Читать книгу Mondnachtschatten - Alma Bandemer - Страница 8

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Erinnerungen

Ich fahre einer Erinnerung entgegen. Es ist ein schöner Vorsommertag. Die Sonne scheint und es ist warm an diesem Vormittag. Ich bin unterwegs nach Arnstadt. Dahin, wo wir damals so viele glückliche Zeiten verbracht hatten – Peter, seine Tochter Maxi und ich. Wir wohnten im Urlaub oder an Wochenenden in dem großen Garten seines Bruders. Und wir waren oft dort.

Je näher ich Arnstadt komme, umso mehr beschleicht mich das Gefühl, dass es wohl doch nicht richtig sein möge, hierher zu fahren nach all der langen Zeit. Nach unserer Trennung war ich nie wieder hier gewesen. Aber neugierig bin ich dennoch. Und deswegen ist es richtig, was ich vorhabe.

Ich habe meine schwarze Lieblingshose an. Sie trägt sich leicht und besteht aus einem angenehmen Stoff. Darüber habe ich trotz der Wärme ein langärmliges T-Shirt an. Das Shirt hat Abnäher und betont meine schlanke Figur. Darunter sieht man das weiße Top. Mein Lieblingsoutfit. Dazu trage ich meine flachen Treter. Ich habe überhaupt nur ganz wenige Schuhe im Gegensatz zu meinen Geschlechtsgenossinnen (da fällt das Entscheiden, welcher Schuh getragen werden soll, immer ganz leicht). Ich hätte gar keine Nerven, mir ständig neue Schuhe zu kaufen und finde das auch gar nicht notwendig und kann mir nur sehr schwer vorstellen, wie man dermaßen in Verzückung bei Anblick eines dieser Objekte geraten kann. Wie Paula zum Beispiel. Wenn sie neue erstanden hat, ist es das erste, was sie mir mitteilen muss.

Den Wagen stelle ich unterhalb der Alteburg ab und laufe den Berg hoch. Ganz oben ist der Garten. Niemand ist da. Ich hätte mich sowieso nicht zu erkennen gegeben. Ich laufe unsere Wege entlang: am Schneckchen und Kreuzchen vorbei, blicke hinunter und gegenüber, wo sich die Ruine eines alten Klosters und die Fasanerie befinden, vorbei auch an den Muschelkalkfelsen, von denen wir damals gelöste Steine mitnahmen und nach Fossilien untersuchten (ein Spaß für das Kind) und auch welche fanden, überquere die Schwedenschanze an den Feldern und komme zur Alteburg zurück. Wie oft haben wir hier oben gesessen, wie oft waren wir auf dem Turm, von dem wir uns immer erst den Schlüssel von der Wirtin holen mussten und welch ein Erschrecken beim Treppenzählen, wenn wir plötzlich Tauben aufscheuchten, die dann ebenfalls erschrocken davon flogen…da waren wir glücklich. Glücklich? Wirklich?

Ich entschließe mich, nach einem letzten Blick auf den nunmehr verwilderten Garten, der plötzlich so fremd da liegt, so fremd, als wäre niemals Leben in ihm gewesen, in die Stadt hinunter zu gehen. Zu schauen, was sich verändert hat und was geblieben ist. Das Neue und das Alte.

Auf dem Marktplatz grüße ich den jungen Bach, der nun ewig als Denkmal in genau dieser Pose bleiben wird. Etwas Vertrautes. Ich blicke in die Gesichter der Vorbeilaufenden. Alle haben es eilig und hasten aneinander vorbei. Es ist ja immerhin ein gewöhnlicher Wochentag. Nur ich kann mir alle Zeit der Welt nehmen und setze mich ins Café neben der Apotheke unter den Arkaden. Welch ein Luxus.

Maxi hat uns immer Löcher in den Bauch gefragt, wenn wir hier waren. Alles wollte sie wissen: wer Bach war, was eine Orgel ist, warum die Liebfrauenkirche Liebfrauenkirche heißt (wohl wegen der lieben Frauen?)… und noch so unendlich viel mehr.

Diese Kirche steht nun seit über 800 Jahren hier und prägt den mittelalterlichen Stadtkern von Arnstadt. Sie wird als wichtigstes Bauwerk des Übergangs von der Romanik zur Gotik bezeichnet. Ab 1813 wurde sie zu einem unscheinbaren Lager und verfiel. Erst im Jahre 2000 begann man mit Hilfe eines eigens dafür gegründeten Kuratoriums mit der Erhaltung und Sanierung der Kirche. Das wusste ich nun wohl für immer, weil wir uns extra wegen Maxi schlau gemacht haben.

In Gedanken bin ich jetzt bei einem Stadtfest. Wir waren in dem großen Festzelt. Es war eine großartige Stimmung. Peters Bruder saß mir gegenüber. Ich mochte ihn sehr. Manchmal blickten wir uns tief in die Augen. Und unter dem Tisch berührten wir uns wie aus Versehen mit den Füßen. Peter bekam davon nichts mit. Tags zuvor hatten wir uns heftig gestritten. Er hatte wieder zu viel getrunken. Ich war wütend geworden und dann war da noch Maxi. Ich wollte nicht, dass sie ihren Vater so sieht. Aber es ließ sich nicht vermeiden. Ich ließ Peter links liegen, kümmerte mich um seine Tochter und schob meine Gedanken fort.

Abends, als das Kind schlief, hatte ich Angst, dass alles zu Ende sein könnte: Peter hatte weiter getrunken. Reden konnte man mit ihm nicht. Es war sinnlos gewesen. Am Vormittag war bei der Gartenarbeit sein Verlobungsring gebrochen…ich sah es als ein böses Omen. Dabei wusste ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht, dass er wieder einmal zweigleisig fuhr. Gut, vielleicht ahnte ich es insgeheim. Doch wahrhaben wollte ich es auf keinen Fall.

Peters Bruder Thomas kam noch an diesem späten Abend. Ich war sehr froh gewesen. Wir saßen am Tisch und unterhielten uns. Über Kunst und Kultur. Über Literatur und Musik. Etwas, worüber ich nie mit Peter reden konnte. Ich erhielt Aufmerksamkeit von Thomas. Es fiel kein lautes Wort. Wir waren uns so nahe. Im Geiste.

Peter war inzwischen auch eingeschlafen. Nur wir, Thomas und ich, saßen noch draußen in der Sommernacht mit Kerzen und Wein. Und redeten einfach.

Am nächsten Tag hatte Peter seinen Rausch ausgeschlafen und abends trafen wir uns alle zu diesem Stadtfest. Ich hatte solche Sehnsucht nach Thomas. Nicht körperlich. Nur ihm nahe sein wollte ich. Und so herrschte diese besondere, bezaubernde Stimmung, wenn wir uns ansahen, uns wieder wie zufällig mit unseren Füßen unter dem Tisch berührten. Diese Sehnsucht tat weh.

Dennoch war ich felsenfest der Meinung, dass ich glücklich mit Peter war. Trotz allem.

Ich unterbreche meine Gedanken, trinke den Kaffee aus, bezahle und gehe. Langsam laufe ich durch diese Stadt meinen Erinnerungen hinterher und fotografiere. Etwas festhalten von dem Augenblick, diesem einen Moment, der nichts mehr mit dem Früher zu tun hat, sondern einzig und allein mit dem Hier und Jetzt. Also laufe ich eher den Erinnerungen davon.

Danach kehre ich in die Kulisse ein. Ein total schräger Laden in einem Hinterhof mit Töpferei und allerhand Kunst und Krempel. Hier gibt es Ausstellungen und Kunstverkäufe und Konzerte mitten im Hof. Im Gastraum gleicht kein Stuhl dem anderem und die alten Holzdielen knarren. Auf jedem Tisch Aschenbecher einer anderen Marke. Und es gibt einen alten Gewölbekeller, in dem wir so manches Guinness-Bier getrunken und so manches Kniffel gespielt hatten. Hier habe ich mich immer lebendig gefühlt.

Alles ist noch beim Alten. Auch hier ist alles noch so vertraut. Als wäre ich nie weg gewesen. Nur die Bilder hatten gewechselt. Der wilde Wein an der Hauswand ist dichter geworden. Und in der Töpferei arbeitet wie früher jemand, ich kann es hören.

Hier hänge ich ebenfalls bei einem Kaffee und belegten Broten meinen Gedanken nach. An all das Gute, was wir hier erlebt haben, wollte ich denken.

Mir fiel noch einiges ein an Erlebnissen. Gut, dass es auch solche Erinnerungen gibt. Und die will ich festhalten.

Ich fahre noch übers Land und genieße die untergehende Sonne. Das Licht reflektiert wunderbare Farben, die man kaum beschreiben kann. Es herrscht eine einzigartige Stimmung und ich wünschte in diesem Augenblick, dass dieser Moment nie vorbei gehen möge. Spät abends komme ich zurück in meine Wohnung. Ich bin erleichtert, dass ich wieder da bin. Aber ich bin auch erleichtert, dass ich heute diese Fahrt unternahm. Es war gut so gewesen.

Eine Nachricht von Nina: „Jetzt waren Erde und Himmel so gerührt bei dem Gedanken an dich, dass aller Schnee sich in Tränen verwandelte…und das Feuer, das so groß war, dass keine Träne es je löschen konnte, brennt weiter in mir…ich möchte dich gern wiedersehen…“

„Nina, wir können uns wieder treffen. Irgendwann in den nächsten Tagen. Ich brauche noch ein wenig Zeit für mich.“

So antworte ich darauf.

Ich dagegen beginne, mir ein Nachtkleid aus meinen Tickets zu stricken. Nicht denken wollte ich und auch nichts wissen wollte ich.

Innerlich bin ich in Aufruhr und es herrscht Chaos. In mir ist ein gefährlich leises Ticken. Nach außen hin habe ich wohl das Temperament einer Schlaftablette. So komme ich mir jedenfalls vor.

Nina schickt mir noch eine Mail: „Wenn dein Lächeln mir zum ersten Male ganz nahe kommt, öffnet sich ebenes Land mir hinter Augen, wehen ferngelebte Wahrheiten entlang zum Horizont und breiten alles Wissen aus. Und ich werde spüren deinen Herzschlag neben meinem.“

In mir fängt es an, sich zu beruhigen. Die Tickets versehen ihren Dienst.

Es wird warm und friedvoll. Sicher.

Ich weiß nicht, wie oft ich diese Mail lese. Ich erschließe ihren Sinn nicht. Das heißt, ich verstehe sie anders. Doch das kann Nina wohl nicht gemeint haben. Nein, wahrscheinlich nicht. Sie sucht wohl nur Anschluss – egal wie; eigens auf ihre Art und Weise. Anders.

Ich antworte nicht mehr.

Meinen dritten freien Tag verbringe ich in mir…nachdem die Nacht so schwer beladen mit Träumen war, die mich immer wieder wach werden ließen und mir Angst einflößten. Ich habe die gerauchten Zigaretten nicht zählen können. All die vielen Albträume, die so völlig irreal waren und dennoch so bekannt, realistisch, so nah…immer und immer wieder die gleichen Träume. Ich will nicht, dass sie etwas mit meinem Leben zu tun haben, aber ich befürchte beinahe, dass es so ist.

Es ist kurz vor sieben in der Frühe. Ich stehe am geöffneten Fenster, kaue mir die Unterlippe blutig und schaue der erwachenden Stadt zu. Menschen hasten unten auf der Straße vorbei. Manche mit Regenschirmen oder Kapuzen. Andere wiederum werden nass. Es regnet und der Himmel ist wolkenverhangen. Der Himmel weint über so viel Traurigkeit in einem Menschen Herz. Ziemlich trostlos und dunkel sieht alles aus. Genau das Richtige für meine Stimmung. Die Tropfen prasseln ans Fenster. Im Haus gegenüber ist ein Dachfenster weit geöffnet – der Bewohner wird sich freuen. Die kühle Morgenluft umfängt mich und ich atme den Duft des neuen Tages – doch er erreicht mich nicht wirklich. Wie taub fühle ich mich. Ich schließe das Fenster wieder. Die Unterlippe schmerzt. Der Schmerz fühlt sich fremd an. Nicht ich fühle ihn, sondern das da neben mir.

Meine Vorhänge bleiben zu, die Kerzen zünde ich wie bei einem Ritual an, fülle ein Glas mit Rotwein und ich lege die Musik von Lacrimosa ein. Alles um mich herum ist in geheimnisvolles Licht getaucht. Die Schatten der Kerzen tanzen an der Wand. Hier bin ich in Sicherheit. Hier kann mir keiner etwas tun. Das denke ich schwerfällig. Mein Kopf schmerzt und in mir ist Kälte. Auch das fühlt sich fremd an, wie nicht zu mir gehörig, sondern zu dem, was da neben mir ist.

Es zieht mich tiefer und tiefer. Die Dunkelheit umfängt mich. So soll es sein.

Still betrachte ich mein Selbst (doch niemals mich) im Spiegel, während ich Rotwein trinke.

Nicht denken will ich, nur sein, ein wenig.

„Halt mich, mein Leben, halt mich fest…“, so klingt die Musik.

Ich laufe hin und her, als suche ich etwas. Es läuft mechanisch ab, wie ohne eigenen Willen. Nach ein paar Minuten bin ich im Bad fündig geworden. Kühl und glänzend halte ich die Rasierklinge in der Hand. Ich schaue mir zu. Von oben herab. Ich kann nichts dagegen tun.

Süß schmeckt der Wein und scharf schneidet die Klinge. Rot so rot, ich trinke und ich schmecke dich. Der Kopfschmerz hat sich verzogen. Still davon geweht ist er.

So mechanisch wie ich die Rasierklinge suchte, so mechanisch suche ich nun mein Verbandszeug. Ebenso mechanisch versorge ich die Schnitte. Wie in Trance.

Für einen kurzen Moment habe ich Annabell vor meinen Augen.

Ticketumflort bin ich bereit für die Reise in meine Hölle.

Das Mädchen stand im Flur vor dem großen Spiegel. Es war nachts. Alle schliefen. In den Händen hielt es eine Menge Tabletten. Das Mädchen konnte nicht mehr.

Bei der Mutter wirkten die Tabletten so, dass sie fest und lange schlief. Nimmt das Mädchen nun die vielen, die sie heimlich aus den Glasröhrchen der Mutter gesammelt hatte, würde sie tot sein. Hoffentlich. Sie hatte die Packungsbeilage gelesen.

All den Schmutz und das Chaos, die Angst, die Streitereien, die Gewalt, die Armut war dem Mädchen so über den Kopf gewachsen, dass es das nicht mehr ertragen konnte.

Und immer weiter bohrten die Lehrer in der Schule. Aber es durfte einfach nichts sagen. Es war schon schlimm genug, dass die Kleidung schlecht, kaputt und schmutzig war. Alle konnten das sehen. Und immer wieder musste das Mädchen ihren Geschwistern den Mund verbieten: nur niemanden etwas erzählen…alles ist doch in Ordnung. Würden die Lehrer kommen und etwas sagen oder tun, würde zu Hause alles noch schlimmer kommen. Die Lehrer hatten ihr eigenes Zuhause – sie konnten ja wieder gehen.

So stand das Mädchen mitten in der Nacht. Und dachte an ihre Geschwister. Es begann zu weinen, ging wieder in ihr Zimmer, versteckte die Tabletten und legte sich ins Bett. Schlafen konnte es in dieser Nacht nicht. Aber unendlich mutlos war es.

„Hallo grüß dich, na, wieder zurück?“

So begrüßt mich Paula, als ich meinen Fuß wieder ins Büro setze.

Ich bin erstaunt, dass Paula bereits in der Redaktion ist. Für gewöhnlich ist sie erst später dran wegen ihrer Kinder.

„Ah, du wunderst dich: Frank arbeitet heute später und bringt die Kinder in die Schule. Und ich hoffe, wenn ich eher anfange, dass ich dann auch eher Feierabend machen kann, um mit den Kids noch in den Zoo gehen zu können. Ich hatte es ihnen versprochen.“

„Ach so. Du, Paula, es war einfach wunderbar, für drei Tage einfach nichts mit der Arbeit zu tun gehabt zu haben.“

„Ich glaube, diese wartet auf dich, wenn ich mir so deinen Schreibtisch anschaue. Max hat ganze Arbeit geleistet.“

„Kein Problem, ich bin fit“, antworte ich.

Ich fühle mich tatsächlich außerordentlich gut und beginne, die Pressemitteilungen zu bearbeiten:

„Versteigerung: Vorschläge für eine Versteigerung von Kraftwerkslaufzeiten haben der Koalition heftige Kritik von Opposition und Atomkraft-Gegnern eingebracht. Es wurden erhebliche Sicherheitsbedenken geäußert. Hintergrund sind Überlegungen, längere Atomlaufzeiten nicht zuzuteilen, sondern in einer Auktion an die Stromkonzerne zu versteigern.

Freiwilligenarmee: FDP-Chef Guido Westerwelle drängt auf eine rasche Umwandlung der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee. Er halte ein Ende der Wehrpflicht noch in dieser Wahlperiode für möglich. Es gehe dem FDP-Chef nicht um Einsparungen, sondern um Wehrgerechtigkeit.

Ölpest: BP hat den wichtigen Abschlusstest des Abdichtungszylinders für das Ölleck am Meeresgrund im Golf von Mexiko verschoben. Zunächst sollen die Testmethoden überprüft werden. Es gebe Komplikationen, die zu einer Verzögerung führen. In der Zwischenzeit tritt aus dem Bohrloch in eintausendfünfhundert Metern Tiefe weiter ungehindert Öl aus.…“

„Ach, übrigens“, sagt Paula, „hat gestern jemand angerufen und wollte deine private Telefonnummer.“

„Wieso?“

Ich muss ziemlich dämlich bei dieser Frage aussehen, denn Paula muss lachen.

„Keine Angst. Ich habe sie nicht weitergegeben.“

„Wer hat angerufen?“

„Eine junge Frau. Klang jedenfalls so. Ihren Namen hat sie nicht genannt.“

„Und mit welcher Begründung?“

„Sie meinte, du hättest etwas in einem Café liegen lassen, was sehr wichtig aussieht. Sie wollte es dir deshalb unbedingt zukommen lassen und dich deshalb informieren, da sie auch deine private Adresse nicht hätte. Ich habe ihr gesagt, dass du ab heute wieder in der Redaktion bist und sie dann anrufen kann.“

„Hab vielen Dank!“

Bei uns in der Redaktion werden private Dinge nicht an Dritte weitergegeben. Gut, dass man sich darauf verlassen kann.

Es konnte nur Nina gewesen sein. Augenscheinlich war es für sie kein Problem gewesen, heraus zu finden, in welchem Verlag ich arbeite. Das war nun allerdings keine Schwierigkeit. Indirekt hatte ich es ihr ja auch gesagt: „…Verlag hier um die Ecke…“ und so viele Verlage gibt es hier nicht; sprich: wir sind der einzigste in der Umgebung.

Doch im Café hatte ich nichts liegen gelassen; das wüsste ich.

Kurz nach dem Mittag bin ich fertig mit der Aufarbeitung. Für Nachmittag hatte ich noch zwei Interviews organisiert: zwei Sportvereine. Der eine sucht händeringend Mitglieder, der andere macht Werbung für seinen Wettkampf im kommenden Monat und sucht noch einen Sponsoren.

Das Regionalsportressort musste ich übernehmen: der zuständige Kollege ist im Urlaub.

Doch das macht mir nichts aus. So komme ich noch in andere Bereiche hinein und erlebe Abwechslung. Hauptsache, ich bin nicht dauernd in Max’ Nähe und habe die Möglichkeit, auch draußen zu arbeiten.

Danach bin ich wieder bei Emilio, schreibe beide Artikel, bearbeite die Fotos und maile alles ins Büro, damit es pünktlich in den Druck gehen kann. Und wieder bin ich froh, diese Möglichkeit zu haben: ich bin nicht unbedingt auf die Redaktion angewiesen, wenn es um kleinere Sachen geht…das schafft Freiräume und senkt den Stresspegel und: es ist nett bei Emilio.

Oh ja, Vatilein, diese Puppe möchte ich haben“, sagte das Mädchen. Gemeinsam standen sie im Geschäft und das Kind streckte sich auf Zehenspitzen in die Höhe, nur um der Puppe etwas näher zu sein, die im Karton auf dem obersten Regal stand.

So eine habe ich mir schon immer gewünscht.“

Der Vater überlegte: „Gut, du willst sie unbedingt haben. Aber dann musst du immer brav sein und alles tun, was ich dir sage.“

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Das Mädchen erschrak. Auch seine Stimme veränderte sich, als er sagte: „Hörst du, du wirst mir immer gehorchen.“

Das Mädchen wollte die große Puppe.

Ja, Vati, ich werde immer lieb sein.“ Es dachte jetzt nur noch an die Puppe, die sie zu Weihnachten bekommen sollte.

Und das Mädchen tat alles für den Vater, was er befahl, war artig und lieb zu ihm und seinen Freunden.

Die Wohnung in der neunten Etage ist schlicht eingerichtet: ein Bad, eine kleine Küche, Flur und ein großes Zimmer mit Balkon. Diese ganze Seite ist verglast.

Es gibt ein großes Hochbett und einen Schrank. Das ist alles.

Bücher, CD-Player, CD’s, Zeitschriften und andere Sachen sind an der linken Wand entlang abgelegt. Dazwischen steht der Käfig von Anastasia. In der Ecke befindet sich der Fernseher – auch auf dem Boden. An den Fenstern gibt es keine Gardinen oder Jalousien; dafür Kerzen auf den Fensterbrettern in allem möglichen Größen und Farben.

Unter dem Hochbett sind Kissen verteilt. An den Wänden hängen ein paar selbstgemalte Bilder. Sie sehen zumindest danach aus.

„Sind die Bilder von dir?“ frage ich.

„Ja…sie widerspiegeln mein Innerstes. Magst du Kaffee?“ fragt Nina aufgeregt.

„Ich freue mich so sehr, dass du da bist.“

Ich hatte Ninas Einladung angenommen und war zu ihr gefahren. Einen riesigen Blumenstrauß hatte ich ihr überreicht und sie war vor Verlegenheit ganz rot geworden. „Mir hat schon lange niemand mehr Blumen geschenkt“, hatte sie leise gesagt.

Lange hatte sie danach in der Küche gekramt und endlich gefunden, wonach sie suchte: ein Glas. In dem waren einmal Gewürzgurken gewesen.

„Ich habe keine Vasen“, entschuldigte sie sich. „Aber das ist ja egal, worin die Blumen stehen, Hauptsache, sie haben Wasser“ und stellte das Glas samt dem Strauß mitten ins Zimmer auf den Fußboden.

Während Nina sich nun mit dem Kaffee beschäftigt, stehe ich vor ihren Bildern und betrachte sie aufmerksam: ein Mensch, der versucht zu kriechen, obwohl er Ketten um den Hals hat, die an einem Pflock festgemacht sind und er somit keine Chance hat, um zu entrinnen, ist zu sehen. Das Gesicht des Menschen ist schmerzverzerrt. Aus seinen Augen fließen schwarze Tränen.

Ein anderes Bild ist eine Collage: ein Mensch, zerrissen in seine Einzelteile. Ohne Ordnung aufgeklebt. In schwarz. Der Untergrund war weiß-grau. Ich stehe ziemlich hilflos vor diesem Bild. Weil es mir oft genauso geht. Und mich in ihm wiederzuerkennen glaube.

‚In der letzten Zeit begegnet mir zu viel an Schwarz und Weiß’ denke ich, als Nina mit den Kaffeetassen kommt.

Wir setzen uns unter das Hochbett auf die vielen Kissen. Ein stabiler Karton ersetzt den obligatorischen Couchtisch.

„Entschuldige, ich habe nur Kaffeeweißer (da! schon wieder „weiß“), keine Milch. Ich hoffe, dass ist okay so für dich?“

„Ist völlig in Ordnung“, entgegne ich.

Nina zündet die Kerze an, die auf dem Karton-Tisch steht.

„Wie lange wohnst du denn schon hier?“ frage ich nach einer kurzen Pause. Wir hatten uns Zigaretten angezündet und rauchen.

„Erst seit knapp einem halben Jahr“, beantwortet sie meine Frage.

„Unterstützen dich deine Eltern? Immerhin studierst du ja.“

„Na ja, sie zahlen die Miete und sie geben mir zum Bafög noch was dazu. Warum fragst du?“

„Weil es hier noch so unbewohnt - unfertig aussieht“, sage ich und blase den Rauch aus.

„Entschuldige, aber ich musste grad an mich denken. Ich brauchte allerdings anderthalb Jahre, um meine Wohnung wohnlich einzurichten. Also so, dass sie nach mehr aussieht, als nach ungeliebter Abstellkammer“, sage ich und muss lachen.

„Ich will mir noch ganz einfache Regale kaufen, am liebsten aus dem Baumarkt.“

„Ah, solche habe ich auch. Sieben Stück stehen davon in meiner Wohnung verteilt herum“, sage ich.

„Das ist eine gute Idee und preiswert ist sie obendrein.“

„Oh, könnte ich mir vielleicht mal ansehen, wie sie aufgebaut aussehen?“ fragt Nina gleich hinterher.

„Das lässt sich machen. Ich habe auch einige auf verschiedene Größen zerlegt, damit es nicht so eintönig aussieht.“

„Das ist auch eine gute Idee. Und ein simples Sofa und einen kleinen Tisch brauche ich noch. Beides will ich hier unter das Hochbett stellen“, sagt sie mit einer vollen Begeisterung. Und: „Aber im Moment komme ich nicht dazu…“

„Woran liegt es? Am Transport? Da könnte ich dir vielleicht helfen.“

„Mhm…ich gebe mein ganzes Geld im Augenblick für andere Sachen aus…aber es wäre schön, wenn du mir helfen könntest. Dann spare ich mir im kommenden Monat mein Geld dafür auf.“

Ich sehe sie an. Sie ist aufgeregt wie ein kleines Kind vor einer Überraschung. Ihre Wangen haben sich gerötet und ihre grünen Augen glänzen.

„Waren deine Eltern schon mal hier gewesen?“

„Nein, das interessiert sie nicht sonderlich. Sie sind froh, dass sie nur zahlen brauchen und sich nicht mit mir herum schlagen müssen, jetzt, wo ich doch nicht mehr ihr ganzer Stolz bin.“

Wieder klingt ihre Stimme traurig – so wie damals im Café, als ich das Thema Eltern ansprach. Und ich bedauere, den vorangegangenen Moment der Aufregung so abrupt zerstört zu haben.

„Aber Freunde an der Uni hast du doch, oder?“ frage ich weiter.

Mehr ist jetzt nicht mehr kaputt zu machen.

„Ja, sehr viele. Oft gehen wir auf Partys. Da ist echt immer viel los. Du kannst ja mal mitkommen, wenn du magst. Ich würde mich sehr freuen. Dann könnte ich dir all meine Freunde vorstellen.“

„Ach Nina, wahrscheinlich bin ich dazu schon ein wenig zu alt, um mit dir und deinen Freunden mithalten zu können. Uns trennen immerhin neun Jahre. Das macht sich dann wohl doch bemerkbar.“

„Ach, so ein Quatsch. Da gibt es so ein paar Mittelchen, da kannst du dann locker dabei sein, wenn es dir nur darum geht. Ich könnte dir da was besorgen. Oh ja, komm doch einfach mal mit, dann wirst du sehen, wie easy alles ist.“

Ich bin baff. Um zu antworten, muss ich erst mal tief Luft holen.

„Du meinst jetzt aber nicht illegale Mittelchen und Wege, die alles so easy machen?“ Es ist wohl eher eine Feststellung.

„Ach komm schon, das ist doch nicht schlimm…“

Nina redet und redet.

„Das ist keine gute Idee, Nina. Ich stehe nicht auf so etwas“, sage ich in einem Moment, in dem sie mal Luft holt.

„Dann komm doch einfach ohne Mittelchen mit. Du wirst auch so deinen Spaß haben…“

‚Nein, auch wenn ich medikamentenabhängig bin: Drogen an sich habe ich noch nie probiert und werde es auch niemals tun…das kommt keinesfalls in Frage; nicht einmal ein Joint…Warum? Weil ich weiß, dass ich mit einem hohen Suchtpotential ausgestattet bin…denn die Medikamente sind ja im Prinzip auch nichts anderes als eine Droge…und ich habe schon damit Probleme…und brauche keine neuen’ hänge ich meinen Gedanken nach.

Nina sprudelt immer noch über…

Ich unterbreche sie. „Ich muss dann mal wieder. Ich habe noch einiges an Arbeit liegen, die bis morgen fertig sein muss. Danke für den Kaffee.“

Sie schaut mich ein wenig verständnislos an. „Schade, ich wollte dir noch so vieles erzählen. Wann kann ich dich mal besuchen? Ich meine, um mir das mit den Regalen anzuschauen.“

„Da sage ich dir noch Bescheid. In der nächsten Zeit steht wieder viel Arbeit an.“

Ich fühle mich kraftlos, als ich Nina verlasse. So, als ob sie mir all meine Energie geraubt hätte.

Ich schaue mir Fotos an. Und treffe eine Auswahl. Ich möchte die Ausstellung machen und das Angebot von Emilio annehmen. Diesmal sollen die Fotos nicht menschenleer sein – im Gegensatz zu meiner ersten Ausstellung vor sechs Jahren. Damals nannte ich sie „Stille“ und musste mich beinahe zwischen ihr und Peter entscheiden. Er hatte mich zunächst vor genau diese Wahl gestellt und es gelang mir mit größter Mühe, ihm begreifbar zu machen, dass er solch eine Entscheidung nicht von mir verlangen kann, obwohl ich beinahe nachgegeben hätte. Nur um des lieben Friedens Wille.

Heute werden es lebendige Momentaufnahmen, die so sehr viel vom Hier und Jetzt zeigen.

Es haben sich in der letzten Zeit wunderbare Fotos angesammelt. Das ist fast noch ganz neu bei mir, dass ich (außer zu beruflichen Zwecken) auch Menschen fotografiere. Früher ging es mir damit nicht gut, weil ich immer das Gefühl hatte, es für verlogen zu halten. Für unwirklich. Nicht existent. Falsch.

Peter hatte damals nicht verstehen können, warum ich diese Chance ergriff, eine eigene Ausstellung eröffnen zu dürfen und warum mir soviel daran lag.

Thomas hatte es verstanden. Ohne große Worte. Er bestärkte mich darin, genau das zu tun.

Ich hatte es tun müssen – für mich und es war ein voller Erfolg gewesen – mit dem Peter kaum umgehen konnte. Er war nicht einmal bei der Eröffnung dabei gewesen. Das hatte mich enttäuscht. Und sehr verletzt. Nachts wartete er auf mich und fuhr mich wütend an, wo ich so lange gewesen sei. Aber es war ein so wunderbarer Abend gewesen mit all den Besuchern und Gästen. Es gab so wundervolle Gespräche und Begegnungen. Das hatte ich mir nicht kaputt machen lassen wollen, auch wenn meine Euphorie sofort auf den Nullpunkt sank, als er nachts in der dunklen Küche saß und mir ein schlechtes Gewissen einzureden versuchte. Das klappte auch beinahe. Ich fühlte mich schlecht und egoistisch. Ich rechtfertigte mich. Bis ich plötzlich ganz still geworden war. Ich ging einfach ins Bett. Es tat mir weh, wie er über mich dachte und was er über mich zu sagen hatte. Doch das Erlebnis hat er mir nicht wegnehmen können – das war nun tief in mir drin verborgen. Und dort sollte es auch bleiben, damit ich davon zehren konnte, wenn es mir mal nicht so gut ging. Das tat ich dann oft.

Heute weiß ich, dass ich Peter damit zu selbstständig geworden war. Und dazu noch erfolgreich und anerkannt. Nur allein wegen dieser Tatsache, dass ich nun auch noch als junge Frau in einem gewissen Grad in der Öffentlichkeit stand, fühlte er sich minderwertig, zurückgesetzt.

An seinem Status wurde plötzlich gekratzt. Doch das habe ich tatsächlich erst viel später begriffen.

Und mir war das ganze so egal, weil mir das gar nicht wichtig war. Ich wollte nur meine Fotos, von denen ich wusste, dass sie gut waren, anderen Menschen vorstellen. Mehr nicht.

Thomas hatte sich die Ausstellung später angeschaut und fand die Fotos beeindruckend, wenn auch menschenleer.

Aber heute kann ich es ganz einfach tun. Ohne darüber nachzudenken. Ich kann mich auf mich und meine Fotos konzentrieren. Ich kann es für mich tun, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Ich fahre zu Emilio, er begrüßt mich wie immer, ich bestelle einen Kaffee und falle mit der Tür ins Haus.

„Mamma mia, Bella, welch eine große Freude du machen mir. Ich gewusst habe, du annehmen meine Idee. Wann du Ausstellung machen willst?“

Er hatte mich umarmt und drückte mich nun fest an sich.

„Emilio, du musst erst einmal locker lassen, damit ich Luft bekomme“, japse ich herum.

„Verzeihung, Bella, aber meine Freude so groß ist.“

Endlich lässt er mich los.

„Gib mir noch ein bisschen Zeit. Für die Fotos habe ich mich zwar schon entschieden, aber ich muss sie nachbearbeiten und auf ein großes Format drucken lassen. Ich sage dir rechtzeitig Bescheid, damit alles gut vorbereitet werden kann“, sage ich und: „Ich freue mich auch. Wir laden zur Eröffnung nur unsere besten Freunde ein, ja?“

„Das wird werden ein großes Fest, Bella. Für uns alle. Und ich will machen nur die besten Spezialitäten für eine kleine Imbiss.“

Ich bin aufgeregt wie ein kleines Kind vor Weihnachten…so wie es ein Kind sein sollte.

„Merle, hier ist die Hölle los. Die Borderline – Reportage ist eingeschlagen wie eine Bombe. Die Leute rufen an uns haben Fragen über Fragen. Ich befürchte, wir müssen weitermachen. Es gibt wahnsinnig viele gute Kritiken – keine Verrisse. Gute Arbeit, Kleines.“

So spricht Max, als ich am Donnerstag in die Redaktion komme. Ich hasse es, wenn er „Kleines“ zu mir sagt…ich komme mir dann genau als solches vor.

Ich gehe an meinen Schreibtisch. Auch da klingelt das Telefon. Ich melde mich.

„Hallo Merle, ich bin es“, ertönt eine Stimme.

„Ja und, wer ist ich?“ frage ich, weil ich die Stimme nicht erkenne.

„Na ich, Nina. Die haben mich mit dir verbunden. Ich wollte nur deine Stimme hören. Ich hoffe, ich störe nicht gerade bei etwas Wichtigem.“

Ich bin überrascht.

„Nina, es ist nicht besonders gut, wenn du mich hier in der Redaktion anrufst. Ich muss hier arbeiten und habe keine Zeit für Geplänkel.“

„Sei nicht böse. Ich wollte dich wirklich nur hören und fragen, wie es dir geht und wann wir uns wiedersehen. Vielleicht heute in der Mittagspause im Café?“ fragt Nina und in ihrer Stimme liegt so viel Hoffnung.

Ich kann nicht anders: „Okay. Dreizehn Uhr bei Emilio.“

Ein tiefer Luftzug von Nina, während ich weiterspreche: „Jetzt muss ich aber weitermachen, es gibt viel zu tun. Bis dann.“

„Bis dann. Ich freue mich“, antwortet Nina und legt auf.

Das ist nun mal nicht zu verhindern. Hier in der Redaktion kann jeder von außen angerufen werden. Ich frage mich nur, warum ich so kurz angebunden war…es hat mich gestört, dass Nina mich hier anruft. Ich will das nicht, warum auch immer.

Das Telefon klingelt wieder. Max ist am Apparat.

„Kommst du gleich mal rüber? Will was mit dir besprechen.“

„Na klar. Bis gleich.“

Bis zu Max’ Büro ist es nicht weit. Er hat ein großes Büro mit einem riesigen Schreibtisch, vor dem zwei bequeme Stühle stehen. Gegenüber der Tür ist die große Fensterfront, von der man fast über die ganze Stadt blicken kann. Ein herrlicher Blick, vor allem bei schönem Wetter.

Links in der Ecke ist eine Sofalandschaft aufgebaut. Dorthin begleitet mich Max, nachdem ich klopfte und er mich herein gebeten hat.

„Komm setz dich. Magst du etwas trinken?“

„Kaffee wäre toll“ antworte ich.

„Silvia, Kaffee bitte“, ruft er laut zu seiner Sekretärin, die im Nachbarraum arbeitet. Ja, ja, wer in solch einer Position arbeitet, der hat auch seine Angestellten.

„Ja, ich gratuliere dir noch mal. Ganz Klasse gemacht. Unten im Büro werden schon die Fragen gesammelt und sortiert. Du musst weitermachen…also die Fragen beantworten in einer der nächsten Beilagen…“

„Aber Max, ich bin doch kein Fachmann“, unterbreche ich ihn. „Das kann ich mir doch gar nicht anmaßen, Ratschläge geschweige denn Antworten oder auch nur irgendwas zu geben.“

Er trägt heute ein lockeres, weißes Shirt und eine Blue-Jeans. Ehrlich muss man sein: das steht ihm gut, diesem Mittfünfziger. Macht ihn jung. Sportlich. Und eigentlich symphatisch.

„Nein, nicht du allein. Das ist mir schon klar, dass das nicht geht. Aber wie ist das mit deinem Psychotherapeuten, diesem Herrn Pe…, na ja, du weißt schon?“

„Herrn Peterson. Na, den müsste ich erst einmal fragen, findest du nicht? Das kannst du doch jetzt gar nicht über den Kopf hinweg entscheiden. Davon abgesehen, dass du mich auch erst einmal fragen könntest.“

„Komm schon, Merle“, sagt er und lacht. „Dich brauche ich gar nicht zu fragen. Du hast dich doch an diesem Thema festgebissen. Blut geleckt, wie man so schön sagt. Sei ehrlich. Es interessiert dich und du würdest gerne weitermachen. Habe ich Recht?“

Max hatte leider so was von verdammt Recht…ich mache weiter. Und habe auch schon eine Idee, wie das zu realisieren ist.

„Okay, Max. Ich nehme an.“

„Na also, mein Kleines. Ich habe es doch gewusst. Macht sich auch gut für deine weitere Karriere, wenn ich das mal so sagen darf. “

Er schlägt ein Bein über das andere. Ich kann seine Strümpfe sehen. Schwarz. Passend zu den Schuhen.

„Ach ja. Du meinst, ich könnte weiterhin solche Aufträge bekommen? Sag nicht immer Kleines zu mir – du weißt, dass ich das hasse…“

„Oh ja, ich weiß und es sieht wunderbar aus, wenn du dich wütend darüber ärgerst…Kleines und ich denke an weitere exklusive Reportagen, ja. Denn du hast Talent und dessen bist du dir noch nicht einmal bewusst.“

Ich trinke meinen Kaffee aus, stehe auf und gehe. Dabei hasste ich doch langwierige Recherchen zu einem Thema. Normalerweise. Vielleicht hat sich meine Einstellung nun dazu durch diese Reportage, die mich ja doch voll und ganz beschäftigt hat, geändert – das bliebe abzuwarten.

„Ich gebe dir Bescheid wegen Herrn Peterson.“

„Ciao, Bella“ begrüßt mich Emilio.

Nina wartet schon auf mich. Sie wirkt wieder aufgeregt. Als ich vor ihr stehe, springt sie auf und umarmt mich – eine Reaktion, mit der ich nicht gerechnet habe. Ich stehe da wie ein Holzklotz.

Wir setzen uns. Emilio bringt uns sofort Kaffee. Er strahlt uns an.

Wir rauchen und sehen uns an. Und schweigen. Wie so oft.

„Wie wäre es, wenn ich dich nächste Woche irgendwann mal abhole und wir fahren zu mir? Wir können zu Abend essen.“ frage ich nach einer Weile.

„Ich kann dir nur noch nicht genau sagen, wann es was wird. Das hängt von der Arbeit in der Redaktion ab.“

„Oh ja, sehr gern. Ich freue mich und bin gespannt, wie deine Wohnung aussieht“, antwortet Nina. Ein Lächeln liegt in ihrem Gesicht. Ihre grünen Augen scheinen sich dunkelgrün gefärbt zu haben. Sie glänzen. Nina sieht glücklich aus. Oder eher selig.

„Als ich dich vorhin umarmte, wäre ich beinahe verbrannt. Du verwirrst mich total. Ich habe Schmetterlingsflattern im Bauch, wenn ich dich sehe oder höre. Schlimm?“

Ich schaue Nina tief und lange an. Vielleicht einen Moment zu lange. Ich suche nach meinen Gefühlen zu ihr.

„Auch ich bin verwirrt. Vielleicht aus anderen Gründen. Und jetzt suche ich nach Worten.“

„Lass die Worte sein, wenn du im Moment keine findest. Ich habe Sehnsucht nach dir. Da sind ungefundene Worte einfach nur hinderlich.“

„Nein, wir sollten die Worte benutzen, die uns zur Verfügung stehen, weil wir, glaube ich, nicht das Selbe meinen“, sage ich zu Nina und denke: ‚Ich habe Chaos im Kopf. Und möchte eigentlich einfach nur weg. Ich kann keine Worte benutzen, weil ich tatsächlich keine für meine Situation finde. Für Nina scheint alles so leicht zu sein, ohne Nachzudenken, einfach so. Sie ist so unbedarft, fast noch kindlich.’

Ich fühle mich zu ihr hingezogen. Das muss ich zugeben. Und das schon von Beginn an. Als ich sie das erste Mal sah, hier in Emilios Café. Aber ich kann mit diesem Gefühl nichts anfangen. Weil ich das nicht zulassen will.

Ich verbringe meine gesamte Mittagspause mit Nina im Café.

Gestern hatte ich in der Praxis von Herrn Peterson angerufen. Ich sprach mit Frau Funke und erklärte ihr kurz, worum es ging. Sie schlug vor, dass sich Herr Peterson bei mir meldet, sobald er Zeit hat.

Ich gab Frau Funke meine Handy-Nummer und meine E-Mail-Adresse. Und war guter Dinge.

Alles was zum Thema Borderline in der Redaktion eingeht, wird an mich weitergeleitet. Die Fragen sind bereits vorsortiert. Ich ordne sie zu Frageblöcken, um die Häufigkeit von Fragen zu ermitteln.

Je präziser ich fragen kann, umso besser ist es für Herrn Peterson, vorausgesetzt, er erklärt sich dazu bereit, mir ein zweites Interview zu gewähren.

Der ersehnte Anruf: „Hallo, Frau Leonardt.“

Ich erkenne sofort seine Stimme.

„Guten Tag, Herr Peterson. Danke, dass Sie mich anrufen. Ich habe ja schon Frau Funke kurz erklärt, worum es geht.“

„Ja, ich bin informiert. Erst einmal Glückwunsch zur gelungenen Reportage. Ich habe mir extra die Zeitung gekauft. Wirklich gut gelungen, ich muss es noch einmal sagen. Und solch ein Thema wirft natürlich noch weitere Fragen auf.“

„Herr Peterson, Sie können sich nicht vorstellen, was in der Redaktion los ist. Unendlich viele Wortmeldungen und noch viel mehr Fragen werden eingereicht. Würden Sie mir als Interviewpartner nochmals zur Verfügung stehen? Es ist unmöglich, selbst auf die Fragen zu antworten. Das kann nur ein Fachmann.“

„Das will ich gerne tun, Frau Leonardt. Aber ein Termin lässt sich erst in zwei Wochen finden. Ich möchte mir Zeit für Sie und Ihre Fragen nehmen.“

„Das ist ganz wunderbar. Ich sortiere die Fragen vor in Frageblöcke, so dass es einen Überblick über die häufigsten Fragen gibt. Ich maile Sie Ihnen zu, so dass Sie sich darauf vorbereiten können.“

„Das ist eine großartige Idee. Meine E-Mail-Adresse haben Sie. Frau Funke wird Ihnen den genauen Termin für das Interview noch mitteilen. Auf Wiederhören, Frau Leonardt. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.“

„Auf Wiederhören, Herr Peterson. Die Freude ist ganz meinerseits.“

Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit diesem Mann.

Mondnachtschatten

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