Читать книгу Sticht in meine Seele - Altug Barbaros, Barbaros Altug - Страница 13
Weiterleben
ОглавлениеDa das Landemanöver sich in die Länge zog, konnte ich in Gedanken noch einmal die Geschichte rekapitulieren, die Vahan Bey mir erzählt hatte.
Er war als kleiner Junge Zeuge schrecklichster Ereignisse geworden. Er hatte mit ansehen müssen, wie eine seiner älteren Schwestern vergewaltigt worden war und wie man anderen Frauen die Hände abgeschnitten hatte, um an ihre Armreifen zu kommen.
Ähnliche Geschichten kannte ich bereits. Aus den Büchern, die mein Vater mir hinterlassen hatte, oder besser gesagt, die ich nach seinem Tod dort, wo meine Mutter sie hingeräumt hatte, aufgestöbert und heimlich gelesen hatte. Aber zum ersten Mal hatte ich sie von jemandem gehört, der selbst dabei gewesen war.
Als sie in Aleppo angekommen waren, war seine Schwester schon nicht mehr bei ihnen gewesen. Ihre Mutter hatte ihre einzige verbliebene Tochter aus Angst, sie könnte vergewaltigt oder getötet werden, einem reichen türkischen Händler, einem alten Mann, zur Frau gegeben. Obwohl man dem kleinen Vahan die Ohren zugehalten hatte, war es ihm unmöglich gewesen, die Schreie seiner Schwester nicht zu hören. „Es ist mir zwar gelungen, nicht mehr ständig daran denken zu müssen, aber vergessen werde ich es nie“, hatte er gesagt, als er davon erzählte. „Auch heute noch, nach all den Jahren, verfolgen mich die Schreie meiner Schwester nachts in meinen Träumen.“
Nachdem seine Schwester Hayganuş schon lange verstorben war, hatte Vahan Bey Spurensuche betrieben und herausgefunden, dass ihre Kinder und Kindeskinder mittlerweile in Istanbul lebten. Sein letzter und vielleicht einziger Wunsch war es, seine Nichten und Neffen zu sehen, ehe er starb, sie kennenzulernen oder zumindest mit ihnen zu sprechen, und um ihm diesen Wunsch zu erfüllen, hatte Jacqueline, die nichts dem Zufall überließ und sich gern als Helferin hervortat, mich auserkoren. Hayganuşs jüngste Enkelin arbeitete nämlich bei der Zeitung Agos, bei der gleichen Zeitung also wie Hrant Dink, der Journalist, zu dessen Beerdigung ich ging. Und da ich ja ohnehin jede Menge Mitarbeiter von Agos interviewen würde, so hatte sich Jacqueline gedacht, sollte es doch ein Kinderspiel für mich sein, auch mit Vahan Beys Großnichte zu sprechen.