Читать книгу Coffin Corner - Amel Karboul - Страница 14
Zieh hoch! Zieh hoch!
ОглавлениеIst Optimieren wirklich ein Erfolgsgarant? Ich behaupte das Gegenteil. Denn genau dieses Verhaltensmuster bringt Unternehmen zum Scheitern. Es hat renommierte Unternehmen wie Kodak, Hertie und Schlecker ebenso getroffen wie zahlreiche unbekanntere, die schon vom Markt verschwunden sind – oder demnächst vom Markt verschwinden werden.
Auf mehr Unsicherheit mit mehr Wissen, mehr Planung, mehr Kontrolle, mehr Optimieren reagieren, ist ein Reflex, der einmal nützlich war. Heute aber ist er keine angemessene Reaktionsweise mehr: Kein Unternehmen, kein Führungsgremium kann sämtliche Fakten und Entwicklungen, die es irgendwo auf der Welt gibt, im Auge behalten. Aber jedes kleine Faktum, irgendwo auf der Welt kann prinzipiell Einfluss nehmen auf das Unternehmen. Während Sie den Wettbewerber in Indien beobachten, wächst irgendein kleines Start-up in Indonesien rasend schnell auf Weltmarktgröße. Während Sie den indonesischen Markt im Auge behalten, bahnt sich auf dem brasilianischen Markt eine Revolution in einer andere Branche an, die Sie nicht auf dem Schirm haben, die Ihre Branche aber überflüssig macht, so wie iTunes die Tonträger überflüssig macht oder Amazon die Buchhandelsketten in den Ruin treibt. Je mehr Informationen Sie sammeln, desto schwieriger wird es zu bestimmen, welche davon relevant sind und welche wie miteinander zusammenhängen. Big Data ist eine große Einladung zu Fehlschlüssen. Allwissenheit ist ab einem bestimmten Grad von Komplexität weder machbar noch sinnvoll. – Und über diese Schwelle sind wir heute schon lange hinaus.
Dasselbe lässt sich auch über Planen, Kontrolle und Optimierung sagen: In Perfektion sind sie weder machbar noch wünschenswert. Wie Sie sich auch anstrengen – Sie können unmöglich völlig vermeiden, dass es immer wieder Ereignisse gibt, die Sie unvorbereitet treffen.
Entscheidend ist dann nicht, ob und wann unerwartete Ereignisse Ihre Situation komplett verändern, sondern wie Sie damit umgehen, wenn so etwas passiert. Es geht also darum, wie rasch und kreativ Sie Lösungen dafür finden.
Hierfür ist die alte Strategie kontraproduktiv. Wer zu genau plant und zu präzise kontrolliert, engt seinen Handlungsspielraum ein. Optimieren macht unflexibel. Wenn jeder Verfahrensschritt genauestens vorgeschrieben ist und dann unvermittelt eine Situation auftaucht, die nicht vorgesehen ist, sind die Beteiligten völlig ratlos. Selbst wenn jemand eine Idee haben sollte, wie damit angemessen umzugehen wäre, lassen Vorschriften genau dies nicht zu. Denn eine erfolgreiche Strategie würde Veränderung beinhalten. Die Realität sieht meist so aus: Das Budget fürs nächste Jahr ist bis auf den letzten Cent verplant. Die Entscheidungswege sind so durchorganisiert, dass sie abzuschreiten mindestens drei Monate benötigt. Der Terminkalender von Führungskräften ist so durchgetaktet, dass zwei Vorstände auf absehbare Zeit kaum eine Viertelstunde finden, in der beide Zeit haben, um miteinander über Notfallmaßnahmen zu beraten. Jedenfalls, wenn sie an ihrem Terminplan festhalten.
Das Regelwerk, die perfekte Organisation und Planung: Das alles kann von einem Moment zum nächsten vom Sicherheitsgurt zur Fessel werden.
Gerade dann, wenn Sie glauben, alles im Griff und unter Kontrolle zu haben, weil Sie alles perfekt optimiert haben, sind Sie in höchster Gefahr. Flugkapitänen ist diese Situation bewusst und vertraut.
Je höher ein Flugzeug fliegt, desto geringer ist die Luftdichte und damit der Reibungswiderstand und desto weniger Kerosin benötigt es. Möglichst hoch oben zu fliegen ist also effizient – das Controlling der Luftfahrtgesellschaft freut sich. Doch in großen Höhen unterwegs zu sein, birgt auch ein gewaltiges Risiko, denn je geringer die Luftdichte ist, desto schneller muss ein Flugzeug fliegen, um noch genügend Auftrieb zu bekommen. Wird es zu langsam, reißt die Luftströmung an den Flügeln ab und das Flugzeug stürzt ab wie ein Stein. Diese Mindestfluggeschwindigkeit steigt mit zunehmender Höhe. Je näher sich der Pilot an die maximale Flughöhe herantastet, desto schneller muss er fliegen, damit er überhaupt oben bleibt. 300 Meter über Grund beträgt die Mindestfluggeschwindigkeit einer Verkehrsmaschine etwa 200 km/h – die Landegeschwindigkeit einer Boeing 747-400 liegt bei etwa 250 km/h. In der normalen Verkehrsflughöhe von etwa 10.000 bis 11.000 Metern liegt die Mindestgeschwindigkeit schon bei über 800 km/h.
Doch kein Flugzeug kann beliebig schnell fliegen.
Die Boeing 747-400 schafft etwa 980 km/h, ein Airbus A380 maximal etwa 1020 km/h. Oberhalb dieser Geschwindigkeiten werden die physikalischen Kräfte, die an der Maschine zerren, so groß, dass Bauteile abreißen oder sich verbiegen können. Im Extremfall wird das ganze Flugzeug in seine Einzelteile zerrissen.
Mit zunehmender Flughöhe wird also automatisch die Spanne zwischen Mindestgeschwindigkeit, die das Flugzeug in der Luft hält, und typenbedingter Höchstgeschwindigkeit enger. Je effizienter das Flugzeug fliegt, desto mehr nähert es sich dem Punkt, an dem Mindest- und Maximalgeschwindigkeit gleich sind. Das ist der Punkt der maximalen Flughöhe. Gleichzeitig der Punkt der höchsten Effizienz, das betriebswirtschaftliche Optimum, weil dort mit Maximalgeschwindigkeit und minimalem Treibstoffverbrauch geflogen wird. Die Höhenzone direkt unterhalb dieses Punktes nennen die Piloten: Coffin Corner. Die Sargecke.
Denn das ist die Ecke, aus der du, wenn du nicht aufpasst, nicht mehr lebend herauskommst. Bei einer durchschnittlich beladenen Boeing 737-800 beginnt die Coffin Corner bei etwa 12.200 Höhenmetern. Hier ist das Fliegen hoch effizient – und extrem gefährlich. Jede winzige Änderung der Geschwindigkeit, jede Kursänderung, jede kleinste Luftturbulenz kann dazu führen, dass das Flugzeug einen Tick zu hoch fliegt, die Strömung abreißt und das Flugzeug abstürzt. Da die Geschwindigkeit beim Absturz dann noch zunimmt, kann der Pilot die Maschine nicht mehr abfangen. Sie zerbricht in so einem Fall meistens noch in der Luft.
Der Pilot in der Coffin Corner kann darum weder beschleunigen noch Kurven fliegen – denn das würde abbremsen –, ohne das Flugzeug, seine Passagiere und sich selbst extrem zu gefährden. Die Flexibilität, die Fähigkeit zu agieren oder zu reagieren, ist in dieser Zone maximal eingeschränkt.
Maximale Effizienz bedeutet höchste Gefahr. Das ist die Logik, die Ihnen niemand beigebracht hat! Das ist die Logik, die Sie neu lernen müssen!
Die Arbeitsabläufe in einem Unternehmen immer mehr zu optimieren ist, ähnelt der Situation eines Piloten, der sein Flugzeug in der Coffin Corner fliegt – und es noch weiter an die absolute Grenze heranführt. So lange das Flugzeug noch fliegt, ist das höchst profitabel. Deshalb denken die CEOs: Es läuft blendend, das Unternehmen ist sicher. Aber die Handlungsoptionen eines Geschäftsführers in einem optimierten Unternehmen sind überaus eng. Je mehr er sich auf Effizienz ausrichtet, desto weniger Freiraum bleibt ihm, auf sich ändernde Bedingungen zu reagieren. Irgendwann wird sein Unternehmen abstürzen. Dazu genügt manchmal das Auftreten einer nur leichten Turbulenz.
So war es bei dem Air-France-Flug 447. Am 1. Juni 2009 sah ich es in den Nachrichten und war schockiert: Das Linienflugzeug, das am 31. Mai spätabends in Rio de Janeiro mit Ziel Paris gestartet war, wurde vermisst. Höchstwahrscheinlich war es abgestürzt – mit 228 Menschen an Bord.
Am Tag darauf wurden erste Trümmerteile im Atlantik treibend entdeckt. In den nächsten Tagen und Wochen verfolgte ich die Suche nach dem restlichen Wrack und nach den Überresten der Insassen. Ebenso verzweifelt wie die Suche nach den im Meer versunkenen Menschen, war die Suche nach dem Grund des Unglücks. Das Flugzeug, ein Airbus A330-200, war frisch gewartet und technisch auf dem neuesten Stand gewesen. Die drei Piloten waren gut ausgebildet, erfahren, ausgeruht und gesund. Warum um alles in der Welt war dieses Flugzeug abgestürzt?
Erst knapp zwei Jahre später konnten das Speichermodul des Flugschreibers und der Stimmrekorder aus 4000 Meter Meerestiefe geborgen werden. Die Auswertung machte klar: Das Flugzeug war in der Coffin Corner geflogen. Hier durfte auf keinen Fall etwas Unerwartetes passieren. Aber es geschah: Das Höhenmessgerät vereiste und der Autopilot fiel aus. Zu diesem Zeitpunkt war gerade der Kapitän in Pause, der Kopilot Bonin steuerte.
Marc Duboir, 58, Flugkapitän
David Robert, 37, Kopilot
Pierre Cedric Bonin, 32, Kopilot
Bonin: »Putain! Ich habe keine Kontrolle mehr über das Flugzeug, ich habe keine Kontrolle mehr über das Flugzeug!«
Robert: »Die Steuerung nach links!«
Duboir: »Eh, was macht ihr da?«
Bonin: »Wir verlieren die Kontrolle über das Flugzeug!«
Robert: »Wir haben komplett die Kontrolle über das Flugzeug verloren. Ich verstehe das nicht … wir haben alles versucht … Was glaubst du? Was glaubst du? Was müssen wir tun?«
Duboir: »Nun, ich weiß es nicht!«
Robert: »Zieh hoch … zieh hoch … zieh hoch … zieh hoch …«
Bonin: »Aber ich ziehe doch die ganze Zeit über voll hoch!«
Duboir: »Nein, nein, nein … zieh nicht hoch … nein, nein.«
Robert: »Dann geh in den Sinkflug … Also, gib mir die Steuerung … Die Steuerung an mich! Putain, wir werden aufschlagen … Merde! Das ist nicht wahr!«
Bonin: »Aber was passiert hier?«
Duboir: »Längsneigung 10 Grad …«
Ende.