Читать книгу Mondnachtschatten - Alma Bandemer - Страница 11
ОглавлениеChaos
„Hallo Merle, mich hat die Klinik seit heute Vormittag wieder. Station wie immer – bin also in meinem zweiten Zuhause. Kannst du mir den Schlafanzug und die Zahnbürste vorbei bringen? Beides habe ich in der Hektik vergessen.“
Ja, ja, da wird Martin wieder in Richtung Notaufnahme losgezogen sein ohne Kopf und ohne Verstand. Nein, es muss wieder sehr schlimm sein, wenn er sich selbst einweisen muss. Er kennt sich und seine Krankheit sehr gut und weiß, wie er damit umzugehen hat.
Seine SMS trudelte am Nachmittag bei mir ein. Seine Hoffnung, es auch dieses Mal ohne die Klinik zu schaffen, hat sich zerschlagen.
„Hey, ich komme am Abend vorbei und bringe alles mit. Bis dahin.“
Das war vor vier Stunden gewesen.
Nun sitze ich vor Martins Bett und kann ihn kaum verstehen. Sein Trigeminus macht ihn zu schaffen, was bei Patienten mit der Diagnose Multiple Sklerose sehr häufig vorkommt. Dabei ist der Trigeminus-Nerv betroffen, der sich im Gesicht befindet. Seine Aufgabe ist die Reizweiterleitung im kompletten Gesichtsbereich an das Gehirn. Wenn dieser Nerv geschädigt wird, kommt es zu fast unerträglich starken Gesichtsschmerzen. Sie treten meist einseitig auf und erstrecken sich vorwiegend über Ober- und Unterkiefer, Wangen, Nase und Kinn.
Dabei kann Martin kaum sprechen und keine Nahrung zu sich nehmen. Das müssen unglaubliche Schmerzen sein. Schmerzen jenseits der Vorstellungskraft, die er aushalten muss. Es scheint, als besteht sich Martin aus einem einzigen Schmerz.
Wir verständigen uns zwischendurch immer mal wieder mit Zeichensprache (da sind wir sehr kreativ) und per Stift und Zettel.
Martin hat einen Schlauch in der Nase wegen der künstlichen Ernährung. Wir sagen dazu: Elefant. Er hat einen Rüssel. Wir nehmen vieles scherzhaft, weil es sonst kaum zum Aushalten wäre.
An seinem linken Arm ist ein Verband mit einem Zugang zu sehen. Der aber ist im Moment ungenutzt.
Martin liegt in einem Drei-Bett-Zimmer. Auch die anderen beiden – älteren – Männer haben Besuch. Da er nicht am Tropf hängt, quält er sich in seinen Rollstuhl. Das kostet ihn ungeheuer viel Kraft. Doch er will nur für ein paar Minuten raus aus dem Zimmer mit dem Stimmenwirrwarr. Hinaus aus der aufgeheizten Wärme des Zimmers an die frische Luft. Da stört es nicht, dass es regnet.
Wir rollen und laufen im Gang entlang bis ans hintere Ende. Dort gibt es eine Terrasse, die auch zum Rauchen genutzt wird. Aber Martin ist in einer solch schlechten Verfassung, dass er noch nicht einmal mehr das kann.
Da Martin kaum reden kann, bleibt es diesmal recht still zwischen uns. Normalerweise quasselt er ohne Punkt und Komma, dass man kaum hinterher kommt und man hat es schwer bei ihm, sich einem Wortgefecht zu stellen.
Es ist jetzt sozusagen Martin-Pause.
So rede ich nur ein wenig und wir beschränken uns nur auf das, was noch erledigt werden muss. Das ist nun erst einmal das Wichtigste.
„Vergisst du bitte die zwei Briefe, die noch abgeschickt werden müssen, nicht?“ fragt er und es kommt so sehr gequält aus seinem Mund.
„Keine Sorge, das mache ich. Und gib mir ruhig Bescheid, falls du noch etwas brauchst. Mach es also so, wie immer. Und Post und Blumen und Unaufgeräumtes mache ich auch wie immer. Brauchst dir darum keine Gedanken zu machen.“
Besuchen werde ich ihn jeden dritten Tag – das haben wir vor langer Zeit einmal ausgemacht. Wohl dosiert, damit es keine Belastung wird. Für beide Seiten. Denn es kann zur Quälerei werden – für den, der besucht und dem, der besucht wird.
Nach einer halben Stunde Frischluft gehen wir wieder hinein. Martin wurde schon von der Schwester gesucht. Da hier aber erfahrungsgemäß kaum ein Mensch verloren geht, ist das kein Drama. Er bekommt zusätzliche Medikamente – auch Schmerzmittel.
„Welch ein Glück, dass es so etwas gibt“, sagt er mit größter Anstrengung.
Ich bleibe noch bei ihm, bis er sich ins Bett gelegt hat. Selbst das ist ein Hindernis und ist sehr schwierig – es bedeutet ein gewaltiger Kraftakt.
Jetzt, so liegend in seinem Bett, sieht er so schutzlos, so hilflos aus.
Ich verabschiede mich von ihm und umarme ihn kurz. Martin ist der einzige Mann, bei dem mir das gelingt. Außer Emilio, aber der nimmt mich ja immer in seine Arme.
Das Mädchen hing an der Hand des Vaters hoch über dem Boden. Mit der anderen Hand schlug er zu. Immer wieder, als wollte er nie wieder damit aufhören. Das Mädchen wusste nicht, was es getan hat. Aber bestimmt etwas ganz Schlimmes. Auch wenn es sich nicht erinnern konnte. Es war ganz still. Sagte kein Wort. Und schrie auch nicht. Der Vater schmiss das Mädchen in sein Bett. Ganz steif lag das Mädchen und starrte auf seine blauen Hausschuhe mit dem weißen Fellrand. Das Bett war weiß und aus Holz und hatte runde Kugeln an den Bettpfosten. Eigentlich durfte es mit Schuhen nicht ins Bett. Aber der Vater hatte es so hinein geworfen. Dem Mädchen tat alles weh, aber es weinte nicht. Es starrte einfach nur. Das machte den Vater wütend, der noch mehr schrie. Endlich ging der Vater aus dem Zimmer. Das Mädchen blieb für lange Zeit steif und starr, ohne Regung liegen.
Nina erwartet mich schon. Sie steht im Flur. Ich kann sie aus dem Glaskasten heraus sehen. Nach der üblichen Prozedur bin ich bei ihr auf der Station gelandet. Ich habe einen bunten Strauß Blumen dabei und zwei Schachteln Zigaretten.
„Dass du endlich da bist“, sagt sie, während sie aufsteht und mich umarmt. Sehr lange. Ich halte das kaum aus.
Wir gehen in ihr Zimmer. Schnell packt sie die Zigarettenschachteln unter ihr Kopfkissen. Ich stehe ein wenig verwundert da. Aber nicht lange.
Nina wirkt immer noch müde und so, als ob sie neben sich steht. Sie zeigt mir all die Bilder, die sie in der Kunsttherapie gemalt hat.
Sie hat auch ein Geschenk für mich: einen Anhänger aus Speckstein am Lederband, den sie in der Werktherapie gefertigt hat. Er sieht wunderschön aus. Er ist grün-weiß marmoriert und ganz glatt poliert.
Nina sitzt mit angezogenen Beinen im Bett und hatte mich beobachtet. Ich sitze auf ihrem Bettrand. Jetzt strahlt ihr Gesicht. Nur ihre Augen haben ihren Glanz und das Leuchten noch nicht wiedergefunden.
Plötzlich wird die Tür aufgerissen.
„Ah, die hat Besuch. Haste was mitgebracht?“ die direkte Frage an mich.
„Blumen“, meine knappe Antwort nach dem Erschrecken.
„Die ist doch meschugge. Paah, Blumen. Die kann doch hier keener gebrauchen.“
„Merle, das ist Elvira. Heute ist sie etwas daneben, aber ansonsten ganz friedlich. Stimmt’s, Elvira?“
„Ja, ja, bin komisch“, antwortet Elvira und: „Det is een janz liebet Kind, unsere Nina.“
„Ja, das glaube ich, Elvira“, sage ich.
So wie sie gekommen ist, so verschwindet sie auch wieder: laut polternd.
Jetzt ist wieder Stille.
Nach einer Weile sagt Nina: „Weißt du, was mein Traum ist, Merle?“
Eine kurze Pause.
„Irland. Da ist es so schön. Dort würde ich für immer bleiben wollen. Kommst du mit nach Irland? Bitte, sag ja.“
Das klang schon fast flehentlich.
‚Nein, ich will nicht mit nach Irland.’
„Nina, langsam. Einen Schritt nach dem anderen. Erst musst du stabil werden. Das ist jetzt das Wichtigste. Und dann eine Therapie.“
Ihr stiegen Tränen in die Augen.
„Aber das ist doch mein Traum. Dort brauche ich keine Therapie. Ganz wirklich nicht. Glaub mir bitte…dort geht es mir besser, dort werde ich frei sein.“
„Ja, diesen Traum darfst du auch haben. Den nimmt dir doch auch niemand weg. Aber jetzt gibt es erst einmal wichtigere Dinge.“
Nina schluckt die Tränen hinunter.
„Warst du schon einmal in Irland?“ frage ich sie.
Sie nickt.
„Dann erzähl mir davon.“ Ich weiß nicht, ob es richtig ist, worum ich sie bitte.
Doch Ninas Gesicht entspannt sich, sie wird ruhiger und von den Tränen ist nichts mehr zu sehen.
Sie erzählt mir von einem Schüleraustausch. Sechs Wochen war sie dort gewesen. Sie war damals fünfzehn Jahre alt und hat es genossen: ihre Gastfamilie, in der sie so herzlich aufgenommen wurde, die vielen wunderbaren Erlebnisse, die Natur, die Geschichte. Nina sagt, es war die glücklichste Zeit ihres Lebens.
Wenn sie entlassen wird, möchte sie mir Fotos davon zeigen. Sie erzählt so spannend und lebendig, dass ich das Gefühl habe, selbst einmal dort gewesen zu sein.
„Lass uns einmal dahin fahren, dann kannst du dir alles ansehen. Ich weiß, es wird dir gefallen“, beendet sie ihren Reisebericht.
Plötzlich und unerwartet beugt sie sich zu mir vor, nimmt meinen Kopf in ihre Hände und küsst mich. Das geschieht so vorsichtig-behutsam, wie ich es noch nie erlebt habe. Ich erwidere den Kuss und ich weiß nicht, wie lange wir darin versunken sind. Und ich frage mich, welchen Wahnsinn wir hier eigentlich treiben. Ich weiß nicht, ob es sein darf, sein kann. Und doch ist das eben so. Ein Wahnsinn in einem Zimmer auf einem Bett einer psychiatrischen Klinik.
Ich habe noch nie eine Frau geküsst, aber es ist mit Abstand der schönste Kuss, der mir je begegnet ist.
Danach schauen wir beide uns einfach nur schweigend an, als wolle keiner diesen kostbaren Augenblick zerstören.
Ich stehe auf. Nun nehme ich ihren Kopf in meine Hände und küsse sie auf die Stirn.
Ich muss gehen. Langsam gehe ich zur Tür. Ich drehe mich noch einmal um und sehe Nina, wie sie so verloren auf dem Bett sitzt und mir nachwinkt mit Tränen in den Augen.
Das Mädchen schläft. Es ist Nacht. Plötzlich steht die Mutter am Bett und heult. Und erzählt dem Mädchen, dass sie nicht mehr kann, dass sie sich beim dritten Kind schon scheiden lassen wollte, dass der Vater immer will, weil er sich das Zeug nicht aus den Rippen schwitzen könne…Was sollte das Mädchen dazu sagen? Es war mitten in der Nacht und es war müde. Sollte das Mädchen sagen, dass es Bescheid wüsste und dass das bei Männern eben so ist? Aber damit würde es das Geheimnis verraten und das dürfte sie niemals. Die Mutter weint noch immer, während sie am Bett sitzt. Sollte sie der Mutter etwa erklären, wie man das so macht? Mit Männern? Die Mutter geht. Endlich. Das Mädchen bleibt für den Rest der Nacht wach. Wieder einmal.
Es ist schon eigenartig, jetzt zwei Menschen in der Klinik zu haben: Nina und Martin.
Beide Häuser stehen auf einem riesigen Areal. Und von A noch B brauche ich vielleicht nur fünf, sechs Minuten.
Das Klinikum besteht aus sehr vielen Häusern, Abteilungen, Stationen. Vor noch nicht allzu langer Zeit hat man die einzelnen Kliniken, die in der Stadt verstreut waren, zusammengefasst und in hier auf dem riesigen Gelände untergebracht.
Das ist sehr klug und sehr praktisch: alles ist nah beieinander, es sind nur kurze Wege, alles ist übersichtlich.
Als ich von Martins Station komme, wähle ich den Weg, der an der Klinikkapelle vorbei führt. Obwohl es bereits dämmert, ist die Tür unverschlossen. Ich gehe hinein. Es ist ruhig und ich habe das Gefühl, als wärmte diese Ruhe mich und mein Innerstes. Zwischen all den Fenstern brennen in dezentem Licht Lampen. Eine eigenartige Atmosphäre. Ich setze mich genau dort hin, wo ich schon letzten Sonntag saß.
Gedanken in der Stille.
„Auch wenn ich sonst nie zu dir bete, so bitte ich dich: hilf mir und gib mir Kraft und ich werde tun können, was ich zu tun habe.“
Es ist tatsächlich so etwas wie ein Gebet.
Genau jetzt beschließe ich, auch diesen Sonntag wieder hier her zu kommen. Halb zehn beginnt der Klinikgottesdienst hatte ich draußen gelesen. Letztens bin ich ja nur irgendwie hinein geraten. Ich werde es für mich tun – für niemand anderen – nur ganz allein für mich.
Manchmal knackt es in der Kapelle und ich erschrecke…aber es ist nur das Holz der alten Bänke. Ich bin ganz allein hier.
Beim Hinausgehen sehe ich links neben mir eine Treppe. Sie war mir gar nicht aufgefallen. Vorsichtig laufe ich sie empor. Oben angekommen, sehe ich mich einer Tür gegenüber. Rechts von mir befinden sich erst ein Tisch mit einem Stuhl und dann ein Geländer.
Behutsam trete ich heran und bemerke, dass ich auf einer Empore stehe, von der ich auf den ganzen Kirchenraum blicken kann. Ein fantastischer Ausblick. Jetzt schaut man nicht mehr zu dem Gemälde des Samariters hinauf, sondern hinab.
Langsam und leise, als hätte ich etwas Verbotenes getan, steige ich die Treppe wieder herunter.
Endlich der ersehnte Anruf von Frau Funke.
„Am nächsten Freitag um fünfzehn Uhr hat Herr Peterson genügend Zeit für Sie, Frau Leonardt.“
„Haben Sie ganz herzlichen Dank. Ich werde da sein“, meine erleichterte Antwort.
Heute haben wir Montag. Also noch elf Tage. Ich rufe Max an. Er ist in seinem Büro. Ich mag nicht zu ihm hinüber gehen. Deshalb wähle ich diese Form der Kommunikation.
„Mensch, Klasse. So rutschen wir in die nächste Ausgabe hinein und bekommen somit zwei Seiten Platz. Mehr kann uns gar nicht passieren. Ich überlasse dir die Anzahl der Fotos. Und welche du nimmst, das entscheidest du auch ganz allein, Kleines. Du legst mir dann nur alles zusammen vor und den Rest besprechen wir wie gewohnt in der Redaktionssitzung. Einverstanden? Ich bin so stolz auf dich.“
So überschwänglich kenne ich Max gar nicht. Ich bin einigermaßen verwundert und kann gar nichts darauf erwidern.
Aber auch bei mir ist ein gewisses Maß an Anspannung abgefallen, obwohl ich mir bei Herrn Peterson ganz sicher war.
Alles ist gut vorbereitet und ich bin sehr gespannt auf diesen wichtigen Freitag. Wird er alle offenen Fragen beantworten können?
„Kannst du mir sagen, was mit dir los ist?“ fragt mich unvermittelt Paula.
Ich bin mir keiner Schuld bewusst und schaue sie nur fragend an.
„Los, setz dich mal“, sagt sie und drückt mich auf den Drehstuhl runter, von dem ich gerade aufstehen wollte. Sie dagegen zieht sich einen weiteren heran.
„Du bist seit Tagen so ruhig. Zu ruhig. Um es zu sagen: wir machen uns Sorgen. Um dich. Wir vermissen deine ruhelose Hektik und dein ausgebreitetes Chaos. Deine manchmal doch recht große Klappe. So wie du jetzt bist, das bist nicht du. Manchmal habe ich Angst, du könntest zusammenbrechen – solch einen Eindruck hinterlässt du. Kann ich dir helfen?“
‚Nicht schon wieder’ denke ich. ‚Es geht mir langsam auf die Nerven…’
„Kaffee wäre jetzt gut. Findest du nicht auch“, sage ich hingegen. „Und eine Zigarette dazu wäre auch prima.“
„Nimmst du mich ernst, Merle?“
„Aber ja doch“, konstatiere ich müde.
Wir stehen auf und laufen erst zum Automaten, dann in die Raucherecke. Ich biete Paula auch eine Zigarette an, die sie entrüstet ablehnt.
„Tu nicht so. Es ist noch gar nicht so lange her, da hast du selbst darum gebeten.“
„Es geht hier nicht um mich. Jedenfalls nicht im Moment.“
„Hör zu, Paula. Ich bin soweit in Ordnung. Es geschehen um mich herum nur viele Dinge, die ich erst mal eingeordnet bekommen muss. An meiner Arbeit gibt es wohl nichts auszusetzen. Oder etwa doch?“
„Nein, Merle, das nicht.“
„Dann ist es ja gut. Außerdem hat euch doch oft mein Chaos gestört. Genießt doch einfach die Zeit, in der ich so ordentlich und temperamentgebremst bin. Denn ich bin mir sicher, dass alles wiederkommt.“
„Du nimmst mich wirklich nicht ernst.“
„Doch. Aber ich möchte nicht über mich und meinem Kram reden, weil mein Innerstes ein Chaos ist. Ist das so schwer zu verstehen?“
„Na wenn das so ist“, sagt Paula und steht beleidigt auf.
„Warte Paula. Das habe ich jetzt nicht gut von mir gegeben und bei dir mag es auch noch verkehrt angekommen sein. Ich kann nicht darüber reden, weil ich keine Worte dafür finden kann. Genau das macht es ja so schwer. Ja, Merle ist mal sprachlos. Es ist wie ein großes Wollknäuel, bei dem man weder den Fadenanfang noch das Ende finden kann. Alles ist verfitzt. Und all das hat weder was mit dir noch mit der Redaktion zu tun. Verstehst du?“
Das klingt wie eine Bitte. Eine Bitte um Verständnis.
Erst Felix, der mit mir sprach, jetzt Paula. Die Arbeitsperson versieht ihren Dienst nicht mehr zuverlässig und konsequent, sonst würde ich nicht so anders sein, dass es hier auffällt. Die Person in mir, deren Name Svenja ist, scheine ich Ausgang gewährt zu haben oder sie ist geflüchtet. Eine gefährliche Situation .
Paula war stehen geblieben und hatte sich noch angehört, was ich zu sagen hatte.
„Merle, wenn ich irgendwas für dich tun kann, lass es mich wissen. Ich bin für dich da.“
„Ich weiß, Paula. Danke.“
Paula geht zurück ins Büro. Ich folge ihr nach einer stillen Zigarette.
Ich bin mit meiner Arbeit für heute fertig. Nur den Termin zur Eröffnung eines Jugendklubs muss ich noch wahrnehmen. Den Artikel kann ich dann von zu Hause aus schreiben.
Die Zeit bis zu diesem Termin überbrücke ich bei Emilio, während ich eine E-Mail an Annabell schreibe und ich weiter im Borderline-Forum chatte. Ich habe jetzt selbst so viele Fragen, dass ich es kaum noch bis zu diesem Freitag abwarten kann.
Das Mädchen schlief wie manchmal ein. In der ersten Stunde in der letzten Bankreihe, in der es saß. Meist in Biologie am Dienstag und Freitag. Da brauchte es nichts zu befürchten.
Es durfte da schlafen oder auch etwas ganz anderes machen. Es hatte bereits eine Frühschicht hinter sich, so dass es früh morgens kaum dem Unterricht folgen konnte.
Das Mädchen hatte sehr früh aufzustehen. Es musste die Schulbrote für ihre Geschwister machen (sofern Brot und etwas zum darauftun da war), dem Vater den Kaffee kochen, die Brüder wecken (sie kamen immer sehr schwer aus dem Bett und sie musste oftmals nach ihnen sehen) und sie fertig für die Schule machen.
Dabei durfte kaum ein Wort fallen, denn das hätte den Vater wieder gestört. Doch das ließ sich nie vermeiden und so begann jeder Tag laut. Immer hatten die Jungs ein noch müdes Thema, was sie noch halbschlafend bestritten.
Und stets gab es Hektik, weil auch immer irgendwas fehlte: ein sauberes Wäschestück, die Sportsachen, der Malkasten…nie schaffte man es am Abend zuvor, alles zurecht zu packen.
Und immer wieder zwischendrin musste der Vater beruhigt werden, der in der Küche saß, rauchte und seinen Kaffee trank. Manchmal suchte auch er etwas.
Wenn das Mädchen die Kinder zur Schule los geschickt hat, war es schon erschöpft und müde.
Nur der Bio-Lehrer ahnte etwas, aber er wusste kaum etwas, weil das Mädchen kaum was gesagt hatte. Aus Angst.
Heute gibt es keine Termine und ich arbeite von Zuhause aus. Ich teile mir die Zeit selbst ein und bleibe für mich: keine Besuche. Weder bei Nina noch bei Martin. Heute sollte ich einmal für mich selbst sorgen.
Vorhin kam ich vom Einkaufen zurück. Mein Kühlschrank wollte unbedingt aufgefüllt werden, denn er nagte am Hungertuch. Es gab kaum noch etwas in ihm zu finden.
Nun packe ich alles aus: einen bunten Strauß Blumen (nein, nicht für den Kühlschrank, sondern für den Tisch), Joghurts, Zucchinis, Champions, Eisbergsalat, Äpfel, Nektarinen, Putenfleisch, Kaffee (ganz wichtig), Zigaretten (ebenfalls wichtig) und noch so viele gesunde und ungesunde Sachen. Bepackt wie ein Esel hatte ich all diese Dinge die vielen Treppen bis unters Dach, wo ich wohne, hinauf geschleppt.
Alles ist nun eingeräumt und verstaut.
Jetzt geht es mir wie so manches Mal: ich stehe hilflos in meiner so schönen Wohnung herum, alles in mir schreit und dennoch bleibt alles in mir stumm. Es ist zum Verzweifeln.
Ich beginne mit meiner Arbeit, den Pressemitteilungen. Viel ist nicht zu tun und es ist schnell ins Büro gemailt.
Meine Gedanken sind zu Glasmurmeln geworden. Sie klacken wieder. Ich ziehe die Vorhänge zu und lasse die Jalousien herunter. Dunkel soll es sein, damit mich mein Schmerz nicht blendet.
Regungslos sitze ich nun da. In meinem riesigen Korbsessel.
Dann fällt mir etwas ein: Kochen.
Ich springe auf und gehe in die Küche, mache dort die kleine Lampe an und beginne. Irgendetwas muss ich ja trotz heruntergelassener Jalousie sehen. Zuerst wird das Gemüse geputzt, dann das Fleisch in Streifen geschnitten. Die Zubereitung ist wie ein Fest, so zelebriere ich das. Während dann beides nacheinander angebraten und gewürzt wird, kocht der Reis.
Ich dagegen decke den Tisch. Mit Kerzen und Servietten.
Mein Essen ist in einer Dreiviertelstunde fertig. Ich esse langsam und mit Genuss.
Meine Glasmurmelgedanken sind still. Ich habe sie weggekocht. An ihrer Stelle klafft jetzt dort ein riesiges, schwarzes Loch. Aber ich will weder wissen, wie es da hin gekommen ist und warum es überhaupt da ist.
Mein Handy summt. Ich hatte vergessen, es auszuschalten. Das habe ich beim Laptop und beim Telefon bereits getan.
Eine Nachricht von Nina:
„Irgendwie habe ich noch nie an mich geglaubt und irgendwie wird mir mehr und mehr bewusst, dass ich mich mehr und mehr zersetze – mein Körper, mein Verstand, mein Sein…eine unaufhaltsame Zerstörung meines Selbst. Das Leben ist nicht greifbar…nur ein Traum, eine Illusion.
Ich führe seit lange wieder Krieg mit meinem destruktiven Ich…es gewinnt höhnisch lachend immer mehr Macht.
Warum vollendet es nicht endlich das, was es schon so lange will?
Ich brauche dich, weil ich dich liebe…immer…endlos…zeitlos.
Du darfst mich niemals mehr verlassen.“
Ich antworte:
„Du musst an dich glauben, auch wenn es dir jetzt schwerfällt. Nur so kannst du deinen Krieg gewinnen. Und du führst Krieg. Wir reden darüber, wenn ich wieder bei dir bin. Ich denke an dich.“
Und ich schalte das Handy aus.
Nachts erhalte ich noch eine SMS, die ich erst am nächsten Tag lesen werde:
„Von wegen, du denkst an mich. Wo warst du denn heute? Auch wenn wir nicht verabredet waren, so habe ich die ganze Zeit auf dich gewartet…ich hasse dich. Und du brauchst nie wieder zu kommen.“
Es ist Sonntag. Ich hatte Ninas letzte Mail ignoriert. Sie tat mir weh, hat mich verletzt und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Bis jetzt hatte sie sich noch nicht wieder gemeldet. Bis heute Nacht um drei – sagt mein Handy.
„Merle, bitte verzeih, es war nicht so gemeint. Ich liebe dich doch. Kommst du mich heute besuchen? Ich vermisse dich. Ich bin auf eine andere Station verlegt worden. Bitte komm!“
Ich hatte gewusst, dass sie sich wieder meldet. Aber ich war unentschlossen gewesen, ob das Ignorieren wirklich der richtige Weg gewesen war.
„Bleiben Sie bei sich…“ hatte Frau Doktor Delling gesagt. Und das hatte ich getan. Ich musste mit ihr unbedingt noch einmal sprechen. So nah nun der Termin bei Herrn Peterson ist, so entfernt ist er auch für meine Situation.
Nun sitze ich hier in der Klinikkapelle, so, wie ich es mir vorgenommen hatte. Ich habe wieder die letzte Bankreihe gewählt. Frau Jansen hatte mich begrüßt. Sehr herzlich und mit offenen Blick. Die Kapelle füllte sich mit fünf weiteren Menschen, die weit vorn Platz nahmen.
Der Gottesdienst beginnt mit Orgelmusik. Das Thema ist der Psalm 121.
Wieder bleiben meine Gedanken nicht bei mir. Sie wandern zwischen den Zeilen.
„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen.“
Schwester Sehnsucht, such nach mir,
„Woher kommt mir Hilfe?“
finde mich und bring mich zurück zu dir
„Meine Hilfe kommt vom Herrn,“
in deinen Armen
„der Himmel und Erde gemacht hat.“
will ich sein und bleiben dürfen,
„Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen…“
dein Trost wird unermesslich sein.
„und der dich behütet schläft nicht.“
Ich wünschte, fest stehen zu können in meinem Chaos,
„Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht.“
Behüter vor allem Bösen, was kommt von Ferne her
„Der Herr behütet dich.“
bleib bei mir und beschütze mich
„Der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand,“
und gib mir mehr von dir.
„…dass dich des Tages die Sonne nicht steche…“
Scheues Antlitz, sanft umgeben
„…noch der Mond des Nachts.“
von der süße betörenden Dufts,
„Der Herr behüte dich vor allem Übel.“
der Wachtraum, den ich sehe
„Er behüte deine Seele.“
strömt Erinnerung tief ins Land.
„Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang…“
Schwester Sehnsucht du mich nun geleitest
„…von nun an bis in Ewigkeit.“
zu Bruder Tod, dem liebsten Feind.
Frau Jansen steht vor mir. Ich habe das Ende des Gottesdienstes verpasst. Er ist an mir vorbeigegangen. Alle anderen sind bereits fort.
„Oh, Entschuldigung“, sage ich peinlich berührt.
„Nein, das ist völlig in Ordnung. Darf ich mich setzen?“ fragt sie, wartet meine Antwort ab und setzt sich in die Bankreihe vor mir und wendet sich mir zu.
Sie betrachtet mich aufmerksam.
„Möchten Sie reden?“
Ich schüttle den Kopf.
„Ich glaube, es gibt gar nichts zu erzählen. Ich bin im Moment nur sehr durcheinander.“
„Ich habe gesehen, dass Sie geweint haben.“
Ja, das hatte ich tatsächlich. Aber es war eher so, dass mir die Tränen einfach die Wangen herunter liefen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Sie hatten sich einfach ihren Weg gesucht. Aber geweint hatte ich nicht wirklich.
„Ich möchte bitte gehen“, sage ich hastig, weil ich plötzlich unruhig werde. Als wenn mir jemand zu nahe gekommen ist, vor dem ich nun flüchten muss. So jedenfalls fühlt es sich an.
„Wenn Sie noch einen Moment warten, dann kann ich Ihnen meine Visitenkarte geben. Sie können sehen, wie Sie mich erreichen, natürlich nur, wenn Sie wollen.“
„Ja, das ist eine gute Idee.“
‚Warum macht sie das? Sie kennt mich doch gar nicht?’ denke ich, während meine Unruhe nun ins Unermessliche steigt und kaum noch von mir auszuhalten ist.
Ich warte diesen Moment noch ab, in dem Frau Jansen die Empore hinauf steigt. Dort hat sie bestimmt ihr Zimmer. Die Holztür, die ich letztens sah.
Sie kommt zurück, gibt mir ihre Karte und wir verabschieden uns schnell.
So durcheinander möchte ich nicht bei Nina ankommen. Ich habe noch zwanzig Minuten Zeit, bis wir uns verabredet haben. Ich laufe langsam durch den alten Park und atme tief die nasse Regenluft. Wenn ich zu Nina gehe, dann muss ich stark sein.
Schritt für Schritt laufe ich diese Unruhe weg. Und ich versuche zu verstehen, was eben geschehen war. Warum es das so mit mir macht. Warum diese Angst in mir hochstieg, die kaum noch zu ertragen war.
Als ich an das Gebäude komme, in dem Nina zu finden ist, bin ich wieder entspannt und ruhig.
Ich kann Nina jetzt also meine Stärke geben. Zumindest hoffe ich es, dass mir das gelingt. Ohne dass sie etwas bemerkt.
Aus Gewohnheit klingle ich wieder an Station Eins. Man sagt mir, dass Frau Harbig jetzt auf Station Zwei, also eine Treppe höher, zu finden ist. Mir fällt ein, dass sie mir das ja bereits gesimst hatte.
Ab jetzt kann ich einfach so die Station betreten und brauche nur dem Personal Bescheid zu geben, zu wem ich möchte.
Ich öffne nach einem Klopfen die Tür zu Ninas Zimmer. Sie stürzt auf mich zu und umarmt mich heftig
„Es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Ich habe das nicht so gemeint“, sagt sie immer wieder.
Wir küssen uns. Ich habe ein ungutes Gefühl dabei. In meinem Bauch fühlt es sich nicht richtig an.
„Was ist los mit dir?“ fragt Nina und in ihrer Stimme ist so viel Angst.
„Wollen wir in die Caféteria? Du darfst doch jetzt die Station verlassen.“
„Oh ja, die Idee ist gut. Warte, ich ziehe mich nur schnell um.“
Ich schaue mich in der Zwischenzeit in ihrem Zimmer um. Auch dieses ist groß, hell und freundlich und es wohnen zwei Patienten in ihm. An Ninas Schrank klebt ein großes Bild: es ist nachtblau und es gibt zwei auf sich zueinander zu fliegende Personen, die wie Wolken aussehen.
„So, fertig. Wir können.“
Wir melden uns ab und ziehen los. Durch das ganze Gelände, denn die Caféteria befindet sich im Hauptgebäude. Nina umfasst meine Hand. Sie ist zart, warm und weich.
„Was macht dein Krieg in dir? Ist er stiller geworden?“
„Dir kann ich es ja sagen: nein, er tobt noch immer.“
„Wieso nur mir? Redest du nicht mit deiner Ärztin oder dem Psychologen darüber?“
„Nein, das kann ich nicht. Die wollen mich abschieben, in eine Langzeittherapie stecken und das will ich nicht. Deshalb tue ich so, als wenn alles okay ist.“
„Aber dir soll doch geholfen werden. Das ist doch das Ziel. Augenscheinlich wurde bei dir schon etliches getan, was zu keinem oder nur zu mäßigem Erfolg geführt hat. Deshalb die Langzeittherapie.“
„Nein, ich will das nicht. So wie du klingst, steckst du doch mit denen unter einer Decke.“
„Nina“, unterbreche ich, „bevor wir uns hier streiten, lassen wir lieber das Thema.“
Ich hatte ihre Hand losgelassen und atme tief durch. Nur keine Anspannung. Das würde weder Nina noch mir bekommen.
„Wie kommst du auf der neuen Station zurecht?“ frage ich, um abzulenken.
„Die Patienten und das Personal sind so ganz anders als unten auf der Station. Aber dafür kann ich hier die Station verlassen, wann ich will. Ich habe mehr Therapien und es gibt auch einmal in der Woche Sozialtraining, da verlassen wir das Klinikgelände und unternehmen etwas wie zum Beispiel ein Museum besuchen oder Eisessen gehen.“
„Wer legt das fest?“
„Das bestimmen wir. Da gibt es jeden Freitag eine Stationsversammlung, in der auch alle Dienste eingeteilt werden.“
Nun, in der Caféteria angekommen, können wir uns ruhig und normal über Alltägliches unterhalten. Das bleibt, bis ich sie zum Mittagessen auf Station zurück begleite.
Wieder küssen wir uns. Aber es ist kein unbefangener Kuss. Für mich jedenfalls nicht. Ich bin hin und her gerissen in meinen Gefühlen.
„Kannst du nicht noch bleiben? Ich esse schnell.“
„Nein, Nina, das geht nicht. Das weißt du.“
Wieder das trotzige Gesicht. Fehlte nur noch, dass sie wie ein vierjähriges Kind mit den Füßen auf den Boden stampft.
‚Sich nicht manipulieren lassen…’, so Frau Doktor Delling.
Ich umarme sie vorsichtig.
„Bis übermorgen“, sage ich leise.
„Verzweifelt suche ich mich – eine blutüberströmte Truhe der Kindheit von den Felsen ins Meer gestürzt – zerschellt. Das habe ich gesehen.
Doch nicht weggespült. Sondern getrieben auf dem Meer der Erinnerungen.
Tausend zersprungene Stücke warten nur allein darauf, wieder aneinander gefügt zu werden.
Das Buch des Vergessens wurde zu weit geöffnet und Spukgestalten aus vergangenen Kindertagen der Hilflosigkeit greifen nach mir – Seite um Seite.
Was muss ich tun, um zu überleben?
Töten; mich selbst?
Und das Kind in mir?
Und hilflos überfordert stehe ich neben mir und im Kopf herrscht Chaos. Zu viele Worte wollen gleichzeitig und gemeinsam über meine Lippen, doch der Mund bleibt stumm, so stumm.
So weine ich unzählige Tränen der Hoffnungslosigkeit, gegen die ich mich nicht wehren kann. Doch niemand sieht sie. Nur dieses Kind in mir.
Der weite Weg zurück gelingt nicht mehr – gefangen in der Finsternis des Seins – blutende Wunden – Strafe für das, was ich nicht getan habe, sondern was ich mit mir geschehen ließ.
So möchte ich ertrinken im Meer der quälenden Erinnerungen um ohne sie zu sein.“
Diesen Zettel hatte ich erst kürzlich in einem Buch gefunden. Er war ganz klein gefaltet. Erst jetzt denke ich wieder an ihn. Dass ich ihn geschrieben haben muss, daran besteht kein Zweifel. Es ist schon sehr lange her und ich bin erstaunt, dass er all meine Zeiten überlebt hat.
Man kann die Realität nicht besiegen oder für immer ausblenden, auch wenn ich das nur zu gern tun würde. Irgendwann kommen die Gefühle hoch – ob man will oder nicht – und wollen erkannt und verarbeitet werden. In meinem Innersten weiß ich das heute. Aber ich lebe nicht danach.