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III.

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Ein paar Kilometer weiter zurück schaukelte sich die kleine Judith in einem großen Fernsehschaukelstuhl in ihrer kleinen Welt bei Clara, dieser netten Tante mit dem lieben Lächeln im Gesicht, vor und zurück, während sie sich einen Kinderzeichentrickfilm über Tiere im Fernsehen anschaute. Es war schon richtig spät, und trotzdem durfte sie noch auf sein. Das war wunderbar, denn das hatte sie zu Hause bei ihren Eltern früher nie dürfen. Draußen trommelte Regen gegen die Fensterscheiben, und auf den hübschen Vorhängen davor blühten kleine feine Margeriten. Das sah so schön aus, fand Judith, aber noch viel schöner waren die Vorhänge im Gästezimmer, das nun ihr Zimmer war, da wuchsen nämlich große gelbe Sonnenblumen auf grünem Untergrund, und das alles sah dann aus wie eine wunderschöne Sommersonnenblumenwiese.

Jetzt ist er tot, rief sie entzückt aus, als der böse Straßenköter in dem Kinderzeichentrickfilm, den sie gerade anschaute, in eine Falle geriet, die zuschnappte, als er einmal kurz nicht aufpasste. Tot war er trotzdem nicht, denn tote Tiere gab es in diesen Kinderzeichentrickfilmen nicht, die Clara der kleinen Judith zu schauen erlaubte.

Clara war eine so nette Frau, dachte Judith, als sie ihr kleines Händchen in die Schüssel mit den Keksen führte, so groß und so gescheit, wenn sie mit ihrer tiefen Stimme etwas sagte, so ernst und dann wieder lustig, wenn sie lachte, denn wenn sie lachte, dann warf sie den Kopf in den Nacken zurück und lachte lauthals heraus. Am schönsten aber fand Judith Claras Haar, das locker und weich über ihren Rücken fiel, wenn sie es bürstete und Judith ihr dabei zusehen durfte. Dann würde sie sich am liebsten hineinwühlen in diese Wellen ihres weichen Haares wie in ein Wasser, das sie ja auch so sehr liebte. Denn Judith liebte viele Dinge auf der Welt, da waren ihre hübschen Spielsachen, allen voran natürlich ihre Lieblingspuppe Berta mit dem blonden Puppenkopf und den blauen Augen, da waren aber auch all die Süßigkeiten, die sie niemals essen konnte, weil es viel zu viele waren und ihr dann bestimmt übel wurde, da waren lustige Kinderzeichentrickfilme, die liebte sie heute am meisten – und da war Clara mit ihrem wunderschönen Haar, die immer so nett zu ihr war, und ihre Mutter, der es nicht so gut ging, weil das kleine Schwesterchen so plötzlich gestorben war, und da war ihr Vater, den liebte sie heute nur ein bisschen, weil er sie weggegeben hatte, das verzieh sie ihm nicht. Wenn sie daran denken musste, und das kam immerhin öfter vor, als sie wollte, dann kamen ihr die Tränen in die Augen, weil sie es als eine Gemeinheit empfand.

Richtig gemein, schimpfte sie in den Fernseher hinein und stopfte sich eine Handvoll Kekse in den kleinen Mädchenmund.

Warum ist der doofe Straßenköter nicht endlich mausetot, schimpfte sie weiter, als der doofe Straßenköter im Kinderzeichentrickfilm blöde vom Bildschirm grinste, bis ihm die Spucke aus den Mundwinkeln sabberte.

Immer wenn sie an ihren Vater und an diese große Gemeinheit von ihm denken musste, wurde sie zornig auf sich und auf die ganze übrige Welt, und immer kamen diese Gedanken so ganz plötzlich in ihren Kopf. Sie kamen ohne Vorwarnung, sie waren einfach da. Sie kamen, wenn sie fernschaute, sie kamen, wenn sie naschte, sie kamen, wenn sie Clara beim Haarebürsten zuschaute, und sie kamen, wenn sie mit ihren vielen hübschen Spielsachen spielte. Und das empfand sie dann auch wieder als eine große Gemeinheit, weil sie diese Wut in sich ja gar nicht mochte, sie fühlte sich schlecht dabei und würde viel lieber froh und heiter über lustige Dinge lachen und nicht mehr wütend sein.

Alles war so eine große Gemeinheit, und doch liebte sie die »Tante« sehr, so nannte sie Clara nämlich insgeheim, obwohl Clara ihr erklärt hatte, dass sie keine Tante sei, bloß die Clara, so hatte sie gesagt, aber Judith gefiel der Gedanke an eine liebevolle Tante, das gab ihr eine gewisse Sicherheit, nachdem sie ihr Vater im Stich gelassen hatte.

Und auch ihre Mutter.

Aber die war ja krank, weil ihr ja schließlich Judiths Schwesterchen im Schlaf einfach gestorben war. Ihr Vater jedoch – was hatte der schon damit zu tun, der wusste ja nicht, was das bedeutete, wenn einem das Schwesterchen einfach so von einer Minute auf die andere wegstirbt und man keine Spielgefährtin mehr hat zum Puppenspielen oder zum lustige Hüpfliedersingen, obwohl die kleine Schwester eigentlich noch viel zu klein war zum Puppenspielen und zum Hüpfliedersingen, aber trotzdem war sie da und schaute Judith zumindest aus ihren Babyaugen zu, wie diese mit den Puppen spielte und ihre Hüpflieder sang. Was wusste ihr Vater schon, was Judith das bedeutete! Feige war er, jawohl! Und ein feiger Mann ist ein Narr. Er war der Narr. Weil er als Narr der Dummkopf war.

Judith wollte nicht mehr länger den Kinderzeichentrickfilm über Tiere im Fernseher anschauen, sie wollte lieber rausgehen und mit den anderen Kindern draußen auf der Straße spielen. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass es schon viel zu spät dafür war und es immer noch vom Himmel regnete wie aus vollen Kübeln. Sie ging zum Fernseher und legte einen anderen Kinderfilm ein, der von einem kleinen Mädchen handelte, das nicht in die Schule gehen wollte und stattdessen viele Abenteuer erlebte. Das war spannend. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte Judith die Geschichte von dem abenteuerlustigen Schulmädchen auf dem Fernsehbildschirm. Dabei vergaß sie ganz, im Fernsehschaukelstuhl zu wippen.

Unwillkürlich musste sie daran denken, wie ihr Vater, kurz nachdem ihr Schwesterchen am Tag der Sommersonnenwende auf die Welt gekommen war, ihr die Geschichte von der klugen Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht erzählt hatte, wie diese den persischen König Schahrayâr durch ihre Erzählungen von Sindbad, dem Seefahrer aus Bagdad, von Ali Baba und den vierzig Räubern mit ihren kostbaren Schätzen, vom Kalifen Harun al-Raschid mit seinem indischen Elefanten und von Aladin mit der Wunderlampe über tausend und eine Nacht hindurch überlistete und auf diese Weise überlebte.

Das hatte so unglaublich spannend geklungen, so etwas wollte auch Judith unbedingt einmal erleben, wollte einen Geist wie Dschinn von Aladins Lampe haben, der ihr immer half, wenn sie Hilfe brauchte, und wollte vierzig Räuber wie Ali Baba haben, die ihr ebenfalls halfen, wenn sie Hilfe brauchte, wollte dann unbedingt irgendwann einmal einen knallebunten Elefanten aus Indien haben und dabei wollte sie so schlau wie Scheherazade sein, die bestimmt genauso schönes Haar wie Clara hatte.

Und mit dem eisernen Ehrenwort eines Kindes gab sich Judith das Versprechen, genauso tapfer und mutig und klug zu sein wie Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht und niemals so feige und dumm wie ihr Vater, dieser Narr, der sie im Stich gelassen hatte, als sie ihn am notwendigsten gebraucht hätte. Trotzdem hatte er ihr nach Nurits Geburt jeden Abend aus Tausendundeiner Nacht vorgelesen, wenn sie schon schlaftrunken im Bett gelegen war, dann blieb er zuerst immer vor dem großen Bücherregal auf der linken Seitenwand im Wohnzimmer stehen, richtig geheimnisvoll war das immer, wenn er dort stand und ihn Judith durch die Verbindungstür dabei beobachtete, wie er überlegte und dann nach einem Buch im Bücherregal fischte.

Tausendundeine Nacht, sagte ihr Vater dann immer sanft zu Judith hin, und sie klatschte entzückt in die Hände und freute sich sehr.

Warum konnte es das jetzt nicht mehr geben, fragte sie sich mit einem tief gefurchten Grübeln in der Stirn, das ihr das Aussehen einer reifen Frau verlieh, die alle Erfahrungen im Leben bereits gemacht zu haben schien und die sozusagen nichts mehr erschüttern konnte. Aber, und das unterschied Judith mit dieser weltgewandten erwachsenen Frau in ihrer kleinen Stirn, sie wusste leider keine Antwort darauf, und niemand konnte sie ihr geben, die Antwort auf diese Frage, die sie so unbedingt brauchte, um zu verstehen, was ihre Eltern zu solchen Entschlüssen gebracht hatte.

Im Fernsehen spielte das kleine Mädchen, das nicht in die Schule gehen wollte, gerade mit Hasen, und unwillkürlich verfolge Judith das Geschehen am Bildschirm, vergaß ihren Ärger, ihren großen Groll und klatschte begeistert in die Hände, als ein dressierter Hase Kunststücke machte.

Irgendwann, nahm sich Judith vor, wollte auch sie kleine Hasen haben und sie dressieren wie die Äffchen im Zoo, die zu gewissen Zeiten in ihrem Gehege für die Gäste ihre Aufführungen machten. Einmal war sie schon mit Clara dort gewesen und hatte noch Tage danach davon geschwärmt, und in der Nacht hatte sie davon geträumt, wie sie selbst mit einem Äffchen in einem kleinen Haus lebte, nur sie und das Äffchen und Clara lebten in diesem Haus in ihrem Traum. Es war bis jetzt Judiths allerschönster Traum gewesen. Tags darauf hatte sie Clara gefragt, ob es denn möglich sei, so ein kleines Äffchen zu bekommen, worauf diese prompt Nein gesagt hatte, weil ihr Mann, der Peter, das sicher nicht erlauben würde.

Das war bislang das erste Mal gewesen, dass ihr Clara einen Wunsch ausgeschlagen hatte. Aber vielleicht ließ sie sich ja zu Hasen überreden? Oder zu einem Elefanten? Zu so einem knallebunten Elefanten wie in Tausendundeine Nacht, ihrem Lieblingsmärchenbuch?

Das wäre schön, weil sie sich dann fast wie eine indische Prinzessin fühlen würde.

Aber Claras Mann, der Peter, würde wahrscheinlich auch das nicht erlauben, weil ihr Mann, der Peter, nämlich auch so ein gemeiner Rüpel war, streng und laut, wenn er sprach, und so riesengroß wie ein Hüne, dass Judith insgeheim sogar ein bisschen Angst vor ihm hatte. Der Peter arbeitete tagsüber in einer Bank und brauchte am Abend seine Ruhe, hatte Clara erklärt, weshalb Judith abends immer leise in ihrem Zimmer spielen musste. An den Wochenenden war der Peter aber lieb, da nahm er sich Zeit für die Damen, da waren sie alle drei sogar schon einmal Eis essen gewesen in so einem richtig schicken italienischen Eissalon in der Stadt, das war wahnsinnig aufregend gewesen, an diesem Wochenende. Aber unter der Woche war er ein Narr. So wie auch ihr Vater einer war.

Narziss und Narzisse

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