Читать книгу Der Schatz im Flaschenhals - Andreas Arz - Страница 13
ОглавлениеBesuch im Weingut
Arnold ließ ab von den Zeilen und blickte aus dem Fenster hinunter zum Rhein. Er atmete tief durch und versuchte, die Zeilen, die er gerade gelesen hatte, zu verarbeiten. Was wohl damals passiert war? War dies Fiktion oder Wahrheit? Die Gedanken kreisten durch seinen Kopf. Was vor allem bedeutete dieses ominöse »Das, was da vor uns liegt?«
Arnold blätterte etwas weiter nach hinten in dem Tagebuch, wollte weiterlesen. Doch er spürte jetzt, wie die Müdigkeit die Kontrolle übernahm. Er nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen zu Willi hinüberzugehen und ihm das Buch zu zeigen. Dann schlug er den Ledereinband zu und legte das Buch beiseite. Auf dem Weg ins Schlafzimmer blickte er in den alten Spiegel im Hausflur, schaute sich in die Augen und wusste selbst nicht genau, was er sich fragen wollte. Die Zeilen in dem Tagebuch lösten eine seltsame Stimmung bei ihm aus. Es fühlte sich bedeutsam an und zugleich beängstigend. Was hatte sich hier in dieser Stadt vor so vielen Jahren zugetragen? Arnold ging weiter ins Schlafzimmer und legte sich in voller Montur auf die Bettdecke. Er starrte noch ein paar Sekunden die Decke an, die durch den Mondschein, der durch das Fenster einfiel, hell erleuchtet war, bis er in einen tiefen Schlaf glitt.
Als die Turmuhr der Sankt-Martins-Kirche 9 Uhr schlug, begann Arnold sich zu regen. Sonnenstrahlen tanzten durch das geöffnete Fenster und er drehte sich nochmals auf die Seite, um dem Lichteinfall auszuweichen. Mit einem lauten Stöhnen griff er sich an den Kopf. Der wenige Schlaf und die paar Liter Wein am Vorabend machten sich deutlich bemerkbar.
Mit lautem Hupen fuhr plötzlich ein Auto durch die Hofeinfahrt. Arnold erschrak und fuhr wie von einer Tarantel gestochen hoch. »Was ist das für ein Krach am Morgen?«, schimpfte er.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Arnold rappelte sich hoch und trat ans Fenster. Der elterliche Lieferwagen mit Mutter und Vater darin war vorgefahren. Seine Mutter lehnte sich aus dem Beifahrerfenster und winkte Arnold zu.
»Halllloooo, mein Schatz, wir sind da!«, jubelte sie aus voller Kehle.
Arnold grinste und winkte verhalten zurück. Der Schlaf, gepaart mit dem Riesling, steckte noch in seinen müden Knochen. Er hatte über dem Gelage mit Willi völlig vergessen, dass seine Eltern sich für heute angekündigt hatten. Grundsätzlich war es nichts Schlechtes, denn schließlich wollten sie helfen, sein Weingut auf Vordermann zu bringen. So sehr sich Arnold freute, sie zu sehen, hätte er im Gegenzug gern noch die ein oder andere Stunde länger im Bett gelegen und seinen Kater auskuriert.
Er machte sich auf den Weg nach unten in den Hof. Dabei fiel sein Blick auf das Tagebuch, das noch auf dem Küchentisch lag. Er nahm es zur Hand und ließ einen nachdenklichen Blick darüber schweifen.
»Arnold, kommst du jetzt mal langsam nach unten?«, dröhnte es nochmals von draußen.
»Ja, ja! Ich bin schon auf dem Weg!«, rief Arnold und ging schnell zu seinem Regal, um das Buch zwischen seinen Lehrbüchern über Weinbau zu verstauen.
Als er den Hof betrat, nahmen seine Eltern ihn in freudiger Erwartung in Empfang.
»Komm´ her mein Schatz, ich hab´ dich so vermisst.«
»Mensch Mutti, ich bin doch erst ein paar Tage weg, außerdem solltest du dich doch langsam daran gewöhnen.«
»Eine Mutter gewöhnt sich nie daran, jetzt komm´ her, mein Kind und lass dir einen Kuss geben.«
Mit diesen Worten zog sie ihn heran und drückte ihm einen lauten Schmatzer auf die Wange. Arnold machte dabei ein Gesicht, als ob er in eine reife Zitrone gebissen hatte. Sein Vater schritt ein und kam seinem Sohn zu Hilfe.
»Jetzt lass´ doch mal den Jungen los, der kriegt ja einen Schaden von deinem Geknutsche.«
Er legte den Arm um seinen Sohn und drückte ihn ebenfalls.
»Hui, mein Junge, da hat aber einer tief ins Glas geschaut, duftest wie ein ganzes Weinfass«, bemerkte Arnolds Vater treffend.
»Ich hab´ gestern neue soziale Kontakte geknüpft.«
»Aha, müssen wir da was wissen, ist vielleicht schon eine Winzerin am Horizont zu sehen?«, fragte der Vater mit einem Augenzwinkern.
»Oh ja, eine sehr schicke Winzerin, fast siebzig Jahre alt und sie heißt Willi«, antwortete Arnold.
»Du hattest schon immer einen guten Geschmack«, konterte der Vater.
Seine Mutter schaltete sich dazwischen. »Jetzt lass´ den Jungen. Wer Wein machen will, muss auch probieren können.«
Arnold nickte zustimmend.
Er freute sich natürlich über den Besuch der Eltern. Allein wäre er dem Chaos nur sehr schwer Herr geworden. Bevor es an die Arbeit ging, fuhr Arnold zum Bäcker, um etwas fürs Frühstück zu holen. Die Fahrt von Mecklenburg nach Lorch war nicht einfach mal eben zu bestreiten. Knapp 900 km hatten die Eltern in der Nacht vom heimischen Hof auf der Insel Usedom nach Lorch zurückgelegt, um ihrem Sohn in seiner neuen Heimat unter die Arme zu greifen. Während des Frühstücks erzählte Arnold von seinem neuen Nachbarn Willi Laggei. Die Eltern freuten sich, dass ihr Sohn gleich Anschluss gefunden und einen guten Draht zur Nachbarschaft entwickelt hatte.
Seinen Fund im Weinkeller erwähnte Arnold mit keiner Silbe. Irgendwie schien ihm das, was er gefunden hatte, noch nicht ganz real zu sein, zudem war der Anfang von Baums Tagebuch alles andere als eine Gute-Nacht-Geschichte. Seine Mutter war eine recht weiche Seele, und wenn er mit solch´ dramatischen Geschehnissen aus der Vergangenheit am Frühstückstisch aufwartete, wäre dies alles andere als gut für die psychische Verfassung seiner Mutter, die sowieso schon damit zu kämpfen hatte, dass ihr Sohn fast 900 km von der Heimat entfernt nach Lorch gezogen war. Also beschränkte er sich darauf, ihnen von seinem neuen Nachbarn, der Stadt und der wunderschönen Region, die er bereits zu seinen Studienzeiten lieben gelernt hatte, zu berichten.
Anschließend starteten sie mit den Aufräumarbeiten. Arnolds Mutter nahm sich das Wohnhaus vor, Vater und Sohn suchten sich gröbere Aufgaben und widmeten sich dem Mammutprojekt, Hof und Keller zu entrümpeln.
Während sie bei der Arbeit waren, schallte durch das Hoftor ein lautes »Ei Gude«. Arnold konnte den Ausruf gleich zuordnen, drehte sich um und erblickte einen grüßenden Nachbarn Willi im Torbogen.
»Na Bub, geht´s gut?«, wollte Willi wissen. Es zwinkerte und lächelte dabei. Natürlich spielte er auf den gestrigen Abend und den zünftigen Weinverzehr an.
»Alles gut, mein Lieber, wir Norddeutschen sind hart im Nehmen.«
»Jo, des hab´ ich gesehe, hast mir de´ halbe Keller ausgetrunke´.«
… Papa Jäger kam um die Ecke, um zu sehen, wer zu Besuch kam.
»Moin, ich bin der Paul, Arnolds Vater.«
»Hallo, freut´ mich, ich bin de´ Willi von nebe´an, de´ neue Nachbar.«
»Ja, die Freude ist ganz auf meiner Seite. Habe schon viel von dir und deinem Weinkeller gehört«, spielte Paul auf den gestrigen Abend an.
»Jo, dein Bub und ich haben ein umfassendes Kennenlernen auf die gute Lorcher Art zelebriert«, sagte Willi lachend und imitierte dabei mit seiner Hand ein Weinglas, welches er zum Mund ansetze. »Ei, ich würd´ sagen, sechs Händ´ schaffe mehr als vier. Kann ich mit anpacke´?«, fragte Willi.
Arnold nahm das Angebot gern an, schließlich war mehr als ausreichend Arbeit zu tun. »Sei mir willkommen!«, erklärte er freudestrahlend.
Die drei kamen bis zur Dämmerung gut voran, bis Arnolds Mutter sie zum Abendessen rief.
»Das ist doch Musik in meinen Ohren«, erklärte Paul erfreut.
»Kannst du laut sagen, haben wir uns redlich verdient. Willi, kann ich dich davon überzeugen, heute Abend mein Gast zu sein? Ich kann zwar noch nicht mit so einem tollen Weinkeller aufwarten wie du, aber ich hab´ gesehen, dass mein Vater eine Kiste norddeutsches Bier im Kofferraum hierher geschmuggelt hat.«
»Sag´s aber nicht deiner Mutter«, scherzte Paul und zwinkerte dabei schelmisch.
Willi ließ sich das natürlich nicht zweimal sagen. Schließlich war er eine gesellige Frohnatur, die solche Gelegenheiten nicht verstreichen ließ.
»Ei, natürlich erweise ich euch die Ehre meines Besuches. Soll ich mich noch in Schale werfen?«
»Ach was, so weit kommt´s noch. Hier gibt´s kein Garderobenzwang.«
»Na, dann is´ ja gut. Den einzige Anzug den ich hab´, hat ich´s letzte Mal bei meiner Kommunion an«, scherzte Willi.
»Na denn, auf geht´s zum Essen fassen«, forderte Paul die beiden anderen auf.
»Geh´ schon mal vor, Papa, wir kommen gleich. Ich möchte Willi noch etwas zeigen.«
»Geht klar, deine Mutter wird eh Hilfe beim Tisch decken brauchen.« Paul wandte sich um.
Arnold blickte ihm einen Moment hinterher und drehte sich zu Willi. »Ich habe noch eine Frage an dich, weißt du Genaueres über die Familie, denen das Weingut vorher gehört hat?«
»Meinst du die Schmitts, denen du das Gut abgekauft hast?«
»Eventuell. War die Familie schon immer hier?«
»Nee, die kame´ erst in de´ sechziger Jahre her, da war ich noch en junge Bosch.«
»Von wem hatte die Familie Schmitt das Weingut gekauft?«
»Ei, des war die Familie Baum.«
Jetzt wurde Arnold hellhörig. Den Namen Baum hatte er im Tagebuch gelesen.
»Weißt du etwas über die Familie Baum?«
»Nicht viel, ich bin erst Anfang 1980 in das Haus hier gezoge´, kannte daher die Vorbesitzer von den Schmitts nicht so gut. Aber ich geb´ dir en gute Tipp, gehst die Tage mal in unser Museum hier in Lorch.«
»Hier gibt’s ein Museum?«
»Ei sicher, mir sin´ schließlich eine Weltstadt. Sprich doch mal mit unserem Kurator Dr. Josef Meinhaus. Der kennt´ alle Lorcher Leut´ und Familiengeschichten in- und auswendig.«
»Das hört sich nach einer guten Idee an.«»Wieso fragst du eigentlich und machst auf geheimnisvoll?«
»Ich habe da was im Weinkeller gefunden. Das wollte ich mal jemanden zeigen, der vielleicht was mit anfangen kann.«
»Na, der Dr. Meinhaus ganz sicher, der is´ so was wie en laufendes Lexikon. Jetzt gehn´ mir aber ruff bei dei Eltern, nicht, dass die do obbe verhungern«, sagte Willi und schob Arnold dabei Richtung Treppenaufgang.
Dann stellte Arnold seiner Mutter Heidi Nachbar Willi vor. Auch sie fand sofort einen Draht zu dem freundlichen Lorcher.
Paul holte für alle ein Bier aus dem Kühlschrank und ließ die Kronkorken mit einem Löffelstiel aufploppen.
Arnold neigte seinen Kopf zu Willi, als Heidi die Soße in ein Kännchen abfüllte und Paul mit dem Öffnen der Flaschen beschäftigt war. »Wäre mir ganz lieb, wenn wir das Thema von eben nicht am Tisch aufkommen lassen«, raunte er.
»Ist das so geheimnisvoll?«, fragte Willi etwas verwundert über die Geheimniskrämerei.
»Nicht wirklich, erzähl´ ich dir später«, wiegelte Arnold ab. Er wollte seine Eltern mit dem verstörenden Bericht aus dem Tagebuch nicht beunruhigen.
Auch ohne das Thema wurde es ein sehr gemütlicher Abend. Arnolds Eltern wurden wie ihr Sohn richtig warm mit Willi und erfreuten sich an seinen Geschichten über Land und Leute.
Zum Abschied bot Willi seine Hilfe auch für die kommenden Tage an. Arnold und seine Eltern waren sehr dankbar, da sie jede helfende Hand gut gebrauchen konnten.
Heidi und Paul gingen früh zu Bett. Als sich Stille ins Haus legte, nahm Arnold das Tagebuch aus dem Regal und betrachtete minutenlang nur den Einband. Er spürte eine gewisse Abenteuerlust und Neugier auf den Inhalt in sich, auf der anderen Seite gab es diese verstörenden Passagen, in denen Menschen einen grausamen Tod fanden. Das ließ ihn zögern, das Tagebuch wieder aufzuschlagen.
Kurzerhand stellte er das Buch wieder zurück und nahm sich fest vor, sobald wie möglich den Kurator des Lorcher Museums aufzusuchen. Dieser würde sicherlich mehr zu den Geschehnissen sagen können, die Peter Baum aufgezeichnet hatte.