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V.

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Fast zwei Monate war es jetzt schon wieder her, als Jakob ausgezogen war, aus seinem Leben ausgebrochen war, nachdem er sich zuvor noch ein letztes Mal mit Gisela getroffen hatte und wie ein Kreisel über eine von diesen mörderischen Wendeltreppen in das pseudobarocke Kaffeehaus in der Innenstadt gekreiselt war, um dann mit seiner Frau, an einem dieser alten Tische auf einem verschnörkelten Stuhl sitzend, eine Tasse starken Kaffee zu trinken, weil Gisela zu dieser Zeit nur mehr starken Kaffee vertrug, alles andere half ihr nicht mehr. Auf diesem Stuhl in jenem Kaffeehaus sitzend, war dann so vieles in ihm aufgebrochen, so vieles, das er Gisela gerne gesagt hätte und noch immer gerne sagen würde. Immer noch. Und doch fand er nicht die richtigen Worte dafür, niemals konnte er sie finden, weil es die richtigen Worte dafür nicht gab, die Worte, die für das, was er ihr sagen mochte, richtig waren, keine banalen und schlechten Floskeln, sondern Worte, die die Magie um das, was er ihr so gerne sagen mochte, nicht zerstörten, nicht verstörten.

Es müssten Worte sein, die es nicht gibt, hatte Jakob traurig gedacht, und hätte man zu diesen Worten finden können, die es nicht gibt, so wäre er sie in diesem Moment suchen gegangen.

Aber so war wieder nur ein Geschehnis, eine Episode zu Ende gegangen, so wie jede Episode immer einmal zu Ende geht. Und das würde er allen erzählen, die es hören wollten.

Wenige Tage später war er dann ganz alleine mit seinen Koffern und Reisetaschen zwischen den Umzugskisten in seiner neuen Wohnung gestanden. Und mit einem großen und ungestillten Hunger nach Verständnis im Bauch.

Die Einsamkeit war so überwältigend, dass ihm fast übel wurde und er die Tränen unterdrücken musste, um nicht auf der Stelle loszuheulen. In diesem Augenblick wollte er nur mehr nach Hause, wollte er unbedingt nach Hause, um dort Gisela so dicht an sich gedrückt zu spüren. So dicht wie noch nie in seinem Leben, nicht einmal wie nach Nurits Geburt. Er wollte zu seiner Familie nach Hause gehen, weil er immer nach Hause gehen wollte, weil er bei seiner Familie zu Hause sein wollte, weil seine Familie sein Zuhause war.

Aber es gab keine Familie mehr, weil er seine Frau verlassen hatte und damit auch sein totes Kind verlassen hatte und weil er dann auch noch Judith bei Clara gelassen hatte. Bei Clara, die keine eigenen Kinder hatte, weil mit ihrer Fruchtbarkeit etwas nicht stimmte, aber sie hatte sich immer so sehr Kinder gewünscht, die sie hätte wiegen können, die sie hätte lieben können. Sie war bestimmt eine gute Ersatzmutter, zumindest das war ein kleiner Trost.

Mittlerweile, dachte Jakob, hat sie sich wohl damit abgefunden, keine eigenen Kinder bekommen zu können, denn mittlerweile war sie mit ihren neununddreißig Jahren vielleicht schon zu alt für eigene Kinder.

Zumindest, so vermutete Jakob, redete sie sich das wahrscheinlich ein.

Und dann war plötzlich die kleine Judith für sie da. Für alle war die Situation am Anfang schwierig gewesen: Judith war verwirrt und ängstlich gewesen, Jakob am Boden zerstört, Peter hatte die ganze Szenerie mehr oder weniger ignoriert und sich empfohlen, und Clara wusste im Grunde genommen gar nichts. Es war ein einziges Desaster.

Doch dann blickte Clara in das kleine Gesicht des Mädchens, und in diesem Blick war mit einem Mal eine so tiefe, eine so innige Zuneigung gelegen zu diesem fremden Kind, das ihr eigenes hätte sein können, und sie sagte Jakob zu, für Judith zu sorgen.

Vorübergehend, wie Jakob betonte, als er sie in ihre Arme schloss und sie auf die Wange küsste, nur vorübergehend. Bitte.

Es dauerte nicht lange, da hatte Clara das Kind ganz tief und fest in ihr Herz geschlossen, wo sie es hegte und wo sie es pflegte, als wäre es ihr eigenes Kind, das sie jetzt endlich wiegen konnte, das sie jetzt endlich lieben konnte. Auch Judith war sicher gerne bei diesen netten Leuten, vermutete Jakob, sie liebte wahrscheinlich Clara und Peter und deren schicke Wohnung in einer dieser ruhigen Randbezirke schon über alles und vielleicht sogar bereits schon mehr als ihre eigenen Eltern. Und irgendwie hatte sie ja auch recht. Trotzdem musste Jakob bei diesem Gedanken weinen. Er fürchtete sich vor dem Tag, an dem Clara ihm Judith ganz wegnahm, an dem sie ihm Judith aus ihrem Leben nahm, ihm damit alles nahm.

Als Jakob jetzt an seinen Auszug vor zwei Monaten dachte, mit dem er sein Leben ändern wollte und doch nur feige aus seinem Leben ausgebrochen war, schnürte es ihm die Kehle mehr und mehr zu. Die Gedanken daran kamen meistens in der Nacht, da suchte er dann so ganz und gar traumverloren unter seinem Federbett nach Gisela, suchte ihre Haut auf seiner Haut und griff doch nur ins Leere, fand weder seine Frau noch ihre Haut, fand nur Nacht, tiefe dunkle, schwarze Nacht.

Er dachte daran, wie er seiner älteren Tochter, nachdem Nurit auf der Welt gewesen war und Judith angefangen hatte, sich für Märchen zu begeistern, Abend für Abend aus Tausendundeiner Nacht vorgelesen hatte, einer alten Buchausgabe, die er auf einem Flohmarkt zwischen anderen alten und weniger alten Büchern gefunden und gekauft hatte. Jeden Abend – und das war ihr gemeinsames Zeremoniell gewesen – war er dann vor dem großen Bücherregal auf der linken Seitenwand im Wohnzimmer geheimnisvoll stehen geblieben und hatte die erwartungsvollen Blicke von Judith im Rücken gespürt, die bereits in ihrem Zimmer im Bett gelegen und ihrem Vater durch die Verbindungstür ins Wohnzimmer zugesehen hatte. Dann hatte er jedes Mal mit einer ungemein langsamen Bewegung, als überlegte er, welches Buch er nehmen sollte, einen dicken alten Band herausgezogen, der schon so abgegriffen war, dass er sogar dort, wo die Abnutzungen waren, gelblich vergilbt war und ein bisschen säuerlich schmeckte, wenn man daran roch.

Tausendundeine Nacht, hatte Jakob dann immer zärtlich über den Buchumschlag zu Judith hin gehaucht und verheißungsvoll entrückt gelächelt, und mit dieser Tausendundeinen Nacht in seiner Hand hatte er sich dann neben seine Tochter auf den Bettrand gesetzt und begonnen, ihr darin vorzulesen, bis sie von den Geschichten müde geworden und eingeschlafen war.

Ihm selbst hatte als Kind niemand Geschichten vorgelesen, damit er besser schlafen konnte, und schon als kleiner Junge hatte er es sich zu seinem heiligen Gebot gemacht, genau das bei seinen eigenen Kindern, sollte er jemals welche haben, anders zu machen, nämlich richtig zu machen. Erst viel später hatte er verstehen können, dass seine Eltern mit ihren sechs Kindern die Kraft und Energie andernorts gebraucht hatten, und er verzieh ihnen. Sein Vorsatz, bei seinen Kindern das richtig zu machen, was seine eigenen Eltern bei ihren Kindern verabsäumt hatten, war dennoch geblieben, obwohl er schlussendlich doch daran scheitern sollte.

Er musste Judith wieder zu sich holen! Aber würde sie es wollen? Was, wenn er ihr fremd geworden war, hatte sie doch schon so viel mitgemacht in ihrem kurzen kleinen Mädchenleben. Was würde sie wohl von ihm denken? Dass er feige war? Ein Narr?

Jakob verbot sich solcherlei Gedanken, musste doch gerade er jetzt stark sein und dem kleinen Mädchen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben. Zwar vertraute er Clara von tiefstem und ganzem Herzen, doch war es seine Aufgabe, für seine Tochter zu sorgen. Und auch seine Verantwortung als guter Vater, der er Judith sein wollte. Es würde nicht einfach sein, aber er musste es zumindest versuchen, musste seine Familie – oder was noch davon übrig war – wieder auf gesunde Beine bringen, musste alles versuchen und durfte nichts, aber schon gar nichts dabei verabsäumen, ermahnte er sich streng. Er würde kämpfen, würde alle Kämpfe in und um sich mutig zu Ende kämpfen und niemals aufgeben. Niemals. Nie.

Und wenn er dennoch verlieren würde, dann hätte er zumindest alles verloren.

Narziss und Narzisse

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