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6. „Friends forever“ –

umarmen und loslassen

„Freundinnen sind wie Schuhe: Wenn man jung ist, kann man nicht genug davon haben; später stellt man fest, dass es immer die Gleichen sind, mit denen man sich wohlfühlt.“

Marion Kühl

Eine meiner Lieblingsserien heißt „Friends“. Ich habe alle zehn Staffeln schon mehrmals gesehen. Ich kenne die Handlung und die humorvollen Pointen bis ins Detail und muss trotzdem immer wieder lachen, wenn ich sie mir zum x-ten Mal anschaue. In der Serie geht es um sechs Freunde, die in New York leben und arbeiten. Über die Jahre wohnen sie in verschiedenen Formationen zusammen, aber immer entweder im gleichen Gebäude oder gleich nebenan. Sie verbringen praktisch ihre ganze Freizeit zusammen, kennen sich mit der Zeit in- und auswendig. Ihre Charaktere sind total verschieden und doch passen sie irgendwie in die Gruppe und haben dort ihren Platz. Die sechs Freunde können sich überhaupt nicht vorstellen, dass sie einmal nicht mehr so eng zusammenleben würden.

Genauso wie bei „Friends“ stellte ich mir Freundschaften vor: Sie werden geknüpft und dann bleiben die wirklich guten ein Leben lang bestehen. Sie bleiben aber nicht nur bestehen, sondern sind immer genau so, wie sie in den besten Jahren waren: nämlich intensiv, nahe und unzertrennlich. Es wird alles geteilt, zusammen gelacht, gestritten, geweint und versöhnt.

Meine früheste Freundschaft, die bis auf den heutigen Tag besteht, hat mich vieles über Freundschaft gelehrt. Ich lernte Steffi in der fünften Klasse beim Übertritt in die weiterführende Schule kennen. Auf der Schwelle zu den ersten schwierigen Jahren meines Lebens sah ich das schüchterne Mädchen mit den ellenlangen Zöpfen zum ersten Mal. Sofort fühlte ich mich zu ihr hingezogen. Gerne wäre ich ihre Sitznachbarin geworden. Dieser Wunsch erfüllte sich erst im letzten gemeinsamen Schuljahr, aber die Freundschaft entwickelte sich schon früher. In der Zeit, in der ich schulisch Mühe hatte, mich oft unsicher und von anderen abgelehnt fühlte, war Steffi für mich die Person, bei der ich einfach ich selber sein konnte. Wir erlebten viel zusammen und unterhielten uns über alles. Für mich war klar: Das bleibt für immer so!

Als ich meine Ausbildung zur Pflegefachfrau begann, kamen vier weitere Freundinnen dazu. Mit Katja, Helene, Margret und Sara verband mich einerseits die gemeinsame Ausbildung und die Zeit in der Berufsschule, andererseits aber auch die Tatsache, dass wir alle an Jesus glaubten und ähnliche Interessen hatten. Wir lebten in verschiedenen Konstellationen zusammen, sei es im Schwesternwohnheim oder in Wohngemeinschaften. So begann unsere eigene Staffel von „Friends“. Das Schönste für mich war, dass Steffi sich in diese Gruppe integrierte und bis auf den heutigen Tag auch noch Kontakt zu zwei meiner Freundinnen hat. Mein Glück war perfekt! Ich sah bereits innere Bilder vor mir, wie wir später einmal mit unseren Männern und Kindern die Sonntage zusammen verbringen und unzertrennlich alle Zeiten überdauern würden. Ich hätte alles gerne genau so beibehalten, wie es während dieser intensiven Ausbildungsjahre war. Ich umarmte das Leben mitsamt meinen Freundinnen und hatte nicht vor, sie jemals wieder loszulassen.

Ich umarmte das Leben mitsamt meinen Freundinnen und hatte nicht vor, sie jemals wieder loszulassen.

Aus dieser Zeit bewahre ich unauslöschliche Erinnerungen in meinem Herzen. Im ersten Urlaub ohne meine Eltern machten Steffi und ich uns als naive siebzehnjährige Teenies mit Zug und Zelt auf in die Sonnenstube der Schweiz – ins Tessin. Unsere Rucksäcke waren so schwer, dass wir sie fast nicht tragen konnten. Das Zelt, von Freunden ausgeliehen, wurde uns beim Aufstellen zu einem Buch mit sieben Siegeln. Wir konnten es einfach nicht richtig aufbauen. Irgendwann gaben wir auf und dachten: „Was soll’s! Wir sind im Süden und somit in der Sonne! Was macht es da schon aus, wenn das Außenzelt das Innenzelt berührt? Es wird ja eh nicht regnen.“ Was soll ich sagen? Während unseres mehrtägigen Campingausfluges regnete es ohne Unterlass! Nachts tropfte es ins Zelt, nämlich überall dort, wo das Außenzelt das Innenzelt berührte. Alle nächtlichen Rettungsaktionen waren vergeblich.

Mit Sara verband mich die gemeinsame Gabe der Kreativität. In den vielen teilweise langweiligen Unterrichtsstunden gestalteten wir oftmals ein Parallelprogramm nur für uns beide. Albert Einstein formulierte einmal: „Kreativität ist Intelligenz, die Spaß hat.“ Immer dann, wenn unsere Intelligenz nicht mit dem Unterrichtsstoff gefördert wurde, begann Sara zu zeichnen und ich zu schreiben. So entstanden ganze Comichefte und diverse illustrierte Geschichten.


Es gibt zahlreiche solche Erinnerungen, die mich mit teils warmen, teils amüsierten Gefühlen auf unsere „Friends“-Jahre zurückblicken lassen. Auch wir waren alle verschieden, und trotzdem passten wir zusammen. Meine Freundinnen kannten meine Stärken und meine Macken. Sie wussten um die lästige Angewohnheit, meine Teetassen immer mit einem Rest Tee herumstehen zu lassen, oder um meine Neigung, Dinge einfach herumliegen zu lassen und sie nicht wegzuräumen.

Irgendwann begriff ich aber, dass unsere Freundschaften nicht für immer auf diese Art bestehen bleiben würden. Passend dazu schreibt Salomo im Predigerbuch:

„Jedes Ereignis, alles auf der Welt hat seine Zeit: Geborenwerden und Sterben, Pflanzen und Ausreißen, Töten und Heilen, Niederreißen und Aufbauen, Weinen und Lachen, Klagen und Tanzen, Steinewerfen und Steinesammeln, Umarmen und Loslassen, Suchen und Finden, Aufbewahren und Wegwerfen, Zerreißen und Zusammennähen, Schweigen und Reden, Lieben und Hassen, Krieg und Frieden“ (Prediger 3,1–8).

Das Wort, das in diesem Bibeltext immer wiederholt wird, ist „und“. Dieses Wort kündet etwas Kommendes an, die Geschichte geht weiter, erzählt von mehr. Das „und“ kommt mir vor wie Klebstoff, der zwei Worte oder Sätze zusammenhält. Ohne dieses Wort würde der Satz abgehackt, nicht fließend wirken. Manchmal wäre der Sachverhalt eines Satzes ohne dieses Wort viel einfacher. Salomo hat es im Buch des Predigers auf den Punkt gebracht: Alles hat seine von Gott gegebene Zeit, es folgt immer ein „und“, wenn eine Zeit zu Ende geht. Wie gerne nähme ich nur den schönen Teil vor dem „und“: das Lachen, Einpflanzen, Reden, Tanzen und das Sich-Umarmen!

In der zehnten Staffel der „Friends“-Serie kommt es genau zu einem solchen Und. Die Freunde, inzwischen verheiratet oder schon mit Familie, mussten sich trennen. Ein neues Kapitel ihres Lebens begann. Die Serie nahm dort ihr Ende, aber ich stellte mir vor, wie sie sich trotzdem hin und wieder trafen, einander aus ihrem Leben erzählten und sich über alte Zeiten austauschten. Aber eben nicht mehr in dieser Regelmäßigkeit oder Intensität. Sie mussten einander loslassen, damit jeder seines Weges ziehen konnte.

Bei uns Freundinnen begann das Loslassen mit arbeitsbedingten Wegzügen. Zuerst zog Steffi weg. Sie ging erst ans andere Ende der Schweiz, später dann ins Ausland, lernte neue Leute kennen und knüpfte Freundschaften. Plötzlich erlebte Steffi, mit der ich doch immer alles zusammen geteilt hatte, andere Dinge als ich. Meine langjährige Freundin entwickelte ihre Persönlichkeit weiter, ohne dass ich dabei war. Ich kann mich gut erinnern, wie ich diese Tatsache anfänglich als Bedrohung erlebte. Ich fühlte mich ihr manchmal so fern, dass ich mir sicher war, diese Freundschaft würde nicht überleben. Ich hatte Angst, Steffi als Freundin zu verlieren. Die sicheren Grenzen unserer Freundschaft wurden ausgeweitet. Ich musste bereit sein, den geliebten Menschen ziehen zu lassen, im Vertrauen darauf, dass ihre Erlebnisse während der vielen Jahre im Ausland und meine Erlebnisse in der Schweiz uns nicht voneinander entfremden, sondern unsere Freundschaft bereichern würden.

Nach dem Abschluss unserer Ausbildung zur Pflegefachfrau zog es auch uns fünf verbleibende Freundinnen jede in eine andere Richtung. Wir alle wollten unser eigenes, uns zur Verfügung stehendes „Lebens-Land“ erkunden und in Besitz nehmen. Jede von uns nahm ihr Leben in die Hand und begann es zu formen, so wie wir den Eindruck hatten, dass es Gott gefiel.

Im Buch Prediger schreibt Salomo auch, dass es keinen Sinn ergibt, sich gegen den göttlichen Lauf der Dinge zu stemmen oder sich darüber aufzuregen: „Für alles auf der Welt hat Gott schon vorher die rechte Zeit bestimmt. In das Herz des Menschen hat er den Wunsch gelegt, nach dem zu fragen, was ewig ist. Aber der Mensch kann Gottes Werke nie voll und ganz begreifen“ (Prediger 3,11). So scheint mir dieser tiefe, innige Wunsch nach immer gleichbleibender Nähe zu meinen Freundinnen ein solcher Versuch, etwas ewig festzuhalten. Doch durch die sich verändernde Beziehung zu meinen Freundinnen habe ich lernen dürfen, dass ich das, was ich liebe, loslassen muss. Denn durch den Versuch, krampfhaft in der Umarmung zu verharren, habe ich die Hände nicht mehr frei, um das sich verändernde Leben zu umarmen und ein Ja dazu zu finden. Sonst erstarre ich in der Vergangenheit und merke nicht, dass das, was ich an mich binden will, schon lange weitergezogen ist.

Das, was ich liebe, muss ich loslassen. Sonst habe ich die Hände nicht mehr frei, um das sich verändernde Leben zu umarmen und ein Ja dazu zu finden.

Dank dieses Lernprozesses sind wir trotz Distanz und verschiedener Lebensumstände bis zum heutigen Tag Freundinnen geblieben, zwar nicht mehr gleich intensiv, aber immer noch gleich herzlich! Mit einigen Freundinnen treffe ich mich regelmäßig, mit anderen eher selten. Doch einmal im Jahr lassen wir eine Episode „Friends“ bei uns aufleben und treffen uns für ein Wochenende in einem Ferienhaus. Dieses Beisammensein empfinde ich immer so, als hätten wir unsere intensive Ausbildungszeit erst gestern und nicht vor mehr als einem Jahrzehnt abgeschlossen. In solchen Momenten wird mein Traum von „für immer und ewig“ für kurze Zeit wahr und meine Seele tankt viele kostbare Momente auf. Tiefe oder lustige Gespräche, Austausch und Anteilnahme, zusammen spielen und essen – all das macht diese zwei Tage im Jahr zu einem kostbaren Schatz.

Und weil das Leben ein Prozess und kein Zustand ist, kommt auch am Sonntag dieses Wochenendes wieder der Moment des Loslassens. Inzwischen mache ich mich nicht mehr mit Bedauern über diese, wie mir scheint, zu kurze Zeit des Zusammenseins auf den Heimweg. Im Gegenteil, ich kehre mit Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit und gestärkt für meinen Alltag zu meiner Familie zurück.

„Umarmen und loslassen“ ist nicht nur eine Lektion, die ich mit meinen Freundinnen gelernt habe, sondern auch mit meiner Familie. Alle Jahre wieder dürfen wir im Sommer meine Schwiegereltern aus Peru willkommen heißen; das ist eine riesige Freude für unsere Kinder und für uns Erwachsene. Einmal im Jahr erleben wir eine geballte Ladung elterlicher-großelterliche Liebe und Aufmerksamkeit, bevor sie dann wieder für ein weiteres Jahr in ein Flugzeug nach Peru steigen. Auch meine Schwester lebt mit ihrer Familie im Ausland. Ich sehe sie nur einmal im Jahr, meistens auch im Sommer. Und so geht es in den Sommermonaten für unsere Familie nicht nur klimatisch, sondern auch emotional heiß her. Die Zeit vergeht dann wie im Flug und die Sommerferien gehen nicht nur schnell, sondern in Lichtgeschwindigkeit zu Ende.

Wir möchten immer möglichst viel Zeit zusammen verbringen und die gemeinsamen Momente und Erlebnisse umarmen, damit sie uns noch lange in Erinnerung bleiben. Doch jedes Jahr kommt der Tag des Abschiednehmens. Das ist dann der Moment der Tränen, des Verlustgefühls, des Wunsches, dass es doch anders wäre. Ich weiß dann zwar, dass das Umarmen vorbei ist. Trotzdem möchte ich mich festklammern. Doch irgendwann akzeptiere ich, dass es an der Zeit ist, mich aus der Umarmung zu lösen.

Abschied nehmen hat für mich viel mit Vertrauen zu tun. Vertrauen in das Leben, dass es auch wieder ein Umarmen geben wird, Vertrauen in Gott, dass er die Lücke, die entsteht, ausfüllt und Trost spendet. Vertrauen in die Beziehung, dass sie der Distanz standhält und trotz der Entfernung an Nähe gewinnt. Jedes Jahr muss ich mich aufs Neue für dieses Vertrauen entscheiden und dafür, dass Loslassen kein Verlust ist, sondern ein Gewinn. Und ich mache die Erfahrung, dass nur durch das Loslassen die Arme frei werden – frei für eine neuerliche Umarmung.

Hilfreich fand ich in diesem Zusammenhang – zugegebenermaßen erst nach längerem Überlegen – weitere Verse aus Salomos Predigerbuch:

„So kam ich zu dem Schluss, dass es für den Menschen nichts Besseres gibt, als fröhlich zu sein und das Leben zu genießen. Wenn er zu essen und zu trinken hat und sich über die Früchte seiner Arbeit freuen kann, ist das Gottes Geschenk. Ich begriff, dass Gottes Werk für immer bestehen wird. Niemand kann etwas hinzufügen oder wegnehmen. So hat Gott es eingerichtet, damit die Menschen Ehrfurcht vor ihm haben“ (Prediger 3,12–14).

Als ich diesen Abschnitt zum ersten Mal las, klang er für mich ein bisschen sehr fatalistisch. Was meinte Salomo damit? Soll ich mich dem Schicksal ergeben und tatenlos zusehen, wie sich die Welt dreht? Oder denkt Salomo ganz egoistisch, so nach dem Motto: „Hauptsache, mir geht’s gut!“?

Alles hat seine Zeit und ich kann mit meinen Sorgen weder etwas hinzufügen noch wegnehmen. Deshalb bin ich aufgefordert, die aktuelle Lebensphase zu bejahen.

Schlussendlich kam ich zur Überzeugung, dass uns Salomo ermutigt, in der Gegenwart zu leben. Wenn es so ist, dass alles seine Zeit hat und ich mit meinen Sorgen weder etwas hinzufügen noch wegnehmen kann, dann bin ich aufgefordert, die aktuelle Lebensphase zu bejahen. Wenn ich also gerade in einer Phase des Umarmens bin, dann soll ich dies mit ganzem Herzen tun und genießen. Wenn sich dann aber das Loslassen ankündigt, dann bin ich genauso aufgefordert, dies zu akzeptieren und als Teil des Lebens zu sehen. Ich bin keine unverwundbare, ewig lebende Superheldin und meine Lebenszeit ist begrenzt. Mit dieser Einstellung wird mein Blick plötzlich weit, denn ich nehme nichts als für „immer“ gegeben. Ich akzeptiere, dass nichts auf dieser Welt ewig dauert und dass immer irgendwann ein „und“ kommt: die Zeit für Veränderung, eine neue Phase, ein „Ja“ zum Loslassen.

„Alles hat seine Zeit.“ Mit den Augen Salomos betrachtet sind die Grenzen „Veränderungen“ dann nicht mehr bedrohlich, sondern sie machen mich dankbar für das, was ich habe, und lassen mich vertrauensvoll loslassen!

Die Welt braucht keine Superheldin

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