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II.

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In diesem Augenblick ging draußen, schon weit entfernt, Jakob durch die Gassen wie ein gehetztes Tier, lief fast, weil er sich fürchtete, weil er sich vor dem Nachtwerden fürchtete, weil dann die Albdrücke in sein Leben kamen wie welke Blätter. Wie schwarze tote Blütenblätter. Und der Nebel in dieser Jahreszeit war wie ein weißer, schweigender Dunst und die Stille wie ein tiefer Seufzer. Doch kein Mond. Aber diese fürchterlichen Schatten überall, sie schienen nicht mehr aufzuhören, schienen noch zusätzlich ihre eigenen Schatten vor sich hinzuwerfen. So viele Bilder in seinem müden Kopf. Er fühlte ein so großes Fehlen von Gisela in sich, und mit erstickten Tränen in seinen Augen stauten sich all seine Worte in seinem Hals.

Ein Tropfen zerrann auch in seinem Mund.

Dann fing sein Herz wieder an zu schmerzen, und er begann sich zu dehnen. Sich auszudehnen. Die langen Dunkelheiten in den Gassen gaben ihm Gelegenheit dazu. Ohne Licht und ohne Farbe folgte ein Schritt dem nächsten Schritt, Schritt auf Schritt. Und Schritt auf Schritt überkam ihn eine Einsamkeit, von der er nur mehr fort wollte und ihr doch nicht entkam.

Sein Kind war tot und seine Frau wahnsinnig geworden. Er hatte seine Frau verlassen. Er hatte sein totes Kind verlassen. Und Judith hatte er daraufhin auch noch im Stich gelassen. Weil er zu schwach für diese harte Prüfung in ihrem gemeinsamen Leben war und als Ehemann und Vater kläglich versagte.

Daran dachte er, als er jetzt seine Schritte, Schritt für Schritt, aneinanderreihte wie bei einer bleiernen Prozession, er dachte daran, wie er seine Frau verlassen hatte, wie er sein totes Kind verlassen hatte und wie er dann Judith bei Clara, einer entfernten Verwandten, gelassen, zurückgelassen hatte.

Nur vorübergehend, wie er betont hatte, es sollte nur vorübergehend sein, dass die Kleine bei dir leben kann, nur so lange, bis das Ärgste vorüber ist, und mach dir bitte keine Sorgen wegen des Geldes, das schicke ich dir wöchentlich, nur so lange, nur so lange darf die Kleine doch bei dir bleiben, nur so lange, bis das Ärgste dann endlich vorüber ist.

Das Geld hatte er ihr wöchentlich geschickt. Aber sehr viel mehr hatte er sich nicht um Judith bemüht.

Daran dachte er, als er jetzt mit dieser Furcht im Nacken und dem Stich im Herzen durch die Gassen in seine neue kleine Mietwohnung im Stadtzentrum ging, in die er sich, nur ein paar Straßen von der alten entfernt, nach der Trennung eingemietet hatte, die ihm aber auch keine Zuflucht mehr geben konnte, weil er ein kläglicher Versager war, den niemand, nicht einmal er selbst, mehr brauchte. Daran dachte er, als er jetzt sozusagen nach Hause ging, in ein Zuhause, in dem das Schweigen so schmerzhaft an den Wänden hing. In dieses Schweigen ging er direkt hinein. Es war sein Leiden. Sein Leiden für immer.

Gisela, seine große Liebe im Leben, sie war ihm so nahe und dann auch schon fort, einfach davongeglitten, aus den Fingern geglitten wie ein Fisch, den man mit bloßen Fingern fangen will. Das war ihre Krankheit, Giselas Gemütskrankheit, die sie einander fremd werden ließ. Daraufhin hatte er sie verlassen, feige hatte er seine Frau verlassen, feige hatte er auch sein totes Kind verlassen, und noch feiger hatte er Judith bei Clara gelassen, doch am feigsten hatte er seine Frau alleingelassen, hatte sie mit ihrem schweren Kummer im Stich gelassen. Und dabei wollte er doch einfach nur bei ihr sein und mit ihr sein, so wie früher, als ihr Leben noch in Ordnung war. Ein ungeheuerlicher Schmerz bohrte sich durch seine Brust, als er nach Luft rang, um sein Leben rang.

Plötzlich zog über ihm der Abendhimmel zu, und mit einem Mal gab es ein heftiges Gewitter, eine Explosion von einem Donnerwetter, das die Erde zittern ließ und die Luft mit grellen, hellen Blitzen verbrannte. Gerade rechtzeitig konnte sich Jakob noch unter einem Vordach in Sicherheit bringen.

Sein Kind war tot und seine Frau wahnsinnig geworden. Er hatte seine Frau verlassen und hatte damit auch sein totes Kind verlassen. Dann hatte er auch noch Judith bei Clara gelassen. Was ihm jetzt noch blieb, war einzig sein eigenes Leben. Und von diesem Leben blieb ihm nichts. Nichts. Außer diesem Stechen in seinem Herzen, das immer heftiger wurde und ihn ängstigte. Schon wieder Angst. Unsagbare Angst. Warum konnte er nicht endlich einmal so stark wie ein Mann sein, warum musste er so ein schrecklicher Schwächling sein, so ein Verlierer, ein verdammter Narr.

Er war der Narr und wusste, dass er als Narr ein echter Dummkopf war.

Von diesem Zeitpunkt an hasste er sich sehr.

Narziss und Narzisse

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