilio etwas sagen kann, bestelle ich schon bei ihm.

„Ciao Bella, du nicht gut aussehen.“

Ja, das weiß ich. Deshalb bin ich ja hier, um mich abzulenken.

Mein Kaffee steht vor mir, meine Zigarette ist an, nachdem mich Emilio noch einmal sorgenvoll angesehen hat. Ich schaue zu den Leuten, die vor dem Café vorbei gehen. Ich versuche, mir ihre Gesichter und Kleidung einzuprägen. Die Frau dort hat schöne blonde, kurze Haare. Ihre vollen Lippen sind rot geschminkt. Sie hat ein strahlendes Lächeln und trägt ein khakifarbenes Kleid, welches sehr gut zu ihrer Figur passt… Und erfinde Geschichten zu diesen Menschen. So eilig, wie diese Frau vorbeihastet, hat sie bestimmt nur eine Mittagspause Zeit und ist auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für ihren Mann…oder für ihr Kind…

Langsam, ganz langsam werde ich ruhiger und klarer. Meine Zigarette zittert nicht mehr zwischen meinen Fingern. Gut so, so soll es sein.

Ich sitze Frau Doktor Delling gegenüber. Hier auf Station zu kommen war nicht ganz so einfach. Man musste an der Stationstür klingeln, seinen Namen nennen und zu wem man möchte, wartete dann einen Moment, ehe sich die Stationstür mit einem Summen öffnete. Dann stand man für einen Augenblick in einem Glaskasten und wartete wieder. Diesmal auf eine Schwester.

„Guten Tag, Frau Leonardt, Sie werden von Frau Doktor Delling schon erwartet. Sie sollten erst mit ihr sprechen, bevor Sie Frau Harbig besuchen. Kommen Sie“, hatte die Schwester gesagt, die laut Namensschild Andrea heißt.

Nun sitze ich also im Arztzimmer, vor dem Schreibtisch von Frau Doktor Delling.

Sie ist groß und sehr schlank und trägt einen weißen Kittel. Ihre grauen Haare hat sie zu einem Zopf zusammengebunden. Ihre dunklen Augen schauen gütig und ihr Gesicht ist entspannt. Eben noch hatte sie einen Schluck Kaffee aus einer Tasse getrunken und sich dafür bei mir entschuldigt. Nach Kaffee wäre mir jetzt auch gewesen…

Das Zimmer ist nicht sehr groß. So wirkt man nicht allzu verloren, wenn man einmal hier saß. Neben mir steht noch ein Stuhl und links hinter mir in der Ecke befindet sich auch noch einer.

Auf dem Fensterbrett steht eine Unmenge an grünen Pflanzen. Auch in dem Regal an der rechten Wand. Ein riesiges farbiges Bild hängt an der linken Wand. Ein Druck von Kandinsky.

Nach einem Arztzimmer sieht es hier wirklich nicht aus.

„Frau Harbig wurde gestern Nacht eingewiesen. Sie selbst hatte den Notarzt informiert. Nach einem Suizidversuch mit Schlaftabletten und Tranquilizern, der glücklicherweise auch diesmal nicht gelang…“

„Wie, auch diesmal nicht…?“

„Wie lange kennen Sie Frau Harbig? Sie hatte es schon öfters probiert, je nach dem in welcher Phase ihr Krankheitszustand sich gerade befindet. Im Moment ist sie wieder sehr labil. Deshalb haben wir sie auch hier zunächst unter besonderem Schutz einer geschlossenen Station eingewiesen. Wissen Sie, was den Suizidversuch ausgelöst haben könnte? Gab es einen konkreten Anlass? Immerhin ist sind Sie ja ihre Partnerin.“

„Moment, Frau Doktor Delling. Hat Ihnen Frau Harbig das so erzählt?“

„Ja“, antwortete sie verwundert. „Oder gibt es ein Missverständnis? Sie hat Sie als ihre Angehörige, Lebenspartnerin angegeben.“

„Ja, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich bin nicht ihre Partnerin. Ich kenne sie noch nicht so lange. Aber ich weiß, dass sich ihre Eltern, die hier vielleicht hilfreich wären, nicht um sie kümmern. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie davon wissen. Und ich weiß, dass sie an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet. Und vor drei Tagen hat sie sich massiv selbst verletzt und mich dafür verantwortlich gemacht. Kann es auch sein, dass sie es mit Absicht getan hat, ich meine das mit den Schlaftabletten?“

„Das ist nicht auszuschließen. Dann ist es wahrscheinlich ein Hilferuf. Bisher konnte entweder sie oder jemand in ihrer Umgebung noch immer einen Arzt rufen. Das ist nichts Ungewöhnliches bei ihrem Krankheitsbild. An ihre Eltern ist ganz schwer heranzukommen. Sie nehmen die Krankheit ihrer Tochter nicht ernst und waren noch nie bereit, ein Gespräch mit der Klinik zu führen. Sie haben letztendlich ihre Tochter sich selbst überlassen. Deshalb war ich so froh, dass sie nun endlich einmal jemand anderen unter der Rubrik ‚Angehörige’ angeben konnte.“

Ich schweige. Ich muss für Nina wichtig sein, wenn sich mich für das ausgab, obwohl wir uns letztendlich erst seit kurzem kennen.

„Ich habe gestern Nacht eine Mail von ihr erhalten. Ich habe sie ausgedruckt, weil ich eigentlich mit Nina darüber reden wollte und habe sie zufälliger Weise mit. Die möchte ich Ihnen gern zeigen, weil ich jetzt unschlüssig bin, ob ich ein Warnsignal übersehen habe.“

Ich gebe Frau Doktor Delling den Brief.

Während sie liest, beobachte ich ihr Gesicht. Es zeigt keine Regung. Ich dagegen bin plötzlich angespannt. ‚Wenn ich nun Mitschuld trage an diesem Geschehen, weil ich nicht reagiert habe?’, meine Gedanken. Unruhig rutsche ich auf dem Stuhl hin und her:

„In den Momenten, in denen es erscheint, dass alles ergraut, spüre ich den Phönix in mir, der aus der Asche sich erhebt. Hoch zum Himmel wird er fliegen und erleuchten und die Strahlen des Leuchtens bergen positive Energie in sich, die fließt von einem Punkt zum anderem…dieser Tag und die imaginären Welten haben mich das Kotzen gelehrt und ich habe Schmerzen und ich bat Gott Tavor um Hilfe, damit ich entgleite in eine Welt ohne Traum…doch ich möchte Dir begegnen mit sauberen Antlitz, ohne Scham…heute und jetzt hasse ich mich zu tief…kannst Du kommen zu mir?“

Als sie mit dem Lesen fertig ist, sage ich: „Diese Mail las ich erst morgens drei Uhr. Ich habe nicht geantwortet und mir nichts weiter dabei gedacht. Also jedenfalls nicht soweit, dass sie sich umbringen könnte. Vielleicht an ein kleines Machtspiel.“

„Frau Leonardt, Sie müssen wissen, dass Sie das nicht hätten verhindern können. Frau Harbig hat ganz einfach versucht, Sie zu manipulieren. Sie unter Druck zu setzen. Genau jetzt hat sie erreicht, was sie wollte: Sie habe Schuldgefühle und möchten am liebsten alles verzeihen, weil sie ja erkrankt ist. Aber genau das ist ihre Krankheit – das heißt, so äußert sie sich auch.“

„Wie kann ich ihr jetzt helfen?“

„Sie wollen ihr helfen, Frau Leonardt, obwohl sie Ihnen die Schuld für ihre Selbstverletzung und für den Suizidversuch gibt und Sie sie kaum kennen, wie Sie sagen?“

„Ich weiß, dass ich dafür, also für die Selbstverletzung nicht verantwortlich bin. Im Grunde weiß Nina, also Frau Harbig, das auch. Dessen bin ich mir sicher. Was es mit dem Suizidversuch auf sich hat, das kann ich nicht einordnen.“

„Seien Sie sich da nicht so sicher… in ihren Augen haben Sie etwas getan, mit dem sie nicht umgehen konnte, außer sich selbst zu zerstören. Wie gut kennen Sie das Krankheitsbild?“

„Ein wenig. Ich habe neulich eine Reportage dazu geschrieben und viel recherchiert und mit den verschiedensten Menschen gesprochen. Ich bin Journalistin…“

„Ach, dann war die Reportage im ‚Tageblatt’ von Ihnen? Die ist wirklich gut gelungen. Sehr verständlich für die Allgemeinheit.“

„Ja, danke, das war auch mein Ziel gewesen. Hätte ich aber gewusst, dass ich Frau Harbig begegne, hätte ich mir noch mehr Zeit genommen. Allerdings haben wir ja die Möglichkeit einer Fortsetzung, da bei den Lesern viele Fragen offen geblieben sind.“

„Beantworten Sie diese allein?“

„Nein, natürlich nicht. Ein Psychotherapeut leistet diese Arbeit. In mir entstehen nun selbst auch Fragen. Zum Beispiel: wie gehen Angehörige, Freunde, Bekannte von Betroffenen mit diesem doch sehr schwierigen Thema um, ohne sich selbst zu verlieren?“

„Darüber können wir uns in einem weiteren Gespräch unterhalten, wenn Sie mögen. Heute ist meine Zeit leider sehr begrenzt.“

„Was kann ich jetzt für Nina tun?“

„Ja, was können Sie jetzt für Frau Harbig tun? Seien Sie einfach da, solange sie sich noch in dieser Krise befindet. Machen Sie deutliche, klare Ansagen. Also lassen Sie sich zu nichts hinreißen, was Sie selbst nicht vor sich verantworten können. Ganz wichtig: Sie müssen bei sich selbst bleiben.“

„Wie meinen Sie das?“

„Schauen Sie für sich, wie weit Sie gehen können. Frau Harbig wird alles tun, um Sie an sich zu binden. Dieses Verhalten ist bei ihr sehr ausgeprägt.“

„Kann ich sie jetzt besuchen?“

„Ja, das können Sie. Seien Sie aber nicht erschrocken. Sie wird apathisch wirken. Wir mussten sie sedieren. Wir setzen dieses Medikament schrittweise ab und stellen sie auf neue Präparate um.“

„Sie nimmt Medikamente?“

„Ja, wie hatten sie auf Antidepressiva, Neuroleptika und ein Mittel gegen Spannungszustände eingestellt. Augenscheinlich versehen sie nicht mehr ihren Dienst in unserem Sinne. Hier in der Klinik können wir sie jetzt jedoch optimal einstellen.“

Frau Doktor Delling begleitet mich noch bis zu dem Zimmer, in dem Nina liegt.

Wir verabschieden uns.

Sie sagt: „Wenn Sie Fragen haben, dann können wir einen neuen Termin vereinbaren. Ich behandle Sie jetzt so, wie Sie Frau Harbig uns angegeben hat: als ihre Angehörige. Auf ihre Familie kann sie nicht zählen, das wissen wir bereits. Auf Wiedersehen, Frau Leonardt.“

„Auf Wiedersehen, Frau Doktor Delling und Dankeschön für Ihr Vertrauen.“

„Oh, für das Vertrauen müssen Sie schon Frau Harbig danken.“

Leise klopfe ich an die Tür und lausche, ob ich ein „Herein“ höre. Aber alles bleibt still. Vorsichtig drücke ich die Türklinke herunter und betrete ein Zweibettzimmer. Das linke Bett ist leer und in dem rechten liegt Nina.

Ich gehe auf sie zu. Sie scheint zu schlafen. Nina sieht erschöpft aus. Ihre verbundenen Arme liegen auf der Bettdecke. Ich hole mir einen Stuhl und stelle ihn ebenso leise vor das Bett. Behutsam nehme ich ihre rechte Hand. Auch wenn ich unschlüssig bin, ob es richtig ist, was ich mache.

Nina schlägt die Augen auf. „Merle“, sagt sie leise und versucht, sich aufzurichten.

„Hallo Nina, bleib liegen. Es ist wohl zu anstrengend.“

„Das ist schön, dass du gekommen bist. Bleibst du jetzt hier?“

Ihre schwache Stimme ist gefüllt mit so viel Hoffnung.

„Ich bin gekommen, um dich zu besuchen, Nina. Und ich kann nicht lange bleiben. Deine Ärztin hat mir alles erzählt.“

„Es tut mir leid, aber mir ging es nicht gut…“

„Schon gut, Nina. Jetzt musst du erst einmal stabil werden. Das ist das allerwichtigste. Dann kann man Schritt für Schritt weiter sehen, was wird.“

„Ich will, dass du hier bei mir bleibst, Merle“, und Ninas Augen füllen sich mit Tränen.

„Nina, du weißt, dass das nicht geht. Aber ich kann dich besuchen.“

Nina weint. Während sie weint, schläft sie wieder ein.

Noch eine ganze Weile sitze ich da und bewache ihren Schlaf. Und noch immer halte ich ihre Hand. Sie sieht so zerbrechlich aus. Vorsichtig lasse ich sie los.

Aus meiner Tasche hole ich Zettel und Stift.

„Liebe Nina, ich komme dich wieder besuchen. Ich denke an dich. Merle.“

Diesen Zettel lege ich auf ihren Nachtschrank. So leise wie ich ins Zimmer gekommen bin, genauso leise verlasse ich es auch wieder. Ich fühle mich nicht gut dabei. Weil ich gehe, während sie schläft. Aber ich habe keine Kraft mehr, noch einmal ihr Weinen zu ertragen.

Der Tag war heute ein wenig viel für mich.

Abends in der Bar begegne ich Florian. Wir kennen uns oberflächlich durch eine Redaktionsparty im Winter. Er kommt an meinen Tisch. Eigentlich habe ich keinen Bedarf nach tiefgreifenden Gesprächen.

„Was trinkst du?“ fragt er.

„Bier“, antworte ich. Mein Glas ist gerade leer.

Er bestellt mir eins und sich eines mit.

„Was macht eine so schöne Frau wie du allein an so einem Ort?“

Oh Gott, das hat mir jetzt gerade noch gefehlt.

„Na was wohl. Das siehst du doch.“

Oberflächliche Konversation.

Florian redet und redet. Ich rede kaum. Ein Lachen hier und ein gespielt erstauntes: „Wirklich?“ da. (Es ist wie eine Kaugummiszene, die mehr und mehr gedehnt wird.)

„Zu dir?“ frage ich plötzlich in sein Gerede hinein.

„Wie?“

„Was, wie?“

Ich will raus aus der Bar und vergessen.

Florian bezahlt und hat es plötzlich sehr eilig, mit mir zu sich nach Hause zu kommen. Schon im Flur reißen wir uns gegenseitig die Klamotten vom Leib. Wir landen im Bett. Im Ehebett. Es wird wie immer: ich schaue mir von oben zu. Und es ekelt mich an, was die da unter mir treiben. Er ist voll und ganz dabei.

Das Spiel dauert nicht lange. Schweigend sitzen wir im Bett und rauchen. Florian hat noch eine Bierflasche geöffnet, aus der wir jetzt gemeinsam trinken.

„Mensch, ich bin verheiratet…“

„Ja, ich weiß. Und?“

„Sag das bloß nicht meiner Frau“, bittet Florian.

„Das liegt mir fern.“

„Es war schön mit dir. Wir können das ja bei Gelegenheit mal wiederholen.“

Ich antworte nicht darauf. ‚Mit Sicherheit nicht’, denke ich.

Ich ziehe mich an, nehme meine Tasche und meine Jacke und ziehe die Tür hinter mir ins Schloss.

Ich brauche Stunden bis nach Hause. Ich versuche, diesen Nachtgeruch loszuwerden. Ich laufe ihm davon. Aber er bleibt weiter an mir haften. Egal, wie schnell ich laufe. Es gibt kein Entkommen. Hilflos bin ich ihm ausgeliefert.

Die Dusche, mit deren Hoffnung ich versuche, wieder sauber zu werden. Das Duschbad, das nicht hält, was es verspricht. Ich ekle mich an.

Plötzlich sehe ich meine eigenen vernarbten Arme.

Ich schreie ein lautes „Nein“…und bleibe in der Ecke sitzen, bis mir kalt wird. Ich kann nicht weinen, obwohl mir danach ist.

Das Mädchen saß im Zimmer und schrieb. Zwei ihrer Brüder stritten sich laut. Nebenan schlief der Vater. Wie jeden Nachmittag. Das Mädchen bedeutete ihren Brüdern, leise zu sein. Der Vater war unberechenbar in seinen Wutausbrüchen, wenn er sich gestört fühlte. Plötzlich stürmte der Vater ins Zimmer, nahm einen der Jungen an den Beinen nach oben hoch und stieß ihn mit dem Kopf auf den Fußboden auf. Immer wieder. Und immer wieder.

Das Mädchen konnte vor Schreck nichts sagen. Auch der andere Bruder war stumm. Dann sprang das Mädchen auf und schrie den Vater an, dass er damit aufhören solle.

Die Mutter kam ins Zimmer. Nun schrien die Mutter und der Vater das Mädchen an. Was ihm wohl einfiele. Ob sie die nächste sein wolle. Aber der Vater hatte endlich den Jungen losgelassen und ihn auf den Boden fallen lassen.

Das Mädchen ging aus dem Zimmer. Es hatte Angst vor dem, was vielleicht nun geschehen könnte.

Es hatte nicht verhindern können, was geschah, aber sie hatte dagegen gesprochen. Doch mehr hatte es nicht getan.

Ich bin im Klinikgelände unterwegs. Eigentlich wollte ich zu Nina, sie besuchen. Aber ich weiß für heute nicht, ob es gut ist. Für mich. Für sie.

Es ist kurz nach halb zehn an diesem Sonntagvormittag. Ich gehe an einem dieser Altbauten vorbei und höre Orgelmusik. Wie in Trance betrete ich das Gebäude und laufe die wenigen Stufen hoch. Links und rechts sind ganz normale Stationen. Geradeaus ist eine weitgeöffnete, große Tür. Ich stehe in einem Kirchensaal mit Holzbänken, einem Altar, auf dem eine großes Kreuz und Kerzen stehen und hinter dem ein großes Gemälde hängt.

Jemand spielt gerade Orgel. Weit vorn sitzen ein paar Leute – nicht viele.

Ich bleibe ganz weit hinten und setze mich in die letzte Bankreihe.

Ich registriere, dass ich in einen Gottesdienst geraten bin. In einen Krankenhausgottesdienst.

Vorsichtig schaue ich mich in diesem großen Saal um. Links und rechts sind große, schmale Fenster mit Verziehrungen eingelassen. Die Bänke sind wie aus einer richtigen Kirche. Vorn steht eine elektronische Orgel. Auf dem Gemälde ist, soweit mein Kunstverstand reicht, der barmherzige Samariter abgebildet, wie er gerade einen Verletzten hingebungsvoll versorgt. Es ist ein beeindruckendes Bild.

Auf die Predigt kann ich mich nicht wirklich konzentrieren, meine Gedanken schweifen immerzu ab. Es ist alles so fern von mir. Aber ich genieße das Orgelspiel. Es ist wie ein Streicheln über meine Seele. Immer weiter entfernen sich meine Gedanken von mir.

„…werde mich am Ausgang persönlich von Ihnen verabschieden…“, nehme ich wahr.

Ich stehe auf, die Tür ist praktisch neben mir, und gehe sofort hinaus.

Auf den Stufen hinab bemerke ich, wie ich wanke. Draußen angekommen, hocke ich mich neben die Tür. Es fühlt sich an, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich habe kaum noch Halt.

Ich nehme von weiter Ferne war, wie die Gottesdienstbesucher das Gebäude verlassen. Sie gehen an mir vorbei.

Ich zünde mir eine Zigarette an und rauche, tief in Gedanken versunken.

Plötzlich hockt jemand vor mir und berührt mich vorsichtig an den Schultern. Ich zucke erschrocken zusammen.

„Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Kann ich etwas für Sie tun? Ich bin Hanna Jansen, eine Klinikseelsorgerin. Ich habe Sie vorhin in der letzten Bank gesehen.“

Diese Frau spricht leise zu mir.

„Nein, vielen Dank, aber Sie können mir nicht helfen“, antworte ich und habe das Gefühl, als könnten endlich Tränen kommen; die ich jedoch gleich unterdrücke.

Ich versuche, aufzustehen, aber um mich herum dreht sich alles. Also gehe ich wieder in die Hocke.

„Wenn Sie wollen, können Sie mit mir reden. Ich bin immer hier zu finden.“

„Ja, danke, aber ich werde das nicht nötig haben. Ich bin in Ordnung.“

Jetzt erst kann ich aufstehen. Diese Frau Jansen tut gleiches.

„Vielen Dank nochmals“, sage ich und: „Auf Wiedersehen“ (ich sollte noch erfahren, dass ich sie tatsächlich wiedersehe und das recht schnell).

„Auf Wiedersehen“, verabschiedet sich auch Hanna Jansen.

Zu Nina gehe ich an diesem Tag nicht mehr. Und ich selbst? Vergrabe mich in mir. Und kann noch nicht einmal heulen. Alles schreit in mir und das macht Angst. Vor meinen Augen so viele Strudel und ich weiß nicht, in welchen ich hineingezogen werde.

„…SPD fordert Spitzensteuersatz von fünfzig Prozent.

Die rot-grüne Regierung senkte den Spitzensteuersatz einst auf zweiundvierzig Prozent. Nun will die SPD die Reichen deutlich stärker belasten.

Vom Petermann-Gletscher im Norden Grönlands ist ein riesiges, zweihundertsechzig Quadratkilometer großes Stück abgebrochen. Wie die Universität des US-Bundesstaates Delaware am Freitag mitteilte, ist das Bruchstück viermal so groß wie der New Yorker Stadtteil Manhattan…“

Paula ist dabei, sich wieder mehr in der Redaktionssitzung einzubringen. Vorhin schaute sie mich an, bevor sie etwas sagte. Ich nickte ihr zu und sie holte tief Luft. Es hatte geklappt.

Auch ich musste wieder über den Stand der Dinge zu dem Thema „Borderline“ für die Beilage berichten. Max ist es zu ungenau, da ich noch immer nicht den Termin bei Herrn Peterson habe.

„Er wird mir den genauen Termin noch nenne, da bin ich mir ganz sicher. Auf ihn kann ich mich verlassen, weil auch für ihn dieses Thema ein Anliegen ist.“

„Gut, Merle, dann ich vertraue dir. Du informierst mich aber sofort, wenn du diesen Termin hast. Übrigens, hast du noch Fotos für die Beilage?“ fragt Max.

„Fotos sind noch zur Genüge da. Wir können sofort einige aussuchen.“

„Nein, das machen wir zum Schluss, wenn ich genau weiß, wie viel Platz wir für alles in der Beilage bekommen. Deshalb ist mir ja der Termin so wichtig, verstehst du?“

„Ja, aber der Termin ist doch unabhängig vom Platz für die erneute Reportage.“

„Schön wäre es, wenn du Recht hättest. Aber es geht darum, ob sie bereits in der kommenden Beilage erscheinen oder erst später Platz finden kann.“

„Ach so, jetzt verstehe ich. Sorry, ich habe nicht so weit gedacht.“

Damit ist mein Thema abgehakt.

„Susanne, wie sieht es mit deinem Thema aus?“ fragt Max weiter in die Runde.

Susanne ist die Gemütlichkeit in Person. Man könnte sie als Mutti der Redaktion bezeichnen. Sie ist da, wenn jemand kleine Wehwehchen hat. An ihrer großen, einladenden Brust lässt es sich besonders gut heulen. Sie hat ein paar Kilos zu viel auf den Rippen, aber das ändert nichts an ihrer Schönheit. Susanne ist sechsunddreißig und dazu noch Model – für große Größen.

Aber sie hat auch Haare auf den Zähnen. Ihr kann man nichts so schnell vormachen. Sie ist ein Gerechtigkeitsfanatiker und schnell zur Stelle, wenn zwei sich streiten – sie ist dann allerdings nicht die lachende Dritte…lachen werden dann die zwei, um die es geht. Sie hasst getrübte Stimmung… es sei nicht gut für das Karma, was immer sie auch dafür halten mag.

„Meine Buchvorstellung. Im Gegensatz zu sonst habe ich dieses Mal keine ausnahmslos für Frauen geschriebene Lektüre herausgesucht. Und außerdem ein etwas älteres Buch. Retro sozusagen.

Es ist ein Roman von Johannes Mario Simmel. ‚Es muss nicht immer Kaviar sein’. Obwohl da auch Frauen noch etwas lernen können, denn in diesem Roman befinden sich auch Rezepte. Es könnten sich auch die Herrlichkeiten dieser bedienen und ausprobieren – vielleicht für ihre Angebeteten.

Zum Schriftsteller: geboren neunzehnhundertvierundzwanzig in Wien. Er wurde mit seinem ersten Roman ‚Mich wundert, dass ich so fröhlich bin’ bekannt. Seit Jahrzehnten gehört er zu den meistgelesenen Autoren im deutschsprachigen Raum. Er veröffentlichte fünfundreißig Romane, die eine Gesamtauflage von etwa dreiundziebzig Millionen verkauften Exemplaren erreichten. Werke von ihm wurden in dreißig Sprachen übersetzt. Leider ist er im Januar 2009 verstorben.

Zum Roman selbst: Das Werk trägt den Untertitel ‚Die tolldreisten Abenteuer und auserlesensten Kochrezepte des Geheimagenten wider Willen Thomas Lieven’.

Ein Bankier namens Thomas Lieven lebt und arbeitet in London. Er ist intelligent, attraktiv und spricht akzentfrei Englisch, Französisch und Deutsch, was ihm im Laufe des Buches als Geheimagent sehr nützlich sein wird.

Er versucht zwar, sich den Geheimdiensten zu entziehen. Das beginnt damit, dass Lieven nach Deutschland reisen muss, was ihm sehr zuwider ist. Dort wird er, da er von einem Geschäftsfreund in London hereingelegt wurde, von der Gestapo verhaftet. Er kommt frei, in dem er einwilligt, für den deutschen Geheimdienst zu arbeiten.

Im Laufe der Romanhandlung wechselt er weiter von einem Geheimdienst zum nächsten, wobei er stets darauf bedacht ist, so viele Menschenleben wie nur möglich zu retten.

Zum Problem für sämtliche Militärs und Geheimdienste wird allerdings, dass er überzeugter Pazifist ist und seine Intelligenz für die Verfolgung seiner eigenen Ziele einsetzt.

Unser Held hat ein Faible für Frauen und das Kochen. Von den im Roman verwendeten Rezepten ist ein eigenes Kochbuch erschienen. Soweit zum Buch.

Vielleicht sollten wir noch den Anfang eines Kochrezeptes veröffentlichen, mit dem Hinweis, dass man es nachkochen kann. Natürlich nur, wenn man sich mit dem Buch befasst. Es hat übrigens viel Spaß gemacht, das Buch zu lesen.“

„Das Buch ist es wert, vorgestellt zu werden. Es ist grandios geschrieben. Ich kenne es. Simmel gehört zu meinen Favoriten. Die Idee mit den Kochrezepten im Buch ist einsame Spitze. Und ich finde auch Susannes Idee gut“, sage ich.

„Okay, das klingt sehr gut. Dann mach das so. Endlich mal was nicht ausschließlich Feministisches – versteh mich jetzt nicht falsch, Susanne. Aber wir sind nun mal keine Frauenzeitschrift. Mich nervt das Thema Lifestyle schon. Warum, zum Teufel, ist von euch noch niemand auf die Idee gekommen, auch mal etwas ausschließlich nur für Männer zu veröffentlichen? Pflegeprodukte, Wellness, Kosmetik…da hat sich eine ganze Menge getan an der Männerfront. Auch sie haben mittlerweile das Bedürfnis, schön und erholt zu sein…“

Susanne und Paula sehen sich an: „Weil wir ein ‚Tageblatt’ sind und keine Beautyzeitschrift“, sagt Paula.

„Aber die Idee ist gut. Wir sollten daran arbeiten und zu diesem Thema recherchieren…“

Ich ahne, wie schwer Paula diese Äußerung gefallen sein muss.

„Nicht sollten, Paula, sondern tun“, unterbricht Max.

Und schon hat sich Paula wieder in ihr Schneckenhaus zurückgezogen.

„Alles andere ist soweit klar. Dann mal los an die Arbeit.“

Mit diesen Worten schließt Max die Redaktionssitzung.

Mein obligatorischer Weg nach jeder dieser Sitzungen ist der zum Kaffeeautomaten und dann der zur Raucherecke.

Felix folgt mir heute. Er hat sich ebenfalls einen Kaffee geholt und setzt sich auf das Sofa mir gegenüber.

Er schaut mich nachdenklich an. Seine Augen ruhen auf meinem Gesicht. Das ist mir bereits aufgefallen, dass seine Augen sich in der letzten Zeit nicht mehr ständig unsicher hin und her bewegen, wenn wir beide miteinander zu tun haben.

Bei allen anderen bleibt er weiterhin unruhig-unsicher.

„Geht es dir gut, Merle?“ fragt er leise nach einer Pause.

Ich sehe ihn an.

„Nein, es geht dir nicht gut. Ich sehe es. Es war eine sinnlose Frage, verzeih. Kann ich etwas für dich tun?“

Ich sehe Felix immer noch an, selbst als ich mir am heißen Kaffee den Mund verbrenne und das Gesicht verziehe.

Felix ist in der letzten Zeit so anders. Zumindest zu mir.

Meine Gedanken schweifen ab zu Nina. In den letzten Tagen war ich sie, so oft ich konnte, besuchen. Nie länger als eine Stunde. Damit ich mich abgrenzen konnte. Und einen Zeitrahmen geben, hatte Frau Doktor Delling gesagt. War es zu Anfang noch sehr schwer, ihr Weinen zu ertragen, so konnte ich jetzt langsam damit umgehen. Irgendwann würde es vorbei gehen. Sie sollte jetzt erst einmal Verlässlichkeit erfahren, damit sie sich für sich stabiler werden konnte…Das Schlimmste für mich war gewesen, als sie sich an mich klammerte und weinte und schrie. Ich musste nach dem Personal klingeln, weil ich sie nicht beruhigen konnte. Mein Zureden half nichts und ich kam mir so hilflos, so verloren vor. Schwester Andrea schickte mich aus dem Zimmer und bat mich, zu gehen. Der Arzt, der dazu gerufen wurde, kam. Ich wusste, dass er Nina wieder ruhigstellen würde und es war meine Schuld…nein! Nicht meine Schuld!

Warum fragen mich seit neuestem Menschen, ob sie etwas für mich tun könnten? Sehe ich wirklich so hilfebedürftig aus?

„Ach Felix“, antworte ich ebenso leise.

Ich schaue dem Zigarettenrauch nach. Und schweige. Auch Felix sagt nichts.

Nach einer Weile sage ich: „Im Moment herrscht ein wenig Chaos, in dem ich mich erst einmal zurecht finden muss. Das ist schwieriger als ich erwartet hatte. Und wie geht es dir, Felix?“

„Ich bin in Ordnung. Aber im Augenblick geht es auch gar nicht um mich. Das erzähle ich dir später einmal, wenn du das hören möchtest.“

„Ja, das möchte ich. Jetzt werde ich mich zusammenreißen und wie gewohnt meiner Arbeit nachgehen.“

In mir gibt es plötzlich so etwas wie ein Schnipsen. Die Arbeitsperson ist da. Die, die funktioniert. Sie übernimmt.

„Los Felix, an die Arbeit. Es gibt viel zu tun“, sage ich, (besser: die Andere) springe auf und werfe meinen leeren Kaffeebecher in den dafür vorgesehenen Behälter.

Ich sehe noch, wie Felix mir erstaunt nachschaut.

Nina hatte mir bei meinem letzten Besuch einen Brief mitgegeben:

„Dark star,

ich denke beinahe immerzu an dich. Jetzt ist laute Stille in mir drinnen und trotzdem ist es ein Tanz auf dem Vulkan. Auch in dir gibt es etwas, was du spürst und in dir den Zustand zulässt, den du gerade fühlst. Merkst du es nicht? Da ist doch noch so viel mehr.

Meine Hoffnung. Mein Sonnenstrahl. Mein Sternenfunkeln.

Ich stieg gerade wieder hinab in das Reich der Dunkelheit – gleich wird es mich einholen – ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand diesmal dauern wird. Doch so bin ich geschützt, sicher.

Ich möchte jetzt so gern weinen, doch das geht nicht und so quäle ich mein Innerstes – es ist so schmerzvoll und ich ersticke am Nichts.

Hilf mir und bleib bei mir.“

Diese Zeilen verwirren mich. Noch immer fühle ich mich zu Nina hingezogen. Daran hat sich nichts geändert. Aber ich kann diese Worte nicht deuten.

Ich frage Frau Doktor Delling danach.

„Frau Harbig ist sehr kreativ in ihren Worten. Aber sie ist im Moment auch sehr verwirrt. Das hängt auch mit den Medikamenten zusammen. Auf jeden Fall mag sie Sie sehr und fühlt mehr als nur bloße Freundschaft. Sie wünscht sich Ihre Nähe.“

„Ich bin auch sehr verwirrt, weil ich selbst meine Gefühle ihr gegenüber nicht einordnen kann“, versuche ich zu erklären.

„Alles ist konfus und durcheinander geraten. Nichts ist mehr, wie es einmal war. Zurück bleibt nur ein Chaos.“

„Und genau das spürt auch Frau Harbig.“

Ich schweige.

„Also müsste ich mir erst einmal klar werden, wie ich zu ihr stehe.“

„Ja, so könnte man es sagen. Ich weiß, dass es schwierig ist, weil ich Sie hier auch so zerrissen erlebe. Sie wollen ihr helfen, können sich selbst aber nicht einordnen. Darüber sollten Sie sich erst einmal im Klaren sein. Sich abgrenzen, um klar zu sein. Sonst verwirrt es Frau Harbig noch mehr.“

Ich denke nach. Und bin versucht, mir die Schuld zu geben.

Genau das muss Frau Doktor Delling gespürt haben: „Es ist nicht Ihre Schuld, dass es Frau Harbig jetzt so geht. Das müssen Sie unbedingt wissen. Sie werden nie etwas für ihre Krankheit können und auch nicht für Verhaltensweisen, die durch diese Krankheit begünstigt werden.“

„Ich habe noch eine Frage, die ich zwar für mich selbst beantworten könnte, aber bei Nina nicht einordnen kann. Was meint sie mit dem ‚Zustand der Dunkelheit’?“ frage ich und komme mir sehr hilflos vor, weil ich von selbst nicht verstehen kann.

„Ich gehe davon aus, dass es der Zustand in der Phase ist, in der wir sie sedieren müssen, damit sie sich nicht selbst schädigt. Ab und zu kommt das leider noch vor.“

Mondnachtschatten

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