Читать книгу Die Welt braucht keine Superheldin - Andrea Wenk - Страница 6
Оглавление1. Eine Geburtstagskarte,
die einiges ins Rollen brachte
„Gott schafft deinen Grenzen Frieden.“
Psalm 147,14 (LUT)
Gott schafft deinen Grenzen Frieden“ stand auf der Geburtstagskarte, die ich im Frühling 2016 in den Händen hielt. Absender der Karte war Marianne, die damals 92-jährige Großmutter meines Mannes. Die gedruckten Worte flossen direkt in mein Herz. Sie sprangen wie ein Funke über und begannen in mir hoffnungsvoll zu flackern! Zwei Worte, die zu meinem Lebensthema gehören, fand ich hier vereint in einer Botschaft der Ermutigung und der Hoffnung: „Grenzen“, ein Wort, das ich oft mit Einengung und Unvermögen in Verbindung brachte, und „Frieden“, den ich mir in meinem Leben ersehnte und immer wieder neu suchte.
Genau ein Jahr zuvor erhielt ich zu meinem Geburtstag ein Geschenk, das eine komplett andere Wirkung auf mich hatte und mich innerlich an eine nicht ganz so friedliche Grenze katapultierte. Unsere Nachbarin Judith, eine leidenschaftliche Gleitschirmpilotin, schenkte mir einen Gutschein, um mit ihr zusammen einen Tandemflug zu absolvieren. Auf dem Gutschein vermerkte sie, dass er bis zu meinem fünfzigsten Geburtstag gültig sei. Ich musste schlucken und dachte: „Das schaff ich bis fünfzig nicht! Dazu kann ich mich niemals überwinden!“
Ich lebe in einem sehr touristischen Ort im Berner Oberland in der Schweiz, und deshalb ist es nichts Außergewöhnliches, wenn es in den Lüften über unserer Region nur so wimmelt von gleitschirmfreudigen Touristen. Sie gehören bei uns zum Dorfbild so wie die Spatzen zum Garten und die Krähen zu den Bäumen. Da die meisten Gleitschirmpiloten mitten im Dorf auf einer großen Wiese landen, hören wir auch ständig die freudigen Jauchzer oder aufgeregten Schreie der Flugnovizen, wenn sie sich im Spiralflug dem Landeplatz nähern.
Für mich war immer klar: Niemals würde ich mich an einen solchen Schirm hängen und durch die Lüfte kreisen! Der Gedanke daran, hilflos ein paar Hundert Meter über dem Boden zu schweben und dem Können des Piloten ausgeliefert zu sein, ließ mich innerlich erschaudern. Und plötzlich hielt ich diesen Gutschein in den Händen und musste einen inneren Kampf ausfechten. Sollte ich? Sollte ich nicht? Wenn ich es jemals wagen sollte, dann ganz bestimmt nur mit Judith, da ich ihr voll und ganz vertraue.
Obwohl ich immer mehr zu der Überzeugung kam, den Flug wagen zu können, gelang es mir irgendwie nicht, den letzten Entscheidungsschritt zu tun. Schlussendlich verhalf mir Judiths Mann mit einem gut gemeinten Angebot dazu, meinen Gutschein einzulösen. An einem schönen Frühlingstag begegnete ich ihm im Garten. Er meinte ganz unverhofft, dass er Zeit habe, auf unsere Kinder aufzupassen, und seine Frau bereit sei für den gemeinsamen Gleitschirmflug. „Jetzt oder nie!“, dachte ich und wagte den Schritt ins Ungewisse.
Als ich dann oben am Berg stand und wusste, dass ich bald mit der Pilotin zusammen die Wiese runterrennen musste, bis wir keinen Boden mehr unter den Füßen spürten, hätte ich am liebsten kehrtgemacht. Stattdessen befand ich mich eine Minute später in der Luft und fühlte, wie sich ein Vogel fühlen muss. Es war ein schwereloses und doch mächtiges Gefühl; eine Sensation, andächtig und völlig geräuschlos zu schweben. Unten im Tal pulsierte das Leben, der Verkehr, aber hier oben, zwischen Himmel und Erde, herrschte Ruhe und absolut keine Hektik. Die kompetente Stimme meiner Nachbarin, die mir einiges bezüglich Thermik erklärte, verlieh mir Sicherheit und half mir, mich auf die geniale Aussicht zu konzentrieren.
Der Flug dauerte nur fünfzehn Minuten, und in den letzten Minuten wurde mir latent übel. So war ich nach geglückter Landung erleichtert, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben!
Dieses unvergessliche Erlebnis wurde zum treffenden Beispiel für die Tatsache, dass ich in meinem Leben immer wieder an Grenzen stoße. Dann bin ich herausgefordert, mich zu entscheiden, wie ich mit diesen Grenzen umgehe: Kann ich sie überwinden, stoße ich mich an ihnen wund oder akzeptiere ich sie und versöhne mich mit ihnen?
Mit dem Gleitschirmflug war es mir gelungen, eine für mich persönliche Grenze (Angst vor einem Tandemflug) „zu überfliegen“ – mit dem Resultat, mich nach der Landung um eine Erfahrung reicher und ein Stück mutiger zu fühlen!
In einer Welt, in der einem die Gesellschaft gerne glauben macht, dass es keine Grenzen gibt und man alles erreichen kann, wenn man es nur fest genug will, ist es sehr unattraktiv, über Grenzen zu schreiben. „Grenzen sind da, damit man sie überwinden kann! Setz dir ein Ziel und erarbeite eine Methode, um das Hindernis zu entfernen, denn uns halten nur die Grenzen, die wir uns selber setzen!“ Oder: „Grenzen gibt es nur in deinem Kopf“! Das sind einige Mottos unserer Zeit, die Antreiber zur Selbstoptimierung. Aber: Meine Realität und die vieler Menschen um mich herum ist eine ganz andere. Das Leben, die Umstände, unsere Erfahrungen und persönlichen Schlussfolgerungen formen unser Leben und bestimmen, wie weit oder wie eng wir unsere Grenzen setzen oder wie sie uns gesetzt werden. Manchmal gelingt es einfach nicht, sie mit noch so gut gemeinten und motivierenden Ratschlägen zu bagatellisieren oder wegzureden.
Kann ich meine Grenzen überwinden, stoße ich mich an ihnen wund oder akzeptiere ich sie und versöhne mich mit ihnen?
Was sind eigentlich „Grenzen“? „Eine Grenze ist der Rand eines Raumes und damit ein Trennwert, eine Trennlinie oder eine Trennfläche.“ So definiert Wikipedia das Wort „Grenze“. Es ist die Trennung von mein und dein oder von hier und dort, das Ende des einen und der Anfang des anderen. Länder brauchen ihre Grenzen, sie werden dadurch definiert und heben sich dadurch vom Nachbarland ab. So beschreibt es auch der Vers auf der Geburtstagskarte; er steht in einem Kontext, der mit dem Volk Israel und mit ihren Landesgrenzen zu tun hat. David schrieb im Psalm 147,11–14 (LUT):
„Der Herr hat Gefallen an denen, die ihn fürchten, die auf seine Güte hoffen. Preise, Jerusalem, den Herrn; lobe, Zion, deinen Gott! Denn er macht fest die Riegel deiner Tore und segnet deine Kinder in deiner Mitte. Er schafft deinen Grenzen Frieden und sättigt dich mit dem besten Weizen.“
Als ich mich näher mit dem Text befasste, war ich erst enttäuscht, denn es ging ja überhaupt nicht um meine persönlichen Grenzen! Nach und nach entfalteten sich diese paar Verse jedoch zu einer Metapher für mein Leben und ich konnte viele wertvolle Parallelen ziehen. Ich stellte mir vor, wie Gott sein Volk segnete, weil es ihm vertraute und in Ehrfurcht vor ihm lebte. Die Konsequenzen seines Segens waren sichere Stadttore und ein Ort, an dem die Kinder ohne Gefahr aufwachsen konnten. Gott sorgte für Frieden an den Landesgrenzen und für eine ertragreiche Ernte, sodass kein Hunger herrschte. Israel konnte ungestört leben und sein Land bebauen. Da Gott für Frieden sorgte, musste es nicht ständig Energie verschleißen, um gegen seine Nachbarn zu kämpfen. Eine richtige Bilderbuchidylle wird in diesen wenigen Sätzen beschrieben! Wer möchte nicht in einer solchen Stadt, einem solchen Land leben? Dort war Luft zum Atmen und Raum, sich zu entfalten und zu wachsen.
Dabei lebte das Volk Gottes keineswegs ständig in Frieden. Die Israeliten wurden jahrhundertelang von den Ägyptern versklavt. Als Gott sie durch Mose schlussendlich in die Freiheit führte, war noch lange kein Frieden in Sicht. Sie mussten vierzig Jahre warten, um ins verheißene Land einziehen zu können, weil sie eine Grenze überschritten hatten und Gott nicht gehorsam waren. In dieser Zeit wurden sie immer wieder von ihren Feinden angegriffen, denn sobald sie meinten, selber alles im Griff zu haben, und sich von Gott abwandten, zog Gott seine schützende Hand von ihnen zurück. Das war auch später so, als sie als Volk Israel schon in ihrem Land lebten; Gott schenkte Sicherheit und Frieden, wenn sie seine Gesetze achteten und sich innerhalb der Grenzen seiner Gebote bewegten. Gott bot ihnen damit einen sicheren Rahmen, der sie schützen sollte. Diese Abgrenzung machte das Volk zu seinem Volk, das sich durch seinen Glauben und seine Lebensweise ganz klar von anderen Völkern unterschied – es wurde dadurch einzigartig, erhielt eine Identität und einen Auftrag.
Es geht um die heilsame Erkenntnis und versöhnende Wahrheit, dass ich keine Superheldin sein muss. Ich darf sein, wie ich bin!
Friedvolle Grenzen – ein Versprechen Gottes, das auch für mich gilt! Gott hält auch für mich diese Sicherheit bereit und zeigt mir einen Weg, der zu mir und meiner Persönlichkeit passt.
Dank des kurzen Geburtstagsgrußes meiner Schwiegergroßmutter kam bei mir ein innerlicher Prozess in Gang, der durch das Schreiben dieses Buches noch vertieft wurde. Ermutigt durch mein Gleitschirmerlebnis fing ich an, in Gedanken mein „Lebens-Land“ – das heißt meine mir zur Verfügung stehenden Fähigkeiten, Gaben, Stärken, Schwächen und Möglichkeiten – auszukundschaften: die vertrauten Gebiete bis hin zu den Grenzen des Unbekannten, ja sogar über die Grenzen hinaus. Dabei bin ich ganz unterschiedlichen Grenzen begegnet, von denen auch in diesem Buch die Rede sein wird: Dazu gehören die Angst vor Veränderungen oder vor dem Unbekannten, die Zweifel, ob ich Herausforderungen, die mir das Leben stellt, gewachsen bin, oder das Konfrontiertwerden mit den eigenen Schwächen. Es geht um meine Versuche, aus eigener Kraft stark zu sein, ganz so wie eine Superheldin, die auf niemanden sonst angewiesen ist und mit ihren übermenschlichen Kräften sich selbst und die ganze Welt retten kann. Und schlussendlich um die heilsame Erkenntnis und versöhnende Wahrheit, dass ich keine Superheldin sein muss. Ich darf sein, wie ich bin, eben gerade mit meinen Ecken und Kanten, Stärken und Schwächen.
Ich lade dich ein, mich auf der Reise zu den (Un-)Möglichkeiten meines Lebens zu begleiten – auf dem Weg entlang meiner Grenzlinien, hinein ins Land meiner Möglichkeiten, bis hin zu meinen ganz persönlichen Grenzen, die ich je nach Situation störend, schmerzhaft oder schützend empfinde, aber immer im Vertrauen darauf, dass Gott meinen ganz persönlichen Grenzen Frieden schafft.