Читать книгу Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft - Andrea Leskovec - Страница 13
II. Wozu interkulturelle Literaturwissenschaft? 1. Konzept einer gesellschaftswirksamen Literaturwissenschaft
ОглавлениеVerbindung von literaturwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Zielen
Die Ziele der interkulturellen Literaturwissenschaft lassen sich als primär literaturwissenschaftlich und primär gesellschaftspolitisch definieren. Im ersten Fall ist interkulturelle Literaturwissenschaft auf Produktion, Rezeption und Analyse von literarischen Texten ausgerichtet, erforscht also Rolle und Funktion von Literatur in interkulturellen Prozessen und sensibilisiert durch bestimmte Analysemethoden für die Wahrnehmung des Fremden und dessen Darstellung. Hier wird deutlich, dass literaturwissenschaftliche und gesellschaftspolitische Ziele der interkulturellen Literaturwissenschaft ineinandergreifen, denn Sensibilisierung für das Fremde und die Bewusstmachung der Strategien, mit denen wir ihm begegnen, haben natürlich auch eine gesellschaftliche Motivation: Literaturwissenschaft versucht so auf gesellschaftliche Prozesse wie Globalisierung und Migration, aber auch Aggression und Gewalt gegen Fremdheit zu reagieren, u.a. auch um sich neu zu legitimieren. Literaturwissenschaft und -vermittlung war lange Zeit mit der Idee des Nationalstaats und der Theorie der Nation verbunden, primäres Ziel war Überlieferung und Erhalt nationaler Traditionen, nationale Selbstversicherung und Abgrenzung nach außen. Diese Ziele sind mit der Veränderung der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fragwürdig geworden, nicht nur, weil der Begriff der Nation missbraucht wurde, sondern weil die multikulturelle Gesellschaft in vielen europäischen Gesellschaften Realität ist.
Gesellschaftswirksame Literaturwissenschaft
Interkulturelle Literaturwissenschaft reagiert mit ihren Konzepten, Methoden und Inhalten nicht nur auf die Interkulturalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern sieht sich auch als gesellschaftswirksame Literaturwissenschaft (vgl. Slibar 1997), die gesellschaftliche Prozesse durchschaubar machen und ein kritisches und produktives Denken ausbilden möchte.
Kosmopolitische Bildung
Damit wird literarische Bildung Teil einer kosmopolitischen oder globalen Bildung, bei der es „um die Dezentrierung des ‚Eigenen‘ und damit Öffnung für neue Sichtweisen“ (Wintersteiner 2006b, 16; Hervorhebung im Original) geht und um das Erlernen interkultureller Kompetenzen. Die interkulturelle Literaturwissenschaft gewinnt einen politischen Akzent, wenn sie sich auch der Frage nach dem Umgang mit dem Fremden stellt.
Umgang mit Fremdheit
Dieser ist von unterschiedlichen Abwehrstrategien wie Ausgrenzung oder Ignoranz geprägt. Ausgrenzung führt zur gewaltsamen Abwehr des Fremden und zeigt sich in Formen von Aggression, Gewalt, Isolation, Stigmatisierung, Verfolgung oder Vernichtung; Ignoranz zeigt sich als scheinbare Toleranz gegenüber dem Fremden, die dadurch entsteht, dass Fremdes nicht wahrgenommen oder völlig assimiliert und damit beseitigt wird. Hinter diesen Formen der Abwehr steht die Überzeugung, dass dem Eigenen eine universelle Gültigkeit zukommt; man spricht dann von Zentrismen.
Zentrismen
Es lassen sich folgende Formen von Zentrismen unterscheiden: Egozentrismus als die Rückführung des Fremden auf individuelles Eigenes, Ethnozentrismus als Einordnung des Fremden in kollektives Eigenes und Logozentrismus als Eingliederung des Fremden in herrschende Diskurse, die als universell gültige Ordnung oder Metaphysik fungieren. Hierzu gehören z.B. Begriffe wie Vernunft, Wahrheit, Gott, Transparenz. Zentrismen ergeben sich also aus der Tatsache, dass das Eigene mit einer universellen Ordnung gleichgesetzt wird, aus der Fremdes ausgeschlossen wird. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn das Fremde erstens als etwas verstanden wird, was a priori außerhalb des Eigenen liegt, es um ein Ausschlussverhältnis geht, in dem deutlich definiert ist, was Eigenes und was Fremdes ist; und zweitens, wenn man davon ausgeht, dass es das Fremde als feststehende Größe gibt. Das würde bedeuten, dass alles Fremde gleich fremd ist. Dieses Verständnis des Fremden trägt dazu bei, dass Fremdes als das Fremde schlechthin aus der eigenen Ordnung ausgeschlossen wird. Um diese Zentrismen bewusst zu machen und ihnen entgegenzuwirken, bemüht sich interkulturelle Literaturwissenschaft auch um eine begriffliche Neubestimmung von Fremdheit und Interkulturalität und versucht über ihren Gegenstand, die Literatur, einen Umgang mit dem Fremden zu evozieren, der andere Möglichkeiten aufzeigt.
Bewusstmachung und Selbstbeobachtung durch Literatur
Dazu bedarf es einer Bewusstmachung der jeweiligen Sicht- und Denkweisen über Selbstbeobachtung und eine Sensibilisierung für die Tatsache, dass sich Fremdes und Eigenes nicht ausschließen, sondern, im Gegenteil, ineinander verflechtet sind. Über die Beschäftigung mit Literatur lassen sich also Kompetenzen für den Umgang mit dem Fremden erlernen, und zwar aufgrund der Tatsache, dass Literatur thematisch und formal unterschiedliche Dimensionen von Fremdheit vermittelt. Die Erarbeitung dieser Fremdheiten, das Erlernen von Strategien für den Umgang damit und das Reflektieren der eigenen Verstehensvoraussetzungen gehören in den Bereich der Kompetenzförderung, der auch für die interkulturelle Literaturwissenschaft eine wichtige Rolle spielt.