Читать книгу Mondnachtschatten - Alma Bandemer - Страница 6

Оглавление

Schwarz, Weiß und andere Farben

„Ciao Bella“, so empfängt mich Emilio. „Warum du hast mir nicht gesagt, dass du haben eine wunderbare Schwester? Warum du sie verstecken vor mir?“

Ich sehe ihn wahrscheinlich an, als käme er vom Mond.

„Sie hat gefragt gestern nach dir. Warum haben Schwestern keine Handy, Bella? Ich nicht verstehen kann.“

Ich kann es auch nicht und lasse ihn einfach stehen. Mein Lieblingsplatz ganz hinten in der Ecke am Fenster ist frei und ich lasse mich dort häuslich nieder, denn ich habe vor, hier zu arbeiten, weil in der Redaktion wieder unausstehliche Hektik herrscht und Max im Quadrat hoch drei springt.

Ich habe nur Brüder. Emilio muss sich vertan haben. Er bringt mir auch schon meinen Kaffee.

„Wie sah sie aus, diese Schwester?“ frage ich, auch wenn mir bewusst ist, dass mich nun Emilio etwas komisch ansehen wird.

„Bella, du doch wirst wissen, wie deine Schwester aussehen wird…“, sagt er und schüttelt den Kopf.

„Im Ernst Emilio: ich habe keine Schwester. Hat sie nach meinem Namen gefragt? Hat sie ihren gesagt?“

„Nein, das nicht. Sie gefragt hat nach junger Frau mit Laptop. Und das sie deine Schwester ist. Und das bist du. Wer aber dann diese Mädchen ist? Und was sie wollen von dir?“

„Ich weiß es nicht.“

Wenn Emilio überlegt, dann legt er seinen Kopf schief, so, als wolle er diesen auf seiner Schulter ablegen. Genauso steht er jetzt da, schaut mich an und brummt leise vor sich hin, als ob ihm dann die Antwort kommen würde. Leider ist das hier nicht der Fall (und dabei er behält diesmal seinen Kopf sehr lange in dieser Schieflage).

„Ich das nicht verstehen kann.“

„Ich auch nicht, Emilio.“

Da wir diese Frage nicht beantworten können, geht jeder seiner Beschäftigung nach: Emilio zu den nächsten Gästen, ich an den Laptop.

Ich komme gut voran. In der Zwischenzeit habe ich auch eine Zusage für ein Interview mit einem Psychotherapeuten bekommen und ich bin immer noch im Chat in einem dieser Borderline-Foren. Ich habe mich damit arrangiert, dass es Menschen gibt, die diese Plattform zur Selbstdarstellung benutzen. Aber mir begegnen auch Betroffene, für die diese Art der Selbsthilfe der einzige Hoffnungsschimmer im Gefühlschaos ist. Ich benutze diese Plattform ja letztendlich auch nur. Ich habe mich als Gast, zudem als ein neugieriger, dargestellt. Ich aber will nur das Wissen, den Austausch. Inzwischen habe ich mich zu erkennen gegeben. Manchmal werde ich zwar auch angefeindet, weil ich von außen komme und mir Zugang verschafft habe, aber ich bekomme sozusagen Insider-Wissen von Betroffenen, welches ich niemals bei einer reinen Recherche erhalten hätte. Mit Satura bin ich in engeren Kontakt getreten. Es ist egal, wie sie wirklich heißt. Sie findet es gut, dass „für die Welt da draußen endlich mal jemand darüber spricht, aufklärt, als eine von außen, die es anders sieht und anders fragt“. Ich habe den Eindruck, dass sie offen und ehrlich berichtet. Auf behutsamer Nachfrage hat Satura mir sogar gestattet, Fotos von sich zu verwenden, die sie im Web veröffentlicht hat. Bilder, die sie gemalt hat, Fotos von Verletzungen, die sie sich selbst beigebracht hat und ein Foto im Spiegel. Wie ein Clown ist sie da zurecht gemacht…ich schminke meine Selbstsicherheit zurecht und fühle mich zertreten…fällt mir dabei ein. Könnte auch der Titel der Story werden.

Während ich das überfliege, was ich bereits bearbeitet habe, denke ich an meine Schwester, die ich gar nicht habe…

Plötzlich sitzt sie mir gegenüber: das zarte Wesen, das mir vor ein paar Tagen so tief in die Augen geschaut hatte, als ich hier arbeitete. (Emilio muss sie übersehen haben, sonst hätte er sich an sie erinnern können.) Sie hatte mir ihre Visitenkarte hinterlassen. Nina. Und ich hatte zwischendurch an sie denken müssen.

„Hallo“, sagt sie und hatte so ganz selbstverständlich Platz genommen. Ich sehe sie einfach nur an. Sie hat blonde, lange Haare und grüne Augen, die mich, wie einem Sog gleich, tiefer zogen. Tief versunken war ich, ehe ich antworten konnte.

„Du also hast dich als meine Schwester ausgegeben und Emilio durcheinander gebracht. Warum?“ frage ich und fühle mich idiotisch dabei.

„Weil ich dich wiedersehen wollte. Ich hatte gehofft, dass du mich anrufst oder eine Mail schreibst. Hast du aber nicht. Deshalb fragte ich ganz einfach nach.“

So einfach war ihre Antwort. Sie verwirrt mich.

„Warum hast du mich angesprochen? Was willst du von mir?“ frage ich.

„Du bist sehr nett.“

„Aber du kennst mich doch gar nicht“, meine Antwort.

„Das macht doch nichts. Ich kann sehen, wenn jemand nett ist.“

„Ach so“, kommt es beinahe tonlos aus mir heraus. Wenn ich ehrlich bin, bin ich gerade ziemlich überfordert.

„Was tust du hier? Sieht schwer nach Arbeit aus.“

„Ja, das sieht nicht nur danach aus, sondern ist es auch“, antwortete ich.

Strahlend kommt Emilio auf uns zu: „Da sie ja ist – die Schwester, die keine ist.“

Ich halte es für besser, ihm Nina vorzustellen.

„Merles Freunde auch meine Freunde“, sagt er zu ihr, als er ihr die Hand gibt.

‚Meine Freunde…’ denke ich. Ich kenne sie doch gar nicht.

„Was ich dir kann bringen?“ fragt Emilio.

Nina zögert.

Schnell sage ich: „Einen Kaffee, bitte.“ Und zu Nina gewandt: „Du trinkst doch Kaffee?“

Sie nickt.

„Und ich brauche auch noch einen – extra stark und mit extra viel Zucker, Emilio.“

Während Emilio davoneilt, schauen wir uns wieder an. Ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll. Außer, dass es mich fasziniert – die Begegnung, die Situation, sie. Alles.

Schweigend sitzen wir da, bis Emilio wiederkommt. Und ebenso schweigend trinken wir unseren Kaffee und rauchen (bei Emilio darf man das glücklicher Weise noch). Irgendein Zauber liegt über unserer Stille. Dabei geht das Leben um uns herum weiter.

„Nina, wie alt bist du?“ frage ich nach einer Weile.

„Ist das so wichtig?“ fragt sie zurück.

Ich antworte darauf nicht.

Wenn sie lächelt, so wie jetzt, hat sie zwei Grübchen – ein bezauberndes Lächeln, dem man gar nicht widerstehen kann. Sie ist nicht sehr groß, aber schlank. Nina trägt ein schwarzes T-Shirt und ihre Arme sind streifenartig vernarbt. Ihre grünen Augen strahlen. Mich an.

„Ich bin achtzehn“, sagt sie. „Und du interessierst mich, obwohl ich noch nicht einmal weiß, wie du heißt.“

„Oh. Verzeihung. Merle.“

„Und wie alt bist du? Bestimmt nicht viel älter als ich, oder?“

„Ich bin siebenundzwanzig“, antworte ich darauf.

„Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Hast dich gut gehalten“, sagt Nina und lacht.

„An was arbeitest du und warum hier, an einem eher ungewöhnlichen Ort?“

„Ich muss recherchieren und das kann ich am besten hier und nicht in der hektischen Redaktion im Verlag um die Ecke“, antworte ich darauf.

„Journalistin?“

„Mhm ja“, sage ich und muss lachen, weil sie mich so erstaunt ansieht, die Wangen aufbläst und die Luft durch den Mund wieder auspustet.

Darauf sagt sie: „Das stelle ich mir interessant vor. Es gibt bestimmt viel Abwechslung und viele Reisen und ständig lernt man neue Leute kennen. Ich dagegen stecke im Studium zur Erziehungswissenschaftlerin. Noch am Anfang und es ist so sehr trocken.“

Sie verdreht die Augen.

„Echt öde und ich weiß nicht, ob ich es zu Ende bringe. Es gibt so viele andere Dinge, die mich interessieren. So richtig, meine ich.“

Sie schaut mich an, als müsste ich verstehen, ihre Gedankengänge, ihre Ideen. Ich kann darauf nichts sagen und bleibe stumm und schaue sie einfach nur an. In ihren Augen kann man sich tatsächlich verlieren.

„Warum hast du mit dem Studium begonnen?“ frage ich.

„Och, meine Eltern wollten unbedingt, dass ihre einzige Tochter eine Studierte ist. Wahlweise Jurist oder Mediziner. Aber dafür hat’s nicht gereicht und so mussten sie sich damit zufrieden geben.“

„Du machst das Studium nur deiner Eltern wegen?“

„Eigentlich ja, obwohl ich bei ihnen unten durch bin, weil’s nicht zu mehr gereicht hat. Aber ich wollte mir ja wirklich alle Mühe geben…“

Traurigkeit füllt ihre Augen.

„Bist du von hier?“

„Nein, aus ’nem Kuhkaff und ich bin schon froh, jetzt in der Stadt zu sein. Losgelöst. Für mich.“

Ich frage sie und weiß nicht, ob ich das überhaupt fragen darf: „Hast du noch Kontakt zu deinen Eltern?“

Ihre Antwort: „Nicht wirklich. Obwohl ich sie vermisse. Manchmal. Ich habe das Gefühl, ihnen egal zu sein, oder dass sie sich für mich schämen. Und manchmal habe ich Sehnsucht nach der Zeit, als ich noch klein und alles so einfach war.“

Sie sieht so hilflos aus in ihrer Sehnsucht und Traurigkeit, dass man sie in die Arme nehmen und sie vor der ganzen bösen Welt schützen möchte.

Sie trinkt ihren Kaffee aus. Meiner ist erst zur Hälfte leer. Oder noch voll. Zweckoptimismus.

Wieder schweigen wir und schauen uns nur an. Nur habe ich jetzt das Gefühl, als würde unser Schweigen so unendlich laut und ich bin nicht in der Lage, das zu unterbrechen. Weil meine Stimme verloren gegangen ist. Mein Kopf plötzlich leer ist. Oder weil gar nichts mehr in mir ist.

„Gib mir doch deine E-Mail-Adresse, es wäre schön, wenn wir in Kontakt bleiben könnten. Also ich würde mich jedenfalls freuen. Wir könnten uns ja auch mal wieder treffen, ich würde das wirklich gut finden. Ich muss jetzt los“, sagt sie hastig nach der langen Pause.

Zögernd schreibe ich die Adresse auf. Eigentlich bin ich sonst nicht so leichtsinnig: aber was soll schon passieren? Ich fühle mich hingezogen zu ihr und kann es nicht erklären.

„Danke. Danke auch für den Kaffee“, sagt sie und springt auf. Schnell geht sie zur Tür, während sie sich noch einmal kurz nach mir umdreht.

Dieses Bild bleibt in mir.

Emilio bringt mir den nächsten Kaffee, ist irritiert, da sich in meiner Tasse noch ein Rest Kaffee befindet und ich bin einfach nur verwundert über diese Begegnung.

Du hast aber einen lieben Vati. Meiner ist nicht so toll.“ Das wurde dem Kind gesagt und es war verwirrt. Die Schulklasse war auf einem Wandertag, der Vater mit dabei. Er beachtete das Kind keine Sekunde. Er war so nett zu den anderen und zu der Lehrerin. Und er lachte ganz viel und machte Scherze. Auch die anderen Kinder lachten. Traurig schaute das Kind zu. Das Kind war bemüht, keinen Fehler zu machen: hier konnte ihm zwar nicht viel geschehen, außer vielleicht fest an den Oberarmen gepackt zu werden, wenn es gerade keiner sieht, aber zu Hause wäre dann die Hölle los. Das Kind bewegte sich auf einem Minenfeld. Und hatte Angst allein durch die bloße Anwesenheit des übermächtigen Vaters. Egal was es macht, es muss danach zum Rapport und gestehen, was es falsch gemacht hatte. Auch wenn es nichts zu gestehen gab. Irgendwas war immer. Die anderen Kinder lachten mit dem Vater und es wurde um diesen beneidet…ein so lieber Vati…

Ich stehe am Schaufenster und drücke mir die Nase platt. Ich sehe zu, wie Heide arbeitet. Sie ist Goldschmiedin und ihre Werkstatt ist gleichzeitig Verkaufsraum.

Sie bemerkt mich, lacht und winkt mich herein.

„Na, meine Sonne (wir sind unser beider Sonnen), schön dich zu sehen. Lust auf eine Zigarette?“ fragt sie. Na klar und ob.

Als ich damals hierher zog, schaute ich oft ins Schaufenster. Verstohlen. Ich wollte nicht, dass mich diese Frau hinter der Scheibe bemerkt. Mich faszinierten die Schmuckstücke. Und diese Frau interessierte mich, denn sie strahlte, während sie arbeitete, unglaubliche Ruhe aus.

Eines Tages war das Schaufenster für lange Zeit geschlossen. Wegen Krankheit. Immer, wenn ich diese Straße entlang ging, vermisste ich etwas.

Irgendwann traf ich die Frau vor der Werkstatt.

„Schön, dass Sie wieder da sind. Hier fehlte etwas“, sagte ich zu ihr.

„Ja, ich bin wieder zurück“, entgegnete sie mit einem Lachen. „Ich war lange krank gewesen.“

So einfach begann eine Freundschaft.

Als ich das erste Mal in der Werkstatt war, schaute ich mich staunend um. Ich liebe alles, was nach Chaos aussieht (auch wenn es sich hierbei um geordnetes Chaos handelt). Dabei entdeckte ich Aufkleber aus der Lausitz. Kein Mensch hat hier so etwas, es sei denn, er kommt von da her. Ich hielt fast den Atem an, als ich fragte, ob sie aus eben jenem Gebiet kommt. Das verrückteste folgte gleich hinterher: wir kamen sogar aus ein und derselben Stadt. Noch verrückter wurde es, als wir feststellten, dass wir dazu noch in dieselbe Schule gingen, nur mit 10 Jahren Unterschied. Ich hatte damals gedacht, ich müsste in Ohnmacht fallen. Das konnte doch nicht wahr sein. Wo ich doch so lange gebraucht hatte, diese Stadt und das ganze Drumherum, meine Vergangenheit, zu vergessen. Nicht umsonst hatte ich sie mit sechzehn hinter mir gelassen. Nun wurde alles wieder aufgebrochen und ich merkte, wie viel ich doch noch wusste, obwohl ich doch geglaubt hatte, es längst endgültig hinter mir gelassen zu haben. Es durfte doch alles nicht wahr sein. Meine Mühe, alles zu vergessen, war umsonst gewesen.

In der Zwischenzeit näherte ich mich diesem Thema vorsichtig an. Es kamen Erinnerungen an Orte, Begebenheiten, Personen. Heide und ich sprachen darüber. Nur darüber. Sie wusste ja nichts von meinem Dilemma. Sie hat noch ein Haus dort und lud mich ein, mit ihr dorthin zu fahren. Das hatte ich befürchtet und lehnte ab. Sagte ihr, dass es vielleicht irgendwann mal möglich sein kann. Oder auch niemals. Ansonsten weiß sie bis heute kaum etwas über meine Vergangenheit.

Heide reißt mich aus meinen Gedanken: „Kaffee? Dann geh hoch und mach dir einen.“

Dankend nehme ich das Angebot an und gehe in die Wohnung. Es ist immer schön, bei Heide zu sein. Es ist wie in einer anderen Welt, die noch so viel Ursprüngliches hat. Das Haus ist bewachsen mit wildem Wein und sieht aus wie ein verwunschenes Märchenhaus. Alles ist ganz einfach und im Winter wärmt ein riesiger Ofen die Zimmer.

Heide trinkt ihren Tee und ich meinen Kaffee, als ich wieder in der Werkstatt bin. Wir reden. Über Alltägliches. Ernsthafte Themen interessieren uns heute nicht. Dafür fallen wir über die Pralinen her und essen sie alle auf. Danach ist uns einfach nur schlecht.

„Sie haben Post.“Mein Laptop redet mit mir, während ich in meiner Küche sitze, Kaffee trinke, obwohl es schon abends ist, rauche und Löcher in die Luft starre. Ich habe mir vorgenommen, nichts zu tun und nicht zu denken. Nicht denken an die Redaktion, an die Recherche, nicht an Frank, der mich heute wieder mehrmals anrief, an niemanden. Einfach nur sitzen wollte ich. Wer stört mich in meiner selbst gewählten Einsamkeit? Warum hatte ich den Laptop überhaupt hochgefahren?! Ich verstehe mich grad selbst nicht. Nun habe ich ja noch die Wahl, ob ich die E-Mail abrufe oder nicht (es erübrigt sich darauf hinzuweisen, wie das so mit Frauen und ihrer Neugier ist).

Ich öffne den Postkasten.

„verlorene wolkenkinder / fielen tief – zu tief / in eine welt / die nicht die ihre ist / verstreut in alle himmelsrichtungen / einsam, unerkannt / finden sie sich wortlos wieder / gezeichnet von ihren spuren / denn ihre seelen sind verwandt / reden schweigend miteinander / nähe ist unerträglich / liebe verbrennt das ich / verzweifelte hilfeschreie / doch die antwort bleibt aus / wandern rastlos dorthin / wo der andere gerade ging / immer zwischen den welten / von schwarz und weiß / und ihrer selbst / auf der suche ihrer / endlosigkeit“

Eine Mail von Nina. Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll, aber es berührt mich zutiefst. Irgendwie fühle ich mich damit verbunden und kann nicht sagen, warum.

Ich lese das Geschriebene wieder und wieder. In mir steigt eine leise Unruhe hoch. Und kann es kaum beschreiben.

„das erdachte wort / im keim erstickt / löcher in der seele / grenzgänger zwischen welten / lautloser schrei verstummt / ich selbst bin der schmerz / das blut gefror’n / lebendig? tot? /berühr mich nicht / da ich sonst / verbrenne“, meine Antwort.

Ich kann nicht genau sagen, wie diese Worte wirklich entstanden sind. Ich weiß nur, dass sie aus meinem tiefsten Inneren kommen. Ich fühlte es genauso als ich schrieb. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass ich im Moment an einem extrem sensiblen Thema arbeite und diese Worte gar nicht tatsächlich zu mir gehören, sondern nur deshalb entstanden.

„…das Leuchten in meinen Augen, als ich dich heute sah. Ich war ganz und gar im Jetzt und Hier. Ich entglitt für einen Moment aus der Gefangenschaft meiner Glaskugel…Wechselspiel eines Narren…und der Menschlichkeit endlich entsagt suche ich doch Menschlichkeit…ohne Reue…Falschheit…und noch immer bin ich der Narr…im Niemandsland…deinen Blick nahm ich mit in meine Welt und zehre davon…“

Ich kann nicht beschreiben, was in mir vorgeht. Ich fühle mich ihr so nah. Gedanken gleiten wie Sand zwischen meinen Fingern. Und in meinem Kopf ist es unerträglich laut. Und auch die Stille um mich herum.

„Nina, was willst du von mir?“

Diese Antwort bleibt sie mir schuldig.

In mir ist plötzlich alles leer und ich öffne das Fenster und ich lasse die Nacht zu mir herein. Meine dunkle Freundin, die mich sanft streichelt und ihren Atem über mich legt, wenn der Mond nicht am Himmelszelt steht.

Redaktionssitzung: „Zu den Nachrichten: Felix, was hast du?“

„Die Bundeswehr will aufgrund der strengen Sparvorgaben von Finanzminister Wolfgang Schäuble 100.000 Stellen kürzen. Das entspricht einer Reduzierung von 250.000 auf 150.000 Mann. Zum Vergleich: Die Schweizer Armee hat eine Größe von 135.000 Mann bei einer Einwohnerzahl 7,8 Millionen Menschen. Das muss man sich mal vorstellen.“

„Ich habe auch was nettes, obwohl es nicht zu meinem Ressort gehört“, betont Paula, die für die erkrankte Kollegin Katja eingesprungen ist.

„Demnach müssen künftig alle Haushalte GEZ-Gebühren bezahlen, auch wenn kein Fernsehgerät vorhanden ist. Dafür bleibt die Abgabe bei 17,89 Euro pro Monat. Das tritt ab 2013 in Kraft, um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu finanzieren. Auch sehr nett.“

„Merle?“

„Ich sag’s gleich vornweg: ich brauche noch ein wenig Zeit, weil sich noch was ergeben hat. Das Interview mit dem Psychotherapeuten findet nächste Woche statt. Darauf lege ich allergrößten Wert. Und übermorgen bin ich in Hannover. Eingeladen. Von Satura.“

„Von wem?“ unterbricht mich Felix.

„Von Satura. Lass mich ausreden. Ich lernte sie im Chat kennen und sie ist Borderlinerin. Jetzt noch mal was kurz zum allgemeinen Verständnis, und ganz einfach, besonders für dich, lieber Felix. Könnt ihr euch vorstellen, keine klare, eigene Identität zu besitzen? Kein klares Bild von sich selbst zu haben? Es tagtäglich so zu erleben? Zerrissen zu sein in Welten von Schwarz und Weiß, Liebe und Hass, entweder oder ohne Nuancierung dazwischen. Das nennt man Identitätsstörung. Dazu kommen noch unzählige Begleiterscheinungen, die sich zumeist ähnlich, aber nicht bei allen gleich sind.“

Alle schauen mich an.

„So jemand ist ein Borderliner – vereinfacht gesagt.“

„Aber man weiß doch, wer man ist“, entgegnet Felix.

„Falsch, es gibt Menschen, die wissen eben das genau nicht. Alles um sie herum ist eingestürzt und es gibt keinen klaren Halt. Weder von innen noch gefühlt von außen. Immer in der Angst, gänzlich abzustürzen. Ich habe das jetzt mal schnell zusammengefasst erklärt. Ich hoffe, dass der Termin beim Psychotherapeuten all meine weiteren Fragen beantworten kann. Fotos habe ich über das Chat bekommen. Wir sollten sie gemeinsam aussuchen, obwohl ich die leise Hoffnung habe, dass ich Satura vielleicht fotografieren darf. Jedenfalls diese hier darf ich verwenden und ich habe schon meine Favoriten.“

„Was ist das?“ fragt Felix und zeigt auf ein Foto. “Das sieht ja grauenhaft aus. Wie beim Metzger so zerschnitten und blutverschmiert.“

„Ein Unterarm massakriert von einer Rasierklinge. Das nennt man Selbstverletzung, die bei Borderlinern recht häufig vorkommt.“

„Das sollten wir auf jeden Fall nehmen“, sagt Max.

Ein anderes Bild zeigt ein Portrait von einer jungen, hübschen Frau.

„Wer ist das?“ wieder fragt Felix.

„Das ist Satura.“

„Die mit den Unterarmen?“

„Ja, genau die.“

„Das sieht man ihr aber nicht an. Sie sieht so hübsch aus.“

„Denkst du vielleicht, Borderliner tragen ein Kreuz auf der Stirn, damit sie gleich erkannt werden? Es sind Menschen wie du und ich und müssen ebenso wie du und ich den Alltag meistern. Außer in Notsituationen, in denen sie dazu nicht in der Lage sein können, werden sie stationär aufgenommen, wenn es erkannt wird vom Umfeld oder vom Betroffenen selbst oder einem Arzt oder vielleicht auch Notarzt“, entgegne ich und schüttle mit dem Kopf.

Wir entscheiden uns noch für zwei weitere Fotos, auf denen Bilder waren, die Satura selbst gemalt hat. Vorläufig jedenfalls.

Während ich weiter und weiter erzähle, bemerke ich, wie ich einen Tunnelblick bekomme. Er hüllt mich ein. Alles um mich herum entfernt sich. Auch die Stimmen der anderen. Ich habe nicht wirklich Angst, wundere mich nur. Ich denke: ’Ich fühle mich so fremd in eurer Welt.’

Jetzt habe ich das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Im Inneren wehre ich mich gegen dieses Gefühl. Aber ich will auch nicht weg aus dem Tunnelblickzustand…

Jemand anderes hat übernommen und mit ihm wird die Redaktionssitzung zu Ende gebracht.

Ich dagegen finde mich in der Raucherecke wieder: mit Kaffee und Zigarette…und alles ist in Ordnung.

Am Küchentisch saßen das Kind und die Großmutter. „Wie wäre es, wenn du noch ein Brüderchen oder Schwesterchen bekommen würdest?“ fragte sie. Das Kind war begeistert. „Dann musst du Zucker auf das Fensterbrett streuen, damit der Klapperstorch, der die Babys bringt, kommt und auch hier landet.“ Das Kind holte den Zucker, den aus der großen Dose oben aus dem Küchenschrank, und streute ihn aus. Die Großmutter schaute zu.

Am nächsten Morgen gab es ein großes Gebrüll vom Vater. Um den Zucker auf dem Fensterbrett hatten sich Ameisen versammelt, die emsig hin und her liefen. Der Vater tobte. Und das Kind war schuld daran, weil es den Zucker streute. So wie es ihm gesagt wurde. Die Großmutter saß da und schwieg, während das Kind die mächtigen Schläge bekam.

Aber die Oma hat doch…“ Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren. Es war einfach aussichtslos. Der Kopf des Kindes knallte gegen den Türrahmen. Nur nicht weinen. Dann wird es schlimmer. Und die Großmutter schaute zu. Sagte und tat nichts.

„Herzlich Willkommen in meiner Welt“, so begrüßt mich Satura, die in der Wirklichkeit Annabell

heißt und in einer WG ein Zimmer bewohnt. Sie ist 29 Jahre, groß, mit kastanienbraunen, langen Haaren, schlank, dezent geschminkt und sehr gepflegt.

Wir sitzen in ihrem Zimmer. Sie hatte Kaffee für uns gekocht und extra Kuchen besorgt.

Dieser Tag ist sehr warm und ich dachte, als ich mit meinem Wagen in eben jene Straße einbog, dass hier wohl kaum ein Mensch wohnen kann. Abrissbauten wohin das Auge blickt. Dann dieses Fabrikgebäude. Von außen zunächst beinahe abbruchreif, von innen notdürftig repariert, aber das Loft liebevoll eingerichtet, rein und sauber.

Während meiner langen Fahrt habe ich an so vieles gedacht. ‚Wie begegnet man einem Borderliner? Ist es kompliziert, plötzlich einem gegenüber zu stehen? Welche Erwartungen habe ich?’ Meine Gedanken brachten mich nicht weiter und so beschloss ich, alles auf mich zukommen zu lassen. Ich werde mich auf mein Gefühl verlassen und ihm vertrauen.

Nun, da ich im Zimmer sitze und alles betrachte, habe ich das Gefühl, auf Wanderschaft durch Seelentäler zu sein. Es gibt viel Schwarz. Weiß. Rot.

Viele Kerzen. Und viele Bilder und Fotos. Ein wunderschönes, großes von einem Kind von etwa 5 Jahren, welches an einem Strand selbstvergessen Sandburgen baut.

Das Zimmer ist gemütlich eingerichtet und ein wenig chaotisch sieht es aus. Aber liebenswert chaotisch.

„Ich weiß“, sagt Annabell, als sie meine Blicke bemerkt. „Das Zimmer entspricht genau dem Klischee Schwarz-Weiß als Denkmuster und Rot für Blut oder Schmerz.“

Ein vorsichtiges Lachen.

Ein Spruch an der Wand: „Manchmal steht man an einer Wegkreuzung und sieht den Teufel. Manche Menschen stehen ihr Leben lang dort. (Bobby Gillespie)“

Annabell hat ein kurzärmliges T-Shirt an. Ich kann ihre Narben sehen. Einen frischen Verband aber auch.

„Warum?“ fragt sie, als ob sie mir die Frage abnehmen wolle.

Ich nicke vorsichtig.

„Dieses Mal habe ich mich nicht gefühlt. Ich war nicht da. Einfach nicht da. Ich war endlos verzweifelt. Ich musste mich wieder spüren und das ging nur so.“

Irgendwie kam mir das seltsam bekannt vor, ohne es näher beschreiben zu können.

„Wie weit bist du mit deiner Reportage schon gekommen?“ fragt sie.

„Ich glaube, ich bin ein ganz gutes Stückchen vorangekommen. In der nächsten Woche habe ich einen Termin bei einem Psychotherapeuten. Ich habe sehr viele fachspezifische Fragen an ihn. Ansonsten habe ich viel in den Fachblättern sowie in der Literatur recherchiert. In verschiedenen Borderline-Foren habe ich mich mit Betroffenen ausgetauscht. Dir möchte ich keine medizinischen Fragen stellen, obwohl du sie mir wahrscheinlich beantworten könntest. Dich möchte ich gern als Betroffene hören und davon dann in Auszügen berichten, wenn du damit einverstanden bist. Ich ändere auch deinen Namen, wenn es dir zu persönlich wird.“

„Das kannst du gerne tun. Lass dir einen schönen Namen einfallen. Laufen wir ein Stück“, schlägt Annabell vor. Als wäre sie plötzlich unruhig geworden und die Nähe innerhalb ihres Zimmers nicht mehr aushaltbar für sie.

Wir laufen durch das Abrissgelände, am Fluss entlang, über die Brücke.

„Die wäre mir beinahe mal zum Verhängnis geworden“, erzählt sie. „Da ging es mir sehr schlecht und ich hatte allen Sinn in alles und jeden verloren. Aber das ist jetzt ja schon lange vorbei. Und damals gab es einen Retter, der nichts weiter gemacht hat, als sich hinzusetzen und mit mir zu reden. Und tatsächlich erst mal nur über Gott und die Welt. Das hatte mir gut getan. Als ich innerlich ruhiger geworden bin, ging es dann um mich und ich ließ zu, dass ich vom Brückengeländer gezogen wurde. Es ist wirklich schon lange her.“

Sie zeigt mir den alten Friedhof, ihren Lieblingsort. Dort ist Ruhe. Da ist sie für sich. Bei den Toten ist Sicherheit – die können einem nichts mehr tun.

Manchmal trifft sie sich auch mit andern nachts an den Gräbern. Es sind Gothic’s. Dann kleidet und schminkt sich auch Annabell so.

„Bist du ein Goth?“ frage ich sie.

„Nein, nicht wirklich. Es ist nur eine Rolle, die ich spiele. Es ist das Anders-Sein. Der Zauber wohnt in diesem Moment, in ihm wird innegehalten. Für mich ist die Rolle beendet, sobald ich wieder zu Hause bin und ich mich umgezogen und abgeschminkt habe; das Spiel ist aus. Für die meisten anderen vom Friedhof nicht: sie leben diese Rolle, leben in diesem Spiel. Wir lesen selbstverfasste Texte oder hören Musik. Zünden Kerzen an. Also schänden keine Gräber und tun nichts gegen die Totenruhe. Na ja, jedenfalls nicht wirklich. Nachts sind wir uns ähnlich, verstehen uns ohne viele Worte. Tagsüber sind wir uns fremd. Erkennen uns nicht. So, als müssten wir uns schützen. Vor uns selbst.“

Ich mache Fotos von alten Grabsäulen und Gruften. Viele davon sehen geheimnisvoll-fantastisch aus. Dieser alte Friedhof ist eine mystische Fundgrube.

„Du fotografierst?“ fragt Annabell.

„Ja, das ist mein Hobby. Sozusagen“, entgegne ich. „Darf ich ein paar Fotos von dir machen?“

Sie willigt ein und gegen eine Veröffentlichung hat sie, nach kurzem Zögern, auch nichts. Sie bittet mich nur um Abzüge.

„Weißt du, Merle“, sagt sie, als wir wieder zurück gehen, „Jeder Borderliner hat seine eigene Geschichte, seine eigene Dramatik. Obwohl sich im Endeffekt im Laufe der Jahre so vieles ähnlich ist. Borderline ist ein ständiges, unberechenbares auf und ab der Gefühle. Man weiß nie, was im nächsten Moment passiert. Man spürt diesen immensen Druck und weiß nicht, wie man damit umgehen soll, wie man ihn aushalten soll. Gefühle schwanken von jetzt auf gleich und man hat Angst, Menschen um sich herum zu verletzen, was man eigentlich gar nicht will. Man ist gefangen im eigenen Selbst. Ständig auf der Suche zu sein, was man nie finden kann, macht einen verrückt. Einen zu lieben, um ihn im nächsten Augenblick zu hassen. Ich hasse dich – verlass mich nicht. Ohne es wirklich erklären und verstehen zu können. Weil es nur Schwarz und Weiß gibt und dazwischen ist nichts. Immer rastlos sein. Sich kaputt spielen und auch daran denken, sich selbst aus dem Weg zu räumen, weil man einfach nicht mehr kann oder in einer Sackgasse gelandet ist. Das, Merle, ist Borderline“, erklärt mir Annabell.

„Meine eigene Geschichte dazu kann ich dir erzählen, weil ich mittlerweile darüber stehe, du mir relativ fremd bist und du nachher wieder verschwinden wirst. Dass du keinen Missbrauch mit deiner Reportage betreibst, weiß ich. So schätze ich dich ein. Ich vertraue dir. Gib mir wirklich einen anderen Namen. So fühle ich mich geschützter, wenn du etwas über mich erzählst. Nun zu mir: mit 14 habe ich Drogen genommen, weil ich mit meiner Welt nicht mehr klar kam, um den Wahnsinn auszuhalten. Ich wollte nur normal sein, so wie alle anderen um mich herum. Aber so sehr ich das versuchte, umso mehr misslang es mir. Ich war anders. Damals stand ich vor einem Rätsel. Ich war so unendlich anders. Und konnte es mir nicht erklären. Ich hatte mir Eltern gewünscht, die für mich da waren, aber nie war jemand zu Hause, immer nur ihr Job war wichtig. Ich war nur ein lästiges Anhängsel. Meine große Schwester hatte das schneller begriffen als ich. Stattdessen gab’s nur den netten Onkel, der mich so lieb hatte, wie man es für gewöhnlich nicht haben darf. Schnell wusste ich, dass es nicht normal war, denn es war ein Geheimnis und sollte es auch bleiben. Niemand durfte davon wissen. Mit fünfzehn haute ich dann ab, weil’s unerträglich war und ich mit meinen Eltern nicht reden konnte, wenn sie dann mal zu Hause waren. Auf den lieben, guten Onkel ließen sie nichts kommen. So lebte ich lieber auf der Straße als in diesem verlogenen Haus. Meine große Schwester lebte schon lange ihr eigenes Leben, wir hatten kaum Kontakt zueinander. Sie hatte das Haus bereits mit sechzehn verlassen. Die Schule habe ich geschmissen. In der Zwischenzeit wurde ich auch noch schwanger. Mit sechzehn. Irgendwann traf ich durch Zufall meine Schwester. Das war eine schwierige Zeit und ich hab ihr das Leben sehr schwer gemacht. Aber sie sorgte dafür, dass ich zum Entzug kam, dass ich eine Therapie machte. Irgendwann knallte man mir die Diagnose „Borderline“ um die Ohren. Was sollte ich damit anfangen? Hilflos stand ich mir gegenüber. Das sollte die Erklärung für all das Unerklärbare sein? Ich musste mich wohl oder übel damit abfinden.“

Annabells Stimme zitterte ein wenig. Sie holte tief Luft und sprach langsam weiter.

„Mein Kind ist inzwischen dreizehn Jahre alt und meine Schwester hatte es damals gleich nach der Geburt adoptiert. Natalie, mein Kind, weiß davon und auch, dass ich eigentlich die Mutter bin. Regelmäßig gehe ich sie besuchen oder wir unternehmen gemeinsam etwas. Wir haben ein gutes Verhältnis zueinander. Sie hat es auf jeden Fall bei meiner Schwester wesentlich besser. Zu Beginn wegen meines eigenen Chaos’ und später war sie so integriert in der Familie meiner Schwester, dass wir entschieden, sie aus der gewohnten Umgebung nicht herauszureißen.

Nur langsam ging es mir besser, machte meinen Schulabschluss nach und immer wieder fand ich mich in Kliniken wieder. In der Notfallambulanz wegen Selbstmordversuchen. Immer wieder Therapien. Aber Stück für Stück fand ich heraus. Ich konnte besser mit mir und all dem Scheiß umgehen. Lernte, mich zu akzeptieren, zu handeln und es nicht mich überkommen zu lassen. Sondern etwas dagegenzusetzen. Alles war weiß Gott nicht leicht und es gab ständig Stolpersteine.

Jetzt geht es mir gut – ich kann mit mir leben, achte auf die Signale, die mir meine Seele sendet und ich habe sogar eine Ausbildung abgeschlossen. Jetzt arbeite ich als Landschaftsgärtnerin – ich wollte unbedingt einen Beruf, in dem ich nicht vordergründig mit Menschen zu tun habe. Und bin immer noch Borderlinerin.“

In der Zwischenzeit hatte ich sie mehrmals fotografiert. Ihre Ernsthaftigkeit. Ihre Traurigkeit. Ihre Sehnsucht, die man spüren konnte.

Ich blieb bis 4 Uhr morgens bei Annabell. So lange unterhielten wir uns und ich lernte noch den Rest der WG kennen. Insgesamt sechs bunt zusammengewürfelte Menschen. Zum Abend gab es eine Küchenparty mit Spaghetti und Tomatensoße und vielen Salaten– es war sensationell. Viele Fotos habe ich geschossen. Die ich auch verwenden darf. Nicht für meine Reportage, sondern für ein ganz anderes Vorhaben.

Fast pünktlich zur Öffnungszeit von Emilios Café trudelte ich wieder ein. Er schloss mir die Tür auf, machte mir besonders starken Kaffee und schüttelte den Kopf: „Bella, du erst einmal ins Bett gehören und dann arbeiten, so wie du aussehen.“

„Ach Emilio, es war einfach wunderbar, was ich erlebte. Unglaubliche Eindrücke und Erlebnisse wurden mir geschenkt. Und all das darf ich in meinem Innersten behalten. Ich habe unglaubliche Fotos. Wenn das weiter so geht, wird’s vielleicht doch was mit einer Ausstellung.“

„Ich dir gesagt haben, meine Wände neue Fotos brauchen. Warum Ausstellung nicht hier? Es eine Ehre für mich ist. Und vielleicht auch zum Verkauf, Bella?“

„Ich überlege es mir, mein Lieber. Schau, da warten die Gäste. Wenn du dann Zeit hast, kann ich dir ein paar Fotos über den Laptop zeigen“, sage ich.

Glücklich den heißen Kaffee schlürfend, dachte ich an die zurückliegenden Stunden. An die Einmaligkeit der Momente, die Kostbarkeit der Augenblicke, die ich erleben durfte inmitten wildfremder Menschen.

Und ich dachte an Nina, an ihre sonderbare Mail und meine Empfindungen.

Nina war nicht zu fassen. Sie entglitt mir, so wie letztens die Gedanken wie Sand aus meinen Fingern.

Ich rief meine Post ab.

Zig E-Mails waren angekommen. Aber ich suchte nur nach einer ganz bestimmten.

Ich fand sie: „Meine inneren Trennwände halten das Licht um mich herum nicht mehr aus…die Wahrheit ist nie ganz weit weg…kein Blick durch den Spiegel in das eigene Ich ist möglich…doch ich werde nicht fliehen können…werde deiner einer nächtens mit Papier umhüllen mit einem Hoffen, niemals in dir zu vergehen…ein trauriges Lächeln ersetzt mein du…Flucht in meine innere Welt…Angst vor dem Kommenden…innen Lava, außen Stein – Perfektion? Chaos…in einem Wesen aus Schwarz und Weiß.“

Könnte ich doch lesen in ihrem Buch, dann könnte ich vielleicht auch verstehen, wüsste dann, was sie mir sagen will. Denn irgendwas will sie mir sagen. Davon bin ich überzeugt.

Ich erfühle nur Schreckliches, kann es aber nicht in Worte bringen.

Aber was will sie von mir? Die Frage, die mich beschäftigt und auf die ich keine Antwort finde, nicht einmal andeutungsweise.

Mondnachtschatten

Подняться наверх