Читать книгу Mondnachtschatten - Alma Bandemer - Страница 9
ОглавлениеGrenzüberschreitungen
Eine Nacht-Mail von Nina: „Ich wollte dir offenbaren, dass sich meiner einer hoffnungslos in deiner einer verliebt hat. Ich habe mich dagegen gewehrt, glaube mir, weil ich nicht weiß, wie du darauf reagierst. Doch ich bin dir wirklich verfallen und verloren – seit ich dich das erste Mal sah, damals im Café. Du erinnerst dich? Ich wünsche dir eine sternenreiche Nacht. Mit einem lichterlohen Mondlichtgruß. Ich habe dein Gesicht bildlich vor mir und habe Angst, auch nur die winzigste Kleinigkeit verblassen zu lassen…“
Ich lese und lese. Und bis zum Ende und wieder von vorn. Es ist mir unmöglich, darauf zu antworten.
Ich warte auf die Müdigkeit nach sechs Tickets. Die Angst vor mir selbst steigt ins Unermessliche. Langsam greifen die Arme der Ruhe nach mir und ziehen mich in den Zustand der Dunkelheit. Ich versuche die Flucht in den Schlaf.
Wirre Träume werden mich begleiten und ich sehe immer Nina in meinen Albträumen. Eigentlich hat sie dort nichts verloren und ich weiß nicht, wieso sie da hinein geraten ist. Aber ich sehe auch, dass Nina irgendwo ganz am Ende steht und auf mich wartet, als würde sie mich empfangen nach all der Qualen. Ich will jedoch will die Qualen nicht im Traum und ebenso Nina nicht. Ich flüchte und flüchte und komme niemals irgendwo an…ich bleibe am gleichen Ort und bin gefangen in der schutzlosen Finsternis…
„Die Blaualgengefahr an der Ostsee ist geringer als befürchtet. Nach Angaben des Landesumweltamts Mecklenburg-Vorpommern haben Messungen in den küstennahen Ostseegewässern keine auffälligen Befunde erbracht.
Die Banken haben die Prüfung der EU besser bestanden als erwartet. Das verdanken sie den Steuerzahlern. Die eigentliche Prüfung kommt noch. Die Banken mögen fürs Erste stabilisiert sein – wie man sie aber dazu bringen kann, aus eigener Kraft und damit ohne staatliche Hilfe weiterzulaufen, ist auch nach dem Stresstest völlig unklar. Der Politik fehlt ein Rezept, den Bankern auch.
Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle rechnet nach eigenen Angaben mit einem kräftigen Wachstum in diesem Jahr. „Bei aller Vorsicht glaube ich, dass wir sogar eine Zwei vor dem Komma erreichen können“. Die Bundesregierung hält ein Wachstum von mehr als einskommafünf Prozent für möglich…“
Ich sitze wieder in der Redaktion. Eine Menge Arbeit hatte auf mich gewartet. Das ist gut so, denn das lenkt mich ab.
Vorhin hatte ich noch mit Max gesprochen. Und ich bin innerlich noch immer etwas ungehalten.
„Ich bin in zwei Wochen mit dem Psychotherapeuten verabredet. Den genauen Termin bekomme ich noch mitgeteilt. Ich bereite soweit alles vor, umso einfacher ist die Bearbeitung und umso schneller kann es in die Beilage.“
„Genauer ging’s nicht? Nun gut, damit kann man ja auch was anfangen…“
„Aber das ist doch großartig…“ unterbrach ich Max. „Der Termin ist schon in zwei Wochen. Ich weiß nicht, was du willst. Herr Peterson hat immerhin eine Praxis und er will sich Zeit für mich, und damit auch für die Redaktion, nehmen und nichts zwischen Tür und Angel erledigen. Also ich verstehe dich nicht.“
Ich bin einigermaßen aufgebracht.
„Merle, du hast ja Recht. So habe ich es ja auch nicht gemeint. Entschuldige vielmals. Ich weiß, dass du deine Arbeit gut machst.“
„Wieso? Das verstehe ich nicht. Was hat das jetzt mit meiner Arbeit zu tun? Es ging lediglich nur um den Termin in zwei Wochen und nicht um meine Arbeitseinstellung…“
„Du bist so köstlich, wenn du dich aufregst. Gib mir mehr davon…“ sagte Max und lachte. Mich an. Nicht mich aus.
Ich hatte mich einfach umgedreht und sein Büro mit einer zugeknallten Tür verlassen. So nicht!
Ich hasste es, wenn Max mich so behandelte. Wenn er mich „Kleines“ nannte. Wenn er mich durch so etwas auf einhundertachtzig brachte – das konnte er gut.
Eigentlich wollte er mir damit nichts Böses, das konnte ich ihm nicht unterstellen. Es war eben seine Art. Seine Art zu zeigen, dass er jemanden mochte. Er war anders, wenn er jemanden zeigte, dass er ihn nicht mochte, auch wenn er gut zwischen Sympathie und Leistungen unterscheiden kann.
Ich konnte ganz gelassen sein, wenn er sich aufregte, während sich dabei fast die ganze Redaktion duckte und hoffte, dieser Moment möge schnell vorüber gehen. Er wurde dabei immer laut und manchmal ungerecht und verletzend. Für mich war es nur heiße Luft. Niemals entschuldigte er sich dafür. Aber immer versuchte er es mit seinem Verhalten, wieder gut zu machen.
Manchmal stellte ich mir vor, wie er wohl mit seinen jungen Geliebten umgehen möge… die hatten es ganz gewiss nicht einfach mit ihm. Oder er war ganz und gar der Charmeur ihn ihren Gegenwarten und ließ sich nicht gehen. Doch das konnte mir letztendlich egal sein.
Das war eben Max, der smarte Mittfünfziger.
Während ich am Schreibtisch sitze und die Nachrichten bearbeite und weitere Interviewtermine vereinbare, blicke ich plötzlich hoch.
Nina steht vor mir.
Ich schaue sie wahrscheinlich an, als würde ich eine Fata Morgana sehen.
„Wie kommst du denn hierher?“ frage ich tonlos. Es ist mir unangenehm. Ich schaue sie wahrscheinlich auch nicht sehr freundlich an.
„Freust du dich nicht, mich zu sehen? Ich habe unten am Empfang gesagt, dass ich ein Kurier bin und für dich etwas persönlich abgeben muss. Und jetzt stehe ich also hier.“
Ich schaue sie nur an und kann einfach nichts sagen.
Paula sieht schon vom Nachbarschreibtisch herüber. Und betrachtet Nina, wie sie so vor mir steht.
Auch Felix schaut sie neugierig an. Ich dagegen finde keine Worte, weil mir nichts einfällt. Sie trägt dieses Mal eine dunkelgrüne Jacke über ihr Shirt – passend zu ihrer Augenfarbe.
„Ich habe wirklich einen Brief für dich, Merle. Von mir. Können wir vielleicht einen Kaffee trinken und eine Zigarette rauchen? Wenn das geht?“
„Ja klar, das geht…“, finde ich so langsam meine Worte wieder.
Wir gehen zum Automaten, holen uns Kaffee und setzen uns in die Raucherecke. (Mir gefällt das so gar nicht…)
Felix schaut uns immer noch neugierig hinterher.
„Hör mal, Nina, was soll das Ganze. Ich arbeite hier und habe eine Menge zu tun. Es ist nicht üblich, dass hier jemand Besuch bekommt.“
„Aber ich wollte dir wirklich nur den Brief persönlich geben und fragen, wann es etwas mit dem gemeinsamen Abend bei dir wird. Ich freue mich doch schon so darauf.“
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir Bescheid gebe, weil meine Arbeit keinen pünktlichen Feierabend kennt. Ich weiß es immer noch nicht. Das heißt aber nicht, dass ich es vergessen habe. Das hätten wir übrigens auch per E-Mail absprechen können. Auch den Brief hättest du mir so zulassen kommen können…ich verstehe dich nicht, Nina.“
„Aber das wäre doch nicht das Gleiche gewesen. Außerdem wollte ich dich überraschen.“
Nina stellt sich alles so einfach vor. Alles, was ihr in den Kopf kommt, wird ohne Überlegung durchgeführt. Sie ist so unendlich sorglos mit ihren achtzehn Jahren.
Ich dagegen muss meine Welten getrennt halten – sonst habe ich das Gefühl, nicht überleben zu können. Nina passt nicht in meine Arbeitswelt, in der ich einhundertzwanzig Prozent geben, funktionieren und klar sein muss, nicht abgelenkt sein und keinerlei Schwächen zeigen kann. In die Redaktion schicke ich immer genau die, die dem auch entspricht. Und diese Person kann auch nicht viel mit Nina anfangen.
Ich sage das immer so, weil ich dafür keine Erklärungen habe. Es gibt zwei Personen: eine für die Arbeit und die andere für das Privatleben. Wenn es mir innerlich schlecht geht, kann ich nur so funktionieren. Irgendwann habe ich festgestellt, dass es bei mir eben so ist. So aufgeteilt. So verschieden. Getrennt. Zu Beginn war ich darüber sehr erschrocken. Mit niemanden konnte ich darüber reden – bis heute nicht. Wie kann man jemanden so etwas erklären, was so absurd, so abgefahren klingt? Aber wenn so etwas funktioniert, warum nicht?
Ninas Brief halte ich noch in der Hand, als sie sich schon längst von mir verabschiedet hat. Ich stehe noch am Fahrstuhl und schaue die Tür an, in der Nina vorhin verschwunden ist. Nach der kurzen Kaffeepause konnte ich sie davon überzeugen, dass hier nicht der richtige Ort für private Gespräche ist. Sie hatte es letztendlich verstanden, obwohl sie der Meinung war, dass Zeitungsleute ständig und überall freie Zeit zur Verfügung hätten.
Felix hatte ihr wieder, oder immer noch, neugierig hinterher gesehen.
„Wer war denn das?“ fragte Felix. Es klang nach ernstem Interesse.
„Och, nur eine Bekannte, die mir etwas Wichtiges vorbei gebracht hat.“
„Ist sie schon vergeben? Bestimmt, so wie sie aussieht.“
„Du, das kann ich dir gar nicht sagen“, antworte ich darauf.
Ich gehe wieder zu meinem Schreibtisch und packe den Brief, der mit viel Kreativität gebastelt und beklebt wurde, in meine Tasche. Jetzt nicht.
Abends hatte ich diesen Brief beinahe schon vergessen. Hätte ich nicht in meiner Tasche nach dem Ladegerät gesucht.
Ich habe Kerzen an. Es ist wohltuend ruhig in mir und um mich herum. Ich öffne den Brief bei einem Glas Rotwein und ziehe den Inhalt vorsichtig heraus. Es ist eine doppelte Heftseite. Auf der Vorderseite ist ein bunter Regenbogen gemalt. Dazu viele Sterne, ein Mond, die Sonne und viele Wolken. Auch Regentropfen sind zu sehen.
Auf einer Wiese blühen Blumen und Gras. Auf der Wiese steht eine junge Frau, die ihre Maske abgeworfen hat. Das Bild ist beeindruckend.
Der Text ist handgeschrieben, was heute immer weniger vorkommt. Er ist gestern Nacht geschrieben worden. So steht es jedenfalls da.
„Stiller Nachthimmel…an einem anderen Ort.
Ich sitze hier am Fenster mit einem Blick nach draußen. Ein milder Duft von leckerem Kamillentee liegt in der Luft. Ich genieße. Ich verliere mich ins Irgendwo.
Jetzt möchte ich hoch in die Nacht fliegen, mit den Sternen spielen, sie fühlen und berühren.
Ein Leuchten spiegelt sich in meinen Augen wider. Der Wind streichelt mein Gesicht und spielt ganz zart mit meinen Haaren…ich mag dieses Gefühl von Nähe, Wärme und Sanftheit.
Ich möchte den Wind gern umarmen und auch ihm gern geben, was er mir gibt.
Ich schließe die Augen und beginne, noch mehr zu fliegen…hinein in das Wolkenmeer. Jede einzelne Wolke umarme ich. Wie werden sie wohl schmecken?
Bunt schillernde Seifenblasen tanzen um meinen Körper und plötzlich fühle ich mich geborgen auf nassem Gras und einen Hauch von Sommerregen nehme ich wahr.
Begrüßt er meine Ankunft?
Die Regentropfen kitzeln mich in meinem Gesicht…und ich beginne zu lächeln.
Das Jetzt und Hier, allein dieser Moment, hält mich liebevoll in den Armen.
Der Clown nimmt sich die Maske ab und ist ganz er. Zeigt sein tiefstes Inneres und gibt sich ihm voll hin. Es ist eine schöne Einsamkeit mit viel Geborgenheit. Ich liebe es total.
Die Sonne ist groß und rot am Horizont versunken…so müde, wie sie war.
Und es vergeht kein Augenblick, da erscheint der Abendstern…ja, und dann all die vielen Sterne.
Die Tränen des Kosmos, die kristallklar und voller Stolz leuchten.
Ich liebe sie und ich liebe dich, das Irgendwo im Nirgendwo…
Das ist meine Welt, die ich dir so gerne zeigen möchte, wenn du mich lässt.
Dich habe ich als erstes Wesen mit hineingenommen, dort, wo noch nie ein anderer Mensch war. Ganz ohne Glaskugel.
Deine Nina“
Ich habe ihr ganzes Vertrauen. Das begreife ich. Nur weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll. Wenn sie mich wirklich liebt…wie konnte das geschehen?...das ist mir noch niemals so passiert…ich habe noch gar nicht nachgedacht, was das für mich bedeuten würde…ich glaube, ich will mich damit auch gar nicht beschäftigen…jetzt jedenfalls nicht.
Und jeder weitere Gedanke fällt schwer.
Ganz vorsichtig halte ich Heides Buch in den Händen. Jetzt beginnen? Ich wage es, was soll mir schon geschehen.
Behutsam schlage ich es auf, als halte ich einen kostbaren Schatz auf meinem Schoß. Die Autorin kannte diese Stadt und das Gesellschaftssystem nicht. Deshalb erscheint ihr so vieles sonderbar. Aber sie musste es so hinnehmen, denn sie hat ja keine eigenen Erfahrungen.
Ich beginne zu lesen. Verschiedene Menschen erzählen aus der Vergangenheit in ihrer Stadt – wie sie selbst lebten und wie sie sie erlebten.
Manches ist verblasst und erscheint heute in anderen Farben. Für mich wird es eine Rückreise. Manches jedoch hat nichts mit dem zu tun, was ich dort erlebte.
Ich weiß was Hunger und Kälte ist und das in der kinderreichsten Stadt der ehemaligen DDR. Es klingt unwirklich, an was ich mich erinnere, während ich lese. Wir waren fünf Kinder zu Hause. Ich war die Älteste und das einzige Mädchen. Aber wir waren alle nicht willkommen – wir sind eben mal so passiert. Manchmal haben wir genau das sehr heftig zu spüren bekommen.
Oft hatten wir nicht genug zu Essen, weil nicht einmal dafür Geld dagewesen ist. Hungrig ins Bett zu müssen ist ein schlechter Freund.
Ich weiß, was Hass und Gewalt ist. Aber alles blieb unter dem Mantel des Vergessens und Ungesagten versteckt. Es war die Hölle und manchmal wussten wir einfach nicht, wie wir uns verhalten sollten. War ein Spiel manchmal schön, auch wenn wir draußen umher tobten, konnte das jeden Moment umschlagen in einen Wutausbruch des Vaters, bei dem dann auch die Fäuste flogen. Niemand war sich sicher. Niemand konnte sich sicher sein. Und manchmal ein Ausrasten wegen einer Nichtigkeit.
Ich weiß, was Schmutz und Dreck bedeutet. Ich wollte helfen, denn ich wollte es auch so schön haben wie Klassenkameraden. Irgendwo begann man immer. Aber genauso schnell wurde es wieder eingerissen. Egal, was man machte. Dann ließ ich es sein, weil ich keinen Sinn darin sah. Ein Bad, in dem die Badewanne gefüllt war mit abgelegten Klamottenbergen. Man kam schon nicht mal mehr richtig zur Tür hinein. Und das dringend benötigte Bad wurde für seine eigentliche Bestimmung nicht genutzt. Ebenso ein Zimmer, in dem es genauso aussah. Manchmal wühlte ich da herum, in der Hoffnung, brauchbare Kleidung zu finden. Aber die durfte ich nicht nehmen. Ich verstand gar nichts. Damit wenigstens ich halbwegs ordentlich in die Schule gehen konnte, wusch ich selbst meine Sachen mit der Hand.
Ich weiß, was unbändige Angst bedeutet. Solch eine Angst, dass man selbst denkt, man müsse sterben, weil sie kaum noch aushaltbar ist.
Mein geordnetes Chaos vor meinem Bett, bei dem sich Bücher und Hefte stapelten, nur um zu hören, ob jemand ans Bett kommt. Fast jede Nacht die gleiche Angst.
Und die Angst vor der Angst, etwas falsch zu machen, um dann sofort die harte Konsequenz zu spüren.
Mein erster Gedanke damals war, dass ich mit fünfzehn unbedingt ein Baby wollte, nur um dem dort entfliehen zu können. Das war früher sehr kurz gedacht. Ich hatte bei einem Mädchen erlebt, dass sie daraufhin in ein Heim gekommen ist – diese innere Hoffnung hatte ich auch.
Mit sechzehn ging ich zum Studium, weit, weit weg. Meine Flucht ist geglückt. Meine Geschwister werden mir vorwerfen, dass ich sie allein gelassen habe. Ich bin einfach so weggegangen.
Das ist meine Heimatstadt.
Ein Zitat entnehme ich diesem Buch:
„Das menschliche Gedächtnis erinnert sich der Vergangenheit nicht, wie sie tatsächlich war, sondern konstruiert aus einzelnen Erinnerungsstücken eine neue Vergangenheit, die das Leben in der Gegenwart erleichtert“… die Erinnerung erträglich, überlebbar, bisweilen vergessen macht … erweitere ich das Zitat.
Aber ich kann mich auch freuen, wenn jemand wie Heide Freude empfindet, wenn sie an ihre Stadt denkt. Also jetzt kann ich es. Sie hat gute, tiefe Erinnerungen…und lässt mich, wie stellvertretend, daran teilhaben.
Während ich jetzt jedoch im Buch weiterlese, werden in meinem Kopf auch andere Erinnerungen wach. Meine Schule, in die ich zehn Jahre so gern ging, meinen Sport, den ich so gern trieb, die große Bibliothek, in der ich mich oft aufhielt, die unendlich vielen Seen drumherum, die Zweisprachigkeit, Sitten und Gebräuche, Namen und Bezeichnungen…
Das fällt mir erst wieder durch das Lesen ein.
Und ich finde es jetzt spannend, dieser Stadt aus der Ferne von mindestens dreihundert Kilometern nahe zu kommen.
Vielleicht sollte ich doch einmal dahin aufbrechen. Wie eine Art Spurensuche. Nachforschen, was von all dem Alten noch geblieben ist. Und ob der Schatten der Angst sich noch berechtigter Weise nachts über meine Träume legt und mich nicht schlafen lässt.
Vielleicht sollte ich einmal mit Heide mitfahren, denn was kann mir schon passieren. Die Mutter und zwei meiner Brüder wohnen noch in dieser Stadt. Ihnen muss ich nicht begegnen, wenn ich nicht will. Eine zufällige Begegnung ist ziemlich unwahrscheinlich.
Manchmal habe ich Sehnsucht nach meinen Geschwistern. Aber wir haben uns verloren und nicht mehr viel zu sagen. Nicht mehr viel? Nichts mehr. So wie es scheint.
Plötzlich werde ich unendlich traurig. Erschöpft.
Ich hatte Nina am späten Nachmittag abgeholt. Sie hatte bereits auf mich gewartet und war wieder so aufgeregt wie ein kleines Kind in der Erwartung eines Geschenkes. Das überrascht mich jedes Mal aufs Neue.
Nun geht sie in meiner Wohnung von Zimmer zu Zimmer und betrachtet alles staunend.
„Es ist alles so hell und freundlich hier. Sind all die Bilder und Fotos von dir?“ fragt sie.
„Mhm, ja“, antworte ich verlegen.
„Deine Küche ist Klasse. So groß. Fantastisch. Machst Du hier auch Partys?“
„Ja, manchmal schon. Die Küche ist wirklich der Mittelpunkt in meiner Wohnung.“
„Das mit den Regalen ist wirklich eine tolle Lösung. So ähnlich werde ich es mir auch gestalten. Da steckt so viel Leben drin. Und man kann sehr viel unterbringen.“
„Ja, das kann man wohl. Ich wollte das Offene als Lebenszeichen.“
„Hast du eine Säge, die du mir vielleicht leihen könntest? Ich möchte auch ein oder zwei Regale kürzen und stufenartig aufstellen.“
„Das ist kein Problem. Ich brauche nur noch ein neues Sägeblatt, dann ist sie einsetzbar.“
In der Zwischenzeit hatte ich die Flasche Rotwein geöffnet, die Nina mitgebracht hatte.
Wir setzen uns in das Wohnzimmer.
„Auf uns“, so lassen wir unsere Gläser aneinander klingen. Dann zünden wir uns Zigaretten an. Wir rauchen in die Stille. Ein wunderbarer Moment; sich ihm ganz ergeben, ohne dass die Stille zerstört wird. Für den Moment, dem Augenblick.
„Du machst tolle Fotos. Hast du das gelernt?“, fragt Nina nach einer ganzen Weile.
„Nein, das ist nur mein Hobby. Ich fotografiere schon sehr lange.“
„Du hast auch so viele Bücher. Hast du sie alle schon gelesen?“
„Die meisten schon, aber es ist auch viel Fachliteratur dabei.“
„Wozu brauchst du soviel Fachliteratur?“ fragt Nina.
„Zumeist für meine Arbeit“, entgegne ich.
Wieder schweigen wir und sehen uns an.
Plötzlich steigt in mir die unbestimmte Angst auf, dass wir auch weiterhin wortlos sein könnten. Das wäre unerträglich für mich.
„Ich gehe dann mal in die Küche“, sage ich, nur um wieder in Bewegung zu kommen.
„Ich komme mit.“
Gemeinsam bereiten wir die Lasagne und den Salat vor. Und reden über belanglose Dinge.
Darüber bin ich erleichtert, denn ich erlebe in meinem Innersten enorme Anspannung, die Nina nicht zu spüren scheint. Ich dagegen weiß nicht, woher diese so plötzlich kommt und kann es mir nicht erklären.
„Gut, dass du kochen kannst. Ich hätte die Lasagne nicht hinbekommen“, sagt Nina.
„Ich hoffe, du hast gut zugeschaut. Lasagne ist so ziemlich einfach“, sage ich lachend und die Spannung löst sich langsam. „Und hat nicht viel mit Kochen zu tun“, erkläre ich weiter.
Ich freue mich immer, wenn ich mich in einer Küche betätigen kann. Manchmal koche ich auch für mich allein. Aufwändig und ich genieße es. Und bin mit meinen Gedanken voll und ganz nur bei mir und bei dem, womit ich mich gerade beschäftige.
Nina schiebt die Backform in den Ofen, nachdem sie die Lasagne mit Käse bestreut hatte.
„Jetzt heißt es wohl warten. Ich habe schon Hunger“, bedeutet mir Nina.
Gemeinsam gehen wir wieder zurück ins Wohnzimmer, in dem nun Nina meine großen Bilder betrachtet, so, wie ich es vor einigen Tagen in ihrer Wohnung getan hatte.
Das Telefon klingelt. Martin ist am Apparat: „Hallo Merle. Ich hoffe, ich störe dich jetzt nicht. Es dauert auch nicht lange. Ich habe auch nur eine Frage…“, seine Stimme klingt verlegen.
„Mir geht es wieder schlecht. Kann kaum laufen. In meiner Wohnung wütet das Chaos. Nichts kann ich machen…“
Ein Blick zu Nina. Ich erschrecke. Sie schaut mich an und sieht wütend aus.
„Könntest du vielleicht morgen bei mir kurz vorbei kommen und vorher einen Einkauf erledigen? Wenn es deine Zeit erlaubt.“
„Ja, klar, das lässt sich einrichten“, antworte ich ihm. „Warst du schon beim Arzt?“
„Der Arzt war hier und hat die Medikamentation erhöht und mir eine Spritze gegen die Schmerzen gegeben. Mehr kann er erst mal nicht tun. Wenn es nicht in den nächsten Tagen besser wird, gehe ich wieder in die Klinik.“
„Kommst du heute noch zurecht?“
„Ja, ich schlafe im Wohnzimmer und habe meine Verpflegung auch hier aufgebaut. Auf Toilette gehe ich zwischen robben und wanken. Je nachdem. Aber irgendwas tragen geht gar nicht.“
„Martin, ich rufe dich heute Abend noch mal an. Kann auch später werden. Ich habe gerade Besuch.“
„Du, ich freue mich, wenn du noch mal anrufst. Hab vielen Dank. Viel Spaß mit deinem Besuch. Bis nachher.“
„Tschüss Martin, bis dann“, sage ich und lege auf.
Nina hat mich die ganze Zeit wütend angesehen. Deshalb frage ich sie, was mit ihr los ist.
„Nichts, jetzt ist alles in Ordnung. Wer war denn das?“ fragt sie.
„Nur ein guter Freund. Warum fragst du?“
„Ach, nur so. Es ist aber nicht dein Freund?“
„Nein, das ist er nicht. Wir sollten nach der Lasagne im Ofen schauen und den Tisch decken.“
Ich bin verwundert über Ninas Verhalten. Als wenn sie eifersüchtig wäre…und ich denke darüber nach, warum sie mich vorhin so wütend angeschaut hatte. Aber ich habe keine Erklärung dafür. Und vergesse ihren Blick wieder, der mich so erschrak.
Nina deckte bereits den Tisch. Liebevoll. Mit Kerzen und Servietten, die ich ihr vorher gegeben hatte. Die Lasagne ist fertig und Nina holt sie aus dem Ofen und trägt sie zum Tisch. Sie stellt die Form auf den Untersetzer und trägt auf. Wir sitzen uns gegenüber.
Nina redet die ganze Zeit, während wir essen. Als ob sie niemals mehr aufhören will. Ich kann ihr schon lange nicht mehr folgen und habe es aufgegeben, auch nur irgendeine Gegenfrage zu stellen (ihre Fragen an mich beantwortet sie nach einem tiefen Luftzug nämlich selbst).
Ich bin doch noch immer mit ihrem Verhalten von vorhin beschäftigt. Muss aber feststellen, dass es sinnlos ist, mir darüber Gedanken zu machen, weil ich genau darauf keine Antwort bekomme.
Endlich sind wir fertig mit dem Essen. Nina hatte die Teller bereits weggestellt und ich trage die Backform und das Besteck hinterher.
Nach Abwasch ist uns nicht.
Wir setzen uns wieder in die Stube. Nina bittet mich, Lacrimosa einzulegen.
„Das halte ich für keine gute Idee“, antworte ich.
„Wir können Radio hören“, schlage ich vor.
„Aber warum nicht?“ fragt Nina.
„Lacrimosa passt heute einfach nicht zu diesem Abend und zu diesem Anlass“, sage ich entschieden.
Ich habe keine Lust, mich mit ihr in Richtung Abgrund zu bewegen. Es ist meine Musik, für meine Stimmung und Notlagen.
„Ich höre doch selbst gern Lacrimosa und du hast CD’s, die ich noch gar nicht kenne.“
Es klingt trotzig.
„Nina, ich kann sie dir gern überspielen, aber heute werden keine CD’s gehört.“
Wieder sage ich es entschieden.
Sie schweigt.
„Willst du jetzt den ganzen Abend nichts mehr sagen?“, frage ich.
Mir wird das Spiel langsam zu dumm.
„Fährst du mich nach Hause.“
Das ist keine Frage, sondern es kommt eher als eine Aufforderung bei mir an.
„Nein, Nina, das geht nicht, ich habe Wein getrunken.“
„Aber doch nur ganz wenig.“
„Entweder Alkohol oder Fahrzeug. So geht das bei mir.“
Sie springt auf, stößt dabei das halbvolle Weinglas vom Tisch, reißt ihre Jacke vom Haken und verschwindet aus der Wohnungstür, die sie mit einem lauten Krachen ins Schloss hat fallen lassen. Kurz vorher schrie sie mir noch ein: „Ich hasse dich“ ins Gesicht. Ich war sehr erschrocken. Es war so viel Hass und Wut in ihren Augen.
Ich sitze wie versteinert da und es dauert eine Weile, bis ich realisiere, dass Nina gegangen, besser geflüchtet, ist. Ich sehe die Sauerei, die durch den Rotwein entstanden ist, stehe auf und bin damit beschäftigt, wieder Ordnung zu schaffen. Währenddessen sind meine Gedanken bei Nina. Nichts kann ich mir erklären. Es kommt mir so vor, als hätte ich ein sehr trotziges Kind im Alter von etwa fünf Jahren vor mir gehabt.
Ich bleibe allein mit meinen Gedanken, die sich im Kreis drehen. Mir fällt dabei etwas aus der Reportage ein: „unangemessene Wutausbrüche“. Sie sucht die Nähe zu mir, und umfängt mich damit und dass sie sich selbst verletzt, ist möglich. Doch genau weiß ich das natürlich nicht, die Narben können ja auch durch einem Unfall entstanden sein. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Aber es wird wohl nicht so sein, an dem meine jetzt Gedanken vorbei geschweift sind. Das wäre zu viel Zufall.
Ich rufe wie versprochen noch einmal Martin an und wir reden über eine Stunde miteinander. Kein Wort über Nina. Eine Nina-freie Zone. Wir beide reden aber, nur um zu reden und um genau jetzt für den Augenblick nicht allein zu sein. Gott- und die Welt-Themen. Das tut gut.
Martin habe ich kurz nach meinen Umzug kennengelernt. Das war Zufall. Ich war beladen mit Regalteilen und konnte kaum sehen, was vor mir geschah. Ich wollte die Straße überqueren und stieß irgendwo an. An einen Rollstuhl, wie ich feststellen musste, als ich mit großer Mühe, über die Regalteile schaute. Sein Rollstuhl klemmte am Bürgersteig und es ging weder vorwärts noch zurück. Gemeinsam schafften wir es dann, ihn samt Rollstuhl und meinen Regalteilen aus seiner misslichen Lage zu befreien. Trotz dieses Vorfalls mussten wir beide lachen, obwohl es eigentlich nicht wirklich was zu lachen gab.
Danach gingen wir gleich in das Café, vor dem das Ganze statt fand.
Martin leidet an Multipler Sklerose und zu diesem Zeitpunkt hatte er einen Schub, so dass er sich nicht wie gewöhnlich mit Krücken fortbewegen konnte.
Wir wohnen nicht weit voneinander entfernt. Wir tauschten unsere Telefonnummern aus und so begann eine wunderbare Freundschaft. Wieder einmal durch eine wundersame Begegnung.
Manchmal telefonieren wir stundenlang in die Nacht hinein.
Martin weiß, was ihn durch seine Krankheit erwartet. Ich bewundere ihn für seinen Lebensmut und seine Kraft, sein Lachen, seinen Humor. Seine Ernsthaftigkeit.
Er ist noch selbständig und macht fast alles allein, ist kaum auf Hilfe angewiesen.
Ging es Martin jedoch nicht gut, etwa wie bei einem Schub, so konnte er sich auf mich verlassen. Ich mache dann Besorgungen und seinen Haushalt und je nach dem, was es sonst noch zu erledigen gibt.
Martin hatte mich vor einiger Zeit auf die Idee gebracht, einen Rollstuhlführer zu schreiben. Wir suchten in der Stadt nach barrierefreien und rollstuhlgerechten Zonen, Wegen, Eingängen und veröffentlichten einen eigens dafür angefertigten Stadtplan in einer unserer Beilagen. Martin hatte vorher alles getestet und konnte uns Hinweise, Ratschläge und Hilfestellung geben. Dieser Stadtplan ist bei unseren Lesern recht gut angekommen.
„Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle macht sich für die Anwerbung ausländischer Fachkräfte stark. Das Thema stehe bei ihm ganz oben auf der Agenda. Er plane für die nächsten Monate eine Fachkräfte-Initiative. Neben der Reduzierung von Einkommensschwellen hält der FDP-Politiker auch ein Begrüßungsgeld der Wirtschaft für Gastarbeiter für möglich.
Der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Karl Heinz Däke, hat nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Besteuerung von Arbeitszimmern nun den Solidaritätszuschlag ins Visier genommen. Dieser sei aus Sicht des Steuerzahlerbundes „auch nicht mit dem Grundgesetz vereinbar“, sagte Däke „er wird mittlerweile nur noch vorläufig erhoben“. Däke erklärte, er sehe gute Chancen, „dass Karlsruhe den Soli kippen und für verfassungswidrig erklären wird“.
Zahl der Alleinerziehenden steigt.
Jede fünfte Familie in Deutschland besteht aus nur einem Elternteil mit Kindern. Die finanzielle Lage ist meistens schlecht…“
Bearbeitung der Pressemitteilungen. Ich muss mich beeilen, um sie noch vor der Redaktionssitzung fertig zu bekommen. Meine Gedanken schweifen immer wieder ab und sind bei Nina und dem gestrigen Abend. Auch ich bin wütend, weil ich nicht verstehe und ich es mit hier her auf meine Arbeitsstelle trage, ohne es wirklich zu wollen. Ich habe mir noch einmal die Unterlagen zu dem Thema Borderline durchgelesen. Mit Beklemmung. Mir kommt so vieles bekannt vor. Das fällt mir erst jetzt, mit Abstand, auf. Ich will nicht, dass es etwas mit mir zu tun hat und schiebe die Gedanken weit, weit weg. Nein, das kann nicht sein. Es darf nicht sein.
Dann schon eher bei Nina. Ich muss sie unbedingt sprechen. Aber erst einmal müssen die Gedanken an sie, solange ich arbeite, Ruhe geben.
„Merle, kommst du?“ ruft mir Paula zu. Ich schrecke aus meinen Gedanken auf.
„Max wartet schon auf uns, wir sind die letzten.“
„Bin schon unterwegs.“
Es sind tatsächlich alle schon im Konferenzraum.
„Wunderbar, dass ihr auch schon hergefunden habt“, begrüßt uns Max.
Paula entschuldigt sich sofort mit: „noch ein Telefonat gehabt…“, ich dagegen steuere wortlos auf einen freien Platz zu. Wir sind noch pünktlich angekommen. Also gibt es auch nichts zu entschuldigen.
Anderthalb Stunden wird jetzt straff gearbeitet. Das erfordert höchste Konzentration. Keine Zeit, um den Gedanken freien Lauf zu lassen.
Rapport über unsere bisherige Arbeit und Besprechung. Kreative Bearbeitung, bis der letzte Satz, die Überschrift und das Foto dazu auch wirklich passen. Übertragung neuer Themengebiete oder Recherchen. Dieses Mal wird sehr viel Kaffee getrunken.
Eine streitbare aber auch fruchtbare Zeit im Konferenzraum. So erlebe ich das. Für Paula dagegen sind die Redaktionssitzungen in der letzten Zeit immer die reinste Qual. Es dauert ihr zu lange, sie kann sich nicht konzentrieren, weiß manchmal nichts zu sagen. Auch heute ist sie wieder den Tränen nahe und sagt nichts.
Ich weiß nicht, ob es auch anderen aufgefallen ist. Ich kenne Paula so nicht. Sie ist sonst so taff, mitreißend, witzig, klug…nur in diesen Sitzungen verhält sie sich in der letzten Zeit so ganz anders. Merkwürdig.
Die Sitzung ist vorbei. Ich gehe mit Paula zum Automaten und hole uns Kaffee. Ich ziehe sie mit in Richtung Raucherecke und drücke sie energisch auf das Sofa. Sie ist immer noch den Tränen nahe und sieht unglücklich aus.
„Paula, was ist los mit dir?“
Sie druckst herum.
„Na los. Es geht dir nicht gut. Also, was ist los?“
„Eigentlich ist nichts.“
„Und uneigentlich?“
„Ich kann es nicht erklären.“
„Dann versuche es doch einfach. Es sei denn, dass du mit mir nicht reden kannst oder willst oder so.“
„Ach, es ist nichts, ich komme mir nur manchmal so unwissend vor. Ich schäme mich so.“
„Wieso?“, frage ich.
„Ihr könnt alle zu allem etwas sagen. Mir dagegen fällt nichts mehr ein. Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll.“
„Erstens ist es nicht schlimm, nicht zu jedem Scheiß seinen Senf dazugeben zu müssen und zweitens setzt du dich dermaßen unter Druck, dass du allein dadurch gar nichts sagen kannst, Paula.“
„Hast du mal eine Zigarette für mich?“
„Du und rauchen? Hier…“, und halte ihr die Zigarettenpackung hin.
„Ist es so schlimm?“
Ich gebe ihr das Feuerzeug. Zitternd zündet sie sich ihre Zigarette an.
„Ja, weil ich damit nicht zurecht komme. In der letzten Zeit wird das immer schwieriger für mich. Allein wenn ich nur an die Redaktionssitzung denke, wird mir manchmal schlecht. Und ich weiß nicht, woran das liegt.“
„Paula, Angst macht dumm. Du drehst dich mit deiner Angst im Kreis. Versuche mal, ganz unbedarft in die morgige Sitzung hinein zu gehen. So, als ob dich das nichts angeht. Einen Versuch ist es wert.“
„Meinst du? Das klingt so einfach.“
„Probiere es aus.“
„Vielleicht hast du Recht, Paula.“
„Man muss nicht immer etwas sagen. Rede über deine Themen, so wie du das heute auch gemacht hast. Das reicht für den Anfang. Sag mal, hat es etwas mit Max zu tun?“
Ihre Finger zittern noch immer leicht. Sie raucht hastig und ist fast schon fertig.
„Ich weiß es nicht genau. Mag sein.“
„Hunde, die bellen, beißen nicht. Er ist oft aufgebracht und ungehalten. Er ist eben so und das hat gar nichts mit dir zu tun. Das ist Max.“
„Ich glaube, das sollte ich mir merken.“
Sie drückt die Zigarette aus und holt tief Luft.
„Danke, Merle.“
„Schon gut, nicht dafür, Paula.“
Als ich zurück zu meinem Schreibtisch gehe, kommt mir Felix mit einem Zettel entgegen.
„Hier, Merle, für dich hat jemand angerufen. Hab alles notiert.“
Ich nehme den Zettel, während ich mich bedanke.
Auf dem Zettel steht: „Liebe Grüße von Emilio. Er lässt ausrichten, ob du heute um dreizehn Uhr ins Café kommen könntest. Es wartet jemand auf dich.“
Was soll denn das nun schon wieder…
Es ist mit Sicherheit Nina. Jetzt schickt sie schon Emilio vor. So geht das auch nicht. Ich kann mir nicht bestimmen lassen, wo und mit wem ich meine Mittagspause zu verbringen habe.
Ich spüre, wie langsam meine Wut wieder aufsteigt. Es geht wirklich nicht so.
Ich betrete das Café. Emilio begrüßt mich: „Ciao, Bella, ich froh bin, dass du kommen.“
Ich sage ihm behutsam, was ich von dem heutigen Anruf halte.
„Bella, ich weiß, dass nicht korrekt war. Sie mir so unendlich leid tat. Sie so traurig war. Und sieh, hat den Tisch gedeckt für euch. Extra für dich gemacht. Sie schon wartet auf dich…“
„Schon gut, Emilio.“
Langsam gehe ich auf meinen Tisch in der Ecke zu. Auf ihm steht eine Vase mit einer roten Rose und viele Rosenblütenblätter liegen verstreut. Nina sitzt schuldbewusst da. Sie war sich wahrscheinlich nicht sicher gewesen, ob ich tatsächlich auch kommen würde.
Ich setze mich an den Tisch. Sage erst einmal gar nichts, weil ich immer noch Wut verspüre. Sie bestimmte in diesem Moment über mein Leben, meine Zeit.
Sofort kommt Emilio. Er bringt Kaffee und Kuchen. Quarkkuchen. Den esse ich am liebsten.
Er stellt alles ab und lässt uns wieder allein.
„Jetzt bin ich gespannt, was du zu sagen hast. Ich finde es übrigens nicht in Ordnung, dass du Emilio benutzt hast. Was war gestern los mit dir?“
Ich zünde mir eine Zigarette an. Kaffee und Kuchen müssen warten, erst ich will es geklärt haben.
„Du. Merle, nicht schimpfen, es war alles nicht so gemeint. Und das, was ich gesagt habe, stimmt natürlich auch nicht. Entschuldige bitte.“
„Nehme ich an. Aber ich will verstehen, was mit dir los war.“
„Manchmal ist es eben so, ich kann es nicht erklären. Das kommt nie wieder vor. Ganz bestimmt nicht“, klingt es flehentlich.
„Sag mir, warum du so wütend geworden bist. Weil mich Martin angerufen hat? Weil ich keine CD einlegte? Das kann es doch nicht gewesen sein.“
„Manchmal schlägt die Stimmung bei mir ganz schnell um. Ja, ich war eifersüchtig auf Martin. Ich wollte nicht, dass er stört.“
„Nina, er ist ein Freund und hat nur kurz angerufen. Und er hat keinesfalls gestört.“
„Als ich zu Hause war, ging es mir ganz schlecht. Deshalb habe ich heute ein langärmliges T-Shirt an…“, stockt sie.
„Wie? Was willst du mir jetzt sagen?“
„Ich habe mich selbst verletzt. Sehr tief.“
Ich frage mich augenblicklich, warum mich das nicht verwundert.
„Kannst du mir sagen, warum?“
Es ist für mich selbst erstaunlich, dass ich nicht in Sprachlosigkeit verfalle.
„Ja,… ich…ich hatte Angst, dass du mich verlässt und nichts mehr mit mir zu tun haben willst…“, sagt sie leise, aber in ihrem Blick ist so viel Trotz, so dass es nicht zusammenpasst.
Ich fühle mich wieder erpresst – wie mit der Mittagspause.
Mein Kuchen schmeckt mir nicht mehr.
„Und du bist daran Schuld, dass ich es getan habe. Nur du allein.“
„Wie kann ich daran Schuld sein? Ich habe es nicht zu verantworten. Das hast ganz allein du getan, Nina.“
„Aber wegen dir habe ich das Messer genommen. Nur wegen dir.“
Plötzlich habe ich Annabell vor Augen, und Herrn Petersons Worte im Ohr: „Borderline“. Und denke an meine Arme. Nein, das kann alles nicht wahr sein; weil es nicht wahr sein darf.
„Möchtest du mir was sagen, Nina? Kann es sein, dass du eine Borderline-Persönlichkeitsstörung hast?“
‚Warum erstaunt mich jetzt diese Frage, die ich ja selbst stelle, nicht?’ denke ich.
„Du kennst das?“ fragt Nina erstaunt-verwundert.
„Ja, ich kenne das“, antworte ich und habe Mühe, meine Stimme dabei fest klingen zu lassen.
„Na ja, dann weißt du ja Bescheid und ich brauche dir nichts erklären“, kommt die Antwort prompt, fast ein wenig schnippisch.
Ich bin schockiert und weiß nicht, wie ich reagieren und damit umgehen soll.
Ich bin hilflos überfordert.
Sinnloser Weise fällt mir jetzt ein, dass in der zweiten Reportage auch eine Rolle spielen müsste, wie Angehörige und Bekannte und Freunde mit dieser Diagnose umgehen sollten.
„Nina, ich werde jetzt dieses Cafe verlassen – das solltest du übrigens auch tun. Ich brauche Zeit. Ich melde mich wieder bei dir. Mir geht es im Moment auch nicht gerade gut und ich muss etwas für mich tun. Danke für die Einladung. Bis bald. Ich werde versuchen, dich zu verstehen.“
Ich fühle mich fremd an, als ich aufstehe. Ich habe das Gefühl, zur Tür zu wanken.
Hinter mir höre ich ein wütendes: „Merle.“
Fassungslos steht Emilio da. „Mamma mia, Bella…“
„Nein, Emilio, bitte lass mich jetzt…“
Das Mädchen spielte mit ihrem Bruder in der Wohnung. Die Mutter saß in der Kneipe, über der das Mädchen mit der Familie wohnte. Es war mittags und draußen war es warm. Der Vater war oben in der Wohnung. Das Mädchen sollte die Mutter hoch holen. Aber das gelang dem Mädchen nicht. Die Mutter saß bei den Männern und trank. Sie wollte nicht mitkommen. Alle Versuche, sie zu überreden, waren sinnlos. Die Männer am Tisch lachten. Das Mädchen musste ohne die Mutter nach oben gehen. Wütend ging der Vater hinunter. Er zerrte die Mutter an den Haaren nach oben. Alle schrien im Treppenhaus: der Vater, die Mutter und die fremden Menschen, der Bruder und das Mädchen, die beide starr da standen und alles mit ansahen.