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1. Gegenstand

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Interkulturelles Potenzial von Literatur

Primärer Gegenstand der interkulturellen Literaturwissenschaft sind die interkulturellen Aspekte bzw. das interkulturelle Potenzial von Literatur. Die Frage nach dem interkulturellen Potenzial literarischer Texte, nach der Rechtfertigung von Literatur in interkulturellen Prozessen, beantwortet sich über die Funktion, die literarischen Texten im Interkulturalitätsdiskurs zukommt. Anders formuliert: Was prädestiniert Literatur dazu, im Paradigma von Interkulturalität und Fremdheit eine zentrale Rolle zu spielen?

Interkulturelle Aspekte von Literatur sind thematische oder formale Aspekte literarischer Texte, Kontext- und Rezeptionsforschung (vgl. Mecklenburg 2008, 11) sowie jene Aspekte, über deren Bewusstmachung eine Ausbildung interkultureller Kompetenzen erfolgen kann. Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich als Kriterium zur Bestimmung des interkulturellen Potenzials zusätzlich die Frage nach der Funktion von Literatur in interkulturellen Kommunikationssituationen und dem Potenzial literarischer Texte zum „Einüben“ interkultureller Kompetenzen unter Berücksichtigung der Eigendynamik von Literatur. Daraus ergeben sich zusätzlich folgende interkulturelle Aspekte literarischer Texte: Schulung der Aufmerksamkeit und Sensibilisierung der Wahrnehmung, Sensibilisierung für Realitätskonstruktionen und Dekonstruktion von Homogenität.

Fremdheit als thematischer Aspekt

Vom thematischen Aspekt spricht man dann, wenn Fremdheit Thema oder Motiv eines literarischen Textes ist. Das betrifft beispielsweise die Darstellung von Kulturkontakten im weitesten Sinne, wie Migrationserfahrungen oder Reiseberichte, aber auch die Thematisierung anderer Fremdheitserfahrungen, wie sie durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Ordnungen entstehen, was man als strukturelle Fremdheit (vgl. Waldenfels 1997) bezeichnen kann. Hierzu zählt beispielsweise Fremdheit zwischen Geschlechtern, zwischen Generationen, sozialen Schichten oder zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Fremdheit als thematischer Aspekt kann auch über die Darstellung extraordinärer Fremdheit (vgl. Waldenfels 2002) erfolgen, wozu die Thematisierung von Grenzphänomenen gehört, wie die Erfahrung der existenziellen Fremdheit in Tod, Wahnsinn, Eros, Rausch, Schlaf, Gewalt oder Krankheit, aber auch Fremdheit als ekstatische oder spirituelle Erfahrung, als Phantastisches, Unheimliches oder als Ausbruch von Unvorhergesehenem.

Fremdheit als formaler Aspekt

Fremdheit als formaler Aspekt literarischer Texte betrifft die Art und Weise der Darstellung, die gerade im literarischen Text von der Alltagskommunikation oder von Gebrauchstexten abweichen kann. Gerade durch eine abweichende Darstellung, Erzählweise oder einen abweichenden Sprachgebrauch können literarische Texte irritieren. Fremdheit wird dann zur ästhetischen Qualität von Literatur. Diese bestimmt sich über eine der Funktionen von Literatur, nämlich der bereits von den russischen Formalisten konstatierten Desautomatisierung der Wahrnehmung (vgl. Mukařovský 1967 und Mukařovský 1982), wodurch die automatisierten, schnellen Rezeptionsmechanismen gestört, revidiert werden. Hierzu zählt neben den von den russischen Formalisten eingeführten Verfremdungstechniken und Abweichungen auch die Hybridität literarischer Texte, wie sie durch Hybridisierung oder Kreolisierung, das crossover unterschiedlicher sprachlicher oder formaler Elemente entsteht. Bei dieser Poetik der Hybridität (vgl. Mecklenburg 2008, 115f.) handelt es sich um ein spezielles literarisches Verfahren, das andere Sprachen, andere Gattungen, andere Kunstformen, andere Elemente, andere literarische Texte oder andere Perspektiven miteinander verbindet und in Texte integriert. Beispiele hierfür wären mehrsprachige Texte, Gattungsmix, die Einbeziehung von Elementen der Popmusik, Intertextualität oder Multiperspektivität.

Schulung der Wahrnehmung

Im Paradigma der Interkulturalität ist Aufmerksamkeit Voraussetzung für die Wahrnehmung und den achtsamen Umgang mit dem Fremden (vgl. Waldenfels 2006). Die Schärfung der Aufmerksamkeit ist ein wichtiger Schritt, um Apathie und Indifferenz als Ausdruck von Gleichgültigkeit im Umgang mit dem Fremden entgegenzuwirken, und damit eine wesentliche interkulturelle Kompetenz. Aufmerksamkeit kann durch das Lesen literarischer Texte sensibilisiert werden, und zwar aufgrund des systemspezifischen verfremdenden Umgangs mit Zeichen, der selbstverständliche und vorgefasste Bilder und Vorstellungen von der Welt immer wieder untergräbt und in Frage stellt.

Darüber hinaus wird durch die Desautomatisierung der Wahrnehmung diese erneuert und sensibilisiert; Literatur funktioniert demnach als „Schule der Wahrnehmung“ (Wintersteiner 2001, 25) oder als „Schule des Schauens“ (Slibar 1997, 4). Durch die Desautomatisierung der Wahrnehmung kann diese einerseits erneuert und gestört werden und andererseits erfolgt eine vielschichtige Bewusstmachung – die Bewusstmachung der Konstruiertheit von Literatur, der Wahrnehmung und des Funktionierens unserer Umwelt. Durch das „Trainieren“ von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit erfolgt eine Sensibilisierung für den Einfall des Fremden, das sich auch als Fremdheit des literarischen Diskurses und nicht nur als thematischer Aspekt darstellen kann. Außerdem verweist gerade das Indirekte der Literatur auf die Brüchigkeit von Ordnungen, was ein Wissen über Pluralität und Kontingenz von Ordnungen vermittelt. Das Bewusstmachen von Kontingenz verlangt einerseits eine Relativierung und Überprüfung von Sichtweisen und andererseits Akzeptanz gegenüber anderer Möglichkeiten.

Sensibilisierung für Realitätskonstruktionen

Wesentlicher Ausgangspunkt beim Fremdverstehen ist das Verständnis des Fremden als „relationale Kategorie“ (Wierlacher 2003a, 27). ‚Fremd‘ ist also eine Zuschreibung, durch die meist unbewusst Fremdbilder aktiviert und bestätigt werden. Interaktion im Sinne eines Dialogs ist dann kaum möglich, weil die Wahrnehmung und damit das Handeln des Anderen bereits gelenkt sind. Deswegen ist im Dialog mit anderen Kulturen die Bewusstmachung der eigenen Verstehensvoraussetzungen erforderlich. Wird dabei allerdings die Konstruiertheit der Wirklichkeit, wie sie sich durch die Wahrnehmung ergibt, nicht problematisiert, bleibt auch die Problematik der Konstruiertheit von Eigenem und Fremdem unterbelichtet, denn Wirklichkeit wird dann weiterhin als objektive Größe verstanden. Das ermöglicht, dass literarische Texte referenziell als „realistische“ Dokumente einer anderen Kultur gelesen werden, was aber nur unter gewissen Einschränkungen möglich ist. Natürlich vermitteln und überliefern literarische Texte auch kulturelles Wissen, werden damit Ort des kollektiven Gedächtnisses, allerdings muss gerade in diesem Bereich die Konstruiertheit des Eigenen thematisiert werden, denn Erinnerung ist ja kein objektiver Akt, sondern aus einer „Dispositionsmasse“ (Assmann, A. 1991, 16) werden bestimmte Elemente selektiert; das kulturelle Gedächtnis ist demnach ein inszeniertes. Vergangenheit als Bezugspunkt des kulturellen Gedächtnisses wird als „soziale Konstruktion“ (Assmann, J. 2005, 34) durch Erinnerung rekonstruiert. Durch Erinnern wird Vergangenheit also konstruiert, wird selbst zu einer Narration, die unsere Vorstellung von Vergangenheit und nicht eine objektive, „wirkliche“ Vergangenheit inszeniert. Literarische Texte sind demnach keine Reportagen über vergangene Ereignisse, sondern sie modifizieren diese und legen die Konstruiertheit von Wirklichkeitsentwürfen offen, indem sie diese Konstruiertheit thematisieren und strukturell fruchtbar machen. Literatur thematisiert beispielsweise den Selektionsprozess, indem sie nur einen bestimmten Ausschnitt der „Wirklichkeit“ zeigt, oder den Zusammenhang zwischen Wahrnehmen, Erkennen und Wirklichkeitskonstruktion, indem sie zeigt, wie Wahrnehmung und damit Erkennen gelenkt, manipuliert, erschwert oder verweigert wird. So erscheint Literatur nicht mehr als realistisches Bild der Wirklichkeit, sondern als ein von einem Erzähler entworfenes, das eine bestimmte Absicht verfolgt.

Dekonstruktion von Homogenität

Im Kontext des Alteritätsdiskurses wird von einer Verschränkung oder Verflechtung von Eigenem und Fremdem ausgegangen (vgl. Waldenfels 1997 und vgl. Kristeva 1990). Fremdes ist somit ein konstituierender Aspekt der eigenen Identität. Hieraus ergibt sich, dass die vermeintliche Homogenität des Eigenen eine Konstruktion ist. Für die Verschränkung von Eigenem und Fremdem kann Literatur in unterschiedlicher Hinsicht sensibilisieren: Einerseits, indem sie als das Fremde innerhalb der eigenen Kultur verstanden wird (vgl. Wintersteiner 2006a, 123), was sich aus ihrer kritischen oder oppositionellen Haltung gegenüber der Eigenkultur ergibt, wodurch wiederum die Homogenität von Kulturen unterminiert wird. Andererseits, indem sie die Verschränkung von Eigenem und Fremdem innertextlich auf der Ebene der Handlung und der Ebene der Narration thematisiert.

Kontext- und Rezeptionsforschung

Die Kontext- und Rezeptionsforschung verfolgt im Wesentlichen zwei Aspekte: Die Kontextforschung beschäftigt sich mit der Rekontextualisierung des literarischen Textes, untersucht also die unterschiedlichen Kontexte, in denen der Text eingebettet ist. Hierzu gehören der außerliterarische Entstehungskontext wie Autor, historisch-gesellschaftlicher Diskurs, soziokultureller Kontext und wissenschaftliche Diskurse und der Kontext der dargestellten Wirklichkeit. Dem außerliterarischen Kontext kommt dabei eine texterhellende Funktion zu, mit Hilfe des Kontextes wird versucht die Textbedeutung zu erfassen. Kontextforschung bekommt häufig einen landeskundlichen Aspekt, da es um die Vermittlung kulturwissenschaftlicher Inhalte und der jeweiligen Erfahrungshorizonte geht, also um ein Verständnis fremdkultureller Lebenswelten. Diese Vorgehensweise ist besonders in der didaktischen Praxis im Bereich Deutsch als Fremdsprache beliebt, wo der literarische Text oftmals als Repräsentant einer Kultur referenzialisiert wird, bzw. als „Mittel zum Kulturverstehen“ (Mecklenburg 2008, 87) missverstanden wird.

Die Rezeptionsforschung untersucht die Rezeption eines literarischen Werkes, wobei es nach Hans Robert Jauß, einem der Begründer der Rezeptionstheorie, darum geht, „das Werk aus seiner Wirkung und Rezeption, die Geschichte einer Kunst als Prozeß der Kommunikation zwischen Autor und Publikum, Vergangenheit und Gegenwart zu begreifen“ (Jauß 1991, 20). Die interkulturelle Literaturwissenschaft geht dabei der Frage einer fremdkulturellen Rezeption nach. Dabei geht sie von der Annahme aus, dass die Rezeption literarischer Werke einerseits ein kulturüberschreitender Prozess ist, andererseits jedoch kulturspezifisch, d.h. soziokulturell determiniert. Insofern untersucht die Rezeptionsforschung die Auswirkungen einer kulturdeterminierten Rezeption auf das Verständnis von Literatur, was zu einem Pluralismus kulturdifferenter Lektüren (vgl. Wierlacher/Eichheim 1992) führen kann. Diesem von Alois Wierlacher und Hubert Eichheim inszenierten Projekt, in dem anhand von Gottfried Kellers Text Pankraz, der Schmoller die Kulturspezifik von Lektüreprozessen nachgewiesen werden sollte, liegt die Annahme zu Grunde, „daß ein literarischer Text in kulturell verschiedenen Referenz- und Verstehensrahmen jeweils anders spricht und daß es eine Vielfalt kultureller Prägungen und Lektüren fremdsprachiger und fremdkultureller Texte gibt“ (ebd., 375).

Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft

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