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Ein schwerer Abschied
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Dark Moon Creek, Minnesota
Der Hubschrauber legte sich in eine sanfte Kurve und erlaubte Connor einen fantastischen Blick auf die kleine Siedlung, die unter ihnen auftauchte. Sie lag halb versteckt mitten im Wald, der sich in sattem Grün bis zum Horizont erstreckte. So sehr er Minnesota auch hasste, dieser Anblick war tatsächlich immer wieder beeindruckend.
Er sah neben sich und erntete ein Lächeln der Pilotin.
„Sie wartet bestimmt schon sehnsüchtig auf dich“, drang ihre Stimme über den Kopfhörer an sein Ohr. Er knurrte nur frustriert.
Jeder Besuch von Dark Moon Creek war eine Herausforderung für ihn. Und für sein Mädchen. Aber darüber würde er mit Sicherheit nicht mit Mia Graves reden.
So sehr er die Kleine auch mochte. Sie war ein verlängertes Ohr von Henry und somit keine Gesprächspartnerin seines Vertrauens.
Henry Graves war eine Plage in seinem Leben und würde es vermutlich immer sein. Zumindest hatte dieser arrogante Mistkerl ihm das angedroht.
„Danke, dass du mich fliegst“, quetschte er heraus. Und das meinte er ernst. Mit dem Auto wäre die Strecke von der Zentrale bis nach Dark Moon Creek lang und anstrengend gewesen. Stunden, die ihm mit seinem Mädchen verloren gegangen wären.
Sie grinste nur verständnisvoll und setzte zur Landung an.
Er war immer wieder aufs Neue erstaunt, wie sicher dieses halbe Kind die riesigen Maschinen beherrschte. Obwohl er das eigentlich nicht sein sollte. Immerhin war sie eine Hexe. Und die besaßen bekanntermaßen erstaunliche Fähigkeiten.
Minuten später hob der Hubschrauber sich wieder in die Lüfte, während Connor seinen Rucksack über den Rücken warf und auf das Zentralgebäude zu stapfte.
Das war der Teil seiner Besuche, den er am meisten hasste.
Vorstellungsgespräch bei Tucker O’Brian, dem unangefochtenen Herrscher dieses Dorfes. Es gab keinen Rudelführer, den er mehr fürchtete.
Unter anderen Umständen hätte er ihn vielleicht bewundert, doch seine derzeitige Lage war alles andere als angenehm. Und Tucker O’Brian trug einen erheblichen Teil dazu bei, ihm das Leben noch schwerer zu machen. Auch wenn seine Gründe nach Rudelmaßstäben berechtigt waren.
O’Brian erwartete ihn bereits hinter seinem Schreibtisch.
„Hallo Connor, setz dich“, begrüßte er ihn.
Immerhin, er war einer der wenigen, die ihn mit seinem richtigen Namen ansprachen.
Connor ließ sich auf den zugewiesenen Stuhl fallen und betrachtete sein Gegenüber missmutig. O’Brian war nie ein Ausbund an guter Laune. Eine weit verbreitete Leitwolf-Krankheit. Doch diesmal wirkte er besonders mies gelaunt. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen und Connor witterte Frustration und den Anflug von Trauer.
Irgendwas belastete den Rudelführer, aber er würde ihn sicher nicht danach fragen. Er hatte selbst genug eigene Probleme.
Das Schweigen zog sich in die Länge. Schließlich gab Connor auf. Ein Kräftemessen mit Tucker O’Brian konnte er nur verlieren.
„James Taylor ist tot“, meinte er schließlich. Der Rudelführer nickte. Anscheinend wusste er schon Bescheid. Wahrscheinlich hatte Chief Bryan ihn informiert.
„Damit droht Ro keine Gefahr mehr“, fuhr er fort. „Wir könnten also einen Ausflug nach Barnshire machen.“
O’Brian zog die Augenbraue hoch, sagte aber nichts.
„Verdammt, Tucker“, knurrte Connor. „Ich schwöre, ich bring sie wieder zurück.“
Immer noch keine Reaktion.
Connor stöhnte frustriert und verschränkte die Arme vor seiner Brust.
„Ich denke darüber nach“, kam schließlich die Antwort. „Wie lange bleibst du?“
„Ich habe drei Tage.“
„In Ordnung. Du kannst wieder bei Theo wohnen. Er hat sein Gästezimmer frei.“
„Wann kann ich Ro sehen?“
„Heute Nachmittag. Wenn sie von der Schule zurück ist. Falls du dich langweilst, Theo hat bestimmt Arbeit für dich.“
Das klang nach Rauswurf.
Connor erhob sich und stapfte grußlos nach draußen.
Auf dem Weg zu Theos Haus atmete er erleichtert durch.
Tucker O’Brian war nichts für seine Nerven. Der Kerl schien ihn ununterbrochen zu analysieren und zu hinterfragen. Ein echt grässliches Gefühl.
Okay, er war ein Herumtreiber ohne Wohnort und Rudel. Andererseits hatte er sich so gut wie nichts zu Schulden kommen lassen. Ein paar kleine Schwarzdeals vielleicht, und den einen oder anderen Idioten hatte er abgezogen, wenn es sich anbot. Aber das waren Kleinigkeiten. Er hatte nie jemandem wirklich geschadet.
Und seit er wieder für die Ranger arbeitete, stand er sowieso unter ständiger Kontrolle. Tucker O’Brians Misstrauen ihm gegenüber war also völlig überzogen. Als ob er jemals Ro in Gefahr bringen oder ihr schaden würde!
Theo war wie üblich in der Fahrzeughalle zu finden und fluchte unter einem alten Landrover.
Als Connor nähertrat, verstummte er abrupt.
„Streuner? Wie praktisch. Reich mir doch mal den Vergaserschlüssel.“
Er ließ seinen Rucksack fallen und trat zu der Werkbank. Theo war einer von wenigen Normalos, die seine schlechte Laune kommentarlos ertrugen. Inzwischen waren sie ein eingespieltes Team in Theos Werkstatt. Sie verstanden sich oft genug wortlos, was Connor als sehr angenehm empfand. Zu viel Gequatsche zerrte schnell an seinen Nerven. Und Theo ließ ihn nie spüren, dass er ein Außenseiter war.
Grund genug für Connor, diesem Mann gerne unter die Arme zu greifen. Wortlos folgte er Theos Anweisungen. Er hatte noch einige Stunden zu überbrücken. Ablenkung war daher sehr willkommen.
Ro traf am frühen Nachmittag im Dorf ein. Zusammen mit sechs weiteren Teenagern sprang sie aus dem Schulbus, der sofort wieder abdrehte und zurückfuhr. Während die anderen Kinder nach Hause liefen, blieb Ro stehen und hob die Nase nach oben. Ein Leuchten ging über ihr Gesicht, dann rannte sie Richtung Fahrzeughalle. Connor kam ihr bereits entgegen und fing sie auf. Mit einem leisen Stöhnen drückte er sie an sich.
„Du bist wieder da.“ Ihr Flüstern war so sehnsüchtig, dass er sich wirklich sehr zusammenreißen musste. Sein Geschlecht pochte unerträglich in seiner Hose.
„Gott, Ro“, krächzte er. „Du machst mich echt wahnsinnig.“
Sie hob den Kopf und grinste ihn schelmisch an.
„Immer wieder gerne.“
Er presste seinen Mund auf ihre Lippen.
„Ich schwör dir, sobald du dieses beschissene Dorf verlassen hast, werde ich dich drei Wochen lang nicht aus dem Bett lassen. Das ist ein Versprechen.“
„Ich weiß“, flüsterte sie. „Und ich kann es kaum erwarten.“
Es war bei jedem Besuch das Gleiche. Immer war jemand in der Nähe. Nicht eine Sekunde waren sie unbeobachtet. Das war die pure Folter für einen Einzelgänger wie ihn. Es hatte seine Gründe, warum er keinem Rudel angehörte und keinen festen Wohnsitz besaß.
Den meisten Wölfen war das unverständlich. Es gab nur wenige Einzelgänger und denen begegnete ständig Misstrauen. Wenn man es recht betrachtete, war das nicht viel anders als bei den Menschen. Wer nicht den Wunsch nach Familie und einem geregelten Berufsleben hegte, wurde schnell zum Außenseiter.
Connor hatte die letzten zwanzig Jahre ohne Rudel und ohne Verpflichtungen genossen. Und wenn Ro nicht so unverhofft in sein Leben gefallen wäre, würde er es zweifellos immer noch tun.
Nie würde er vergessen, wie er vor zwei Jahren den Geruch ihrer ersten Wandlung in die Nase bekam. Sie war damals mit ihren fünfzehn Lebensjahren ein Spätzünder gewesen. Normalerweise wandelten sich Wölfe zum ersten Mal sehr viel früher in ihre vierbeinige Gestalt. Doch Ro suchte sich ausgerechnet einen Zeitpunkt aus, an dem sie in Lebensgefahr schwebte.
Es war knapp gewesen, doch er hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, ihr Leben zu retten. Nur um gleich darauf festzustellen, dass er ihr rettungslos verfallen war.
Nie hätte er gedacht, dass ausgerechnet ihn einmal Chor erwischen würde. Diese Verbindung war die innigste und intimste Partnerschaft, die Wölfe miteinander haben konnten, und sie kam nur äußerst selten vor.
Für Ro war das Ganze noch schwerer gewesen. Sie wusste bis zum Zeitpunkt ihrer Wandlung nicht, dass sie ein Wolf war. Das Rudelleben, die Regeln, überhaupt die Existenz ihrer Art war ihr bis dahin unbekannt gewesen.
Und deshalb hatte man sie nach Dark Moon Creek gebracht. Unter die Obhut des härtesten Rudelführers der Vereinigten Staaten.
Und dieser hatte ihm gleich klar gemacht, dass er Sex mit Minderjährigen nicht duldete. Chor hin oder her, es war verboten. Punkt.
Normalerweise hätte er dem sofort zugestimmt, doch Ros Nähe war jedes Mal eine wahre Herausforderung. Er spürte förmlich, wie sein Verstand abschaltete und seine Hormone die Regie übernahmen. Und ihr erging es da nicht anders.
Trotzdem. Obwohl jede Minute an ihrer Seite die pure Folter war, zog es ihn immer wieder hierher. Schon allein ihr Lächeln, ihr Geruch waren es wert.
Sie verbrachten den Nachmittag eng nebeneinandersitzend im Gemüsegarten.
Hierher verirrte sich selten jemand. Lediglich die alte Jennifer und ihre Gehilfin Sara wuselten ab und zu darin herum. Doch als sie Connor und Aurora erblickten, verließen sie mit einem verständnisvollen Lächeln die Anlage. Nicht, dass sie deswegen unbeobachtet waren. Aber zumindest blieb die Illusion von ein wenig Privatsphäre.
Sie schmiedeten Pläne für die Zukunft, wie bei jedem Zusammentreffen, doch immer wieder kamen sie zu dem Punkt, an dem sie feststellten, dass sie eigentlich nicht wussten, was sie wollten.
Connor kannte das Leben auf der Straße und er hatte am eigenen Leib erfahren, wie hart es manchmal war.
Der Gedanke, dass Ro diesen Gefahren ausgesetzt sein würde, gefiel ihm überhaupt nicht. Doch die Vorstellung, in einem Rudel zu leben war genauso ätzend. Und selbst wenn sie sich eine Wohnung nahmen und er sich einen Job suchen würde, war es höchst unwahrscheinlich, dass er das lange durchhielt. Es gab Gründe, warum er jahrzehntelang bei den Rangern mitgelaufen war.
Tägliche Routinearbeit hielt er nicht lange durch.
Aurora hatte da weniger Bedenken. Sie war bereit, ihm überall hin zu folgen.
Das Leben auf der Straße hatte sie zwar auch eine Zeitlang kennengelernt, aber sie war noch jung und trug diese jugendliche Romantik und Begeisterungsfähigkeit in sich, die nur allzugerne die Realität wegblendete. Sie hatte sich eher unwillig in O’Brians Rudel eingefügt.
Doch Connor entging nicht, dass sie bereits zahmer geworden war. Er wusste, dass sie im Dorfleben angekommen war. Und Edith O’Brian, Tuckers Ehefrau, wurde von ihr geradezu verehrt. Aber auch Ro war ein unruhiger Geist wie er, und Tucker O’Brian hatte alle Hände voll zu tun, ihr Temperament in Schach zu halten. Was Connor mit einer gewissen Genugtuung erfüllte.
Trotzdem. Die Zukunft war ungewiss. Und jeder Tag, der verrann, rückte die Entscheidung, wie sie ihr gemeinsames Leben verbringen sollten, näher.
Connor entging nicht, dass Aurora ungewöhnlich still war. Normalerweise war sie das sprühende Leben und überschüttete ihn mit ihren Erlebnissen der letzten Wochen.
Doch an diesem Tag verlor sie nach der ersten Euphorie des Wiedersehens ihre Unbeschwertheit und wirkte eher nachdenklich.
Es dauerte nicht lange, bis er erfuhr, was sie bedrückte.
„Edith geht es schlecht.“ Sie kratzte mit einem Zweig in der Erde herum. „Tucker sagt, dass sie bald sterben wird.“
Das war – herb. Aber unausweichlich. Edith O’Brian war ein Mensch und bereits über hundert Jahre alt. Doch es erklärte auch Tuckers schlechte Verfassung.
„Sie – sie hat Schmerzen und ihm gesagt, dass es jetzt wohl an der Zeit wäre, sie gehen zu lassen.“
Sie hockte wie ein kleines Häufchen Elend auf der Gartenbank.
„Und was hat er gesagt?“
„Nichts. Aber – kannst du dir Tucker weinend vorstellen?“
Connor schüttelte den Kopf. Beim besten Willen nicht. Andererseits ... Es war allgemein bekannt, dass O’Brian und seine Frau Seelenverwandte waren. Und wer die beiden im Umgang miteinander beobachtete, gewann genau diesen Eindruck.
„Er liebt sie“, meinte er schließlich. „Ich schätze mal, das ist ein Grund, wegen dem auch ein hartgesottener Leitwolf trauern darf.“
„Ich ... werde sie so sehr vermissen“, flüsterte Aurora und schlang die Arme um ihre Beine. „Alle werden das. Sie hat für jeden ein gutes Wort über und hat es immer geschafft, Tucker zu besänftigen, wenn er mal sauer auf mich war.“
Er legte seinen Arm um sie und zog sie an sich.
Schweigend saßen sie bis in den späteren Abend da und hingen ihren Gedanken nach. Dann brachte er sie bis zu Tuckers Haus, in dem seine Ro wohnte.
Sie hauchte ihm zum Abschied einen Kuss auf den Mund, was allerdings rüde unterbrochen wurde, da Tucker die Tür aufstieß und sie auffordernd und mit gerunzelter Stirn ansah.
Ro verdrehte genervt die Augen.
„Es war nur ein Kuss, verdammt“, raunzte sie ihn an, während sie an ihm vorbeimarschierte und dann aus Connors Gesichtsfeld verschwand.
„Hör auf zu fluchen!“, pflaumte Tucker ihr hinterher, bevor er Connor wieder fixierte.
Dieser hob die Hände und knurrte: „Ich war brav. Wir haben nur gequatscht. – Kann ich sie morgen mit nach Barnshire nehmen?“
„Morgen früh kommst du in mein Büro. Wir haben was zu besprechen. Dann kannst du sie von der Schule abholen. Um Punkt achtzehn Uhr meldet ihr euch bei mir.“
Die Tür knallte ins Schloss und hinterließ einen verblüfften Connor. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass der Rudelführer sein Okay gab. Ein Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. Das war das erste Mal, dass er ihnen ein paar Stunden ohne Überwachung zugestand.
Am späteren Morgen klopfte Connor an O’Brians Bürotür. Dieser erwartete ihn bereits, war aber immer noch nicht besser gelaunt.
In Anbetracht der Tatsache, dass seine Frau im Sterben lag, musste man das wohl hinnehmen.
„Es ist gut, dass du diesen Dealer zur Strecke gebracht hast“, eröffnete Tucker ohne großen Small-Talk. „Allerdings ist das nicht der einzige dunkle Punkt in Auroras Leben.“
Connor ahnte, worauf der Rudelführer abzielte.
„Du meinst ihre Herkunft. Wer ihr Vater ist.“
Tucker nickte. „Genau. Aurora erinnert sich nicht an ihn. Entweder war sie noch zu klein, oder sie hat ihn tatsächlich nie zu Gesicht bekommen. Das Einzige, was sie von ihrer Mutter mit auf den Weg bekommen hat, war die Warnung vor grünen Augen und vor Wölfen. Wobei sie nie was von Werwölfen erzählt hat.“
„Und dich stört jetzt was? Mir ist es egal, wer sie gezeugt hat.“
„Stell dich nicht dümmer an, als du bist, Connor“, knurrte O’Brian. „Die Vorstellung, dass da eventuell ein Wolf herumläuft, der Frauen schwängert, ohne sie in einem Rudel unterzubringen, verursacht mir, gelinde gesagt, Bauchschmerzen. Falls das Ganze ein Unfall war und er von Ro nichts wusste – nun, dann sollte er zumindest von ihr erfahren. Wenn sich aber rausstellt, dass er Auroras Mutter durch Nachlässigkeit geschwängert und verlassen hat, ohne sich um sie zu kümmern, dann will ich ihm höchstpersönlich das Fell über die Ohren ziehen.“
„Hm.“ Connor wusste, dass Leitwölfe in der Hinsicht keinen Spaß verstanden. Aber das war ja auch ihr Job. Frauen, die ahnungslos mit Wolfsnachwuchs durch die Gegend liefen, waren nicht nur selbst in Gefahr, sondern bedrohten im schlimmsten Fall die Existenz aller Wölfe. Nicht auszudenken, wenn sich junge Wölfe in der Öffentlichkeit zum ersten Mal wandelten. „Und du meinst, ich soll mich jetzt da drum kümmern?“
„Du bist ihr Chor. Es ist also auch in deinem Interesse. Außerdem habe ich mir sagen lassen, dass du der beste Spurensucher in Bryans Truppe bist. Das könnte hilfreich sein.“
„Nur wenn ich weiß, wen ich suchen soll“, wandte Connor ein. „Außerdem muss ich erst Bryan fragen, ob er mich dafür freistellt.“
„Das sollte kein Thema sein“, prophezeite Tucker. „Er kennt das Problem. Und Hilfe könnte eventuell die Polizei in Oregon geben. Soweit ich weiß, haben die noch Akten über Auroras Mutter und Aurora selbst.“
„Dann wird eventuell bekannt werden, dass Ro wieder aufgetaucht ist, und sie wird im Zusammenhang mit dem Mord an diesem Ganoven Rick Sutton immer noch gesucht.“
„Das ist nicht dein Problem.“ Tucker zeigte tatsächlich ein kurzes Lächeln. „Deine Ro ist seit einigen Monaten offiziell von mir und Edith adoptiert worden. Wenn die Polizei etwas von ihr will, läuft das alles über mich.“
Connor starrte ihn völlig überrumpelt an. Davon hörte er zum ersten Mal.
„Fuck“, stieß er heraus. „Wirst du dann etwa mein Schwiegervater?“
„Davon solltest du ausgehen.“ Tuckers Lächeln war jetzt eindeutig spöttisch.
„Fuck“, wiederholte Connor. „Weiß sie davon?“
„Natürlich, sie musste dem ja zustimmen.“
Warum hatte Ro ihm nichts davon erzählt? Warum war er nicht gefragt worden?
„Trag’s mit Fassung“, schlug Tucker vor. „Ich musste das tun. Schon allein, um sie vor diversen Ämtern zu schützen. Und da ich nun mal die Verantwortung für sie übernommen habe, war es auch meine Entscheidung. Und Ediths natürlich.“ Ein Schatten huschte kurz über sein Gesicht. „Ich habe Aurora nahegelegt, dir nichts davon zu sagen, da das meine Aufgabe ist. Ich bin erfreut, dass sie sich daran gehalten hat.“
Connor verschluckte ein unmutiges Knurren. Ihn erfreute das keineswegs. Aber er konnte Ro natürlich verstehen. Tucker duldete es nicht, wenn jemand sich nicht an seine Anweisungen hielt, und Ro musste schließlich noch etliche Monate bei ihm wohnen.
„Wirst du Auroras Vater suchen?“, kam Tucker wieder auf das Anfangsthema zurück.
Connor nickte. Vermutlich würde Bryan ihn sowieso irgendwann damit beauftragen. Solche Suchen hatten nie oberste Priorität, doch wurden sie in ruhigeren Zeiten gerne aufgegriffen, um die Ranger zu beschäftigen. Und da Ro zu ihm gehörte, war es naheliegend, ihn zu schicken. Gefallen tat ihm das Ganze nicht. Sicher, vielleicht hatte Ro Glück und ihr Erzeuger war völlig ahnungslos von ihrer Existenz und ein netter Kerl. Doch ihre Mutter hatte eher abwertende Bemerkungen über ihn fallen lassen. Daran konnte Ro sich noch erinnern. Die Chance, dass ihr Vater einer von den Guten war, erschien daher gering. Sie selbst äußerte nie den Wunsch, etwas über ihn herauszufinden. Vermutlich hatte sie Angst, enttäuscht zu werden. Doch darauf nahmen Leitwölfe nun mal keine Rücksicht. Und ein Tucker O’Brian, geschweige denn Chief Bryan, sowieso nicht. Oberste Priorität hatte bei ihnen die Sicherheit der Wölfe und nicht die Befindlichkeit eines pubertierenden Teenagers.
„Unter einer Bedingung“, schob Connor nach.
Tucker hob fragend die Augenbrauen.
„Wenn sich rausstellt, dass ihr Vater ein Scheißkerl ist, darf Ro es nicht erfahren, außer sie äußert selbst den Wunsch.“
„Hm.“ Der Leitwolf überlegte kurz. „Von meiner Seite aus geht das in Ordnung. Den Chief musst du selbst fragen.“
Damit war es wohl beschlossene Sache.
*
Aurora liebte es sichtlich, an Connors Arm durch Barnshire zu schlendern. Und er genoss ihre Nähe. Er warf ihr nicht vor, dass sie ihm nichts von der Adoption erzählt hatte. Schließlich hatte Tucker es von ihr verlangt. Auf seine Frage, ob sie sich damit denn wohlfühlte, hob sie die Schultern.
„Es ist okay. Edith ist tatsächlich wie eine Mutter für mich. Und Tucker ... na ja. Ich habe ihm klar gesagt, dass ich in ihm nicht einen Vater, sondern einen Gefangenenwärter sehe. Das war anscheinend okay für ihn. Er hat mir vorgeschlagen, mein Zimmerfenster mit Gittern zu versehen, damit es authentischer ist.“
Connor musste lachen. Das war mal wieder typisch. Für beide.
Damit war das unangenehmste Thema wohl erledigt und sie genossen ihren ersten gemeinsamen Nachmittag zu zweit.
Sie besuchten nur wenige Geschäfte, wo Ro sich eine neue Jeans und Turnschuhe kaufte. Danach gingen sie ins Kino und Essen. Für mehr war keine Zeit. Aber es war mehr, als sie bisher gehabt hatten.
*
Eine seltsame Stimmung lag über Dark Moon Creek, als Connor und Aurora um kurz vor sechs am Abend ankamen.
Trauer lag in der Luft. Ros gute Laune verflog mit einem Schlag.
„Edith“, flüsterte sie. „Bestimmt ist irgendetwas mit ihr.“
Sie rannte auf Tuckers Haus zu und stürmte hinein. Connor folgte ihr mit langen Schritten. Niemand war auf den Wegen zu sehen. Das Dorf wirkte wie ausgestorben.
Als er das Haus betrat, roch er sofort den typischen Geruch eines Sterbenden.
Und Tuckers Pein.
Edith O’Brian saß auf ihrer Lieblingscouch neben ihrem Mann und hatte den Kopf in seine Achselhöhle gebettet. Der Leitwolf hielt sie so sanft und liebevoll in den Armen, dass es Connor die Kehle zuschnürte.
Aurora hatte sich von der anderen Seite an Edith gekuschelt und ihr Gesicht in dem Schoß der alten Frau vergraben. Ihr zuckender Körper verriet, dass sie weinte.
Edith sah ihm mit einem sanften Lächeln entgegen. Ihre sonst so strahlend blauen Augen waren trüb und ihr runzliges Gesicht wirkte grau und eingefallen.
„Hallo Connor“, flüsterte sie. „Gut, dass ich dich noch zu sehen bekomme. Ich wollte dir noch etwas mit auf den Weg geben.“
Sie winkte ihn mit einer schwachen Bewegung näher.
Wie selbstverständlich kniete er vor ihr nieder.
„Mein Sohn.“ Sie hob den Arm und berührte seine Stirn. „Ich hätte es gerne erlebt, dass du und Ro heiratet und danach glücklich werdet. Denn das werdet ihr, davon bin ich überzeugt. Zweifle nie daran. Ich weiß, du machst dir große Sorgen um unsere kleine Ro, aber das musst du nicht. Sie hat einen starken Willen, aber ein gutes Herz. Und solange ihr zwei zusammenhaltet, werdet ihr jede Schwierigkeit meistern. Und sei ein wenig geduldig mit Tucker. In seinen Bemühungen, alles richtig zu machen, schießt er manchmal übers Ziel hinaus.“
Tucker entglitt ein leises Schnaufen und er küsste sanft Ediths Stirn. Diese lachte leise und zwinkerte Connor zu.
„Er ist ein guter Ehemann. Er hört ab und zu auch auf seine Frau. Ich hoffe, das wirst du auch tun.“
„Das werde ich, Edith. Ganz bestimmt.“ Seine Stimme war ungewohnt kratzig.
„Gut, mein Sohn.“
Sie strich sanft über Auroras braunen Haarschopf.
„Mein Kind. Geh mit Connor. Du kennst doch meine Lieblingsstelle im Garten, nicht wahr?“
Ro hob den Kopf und nickte mit tränenverquollenem Gesicht.
„Geht dorthin und betet für meine Seele. Ich möchte mit meinem Lieblingswolf noch ein wenig alleine sein.“
„Ich ... ich werde dich so sehr vermissen“, flüsterte Ro.
„Ich weiß. Aber so ist nun mal der Lauf der Welt. Jedes Leben endet einmal und meines war ein schönes, für das ich sehr dankbar bin. Ich hatte einen wunderbaren Ehemann, durfte unzählige wunderbare Kinder großziehen und genoss eine aufregende und spannende Zeit. Mehr kann man doch nicht erwarten, oder?“
Aurora schluchzte auf, erhob sich aber.
Connor zog sie an sich und führte sie nach draußen. Ein letzter Blick zurück zeigte ihm, wie die Sterbende ihre Arme um Tuckers Hals schlang und seinen Kopf zu sich herunterzog.
Sie gingen zum Garten und setzten sich unter eine alte Eiche.
Aurora rollte sich auf seinem Schoß zusammen und ließ ihrer Trauer freien Lauf.
Als nach einer halben Stunde ein lautes Klageheulen die Luft durchschnitt, drängte Connor nur mühsam die Tränen zurück. Sekunden später fielen die Dorfbewohner in das Klagegeheul mit ein.
Alle trauerten um Edith O’Brian. Ausnahmslos.
Ranger Zentrale, Minnesota
Chief Bryan wirkte skeptisch.
Das war schon mal ein schlechtes Zeichen. Connor starrte bemüht lässig auf den breiten Brustkasten, der sich vor ihm aufgebaut hatte. Dem Rudelführer der Minnesota-Ranger in die Augen zu blicken, war nie eine gute Idee.
„Ist das auf deinem Mist gewachsen?“
„Ähm, nein. Auf Tucker O’Brians.“
Bryan stöhnte. „War ja wieder klar. Gibt es dafür nicht so Büro-Heinis, die endlose Tabellen und Stammbäume verwalten?“
„Äh, mag sein, aber soweit ich weiß, gibt es keinen Hinweis auf Auroras Vater. Nur auf ihren Geburtsort, und der ist nicht Oregon.“
„Sondern?“
„Irgendwo in Utah. Aber dort haben sie nie gewohnt. Ihre Mutter stammt allerdings aus Colorado und hat dort zumindest bis einige Monate vor der Geburt auch gelebt, und ich schätze mal, dass sie da auch geschwängert wurde.“
„Fuck.“ Der Chief stieß ein entnervtes Schnauben aus. „Ausgerechnet.“
Connor überlegte, ob er nachfragen sollte. Aber wenn er nach Colorado reiste, sollte er besser wissen, ob es da gerade Schwierigkeiten gab. Er räusperte sich.
„Ähm, muss ich da was wissen?“
„Nicht wirklich. Aber Dean Stout nervt gerade total. Ständig muss man bei ihm die Feuerwehr spielen, weil er seine Kids nicht im Griff hat. Das Team vor Ort hat schon mit Streik gedroht.“
Connor grinste. Dass Kriegerwölfe alles andere als begeistert waren, hinter meuternden Jugendlichen her zu rennen, konnte er sich sehr gut vorstellen. Die Kids taten ihm dagegen leid. Von Kriegern verfolgt zu werden, war keine angenehme Erfahrung. Da konnte man nur hoffen, dass sie daraus lernten. Auch wenn er sie sehr gut verstand.
Er selbst war als Jugendlicher mehrfach abgehauen. Im Endeffekt war er deshalb tatsächlich bei den Rangern gelandet. Die Kerle hatten ihn zutiefst beeindruckt und in ihm den Ehrgeiz geweckt, genauso gut zu werden.
Im Nachhinein eine echt blöde Idee.
„Haben die Kids wenigstens einen Grund?“, fragte er nach.
„Stout ist ein Arsch!“
Okay, das war einer. Half aber nichts. Stout war Rudelführer und damit im Recht.
Der Chief starrte grübelnd in die Luft. Schließlich nickte er.
„Na gut. Prinzipiell habe ich nichts dagegen. Du kannst ja schon mal damit anfangen. Allerdings hast du auch noch ein anderes Programm zu absolvieren.“
Das versetzte Connor sofort in Alarm, was dem Chief natürlich nicht entging.
Er grinste ihn spöttisch an.
„Nicht nur ich habe den Eindruck, dass du nicht mehr so richtig in Form bist. Ein bisschen Aufbautraining schadet da sicher nicht.“
Connor entglitt ein frustriertes Stöhnen.
Aufbautraining war ein harmloser Begriff für das, was ihm da bevorstand. Sein Letztes lag zwei Jahre zurück, und er hatte es noch ungut in Erinnerung.
„Wann muss ich denn los?“
„In ein paar Wochen fährt Morgan ins Camp. Bis dahin kannst du meinetwegen schonmal mit deiner Suche beginnen. Aber beschwer dich bloß nicht, wenn noch andere Aufträge für dich anfallen.“
Nun gut, an dem Training kam er sowieso nicht vorbei, und der Chief hatte ihn schon immer gerne mit Arbeit zugeballert. Also sollte er seine Zeit wohl möglichst effektiv nutzen.
„Ähm, kann ich Freaky ab und zu beanspruchen?“
„Soll ich dir vielleicht noch eine Sekretärin stellen?! – Ach was soll‘s. Meinetwegen. Falls du nach Colorado reist, melde dich in Evergreen.“
„Wer ist denn da gerade stationiert?“
„Frag Betty.“
Damit war er entlassen.
Sein erster Weg führte ihn zum Computergenie der Ranger.
Martin Hicks, genannt Freaky, grinste ihm fröhlich entgegen.
Connor hatte ihn noch nie schlecht gelaunt erlebt, was für einen Kriegerwolf schon sehr ungewöhnlich war. Irgendjemand hatte mal die These aufgestellt, dass Freaky seine Pubertät nie hinter sich gelassen hatte und er eigentlich kein Krieger, sondern nur ein zu großer Normalo sei. Letzteres hätte sogar sein können, da Hicks tatsächlich eher zu den kleineren Kriegerwölfen gehörte. Doch wer ihn einmal beim Training erlebt hatte, zweifelte sicher nicht mehr an seiner Zugehörigkeit.
„Hi Streuner“, grüßte er. „Was kann ich für dich tun?“
„Ich suche einen Wolf.“
„Haha. Der war gut. Geht’s ein klein wenig genauer?“
Sie brauchten eine knappe Stunde, bis Connor wusste, wo er seine Suche beginnen musste. Immerhin konnte er vorerst die Polizei in Oregon meiden. Freaky war wirklich genial, wenn es darum ging, an behördliche Dokumente zu gelangen, die nicht für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich waren.
Silvy Weast, Auroras Mutter, stammte tatsächlich aus Colorado. Und bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr lebte sie in der Nähe von Markestown. Also ganz in der Nähe des Colorado-Rudels. Ob das Zufall war, würde sich herausstellen müssen.