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3. Die Welt liegt mir zu Füßen

„Wer die Grenzen erkennt und in ihnen sein Glück, der kann es auch halten sein Leben lang; wen aber das Irrlicht seines Verlangens weitertreibt vom einen immer zum nächsten, der stürzt am Ende – ins Nichts.“

Nizami

Ich kann mich noch gut an das Gefühl der Freiheit erinnern, als ich sechzehn Jahre alt war! Meine Zukunft als erwachsene Frau lag wie ein Buch mit unbeschriebenen Seiten vor mir. Die Möglichkeiten, mein Leben zu gestalten, schienen mir endlos. Mein Vertrauen ins Leben und der Glaube daran, dass alles gut werden würde, waren unbegrenzt.

Schon seit Anfang meiner Teenagerjahre war mir klar, dass ich mich zur Pflegefachfrau ausbilden lassen wollte. Darum waren die nächsten Jahre darauf ausgerichtet, dieses Ziel zu erreichen. Die Tatsache, dass mir bis dahin meistens alles gelang, was immer ich auch anpackte, steigerte meine Zuversicht, dass ich sehr vieles erreichen konnte, wenn ich nur wollte. Grenzen? Ein Wort, das es in meinem jugendlichen und unbeschwerten Wortschatz nicht gab – ich kannte nur ein Leben à la „sans souci“, das heißt ohne Sorgen und mit der Gewissheit angefüllt, dass mir alles gelingen würde, wenn ich nur fest genug daran glaubte. Klar kann ich mich an angstvolle Schritte in neue Gebiete meines Lebens erinnern, zum Beispiel als ich als Achtzehnjährige für drei Monate nach Wales flog, um eine Sprachschule zu besuchen. Oder als ich anschließend für ein halbes Jahr im französischsprachigen Teil der Schweiz ein Pflegepraktikum in einem Krankenhaus absolvierte. Durch all diese Erfahrungen begann ich, mich von zu Hause abzunabeln. Ich machte große, selbstständige Schritte in die Freiheit, die alles für mich bereitzuhalten schien. Zu jenem Zeitpunkt verstand ich noch nicht, dass ich mit jeder meiner Entscheidungen andere Möglichkeiten der Lebensgestaltung ausschloss. Durch jeden Schritt in eine bestimmte Richtung bewegte ich mich ganz klar weg von anderen, auch begehbaren Wegen. Dadurch setzte ich meinem Leben Grenzen, die mich formten und später zu der Frau werden ließen, die ich heute bin.


Als Sechzehnjährige meinte ich, alles zu wissen oder zu können. Heute beobachte ich, dass diese jugendlich-naive Ignoranz wohl ganz normal ist – sie gehört zum Selbstständigwerden dazu. Je nachdem, wie viel Vernunft mit dieser Ignoranz gemischt wird, verhilft sie zu positiven oder dann eben zu negativen Erlebnissen. Ich verdanke es meinen Eltern und ihrer Erziehung, dass ich eine große Portion Vernunft mit auf den Weg bekam und sich dadurch die Schäden, ausgelöst von jugendlichem Übermut, in Grenzen hielten.

Wie gut erinnere ich mich daran, als ich zum ersten Mal anstatt mit meinen Eltern zusammen mit gleichaltrigen Freunden in den Urlaub fuhr. Wir waren mit dem Auto unserer Eltern unterwegs, bepackt mit Campingzelten und einer modernen Kühlbox, die man an der Autobatterie anschließen konnte. Doch anstatt die Eltern zu fragen, wie dieses Gerät funktioniert, meinten wir Jugendlichen, es selbst zu wissen. Als wir nach fünf Stunden Fahrt unsere vermeintlich gekühlten Sandwiches essen wollten, waren diese zu unserem großen Erstaunen und Schrecken fast gar gekocht, die Butter geschmolzen und die Getränke erhitzt. Wir begriffen erst dann, dass wir bei der Kühlbox das Kabel verkehrt angeschlossen hatten. Darum begann unsere Box zu heizen, anstatt zu kühlen. Unsere Kühlbox lehrte uns am folgenden Tag eine weitere Lektion. Wenn man sie während der Nacht im parkenden Auto an der Batterie angeschlossen lässt, dann springt der Motor am nächsten Morgen ganz bestimmt nicht mehr an! Harmlose Erlebnisse, die bis heute für Gelächter und leichtes Kopfschütteln sorgen – wie unerfahren waren wir damals!

Ich wusste noch nicht, dass die Stunden nur so dahinfliegen können, wenn man nicht unterfordert ist und eine Arbeit verrichtet, die man liebt.

Sobald ich erste Schritte in die Erwachsenenwelt tat, wurden mir schonungslos die Augen geöffnet und eine große Portion Realität mischte sich in meinen verklärten Blick. Unvergesslich bleibt mir die Zeit in Erinnerung, als ich meinen ersten Ferienjob bei einem Supermarkt antrat, um Geld für meinen Sprachaufenthalt in Wales zu verdienen. Ich arbeitete nun mehr als acht Stunden pro Tag, wobei mir jede einzelne Minute wie eine Ewigkeit vorkam. Während ich in der Früchteabteilung Bananen auffüllte, schaute ich ständig auf die Uhr und war jedes Mal überrascht, dass gerade mal ein paar Minuten vergangen waren. Für mich fühlte es sich so an, als hätte in dieser unendlich langen Zeit eine ganze Bananenstaude wachsen können.

Dieses Erlebnis erfüllte mich mit leichter Panik und ich fragte mich ernsthaft, ob jetzt wohl mein ganzes Leben so sein würde: arbeiten, um Geld zu verdienen, die Minuten wie Stunden zu erleben und dabei innerlich fast zu verzweifeln. Ich wusste noch nicht, dass die Stunden nur so dahinfliegen können, wenn man nicht unterfordert ist und eine Arbeit verrichtet, die man liebt.

Irgendwann ging aber auch mein Ferienjob zu Ende und mein dreimonatiges Sprachstudium in Wales startete. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den unterschriebenen Lehrstellenvertrag als Pflegefachfrau bereits in der Tasche. Meine Mitstudenten waren vor allem zukünftige junge Missionare aus aller Welt, die sich die englische Sprache aneignen wollten. Das Klima unter den Studierenden war geprägt von Reise- und Abenteuerlust, gepaart mit gespannter Ungewissheit, was sie bei ihrem zukünftigen Missionseinsatz erwartete. Ich ließ mich von ihrer Begeisterung anstecken und erlebte dadurch eine aufregende und unvergessliche Studienzeit. Gleichzeitig wünschte ich mir, dass sie nie enden würde. In dieser Zeit spielte ich mehr als einmal mit dem Gedanken, die Ausbildung aufzuschieben und stattdessen an einem Missionseinsatz teilzunehmen. Hätte mich in diesen Wochen jemand ermutigt, meine beruflichen Pläne hinzuschmeißen, damit ich auf einem der Schiffe von OM (Operation Mobilisation, einer christlichen Missionsgesellschaft) mithelfen konnte, ich hätte es getan! Es war aber das Gegenteil der Fall: Die Stimmen von zu Hause, die mich gut kannten, sprachen mir Mut zu, doch erst meine Ausbildung zu machen, bevor ich mich in fremde Länder und Abenteuer stürzen würde. Und so entschied ich mich an dieser wichtigen Weggabelung meines Lebens, auf dem vorgesehenen Weg zu bleiben und nicht eine komplett neue Richtung einzuschlagen.

Als ich nach meiner Zeit in Wales für ein Praktikum in ein „Schwesternhaus“ des Krankenhauses wechselte und zusammengeworfen war mit jungen Frauen, die ich nicht kannte, in einer Welt, die nicht mehr Englisch, sondern Französisch sprach, kam ich wieder an einigen Weggabelungen vorbei. Während mir die Sprachschule von A bis Z Spaß bereitet hatte und mich in meinem christlichen Glauben und im Umgang mit fremden Kulturen ermutigte, hieß es nun, hart zu arbeiten und einiges an Demütigungen zu schlucken. Wir Praktikantinnen waren die „Aide infirmières“ (Krankenschwesternhilfen) und wurden von einer strengen „Madame“, die mich ein wenig an den Drachen „Frau Mahlzahn“ aus der Geschichte von Jim Knopf erinnerte, regiert. Schon nach meinen ersten Tagen auf der chirurgischen Station erkannte ich, dass die vorwiegend aus Frankreich stammenden Krankenschwestern kein gesteigertes Interesse an harter Arbeit hatten. Vor allem am Wochenende, wenn ihre Vorgesetzte nicht anwesend war, schickten sie uns Praktikantinnen in alle Krankenzimmer, um zu arbeiten. Währenddessen saßen die Französinnen im Stationszimmer, tratschten, strickten oder lackierten sich die Nägel! Wenn diese Krankenschwestern dann doch mal bei einem Patienten vorbeischauten und bemerkten, dass er sich im Bett übergeben hatte, machten sie auf der Türschwelle kehrt und riefen: „Les filles! Nettoyez!“ („Mädels! Putzen!“)

In jenem halben Jahr lernte ich, was Arbeiten bedeutet. Manchmal hatte ich das Gefühl, diese Arbeit sei zu schwierig für mich, der Beruf der Pflegefachfrau sei nicht der richtige für mich. Wieder stand ich vor einer Verzweigung, die von mir eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung verlangte. Ich entschied mich, an meinen Plänen festzuhalten – entschlossen, nie eine solche Krankenschwester zu werden, die Praktikantinnen oder Auszubildende ausnutzt. Ich würde mir nicht zu schade sein, auch mal ein schmutziges Bett frisch zu beziehen oder einem Patienten den Hintern zu putzen. Durch jene Praktikumszeit bekamen mein Leben und meine Persönlichkeit wieder ein Stück mehr Profil und die Schritte auf dem eingeschlagenen Weg wurden fester.

Nach der Ausbildung, so dachte ich, stünden dann alle Möglichkeiten für mich offen. Ich könnte frei entscheiden, wohin ich gehen wollte, um zu arbeiten. Sollte ich in der Schweiz bleiben? Ins Ausland gehen? Alles meine Entscheidung!

Im letzten Ausbildungsjahr trat dann aber der Traumprinz in mein Leben (diese Geschichte kannst du weiter hinten nachlesen), und plötzlich waren die Zukunftspläne nicht nur noch von mir abhängig. Aus einem Ich wurde ein Wir und gemeinsame Entscheidungen legten immer mehr den Weg fest. Als ich Stefan heiratete, sagte ich ohne jeden Zweifel „Ja“ zu ihm und somit „Nein“ zu allen anderen Männern, die vielleicht auch noch meinen Weg gekreuzt hätten.

Freiheit braucht immer Grenzen und es gibt in meinem Leben keine „grenzenlose Freiheit“.

Das unbeschriebene Buch, das mit sechzehn Jahren vor mir lag, füllte sich mit immer mehr Seiten – mit der Geschichte meines Lebens. In mir wuchs nach und nach die Erkenntnis: Freiheit braucht immer Grenzen und es gibt in meinem Leben keine „grenzenlose Freiheit“. Wenn ich grenzenlose Freiheit wollte, dann käme ich nie zur Ruhe oder könnte nicht zu einer Entscheidung stehen und dabei bleiben. Bei grenzenloser Freiheit müsste ich immer unentschieden und unfassbar bleiben, denn sonst würde mein Leben eingeengt werden. Ich bin schon einigen Menschen begegnet, die sich für (scheinbare) grenzenlose Freiheit entschieden haben: Sie sind „ewige Studenten“, die immer wieder ihre Studienrichtung wechseln, oder es sind Menschen, die Angst davor haben, eine verbindliche Beziehung einzugehen, oder die mit dreißig Jahren immer noch so leben wie Achtzehnjährige, da sie nur Spaß und Partys, aber ja keine Verantwortung haben wollen.

Ich habe gelernt, dass Entscheidungen mich in gewissem Maße festlegen. Gleichzeitig geben sie mir aber auch Freiheit, denn sie zeigen mir, in welche Richtung mein Leben laufen soll. Sicher, sie stellen mich immer auch an einen Ort, an dem ich für mich und für andere Verantwortung trage. Die großen Verzweigungen meines Lebens verlangten jeweils eine Entscheidung von mir und darauf folgten immer Konsequenzen. Je mehr Verantwortung in mein Leben kam, desto weniger konnte ich einfach nur noch für mich entscheiden. Ob ich das als Freiheit oder Einengung erlebe, ist eine Frage meiner Deutung und meiner Einstellung. Hilfreich finde ich in diesem Zusammenhang die folgenden Sätze aus der Bibel: „Durch Christus seid ihr dazu berufen, frei zu sein, liebe Brüder und Schwestern! Aber benutzt diese Freiheit nicht als Deckmantel, um eurem alten selbstsüchtigen Wesen nachzugeben. Dient vielmehr einander in Liebe“ (Galater 5,13). Freiheit soll nie dazu missbraucht werden, meine egozentrischen Wünsche zu erfüllen und dabei andere zu verletzen oder zu übergehen. In Freiheit zu leben bedeutet auch, dass ich die Bereitschaft zeige, Verantwortung für mich und mein Handeln zu übernehmen. Und dieses Handeln sollte nie egoistisch, nur auf mich selbst bedacht und ohne Rücksicht auf Verluste sein. So gesehen verlangt das Leben in Freiheit eine soziale Verantwortung; ich wende mich ab von mir selbst hin zur Gemeinschaft – und das ist im Endeffekt nie einengend, sondern immer befreiend.

Die größte Krise bezüglich der Endgültigkeit gewisser Entscheidungen und der damit verbundenen Grenzen erlebte ich an Weihnachten 2013, als unsere jüngste Tochter Emélie ein Jahr alt war. Die Krise kam völlig unerwartet, ausgelöst durch die Geburt meines Neffen. Mir wurde plötzlich mit schmerzhafter Gewissheit klar, dass ich nie mehr ein eigenes Baby in den Armen halten würde. Unsere Entscheidung für ein drittes Kind war uns nicht leicht gefallen. Mein Mann, vollends zufrieden mit unseren zwei Wonneproppen, wollte kein weiteres Kind mehr und ich wünschte mir nichts sehnlicher als das! Nach vielen Gesprächen, in denen wir als Ehepaar Ängste und Befürchtungen, Wünsche und Sehnsüchte aussprechen konnten, fand auch mein Mann ein Ja zu einem dritten Kind. Mir war klar, dass es meine letzte Schwangerschaft sein würde.

Entscheidungen legen mich in gewissem Maße fest. Gleichzeitig geben sie mir Freiheit, denn sie zeigen mir, in welche Richtung mein Leben laufen soll.

Meiner Meinung nach verabschiedete ich mich nach der Geburt unserer Jüngsten sehr bewusst vom Thema „Kinderkriegen“. Nie hätte ich damit gerechnet, dass mich die Krise ein Jahr später aus dem Hinterhalt angreifen und mich zu Boden bringen würde! Nicht nur würde ich nie mehr ein Kind in mir tragen, sondern mir wurde beim Anblick des kleinen Neffen voll bewusst, dass ich ein ganzes Kapitel meines Lebens bereits hinter mir hatte! Unsere Familienplanung war abgeschlossen. Als Sechzehnjährige dachte ich, dass ich einmal heiraten und Kinder bekommen würde. Damals war diese Seite meines Lebensbuches noch leer, aber nun war das Kapitel bereits geschrieben – unabänderlich! Ich war dreiunddreißig Jahre alt und ein Teil meines Frauseins lag hinter mir. Diese Erkenntnis konfrontierte mich mit der Endlichkeit meines Lebens. Auch ich habe nur eine gewisse Zeitspanne zur Verfügung. Ich hatte Angst, dass ich meine Zeit hier auf Erden vergeuden würde. Ergab mein Leben überhaupt noch Sinn? Was tat ich eigentlich? War ich gefangen in meinem festgefahrenen Leben? Konnte Gott mich überhaupt noch gebrauchen? Eine Identitätskrise pur!

Der Weg aus der Krise begann dadurch, dass ich die aufgeschlagene Seite meines Lebensbuches akzeptierte und zu einem Ja für all die bereits geschriebenen Kapitel fand. Ein Teil meines Lebens lag schon hinter mir, Entscheidungen bahnten mir den Weg bis dahin und viele Seiten meines Lebens wurden beschrieben mit Erlebnissen, Entscheidungen und ihren Konsequenzen. Ich hatte schon so viel Gutes erlebt; ich erkannte eine klare Segenslinie von den ersten unbeholfenen Schritten als Sechzehnjährige bis zum Hier und Jetzt. Also entschied ich mich bewusst, nun nach vorne zu schauen auf die immer noch weißen, leeren Seiten meines Lebens. Klar, einiges ist „vorgeschrieben“; ich bin und bleibe Mutter und Ehefrau. Aber ich kann noch so viel mehr erleben, wenn ich bereit bin, im Vertrauen auf Gott vorwärtszuschauen.

Der Weg aus der Krise begann dadurch, dass ich die aufgeschlagene Seite meines Lebensbuches akzeptierte und zu einem Ja für all die bereits geschriebenen Kapitel fand.

Heute ist mein Lebensweg gekennzeichnet von Werten, Aufgaben und Fähigkeiten, die ich mir durch mutige Entscheidungen angeeignet habe. Diese Merkmale machen mich frei, so zu sein, wie ich bin, und frei, so zu leben, dass mein Leben gesegnet ist und dieser Segen weiterfließen kann. Gott schreibt meine Geschichte weiter mit mir. Die schon geschriebenen Kapitel können nicht mehr abgeändert werden, doch sie beeinflussen den weiteren Verlauf meines Lebensbuches. Und trotzdem bleibt noch jede Menge Platz, um Neues zu entdecken; zwar nicht mehr ganz so unwissend und impulsiv wie mit sechzehn Jahren, dafür aber mit mehr Bedachtheit und Reife.

Schlussendlich habe ich für mich erkannt: Auch wenn meinem Leben Grenzen gesetzt sind, hindern mich diese Grenzen nicht daran, innerlich frei zu sein und gemeinsam mit Gott mutig weitere Kapitel im Buch meines Lebens zu schreiben!

Die Welt braucht keine Superheldin

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