Читать книгу Die Welt braucht keine Superheldin - Andrea Wenk - Страница 10

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5. Gott spricht durch

einen Fliesenboden

„Ich aber und meine Familie, wir wollen dem Herrn dienen.“

Josua 24,15

Seit einiger Zeit arbeite ich als Pflegefachfrau bei einem ambulanten Pflegedienst in unserer Stadt. Das heißt, wir gehen zu den Leuten nach Hause und unterstützen sie bei ihren verschiedenen gesundheitlichen Defiziten. Es ist immer wieder spannend, mit den Menschen in ihren eigenen vier Wänden zu arbeiten, denn anders als im Krankenhaus sind sie zu Hause ganz sie selbst und ich komme als Besucher zu ihnen. Ihre vier Wände spiegeln ihren Lebensstil wider, was ihnen wichtig ist und wie sie sich wohlfühlen.

Solche ambulanten Pflegedienste gab es auch im indischen Krankenhaus, in dem meine Freundin Margret und ich damals während unseres Praktikums arbeiteten. Wir durften die Pflegerinnen einige Tage begleiten und die indischen Wohnverhältnisse der unteren Kasten, das heißt der armen Leute, kennenlernen. Eine Begegnung hat mich nachhaltig geprägt und mich ins Nachdenken darüber gebracht, wie ich mit meinen täglichen Sorgen umgehe. Es war einer der Momente in meinem Leben, in dem sich für mich der Himmel auftat und Gott sich mir offenbarte.

Man stelle sich ein kleines Häuschen aus Lehm mit Well­blechdach, einem Fenster und einer Tür vor. Das Häuschen war so groß wie bei uns ein durchschnittliches Zimmer in einem großzügig gebauten Haus. Es enthielt einen Raum mit einem Bett, einer Kochecke und ein paar Matratzen auf dem Boden. Was mir sofort ins Auge fiel: Der Boden war mit schönen gemusterten Fliesen belegt und so gar nicht typisch für dieses Haus; ich hätte einen Lehmboden erwartet. Dieses Ein-Zimmer-Haus beherbergte eine Familie mit drei Kindern. Der Mann war seit einigen Jahren bettlägerig und konnte nicht mehr gehen. Dass er zu diesem Zeitpunkt noch lebte, war für alle unverständlich, denn man hatte ihm eine viel kürzere Lebenserwartung vorausgesagt.

Mit dem Betreten des Hauses spürte ich sofort, dass „Gottes Friede, der all unser Verstehen übersteigt“ (Philipper 4,7), in diesem Haus wohnt. Ich stelle mir vor, dass die Hohepriester zur Zeit des Alten Testaments so ähnlich empfanden, wenn sie ins Allerheiligste – in die Gegenwart Gottes – traten; erfüllt von seinem Licht, seiner Wahrheit und Liebe, Gottes Reinheit und Allmacht vor Augen.

Als ich mich auf den absolut glänzenden Fliesenboden setzte und in das Gesicht der Gastgeberin schaute, waren die Liebe und der Frieden dieses Hauses allgegenwärtig. Der Mann lag auf dem einzigen Bett im Raum und die Familie begann, uns ihre Geschichte zu erzählen.

Seitdem der Mann krank und gelähmt war, konnte er nicht mehr arbeiten. In Indien gibt es weder eine Invalidenrente noch sonst irgendeine Unterstützung für sozial Schwache, und so rutschten sie sehr schnell in die Armut ab. All die Jahre, in denen seine Krankheit den Mann ans Bett fesselte, war die Familie täglich auf die Versorgung Gottes angewiesen. Und zwar nicht wie bei uns im Westen mit der weich gespülten Wohlstandsvariante, sondern mit der knallharten existenziellen Tatsache: „Unser tägliches Brot gib uns heute.“ An den meisten Tagen stand die Mutter morgens auf und wusste noch nicht, wie sie ihre drei Kindern satt kriegen sollte. Während die Frau dies erzählte, strahlte sie mich an und erklärte freudig und vertrauensvoll, dass sie am Ende des Tages immer genug hatten, nie auf Vorrat, aber immer genug für den jeweiligen Tag. Als es darum ging, ihre Kinder einzuschulen, fehlte das Geld für Schuluniformen und Schulmaterial. Bis kurz vor Schulstart war nicht sicher, ob die Kinder überhaupt in die Schule gehen könnten. Die Eltern beteten und vertrauten Gott – mit dem Resultat, dass alle ihre Kinder pünktlich zum Schulanfang mit dabei sein konnten! Da wurde für mich die Bergpredigt von Jesus plötzlich lebendig:

„Darum sage ich euch: Macht euch keine Sorgen um euren Lebensunterhalt, um Nahrung und Kleidung! Bedeutet das Leben nicht mehr als Essen und Trinken, und ist der Mensch nicht wichtiger als seine Kleidung? Seht euch die Vögel an! Sie säen nichts, sie ernten nichts und sammeln auch keine Vorräte. Euer Vater im Himmel versorgt sie. Meint ihr nicht, dass ihr ihm viel wichtiger seid? Und wenn ihr euch noch so viel sorgt, könnt ihr doch euer Leben um keinen Augenblick verlängern. […] Euer Vater im Himmel weiß doch genau, dass ihr dies alles braucht. Setzt euch zuerst für Gottes Reich ein und dafür, dass sein Wille geschieht. Dann wird er euch mit allem anderen versorgen. Deshalb sorgt euch nicht um morgen – der nächste Tag wird für sich selber sorgen! Es ist doch genug, wenn jeder Tag seine eigenen Schwierigkeiten mit sich bringt“ (Matthäus 6,25–27.32–34).


Sorgt euch nicht um Essen, Trinken und Anziehen! Diese Familie erlebte das eins zu eins in ihrem Alltag. Sie waren in ihren menschlichen Möglichkeiten so beschränkt, die Grenzen ihrer Existenz ganz klar gezogen. Der Feind namens Hunger, Unsicherheit, Angst und Verzweiflung stand vor der Tür ihres Hauses. Aber dieses Ehepaar sagte ganz klar: „Ich aber und meine Familie, wir wollen dem Herrn dienen“ (Josua 24,15). Und Gott war ihnen jeden Tag treu! Mit dieser Glaubenshaltung sprengten sie die Grenzen ihrer Realität täglich neu.

Die westliche Welt tendiert in gewissen Kreisen zum Wohlstandsevangelium und behilft sich mit Bibelversen, die besagen, dass Gott uns Leben im Überfluss geben will und dass materieller Reichtum der Beweis für Gottes Gunst ist, wenn wir denn ein Gott gefälliges Leben führen. Dort im indischen Slum traf ich eine Familie, die mit Gottes Geist erfüllt war und ihm seit Jahren diente. Weit und breit war nichts zu sehen von Wohlstand, aber jeder Winkel dieses ach so kleinen Hauses war durchtränkt mit dem Frieden Gottes. Gott holte sie nicht aus der Armut heraus, aber er war mitten unter ihnen!

Mich hat diese Begegnung gelehrt, dass Gott sich weder Wohlstand für uns wünscht noch ihn uns verspricht, sondern er wünscht sich unser Vertrauen und verspricht uns seine Fürsorge. In der Bergpredigt heißt es, dass Gott um unsere menschlichen Bedürfnisse weiß und er dafür sorgt. Er fordert uns aber auf, uns nicht ständig zu sorgen und nach mehr zu streben, sondern wir sollen zuerst nach seinem Reich trachten, das heißt seinen Willen tun, anderen Menschen mit Barmherzigkeit begegnen und seine Botschaft der Versöhnung leben. Um den Rest kümmert er sich, sodass wir gerade genug für jeden Tag haben. Jesus sagt, dass ich durch Sorgen mein Leben um keinen Tag verlängern kann; er will nicht, dass ich wie eine Superheldin alle Lasten auf meine Schultern lade, sondern er will, dass ich ihm meine leeren Hände entgegenstrecke und sie mir von ihm füllen lasse.

Jesus will nicht, dass ich wie eine Superheldin alle Lasten auf meine Schultern lade, sondern ich darf ihm meine leeren Hände entgegenstrecken und sie mir von ihm füllen lassen.

Und dann erzählte uns die Frau noch die Geschichte vom makellosen Fliesenboden. Der war ein stiller Wunsch des Mannes, denn wenn er aus dem Bett kroch, musste er auf den Armen robben und seinen Körper hinter sich herziehen. Das war auf einem schmutzigen Lehmboden sehr unangenehm. Gott sah seinen Wunsch und bewegte das Herz eines Menschen, der daraufhin zweckgebunden Geld schenkte für einen neuen Boden! War das jetzt ein Wohlstandswunsch? Überflüssiger Schnickschnack? Hätten sie das Geld nicht besser gespart für ihre Kinder, für Lebensmittel? Nein, die Familie erkannte es als das, was es war: ein Liebesbeweis des himmlischen Vaters. Eine Ermutigung, die besagte: Ich sehe euch, ich habe euch nicht vergessen – ihr gehört zu mir, egal wie die Umstände sind!

Als die Frau uns am Schluss unseres Besuches bat, noch für sie und ihre Familie zu beten, kamen mir die Tränen. Ich fühlte mich in dem Moment so arm – trotz meines schweizerisch-mittelständischen Wohlstands. Was könnte ich geben, wofür beten, was diese Familie nicht schon längst erkannt und in Anspruch genommen hätte? Unter einem Wellblechdach und auf einem glänzenden Boden sitzend, erlebte ich ein Stück Himmel auf Erden. Während wir sie segneten, wusste ich: Diese Begegnung werde ich in meinem Herzen bewahren.

Existenzielle Sorgen kannte ich in meinen jungen ungebundenen Jahren nicht. Ich hatte genug Geld für mich zur Verfügung und bestimmte selbstständig darüber, wie ich es ausgeben wollte. Erst seit ich verheiratet bin und drei Kinder habe, kenne ich das Gefühl der engen Begrenzung, wenn Mitte des Monats plötzlich kein Geld mehr da ist. Schnell kommen da bei mir Gefühle des Zu-kurz-Kommens oder der Unzufriedenheit auf. Mein Blick hat dann die Tendenz, ganz eng und beschränkt zu werden. Die Sorgen lassen meine Gedanken im Kreis drehen und werden zu einer Grenze, die mich einengen will. Ich schaue dann in Nachbars Garten, wo das Gras viel grüner ist, und beginne mich zu fragen, weshalb eigentlich „alle“ mehr haben als wir. Mein Mann, von einem unerschütterlichen Vertrauen in Gott beseelt, lässt sich in solchen Momenten nicht aus der Ruhe bringen und erinnert mich stets daran, was auf dem Schweizer Fünffrankenstück steht: „Dominus providebit – Gott wird versorgen“! Und nicht selten lässt Gott mich gedanklich wieder unter dem Wellblechdach auf dem Fliesenboden sitzen, um mich daran zu erinnern, dass er mir nie Reichtum versprochen hat, mir aber zusagt, mich mit allem zu versorgen, das ich brauche!

Gott hat mir nie Reichtum versprochen, aber mir zugesagt, mich mit allem zu versorgen, das ich brauche!

Die Lektion in Indien lehrte mich, dass das beste Mittel gegen Unzufriedenheit und Sorgen Danken und Vertrauen ist. Ich danke Gott dafür, was er schon alles in meinem Leben bewegt hat. Und ich vertraue darauf, dass er bei mir ist, egal wie die Umstände sind, denn er sorgt für mich! Diese Einstellung lässt meinen Blick in die Ferne schweifen, über die Grenzen meiner täglichen Sorgen hinaus, an den Horizont von Gottes unbeschränkten Möglichkeiten.

Die Welt braucht keine Superheldin

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