Читать книгу Mondnachtschatten - Alma Bandemer - Страница 7
ОглавлениеBegegnung
Heute habe ich meinen Interview-Termin. Es ist noch ein wenig Zeit und so bin ich schnell auf einen Kaffee bei Emilio. Irgendwie ist er heute zerstreut. Kein: „Ciao Bella!“, sondern nur ein einfaches „Hallo!“. Nicht jeder Tag gleicht dem anderem. Auch bei Emilio nicht. Nur bei ihm kommt es ganz selten vor. Ich dagegen bin aufgeregt, wie noch nie vor einem Interview. Ich weiß nicht, woher das kommt oder was sich in meinem Inneren abspielt. Meinen Kaffee trinke ich unkonzentriert und dauernd schaue ich auf meine Fragen, die ich stellen will.
Ich betrete das Haus Nummer 4 in der Kreuzmannstraße. Hier befindet sich die Praxis von Herrn Peterson, dem Psychotherapeuten. Sie liegt etwas außerhalb in einem etwas eher ruhigen Stadtgebiet.
Auf dem Praxisschild hatte noch „Diplom-Psychologe“ gestanden.
Der Hausflur ist hell und freundlich. Ich werde ebenso freundlich von einer Dame mittleren Alters empfangen, die hinter einem Tresen steht. Auf dem Tresen steht ein Namensschild. Frau Funke.
„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“
„Guten Tag, Frau Funke“, antworte ich.
„Mein Name ist Leonardt. Merle Leonardt. Ich habe einen Termin bei Herrn Peterson.“
„Einen kleinen Augenblick bitte, ich sage Bescheid, dass Sie da sind. Sie werden schon erwartet.“
Ich schaue mich im großen, hellen Raum um. Auch hier ist alles freundlich eingerichtet. Bilder hängen an den Wänden. Bei näherem Betrachten stelle ich fest, dass es Bilder sind, die Patienten gemalt haben. Eine Tafel verrät das. Sie sehen interessant aus und in manchen, vor allem in den großen, glaubt man sich zu verlieren. Es sind so viele Farben.
Frau Funke steht neben mir.
„Kommen Sie bitte, Frau Leonardt.“
An ihrer Seite gehe ich einen kleinen Korridor entlang, der ebenso hell und freundlich und mit Bildern ausgestattet ist.
Schon stehe ich im Zimmer und einem großen, schlanken Mann gegenüber, den ich sofort sympathisch finde.
„Herr Peterson? Guten Tag. Merle Leonardt. Ich freue mich, Sie kennenzulernen und danke Ihnen dafür, dass Sie mir ein Interview ermöglichen.“
„Guten Tag Frau Leonardt“, entgegnet er mit einer sanften, ruhigen Stimme und gibt mir fest und dennoch behutsam eine warme, angenehm weiche Hand.
„Setzen Sie sich doch“ sagt er und begleitet mich in eine Sitzecke mit zwei Sesseln, die sich gegenüber stehen. Dazwischen steht ein niedriger Tisch. Rechts davon befindet sich ein Sofa.
Auf dem Tisch stehen zwei Gläser und eine große Glaskanne mit Wasser.
Im Raum hängen ebenfalls Bilder, sicherlich auch von Patienten gemalt.
„Haben Sie gut her gefunden?“ fragt er.
„Oh ja, danke, es war kein Problem“, antworte ich.
Ich betrachte ihn aufmerksam. Er tut gleiches mit mir. Herr Peterson mag etwa Mitte 40 sein. Er hat ganz kurzes, fast graues Haar und eine hohe Stirn. Er trägt eine Brille ohne Fassung und seine Augenfarbe ist schwer zu erkennen. Ich schätze blau-grau. Seine Hände sind schlank, feingliedrig, schmal. Gepflegt. Er trägt Jeans und ein dunkelgraues Hemd.
Er fragt: „Am Telefon erzählten Sie mir, dass Sie etwas über das Thema Borderline erfahren möchten. Sie sind Journalistin und Sie benötigen Informationen zu diesem Thema. Wie Sie mir gesagt haben, schreiben Sie eine Reportage darüber. Haben Sie es sich selbst ausgesucht?“
„Mhm…selbst ausgesucht nicht. Aber schon nach kurzer Zeit hat es mich nicht mehr losgelassen. Mir ist es wichtig, auch Fachleute anzuhören. Zwar ist das Web voll davon, aber zumeist unverständlich. Ich möchte, dass es so einfach wie möglich erklärt wird, damit es auch die Allgemeinheit verstehen kann, zumal der Begriff in der Gebrauchssprache zugenommen hat. Meine Erfahrungen seit Beginn der Recherche sind jedoch, dass kaum jemand versteht, wovon eigentlich gesprochen wird. Außerdem möchte ich Vorurteile, die ja durchaus bestehen, aus dem Weg räumen.“
„Noch eine Frage, bevor wir beginnen: sind Sie bei Ihren Recherchen einem Borderliner begegnet?“
„Ja, das bin ich. Aber ich habe nur eine Facette erlebt. Nicht mit seiner ganzen Wucht. Dennoch bin ich dankbar dafür.“
Ich lege mein Diktiergerät auf den kleinen Tisch. Genau in die Mitte. Ich habe eines von diesen Hochleistungsdingern. Damit arbeite ich immer, wenn ich Interviews führe oder in Gespräche involviert bin. Früher habe ich alles in Steno bearbeitet, aber ich hatte da immer den Eindruck, dass eine ganze Menge verloren geht. So brauche ich mich nun nur noch auf das Gespräch und das Gegenüber konzentrieren, kann ihm meine volle Aufmerksamkeit schenken. So vieles kann dann später nachvollziehbar ins geschriebene Wort gebracht werden. Und ich habe Zeit, mir den Menschen hinter den Worten anzuschauen.
Es ist keine Mehrarbeit. Auch nicht, wenn ich zwischendrin die Kassetten wechseln muss – je nach Dauer des Interviews.
„Also gut, beginnen wir: Die Frage der Fragen: was ist Borderline?“
„Vereinfacht gesagt eine Persönlichkeitsstörung, die durch Impulsivität und Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, gleich welcher Art, und im Selbstbild gekennzeichnet ist.“
„Warum der Begriff ‚Borderline’?“
„Früher ordnete man das Krankheitsbild ausschließlich zwischen Neurose und Psychose ein – also Borderline gleich Grenzlinie. Heute umfasst es weitaus mehr. Frei übersetzt bedeutet es ‚Grenzgänger’ oder ‚Grenzzustand’. Die Patienten leben in Extremen, zwischen zwei Polen. Nach dem Motto ‚Alles oder Nichts’ wird die Welt gespalten, wie zum Beispiel in Gut und Böse.“
„Erst in jüngster Zeit hört man viel von dem Begriff ‚Borderline’. Manchmal recht abwertend. Wie kommt das?“
„Man könnte meinen, dass alles, was in der Psychiatrie nicht eindeutig einem Krankheitsbild zugeordnet werden kann, einfach unter dieser Diagnose abgelegt wird.
Dabei gibt es diesen Begriff schon seit 1938. Der Psychiater Stern führte ihn zur Bezeichnung von Störungen ein, die man nicht in die beiden Gruppen Neurose und Psychose einordnen konnte. Allerdings war der Begriff recht unklar definiert.
Es änderte sich, als der Psychoanalytiker Kernberg 1967 den Begriff ‚Borderline’ für ein gestörtes Persönlichkeitsmuster prägte. Nur soviel zur Geschichte des Begriffs ‚Borderline’“
„Sie habe mir damit nicht meine Frage beantwortet.“
„Manche Kritiker werfen ein, dass es sich hierbei um einen modisch angehauchten Jargon handelt, der von einigen in Subkulturen gepflegt wird. Mit Mutproben wie Selbstverletzungen oder exzessiven Verhaltenweisen zum Beispiel. Eine modische Erscheinung also, die nichts mit Leiden und Druck und echter Krankheit zu tun hat. Daher der Verruf in einigen Kreisen.“
„Wann erhält man die Diagnose ‚Borderliner-Persönlichkeitsstörung’?“
„Nach eingehenden psychologischen Tests.
Es müssen fünf von neun Kriterien nach einem Klassifikationssystem – der American Psychiatric Association - erfüllt sein. Ich zähle sie vereinfacht auf, damit man sich ein Bild davon machen kann:
- unbeständige und unangemessene intensive zwischenmenschliche Beziehungen,
-Impulsivität bei selbstschädigenden Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Drogen- und Alkoholmissbrauch, Sex, übermäßiges Essen usw.
-extrem starke Stimmungsschwankungen
-häufige und unangemessene Zornausbrüche
-wiederholte Selbstmorddrohungen oder –versuche bzw. Selbstverletzungen und Selbstschädigungen…“
In mir beginnen Glasmurmelgedanken zu klacken. Ich habe das Gefühl, nicht mehr folgen zu können. Herr Peterson indes redet weiter:
„-das Fehlen eines klaren Identitätsgefühls; also nicht zu wissen, wer man ist
-chronische Gefühle von Leere oder Langeweile
-verzweifelte Bemühungen, eine reale oder eingebildete Angst vor dem Verlassenwerden zu verhindern
-vorübergehend paranoide Ausbrüche oder ähnliche Symptome, Dissoziationen…
Wie gesagt, ich habe es so einfach wie nur irgendwie möglich beschrieben.“
Ich hole tief Luft.
„Wie ist Borderline verbreitet?“
Unter Aufbietung all meiner Kräfte schiebe ich diese schmerzhaften Glasmurmelgedanken beiseite. Ich setze mich so hin, dass mein Rücken die Sessellehne berührt. Ich brauche jetzt diesen Kontakt, so als ob ich den Kontakt zur Realität suchen würde.
„Es sind ca. zwei Prozent der Bevölkerung davon betroffen. Davon sind etwa siebzig bis fünfundsiebzig Prozent Frauen. Etwa fünf bis zehn Prozent der Patienten mit einer Borderline-Störung töten sich selbst.“
Inzwischen habe ich mich wieder gefangen.
„Die letzten beiden Zahlen sind sehr ungenau. Wie kommt das?
„Man kann es einfach nicht genauer bezeichnen. Schwierig ist es, zu unterscheiden, wie zum Beispiel der Selbstmord bei Depressionen. Borderliner leiden auch darunter sehr stark und man kann dann nicht genau sagen, ob es vielleicht in einer depressiven Phase geschah.“
„Wie äußert sich eine Borderline-Störung?“
„Lassen Sie mich das so formulieren: da sie eine Störung der Psyche ist, die sich so ganz anders als andere Störungen darstellt, leben die Betroffenen zerrissen in sich selbst. Sie sind so orientierungslos und chaotisch wie die Welt, in der wir leben. Die Borderline-Störung ist so unterschiedlich wie auch der Patient unterschiedlich ist.
Es gibt vielfältige Symptome und zunächst werden oft andere Störungen diagnostiziert, wie zum Beispiel Depressionen oder Angststörungen. Erst nach eingehender Diagnostik und manchmal nach langer Zeit kristallisiert sich die eigentliche Diagnose heraus. Man kann sagen, sie hat sich hinter anderen versteckt.
Die Symptome sind vielfältig und ich werde der Einfachheit halber nicht alle aufzählen, sonst verwirrt das zu sehr.
Um Empfindungen zu bewältigen, kommt es zu Dissoziationen. Das bedeutet Abspaltung. Sie sind eine natürliche Reaktion auf extreme seelische Belastungen. Unverarbeitete Erlebnisse werden zeitlos ‚eingefroren’ und in unterschiedlichem Ausmaß von der Persönlichkeit abgetrennt. Sie beinhalten extreme Gefühle und Gedanken – das kann so weit gehen, dass mehr oder weniger selbständige Persönlichkeitsanteile entstehen – die gegensätzlich sind und später wieder aktiviert werden können. Bewusst und unbewusst…“, er schlägt sein Bein über das andere.
„Eine Dissoziation ist eine Art Buch des ‚Vergessens, des Verdrängens’, in dem viele Lesezeichen liegen. Das Buch wartet nur darauf, bei der nächst besten Gelegenheit aufgeschlagen und gelesen zu werden.“
„Wie stellt man sich solch eine Dissoziation vor?“
„Zwei Beispiele, um zu zeigen, wie unterschiedlich sie sein können.
Eine Patientin stellt bei ihrem Blick in den Kühlschrank fest, dass sie Grießbrei gekauft haben muss. Kein anderer kommt dafür in Frage. Allerdings isst sie so was gar nicht, sondern ekelt sich regelrecht davor. Ein paar Tage später wird sie feststellen, dass sie ihn auch gegessen haben muss, denn er war leer; der leere Plastikbecher steht auf dem Küchentisch. Sie agierte in einem Zustand, der für sie nicht zugänglich war.“
Er hält kurz inne und holt tief Luft.
„Eine andere Patientin wurde als kleines Kind schwer misshandelt. Vor kurzem war sie mit ihrer Freundin in einer Tanzbar verabredet. Sie wartete vergeblich, ihre Freundin kam nicht. Ein Mann kam ihr zu nahe und er der Geruch erinnerte sie an etwas, was mit dem Früher zu tun gehabt haben muss. Das nennt man Trigger, ein Anstoßen an eine diffuse Erinnerung. Als sie am nächsten Morgen aufwacht, ist sie zu Hause, ihre Arme sind verletzt und verbunden. Sie weiß nicht, wie sie nach Hause gekommen ist. Ihre Arme hat sie selbst verletzt, dass ist ihr schnell klar. Ihr Kopf und ihre Seele haben den Abend zuvor abgeschalten, um sich der vermeintlichen Gefahr zu entziehen. Sie spaltete ab. Beide Erlebnisse. Das von damals und das eben erlebte. Aber sie sorgte dennoch für sich selbst als ganze Person.“
„Wozu die Selbstverletzung?“
„Hier als Reorientierung aus dem schweren dissoziativen Zustand.
Selbstverletzungen werden aus verschiedenen Gründen ausgeführt. Zum einen, um auf sich aufmerksam zu machen im Sinne von: ‚Hilfe, sieht denn keiner, wie schlecht es mir geht?’. Viele Betroffene benötigen Selbstverletzungen, um die enorme Anspannung abzubauen. Viele leben so unter Druck, der kaum aushaltbar ist. Sie sind wie gefangen in ihren ambivalenten Gefühlen. Ich bin der Meinung, eine wohldosierte Selbstverletzung ist dann gut und sollte dann auch durchgeführt werden, wenn es als Hilfsmittel zur Spannungsreduktion dient. Denn das ist besser als der Selbstmord, der dann vielleicht irgendwo am Ende steht. Es ist viel gewonnen, wenn der Patient wieder ruhiger werden kann.“
„Sie plädieren für Selbstverletzungen?“ frage ich erstaunt.
„Ja, weil sie nichts mit einem Suizidversuch zu tun haben, so wie es vielleicht Außenstehende auffassen könnten.“
„Ist jeder, der sich selbst verletzt, ein Borderliner?“ unterbreche ich kurz.
„Nein, das nicht automatisch, aber häufig ist das der Fall.“
„ Aber es gibt auch die Selbstverletzung als Selbstbestrafung“, fährt er fort. „
„Bei vielen ist es aber auch nur das ‚Sich-spüren-wollen’, die Erinnerung an Bewegung und wo Blut fließt ist auch Leben.“
Ich denke nach, während ich schon die nächste Frage stelle.
„Wie sieht das Sozialverhalten der Betroffenen aus?“
„Im Umgang mit anderen Menschen fällt es Borderlinern schwer, Nähe und Distanz auf gesunde Weise zu regulieren. Ängste, die für den Nicht-Betroffenen nur schwer vorstellbar sind, werden sowohl durch Nähe als auch durch Distanz ausgelöst – das ‚Komm-her-geh-weg-Prinzip’ ist da zu nennen. Aber auch das ‚Hass – Liebe – Prinzip’ kommt sehr häufig vor. Das heißt nicht, dass beides gleichzeitig existiert, sondern getrennt in schneller Abfolge. Es gibt nur das ‚Entweder-oder’.
Je nach Gefühlslage, die schnell wechseln kann, kann es zu impulsiven Verhaltensweisen kommen, mit dem das Gegenüber gar nicht rechnet. Ebenso kann es zu plötzlichem, unerklärbaren Rückzugsverhalten kommen. Schwierigkeiten bereiten auch die oft häufigen Stimmungsschwankungen – Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt.
Es lässt sich leicht vorstellen, dass eine dauerhafte, feste Beziehung nur sehr schwer unter diesen Voraussetzungen zu führen ist. Es braucht viel an Verständnis und Einfühlungsvermögen.“
„Wie entsteht eine Borderline-Persönlichkeitsstörung?“
„Man geht davon aus, dass es viele Faktoren gibt, die einander bedingen. In der Psychologie ist ja nichts auf nur eines beschränkt.
Wir zählen dazu den Umweltfaktor – Traumata in der Kindheit, wie zum Beispiel körperliche und seelische Gewalterfahrungen oder andere einschneidende, tiefe Erlebnisse, den genetischen Faktor – das eigene Temperament, Veranlagung und die Wechselwirkung zwischen den beiden ersten Faktoren.
Das bedeutet: hat ein Mensch Traumata erleben müssen und ist sein durch die Gene vorgegebenes Temperament so geschaffen, dass er diese Traumata nicht verarbeiten kann, so kann er an einer Borderline-Störung erkranken. Kann. Nicht muss. Das zum einen.
Aber nicht jeder, der in frühester Kindheit ein Trauma erlebt, entwickelt eine Borderline-Störung und nicht jeder Borderliner hat ein Trauma erlebt. Es gibt also noch weitere Einflussfaktoren.
Negative und positive Gefühle werden bei der betreffenden Person von klein auf sehr viel intensiver erlebt, als es normaler Weise der Fall ist und werden dadurch zum Teil unerträglich. Viele Borderline-Symptome sind dann Versuche, all diese ambivalenten Gefühle wieder in den Griff zu bekommen, die Gefühlswelt wieder auszugleichen. Die borderlinetypischen Verhaltensweisen bilden sich bereits im Kindesalter heraus, werden dann aber meist erst im Jugendalter diagnostiziert, da in verschiedenen Entwicklungsstufen des Kindes verschiedene Verhaltensweisen als ‚normal’ gelten, die im Erwachsenenalter jedoch als unangemessen wahrgenommen werden.“
„Gibt es Prominente mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung?“
„Oh ja, die gibt es. Marilyn Monroe, Romy Schneider, Jennifer Nitsch, die Schauspielerin, die sich 2004 das Leben nahm, um einige zu nennen.“
„Ist Borderline therapierbar?“
„Natürlich, wenn auch schwierig. Oft ist es sinnvoll, zunächst stationär aufgenommen zu werden mit einer Behandlung in Begleitung von Medikamenten. Eine Therapie an sich kann erst beginnen, wenn der Betroffene stabil genug ist. Sinnvoll sind Sozial-, Gruppen- und Einzeltherapien, die speziell auf ein schrittweises Lernen von gestörtem zu angemessenem Sozialverhalten konzipiert sind. Wichtig sind permanente Bezugspersonen und die Neustrukturierung des sozialen Umfeldes.
Besonders zu nennen ist hier die Möglichkeit der dialektisch – behaviouralen Therapie. Sie ähnelt einer Verhaltenstherapie.“
„Wie steht es um die Heilungschancen?“
„Durch Therapien und eventuell durch den begleitenden Einsatz von Medikamenten kann der Patienten erlernen, mit seiner Krankheit umzugehen. Es ist harte Arbeit und kein Spaziergang, es erfordert Willen und Mut.
Im fortgeschrittenen Alter nimmt die Borderline-Störung meist ab. Im 30. bis 40. Lebensjahr sind die Betroffenen oft so strukturiert und stabil, so dass die Störung nach außen hin kaum noch wahrgenommen wird. Das erleichtert das soziale Leben ungemein.“
„Gibt es noch etwas zum Schluss zu sagen?“
„Ja, ein Fazit für Therapeuten. Es ist ungeheuer anstrengend, mit einem Patienten zusammen zu arbeiten, der an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet. Es erfordert Erfahrung, Durchhaltevermögen und auch Mut. Aber es ist ein interessantes und spannendes Feld. Und nicht zu vergessen: wir können von einem Borderliner auch lernen. Lernen, wie man die Welt auch noch sehen kann.“
„Ich danke Ihnen vielmals für dieses Interview, Herr Peterson.“
„Ich freue mich, dass ich Ihnen helfen konnte. Werden Sie das ganze Interview verwenden?“
„Nein, vor allem war es für mich wichtig, noch mehr Hintergrundwissen zu diesem Thema zu bekommen. Aber ich werde Auszüge verwenden, unter Nennung Ihres Namens natürlich.“
„Darf ich zum Schluss noch fragen, wie Sie ausgerechnet auf mich gekommen sind?“
„Nun, das ist ganz einfach“, antworte ich.
„Ich habe nach Psychotherapeuten gesucht und Sie waren der Einzige, der sich darauf einlassen konnte. Haben Sie eigentlich Borderline-Patienten?“
„Ja, auch. Sie haben zwar die gleiche Diagnose, können aber unterschiedlicher nicht sein. Vor allem deshalb, weil sie sich in verschiedenen Entwicklungsstufen befinden.“
In meinem Kopf rast plötzlich ein blitzartiger Gedanke vorbei. Er war wie eine Eingebung, warum auch immer.
„Würden Sie mir eine Visitenkarte geben?“
„Ja, selbstverständlich“, antwortete Herr Peterson.
Zum Abschied gibt er mir wieder behutsam seine warme, weiche Hand. Er begleitet mich zur Tür. Vorbei an all den vielen, manchmal verwirrenden Bildern. Frau Funke ist nicht zu sehen.
Als ich ins Freie trete, trifft mich unbarmherzig die Vorsommersonne. Wie benommen laufe ich zu meinem Auto. Mein Kopf ist wie leer. Ich werde minutenlang regungslos hinter dem Lenkrad sitzen, ehe ich das Auto starte. In mir ist Stille. Tote Stille. Die Glasmurmelgedanken konnte ich vorhin erfolgreich beiseiteschieben. Diese Gedanken, die ganz plötzlich ohne Vorwarnung auftreten und scheinbar in keinem Zusammenhang stehen. Sie sind kurz und schnell. So schnell, dass sie aneinander klacken. Das verursacht Schmerzen. Und ich bin dann wie hilflos gelähmt.
Plötzlich fällt mir Emilio ein. Das ist eine gute Idee. Vorsichtig fahrend erreiche ich die Innenstadt und das Café.
„Mamma mia, Bella, wie du aussehen?“
Emilio scheint wieder der Alte zu sein. Ich lasse mich in meine Ecke fallen, die zum Glück frei ist.
Meine Tasche fällt polternd zu Boden.
„Einen Kaffee, Emilio, bitte und am besten mit einem doppelten Kognak drin“, sage ich und habe das Gefühl, dass es unglaublich traurig klingt.
„So schlimm?“
Ich nicke gequält. Und krame meine Zigaretten raus. Es vergeht Zeit, alles scheint wie in Zeitlupe abzulaufen. Ich kann das Feuerzeug nicht finden.
Mein Kaffee kommt. Es ist nicht viel los, es sind wenige Gäste da. Emilio setzt sich mir gegenüber, dort, wo vor ein paar Tagen Nina gesessen hatte.
„Was ist los, Bella?“
„Ich weiß es nicht genau. Das ist ja mein Problem.“
Und ich unterdrücke Tränen, die nach außen dringen wollen. Das geht schwer, aber es gelingt. Aber eigentlich ist es eher nur ein fremdes Gefühl, denn ich kann nicht weinen. Schon lange nicht mehr. Das quält.
Ich zünde mir eine Zigarette an, blase den Rauch kräftig aus. Meine Finger zittern leicht.
„Wein doch, wenn es ist so“, sagt Emilio, der Gute.
„Es ist nichts. Ich habe nur den Rauch in die Augen bekommen.“
Er schüttelt den Kopf und sagt: „Kannst kommen zu mir, Bella, wenn nicht gut gehen.“
„Danke, Emilio, danke“, sage ich. Ich muss vorsichtiger sein. Meinen Seelenzustand darf niemand mitbekommen. Niemand. Auch eine so treue Seele wie Emilio nicht. Weil ich damit nur sehr schwer umgehen kann. Wenn sich jemand sorgt. Um mich.
Mein für gewöhnliches Chaos im Kopf wäre mir lieber – das jetzt hier ist nicht zum aushalten. Es schmerzt. Mir fällt ein, dass ich solche Momente bisher immer weggeschluckt habe. Ich schaue
in meiner Tasche nach. Ich finde nur Sedativa. Egal. Besser als nichts. Ich bitte Emilio um Wasser.
„Muss Sorgen haben ich um dich?“
„Nein, nein, wirklich nicht. Es ist sicher gleich vorbei“, antworte ich mit leiser Stimme.
Ich komme wieder zu mir, als zwei Stunden, vier Kaffees und sieben Zigaretten vergangen sind. Sagt Emilio.
Wie in Watte gepackt komme ich mir vor. Ich rede mit Emilio, aber das fühlt sich wie ein entfernter Traum an. So unwirklich. Jedoch besser als der Zustand von vor zwei Stunden. Nichts erreicht mich wirklich. Ich sollte nach Hause gehen. In mein Bett. Und ich sollte auch lieber ein Taxi nehmen, als das eigene Auto zu benutzen. Sicher ist sicher.
Ich bemerke, dass ich etwas in meiner linken Hand halte. Es ist die Visitenkarte von Herrn Peterson.
In den nächsten Tagen arbeite ich wie eine Besessene in der Redaktion an meiner Reportage und an dem, was sonst noch ansteht. Und das ist ein immenses Pensum. Und ich fühle nichts.
Ich will auf keinen Fall denken – nachdenken. Abends verlasse ich spät das Büro, um in meiner Wohnung gleich ins Bett zu fallen, in der Hoffnung, von Nachtträumen verschont zu bleiben.
Aber diese Hoffnung ist vergebens: ich schlafe unruhig und traumüberladen. Wenn ich davon wach werde, bleibe ich in den Träumen hängen. So stehe ich auf, um mich vollends wach zu machen, damit ich aus dem Traum aussteigen kann. Ich stelle mich auf den Balkon, atme die kühle Nachtluft, rauche und trinke einen Schluck Rotwein, um die Gedanken abzuschütteln. Ein paar Stunden später erwache ich wie gerädert. Danach gehe ich zeitig außer Haus und bin die erste im Büro. Und mir ist es ansonsten egal, ob es Tag ist oder Nacht.
Ich habe keine Zeit für Emilios Café. Besser: ich nehme sie mir nicht. Ich möchte Nina nicht begegnen, die mir E-Mails schreibt, auf die ich kaum noch antworte.
„Du bist plötzlich in meine Glaskugel lautlos bis hin in meine Seele eingedrungen – ich bin hilflos überfordert…ich bin machtlos…was machst du jetzt in diesem Augenblick? Wo sind deine Gedanken? Was fühlst du?“ und „Wo bist du eigentlich? Warum antwortest du mir nicht auf meine Fragen? Sag bitte was!“ und „My dark angel / take my hand / and come with me / in the world of shadows / in my black world / and listen the voices / the world between pleasure and pain / see the haven / with tears of blood / it’s this wonderland / my biggest dream…”
Verwirrung der Gefühle. Nina hat schon mehrfach den Wunsch geäußert, dass sie sich wieder mit mir treffen möchte. Sie hat mich zu sich nach Hause eingeladen.
In meinem Inneren schreit alles „Nein“. Aber ich bin gleichzeitig auch berührt, vielleicht auch neugierig. Ich weiß es nicht genau. Ich bin hin und her gerissen.
„Bin im Moment mit Arbeit zugedeckt“, schreibe ich ihr. Dennoch fühle ich mich zu ihr hingezogen. Und bin hilflos überfordert. Ich schiebe alles von mir weg.
Eines Mittags steht Felix plötzlich mit einem Tablett neben mir am Schreibtisch. Ich bin erschrocken, weil er wie aus dem Nichts aufgetaucht war.
„Hier“, sagt er und stellt mir eine Flasche Orangensaft, einen Kaffee und einen dampfenden Teller hin.
„Du musst mal was Vernünftiges essen. Das kann ich mir nicht mehr mit ansehen. Du kannst dich nicht nur von Studentenfutter und Zigaretten ernähren. Du bist schon Gesprächsthema im Büro, aber du bekommst ja nichts mit. Doch keiner sagt was zu dir – nur geredet wird über dich.“
Auf dem Teller liegen eine Roulade, zwei Klöße, Rotkraut und Soße. Besteck hatte mir Felix ebenfalls mitgebracht.
„Die Mutti hat eine Portion mehr gekocht“, sagte er fast entschuldigend.
Ich sehe ihn an. Ich hatte keine Ahnung, ob ich überhaupt Hunger habe. Aber es riecht verdammt gut. Mit meinem Unterarm schiebe ich all den Papierkram beiseite und beginne, langsam zu essen. Felix hat sich mir gegenüber an den Schreibtisch gesetzt.
„Und, schmeckt’s?“ fragt er.
Ich kann nur nicken.
„Nicht zu heiß in der Mikrowelle geworden?“
Mein Mund ist vollgestopft und so kann ich nur mit dem Kopf schütteln.
Als ich ihn kurz ansehe, blicke ich in ein zufrieden lächelndes Gesicht. Seine Augen sehen mich dieses Mal fest an. Das ist ungewöhnlich für Felix.
„Das wird Mutti aber freuen.“
Die ganzen vergangenen Tage hatte ich mich einfach selbst vergessen und habe das noch nicht einmal gemerkt. Da musste erst so jemand wie Felix kommen.
Nach dem unverhofften Mittagessen nehme ich meine Jacke und gehe hinaus.
„Vielen Dank! Sag deiner Mutti einen lieben Gruß von mir – es hat geschmeckt. Ich muss jetzt ein Stück laufen“, sage ich zu Felix.
Draußen regnet es. Ich nehme es wahr und bin sehr glücklich darüber. Ganz langsam, Schritt für Schritt, bewege ich mich fort.
Mir ist, als entdecke ich die Stadt neu. Tief atme ich die regennasse Luft ein.
Wo hatte ich die letzten Tage nur gesteckt?
Das kleine Mädchen war krank. Auch ihre Geschwister waren es. Es war sehr kalt – draußen, weil es Winter war und drinnen, weil der Ofen nicht beheizt wurde – es waren keine Kohlen mehr da. So war es schon oft.
Alle blieben in ihren Betten.
Und alle hatten Hunger. Die Geschwister weinten. Das Mädchen bestimmt auch, doch es konnte sich sicher nicht mehr daran erinnern. Aber das Weinen hatte keinen Sinn. Genauso wenig wie es Kohlen gab, gab es genauso wenig etwas zu Essen. Weil ganz einfach nichts da war und kein Geld vorhanden war, um etwas zu kaufen. Das kam auch schon öfter vor.
Irgendwann brachte die Mutter für jeden ein Stück Brot. Es war aufgebacken. Es schmeckte nicht gut – es schmeckte verschimmelt.
Das Mädchen betrachtete die Eisblumen am Fenster. Und träumte sich davon.
Ich sitze bei Emilio. Ohne Laptop und großer Tasche. Als ganz normaler Gast. Es ist vormittags kurz vor zehn Uhr.
„Ciao Bella“, hatte Emilio mich freudig begrüßt.
„Wie schön, dich zu sehen wieder einmal.“
Nina wird jeden Moment zur Tür hereinkommen – ich bin mit ihr verabredet. Ich habe mir vorgenommen, nichts zu erwarten und nichts zu hinterfragen. Da sitzen nur zwei Frauen in einem Café. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ich habe mir drei Tage frei genommen. Meine Reportage war fertig, hatte allgemeine Anerkennung gefunden und sie war bereits in den Druck gegangen. Nächste Woche wird sie in unserer Beilage erscheinen.
Ich war stolz. Auf mich.
Als ich diesen Auftrag erhielt, verdrehte ich zunächst die Augen. Ich konnte mich noch gut daran erinnern. Dann fesselte mich dieses Thema und ich bin tief eingetaucht. Und habe wunderbare Menschen kennengelernt. Ich hatte mich bereits bei den Besuchern der Borderline-Plattform für ihre Hilfe und Unterstützung bedankt. An Annabell schickte ich Abzüge der Fotos, die ich bei dem Besuch bei ihr geschossen habe. Es sind wundervolle Fotos, die eine ganze Menge erzählen. Vor allem über Annabell.
Die freien Tage habe ich mir verdient, vor allem nach dem exzessiven Arbeitsleben in der letzten Zeit.
Ich muss meinen Kopf frei bekommen und mal an mich denken. Das hatte mir Felix noch mit auf den Weg gegeben, als ich mich gestern Abend von ihm in der Redaktion verabschiedete. Ich war erstaunt gewesen, dass er einen Abstand einhalten konnte und mich mit seiner Nähe nicht überfiel und mich auch nicht zu berühren versuchte.
Nina betritt das Café. Mit einem Lächeln kommt sie auf mich zu.
„Ich freue mich so sehr, dich zu sehen“, begrüßt sie mich.
Sie setzt sich. Wieder mir gegenüber. Sie strahlt über das ganze Gesicht.
„Wie geht es dir? Du siehst müde aus“, sagt sie.
„Danke, ich bin okay. Die letzte Zeit war sehr anstrengend“, antworte ich.
Wir sehen uns an und schweigen.
‚Man kann wirklich in ihren grünen Augen versinken’, denke ich wie schon so oft.
Emilio kommt an unseren Tisch. Auch er strahlt.
„Ah, die kleine Schwester, die nicht Schwester ist.“
Ich unterbreche meine Gedanken, weil Emilio mich erwartungsfroh anschaut und bestelle zwei Kaffees.
Nina trägt ihr langes, blondes Haar wieder offen und hat enge Jeans, Turnschuhe und ein weißes T-Shirt an. Wieder sehe ich die Narben auf ihren Armen. Es scheinen ältere und welche jüngeren Datums zu sein. Sie bemerkt meinen Blick, schaut mich aber trotzig an. Ich dagegen habe Annabell vor Augen. Meine Frage unterlasse ich. Nach diesem, ihren Blick.
„Ah, ich habe dir etwas mitgebracht“, sagt sie, während ich mir eine Zigarette anzünde und den Rauch tief einatme.
Sie gibt mir etwas unbeholfen eine Schneekugel. In ihr sitzt ein kleiner, grüner Teddy. Statt Schneeflocken fallen beim Schütteln winzige Gänseblümchen.
Ich bin seltsam berührt und schüttle behutsam die Kugel, um den Gänseblümchen zuzusehen, wie sie vorsichtig auf den Boden fallen.
„Die Blumen sind Wünsche. Immer wenn eines zu Boden fällt, geht einer in Erfüllung. (Wie viele Wünsche kann ich mir da wünschen? Unendlich viele…)
Wir verbringen über zwei Stunden bei Emilio und unterhalten uns über Film und Literatur. Und Musik. Erstaunlicher Weise hört sie unter anderem selbige wie ich, aber auch vieles, was mir gar nichts sagt. Der Altersunterschied macht sich wohl bemerkbar.
Es ist gut, nichts erwartet zu haben. Einfach nur bei Kaffee sitzen und sich unterhalten. Zwanglos.
Nina erzählt mir auch von ihrem Haustier – einer Ratte. Anastasia. Nina bringt ihr Kunststückchen bei und Anastasia scheint talentiert zu sein. Ich habe keine Zeit für ein Haustier; es wäre bei mir nicht gut aufgehoben.
„Lass uns doch noch ein Stück laufen“, schlägt Nina vor, als es wieder still zwischen uns wird. Behutsam stecke ich die Schneekugel in meine Tasche und bezahle bei Emilio.
„Ciao, ihr beiden“, ruft er uns hinterher.
Mit meinem Auto fahren wir bis zum Stadtrand, da, wo die Gartenanlagen beginnen und der Fluss sich seinen Weg bahnt, laufen wir den schmalen Weg entlang.
„Merle, hast du schon mal versucht, eine Wolke zu umarmen?“ fragt Nina unvermittelt.
„Wie jetzt?“
„Na ja, stell es dir halt vor. Wie wäre es wohl?“
„Wahrscheinlich wie Zuckerwatte, nur nicht so süß“, meine Antwort.
„Es ist ganz warm und weich, luftig und zart, nichts ist mehr wichtig, nur das Jetzt, nichts kann einen verletzen, man ist in Sicherheit und weit weg…“, sagt sie so überzeugt, als wäre es ihr tatsächlich schon einmal gelungen, eine Wolke zu umarmen.
Wir setzen uns ins Gras; ich sehe dem Fluss zu und den Enten, die er trägt. Und denke, dass es eine ziemlich irreale Situation ist. Was Nina denkt, weiß ich nicht; sie schweigt ebenfalls und kaut an einem Grashalm.
„Lass uns gehen.“
Mir ist das Schweigen zu laut geworden, nicht mehr aushaltbar für mich.
Die Situation wirkt bedrohlich und ich weiß nicht, warum. Angst steigt in mir auf.
„Fährst du mich heim?“ bittet Nina mich.
„Dann könnte ich dir meine Wohnung zeigen und Anastasia.“
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
Zu Nina sage ich: „Ein anderes Mal vielleicht. Aber ich bringe dich bis vor die Haustür.“
Schweigend fahren wir. Als ich Nina vor ihrem Wohnhaus absetze (sie wohnt in einem der Hochhäuser im Südgebiet der Stadt), schaut sie mich bittend an: „Dann gib mir doch deine Telefonnummer. Dann könnte ich dich anrufen. Der Tag war heute so schön und ich möchte deine Stimme hören, wenn wir uns nicht treffen können. Bitte!“
Ich bin plötzlich unendlich müde und erschöpft. Und möchte nur noch in mein sicheres Zuhause. Still in mich und meinem Sein flüchten.
„Wir können uns mailen – das reicht doch“ vertröste ich sie.
Sie steigt aus dem Wagen aus.
„Bis bald“, sagt sie leise.
Als ich losfahre, sehe ich eine hilflose Nina und bemerke, dass sie weint.
„Na, meine Sonne, das wird auch langsam mal wieder Zeit, dass wir einen Mädelsabend haben“, begrüßt mich Heide, als ich die knarrenden Stufen in ihrem Treppenhaus hochsteige.
„Ja, Zeit wird’s, auch, du meine Sonne. Das haben wir lange nicht mehr gemacht. Hier, ich habe die Zutaten mitgebracht“, sage ich, während ich ihr den Korb reiche.
„Du bist heute für die Getränke zuständig. Am besten, du machst erst mal ein Bier auf und wir rauchen in aller Gemütsruhe eine Zigarette, bevor wir loslegen.“
„Was gibt’s denn heute?“
„Lass dich überraschen. Du wirst es dann beim Kochen sehen.“
Heide stellt den Korb in der Küche ab und wir marschieren weiter in Richtung Wohnzimmer. Wir setzen uns an den großen, runden Tisch, auf dem Blumen, Kerzen und natürlich der Aschenbecher stehen.
Das Zimmer ist schlicht, aber praktisch eingerichtet. An einer Wand hängt ein Bild, das ein Maler unserer Heimatstadt („Heimatstadt“ klingt so friedlich, geborgen – und das war sie nun wirklich nicht für mich) gemalt hat. Darauf ist der Marktplatz zu sehen. Immer, wenn ich das Bild anschaue, fallen mir Begebenheiten ein. Meistens trostlose, traurige.
Ab und zu, wenn uns danach ist und alles passt, treffen wir uns und kochen gemeinsam. Irgendwas. Heide schickt ihren Mann dann in die Wirtschaft und wir können uns in Ruhe austoben.
Gepflegte Küchengespräche also. Über Gott und die Welt (auch wenn die Welt manchmal sehr klein ist) oder über uns.
Bedachtsam füllt Heide unsere Gläser. Ebenso bedachtsam zünden wir uns unsere Zigaretten an und atmen den Rauch tief ein. Es ist fast wie ein Ritual.
In die Stille hinein sage ich: „Es tut gut, wieder einmal bei dir zu sein. Hier ist alles so herrlich unkompliziert. Es ist wie die Seele baumeln lassen nach einer anstrengenden Zeit. Die Leichtigkeit des Seins.“
„Ich freue mich, dass du da bist“, antwortet Heide. Und wir stoßen an und trinken auf uns und uns ist es egal, ob man das macht oder nicht... mit Bier anstoßen.
Heide ist der verlässliche Ruhepol in meinem chaotischen Leben, wie ein sicherer Hafen. Man muss bei ihr nicht um die Ecke denken, wenn sie etwas sagt. Man muss nicht überlegen, was und wie etwas gemeint sein könnte.
„Legen wir los? Langsam bekomme ich Hunger auf unsere Lammkoteletts. So, jetzt ist es raus. Keine Überraschung mehr.“
„Ah, Lamm gibt’s. Na dann los. Auf geht’s in die Küche.“
Während ich Mangold putze und in Streifen schneide, klopft und würzt Heide die Koteletts.
Unser Küchengespräch ist so wunderbar belanglos. Über Nachbarn, Eier und die Haltbarkeit von Toastbrot. Es ist so erholsam, in der Hektik abrupt einmal an- und innezuhalten und sich nur auf Nebensächlichkeiten, die plötzlich einen unfassbaren Wert erhalten, einzulassen.
Die Redaktion, die Borderliner und auch Nina sind so weit weg und tangieren mich im Augenblick peripher.
Nach einer Stunde ist unser Festessen angerichtet. Und für Franz, Heides Mann, bleibt genügend übrig. Er wird sich freuen.
Wir bleiben ganz im Moment des Genusses. Nichts lenkt uns ab. Wir sind voll und ganz dabei.
Nach dem Essen erzählt mir Heide, dass sie ein neues Buch über die Stadt, genau die Stadt, hat. In dem berichten Menschen über sie, als sie noch vom Gaskombinat und Braunkohletagebau zu Ostzeiten beherrscht wurde.
Ich blättere vorsichtig herum und lese das Vorwort. Viele Sachen kommen mir bekannt vor: die Einzigartigkeit von Begriffen, die es nur dort gibt und Fotos, Orte, an denen ich selbst einmal vor langer Zeit vorbeigelaufen bin und sogar Personen, denen ich damals als Kind begegnete. Einiges glaubte ich vergessen zu haben – aber das Gefühl betrog mich. Ich hatte alles nur ganz weit nach hinten verbannt, mein Wissen, meine Erlebnisse, Emotionen.
An einige, wenige Sachen knüpfe ich auch positive Erinnerungen, wie ich feststelle. Und bitte zu meiner eigenen Überraschung Heide, mir das Buch zum Lesen auszuleihen.
Beginne ich etwa, mich meiner Vergangenheit zu stellen? Oder ist es für eine solche Feststellung noch zu früh? Oder suche ich nur das Positive und verkläre somit meine Erinnerungen und reduziere sie damit nur auf das Gute? Oder ist es nur ganz einfach so, ohne jeglichen Hintergedanken? Nein, das wird es wohl nicht sein.
Es ist nach wie vor ein heißes Thema, bei dem ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll, ohne mir selbst Schaden zuzufügen…ich könnte es sein lassen.
Aber irgendwie ist in meinem Inneren trotz aller Vorsicht auch Neugier erwacht.
Doch selbst dieses Thema fühlt sich in Heides Gegenwart leicht an.
„Es gibt hier übrigens noch jemanden aus unserer Stadt – wir können langsam eine Enklave eröffnen“, sagt Heide und lacht.
Ich schaue mit zusammengekniffenen Augenlidern in das Kerzenlicht und sehe so die Spektralfarben zwischen den Wimpern.
„Nein, das ist ja nicht zum Aushalten“, stöhne ich. „Und das alles hier in unserer Ecke?“
„Mmh, so wie es der Zufall will. Martha ist bereits 85 und ich kenne sie schon lange. Sie kommt mich oft in der Werkstatt besuchen, um über alte Zeiten zu reden. Sie ist sehr einsam geworden, seit ihr Mann vor 5 Jahren gestorben ist. Sie ist zwar schon als junge Frau weggezogen, aber sie kennt alles noch von früher. Und Schwester Martina. Sie arbeitet vorn an der Ecke beim Zahnarzt. Gibt es nicht irre Zufälle? Sie spricht so wie ich; bei dir merkt man das ja gar nicht so, aus welcher Gegend du kommst. Ich jedenfalls hab’ da meine Ohren aufgesperrt und einfach nachgefragt. Das war vielleicht lustig, als wir die gemeinsame Herkunft feststellten.“
Nur manchmal verfalle ich in den Dialekt aus Kinderzeit; meist dann, wenn ich länger mit Heide spreche. Und dann benutze ich auch die für diese Gegend typischen Begriffe, die hier kein Mensch kennt. Begriffe aus dem Wendischen.
Es wird sehr spät, als ich nach Heide verlasse. Franz war schon längst aus der Wirtschaft heimgekehrt und hatte sich über das Essen hergemacht.
Vorsichtig trage ich das geliehene Buch nach Hause und ebenso vorsichtig lege ich es auf meinen Couchtisch ab. Als wäre es etwas ungeheuer Kostbares, ein Schatz.
Ich zwinge mich, nicht noch nachts mit dem Buch zu beginnen. Es könnte verheerende Folgen haben. Ich muss vernünftig sein. Mir zuliebe. Ich schlafe ein, zugedeckt mit meinen Erinnerungen, die mir nah sind und die ich nicht abschütteln kann.