Читать книгу Hamburg - Deine Morde. Der Spion ohne Vaterland - Andreas Behm - Страница 10
Kapitel 5
ОглавлениеWährend im Stadtpark ein Kollege verblutete, lernte Hansen die Pflichten eines Hausmannes kennen. Er hatte Mareike von der Schule abgeholt, sich mit einem Besuch bei McDonalds noch beliebter bei ihr gemacht und war dann zu einem Supermarkt gefahren. Mareike wollte lieber im Auto sitzen bleiben und in einem Comic-Heft lesen üben. Das hätte sich Hansen vor einiger Zeit nicht träumen lassen. Sein Kombi, ausgestattet mit Kindersitz auf der Rückbank, stand an einem normalen Wochentag auf dem Parkplatz eines Supermarktes und eine Achtjährige saß darin und las Comics.
Die Kundin an der Kasse vor Hansen versorgte anscheinend eine Großfamilie. Auf dem Laufband türmten sich dutzende Artikel.
Hansen hatte eine neue Fachsprache lernen müssen, die Einkaufszettelsprache von Nadja.
›Toi‹ bedeutete Toilettenpapier. Das war leicht.
›Küpa‹ stand für Küchenpapier, nicht zu verwechseln mit
›Kapü‹, dem Kartoffelpüree aus der Tüte, oder
›Cappu‹, dem Instant-Cappuccino aus der Dose.
›Komi‹ und ›Fistä‹ gehörten bereits in den Kurs für Fortgeschrittene, obwohl Kondensmilch und Fischstäbchen keine ungewöhnlichen Produkte waren.
Den höchsten Schwierigkeitsgrad erreichte Mann bei den sogenannten Hygieneartikeln der Frau. In dem Bereich bevorzugte Nadja die ausführliche Variante, wie zum Beispiel:
›o.b. Pro comfort für leichte Tage mit SilkTouch-Oberfläche‹ oder
›always Ultra luftdurchlässig normal, die mit den drei Tröpfchen‹.
Hätte man Hansen vor ein Regal in einem chinesischen Supermarkt gestellt, er wäre kaum ratloser gewesen.
Von dem angepriesenen neuen 72-Stunden-Deo für Männer ließ er die Finger und überlegte, wer so etwas brauchen könnte. Obdachlose, die sich nur alle drei Tage waschen konnten?
Die Kassiererin war so dick, dass Hansen sich fragte, ob sie das schmale Kabuff, in dem sie saß, je wieder verlassen könnte. Ihr pausbäckiges Gesicht mit der rosafarbenen Haut erinnerte ihn an Fleischerei-Fachverkäuferinnen. Mit stoischer Ruhe zog sie einen Artikel nach dem anderen über die Glasfläche des Kassenscanners, der jeden Vorgang mit einem ›Biep‹ quittierte. Biep, biep und noch mal biep. Sie nahm eine Tüte Pistazien, zog sie über den Scanner und es erklang das Biep. Die zweite Tüte Pistazien, biep.
Plötzlich schrie die Kassiererin mit heller Stimme auf. »Huch! Die lassen sich ja scannen.«
Die Kundin zuckte erschreckt zusammen und starrte die Kassiererin verständnislos an, die ihr daraufhin in aller Ausführlichkeit erklärte, dass sie an diesem Tag schon einige Pistazientüten gehabt hätte, die sich ausnahmslos geweigert hätten, sich scannen zu lassen.
Jeder lebt in seinem eigenen Universum mit seinen speziellen Problemen, dachte Hansen und war froh, dass er keine Pistazien eingepackt hatte.
Eine halbe Stunde später stand er in der Küche und packte die Einkäufe aus. Nadja kam heim und gab ihm einen Kuss.
»Na, wie war dein Tag?«, fragte sie.
»Ich bin einer merkwürdigen Sache auf die Spur gekommen«, antwortete Hansen. »Mysteriöse Pistazienpackungen scheinen sich in deutschen Supermärkten einzunisten.«
»Muss ich das verstehen?«
Hansen schilderte ihr die Episode, die er an der Kasse erlebt hatte. Am Ende der Geschichte lachten beide herzhaft und Hansen machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Kaffee und Kekse auf der Terrasse, danach stand ihm der Sinn. Das Telefon klingelte. Hansen war schneller als Nadja und schaute auf das Display. Die Nummer kannte er gut.
»Es ist Kriminaloberrat Thorwald. Was will der denn von mir?«
»Lass’ dich auf nichts ein, du hast Urlaub.«
Der Stimmungsumbruch war brutal. Die Nachricht von Thorwald hatte alles verändert. Der gemütliche Nachmittag auf der Terrasse war abgesagt und Nadja wusste, dass Hansens Ruhestand vorerst beendet wäre.
Es war 15.08 Uhr. Jörg Lausen war seit einer Stunde tot.
Ohne Blaulicht und Martinshorn kämpfte sich Hansen mit seinem Opel Astra durch den Stadtverkehr. Ungeduldig fluchte er hinter dem Lenkrad auf die anderen Autofahrer.
»Nun fahr’ schon, du Idiot!«
»Grüner wird’s nicht!«
»Verschwinde, du Schleicher!«
Trauer und Wut erzeugten einen Überdruck in ihm, für den er ein Ventil brauchte. Er fuhr aggressiv, drängelte und wechselte oft die Spur. Trotzdem kam er nicht schneller voran. Von der Saarlandstraße aus erreichte er endlich den sechsspurigen Jahnring, befand sich aber auf der falschen Straßenseite. Gegenüber sah er am Fahrbahnrand ein knappes Dutzend Fahrzeuge. Mehrere Streifenwagen, Mannschaftsbusse der Bereitschaftspolizei, Kombis und Transporter der Kriminaltechnik und ein schwarzes Bestattungsfahrzeug standen aufgereiht auf der rechten Spur der Gegenrichtung, die mit rot-weißen Pylonen abgesperrt worden war. Er fuhr bis zur nächsten Kreuzung, umrundete den begrünten Mittelstreifen, zwängte sich zwischen zwei Absperrhütchen hindurch und parkte den Astra am Ende der Fahrzeugreihe. Vor der Absperrung des Gehwegs mit rot-weißem Flatterband hatten sich Gaffer, Fernsehteams und Reporter versammelt, die auf spektakuläre Einblicke hofften. Ein uniformierter Polizist kam wütend mit rudernden Armen auf Hansen zu.
»Hier können Sie nicht parken! Sehen Sie zu, dass Sie wegkommen!«
Hansen stieg aus und zeigte seinen Dienstausweis, den er zum Glück bei sich hatte. Der Streifenpolizist entschuldigte sich. Hansen winkte ab. Er durchquerte abseits des Weges den Waldstreifen und blieb am Rande des Vorplatzes zur Freilichtbühne stehen. Er wollte ohne Schutzkleidung den Tatort nicht kontaminieren. Die Bestatter trugen gerade den Zinksarg weg. Dann sah er Thomas Bernstein, der zehn Meter von ihm entfernt stand und die Kieselsteine auf dem Boden zu zählen schien.
»Thomas!«
Bernstein guckte erstaunt in Hansens Richtung und näherte sich. »Harry, was machst du denn hier? Weißt du schon Bescheid?«
»Ja, Thorwald rief mich an. Es ist furchtbar.«
»Wir sind alle geschockt.« Bernstein schluckte schwer.
Der erfahrene Hauptkommissar hatte seine Emotionen besser im Griff. »Umso wichtiger, dass wir jetzt all unsere Sinne beisammen haben«, mahnte er und schaute sich um. Die Kollegen der Spurensicherung in ihrer weißen Schutzkleidung suchten konzentriert das Terrain ab. Kleine, aufrecht stehende Karten mit Ziffern zeigten an, wo sie Material sichergestellt hatten. Markierungen auf dem Boden bildeten eine Körpersilhouette um einen ausgedehnten Blutfleck herum.
»Wie ist es passiert?«, fragte Hansen.
Bernstein riss sich zusammen und berichtete, was er bisher erfahren hatte. Er zeigte Hansen, von wo Lausen mit Schwanitz und Reisberg gekommen war, wo der Zeuge gestanden hatte, den sie treffen wollten und aus welcher Richtung die Angreifer auf den Platz gestürmt waren. Sie hatten mehrere Patronenhülsen gefunden und zwei Projektile in Baumstämmen sichergestellt. Sie würden weitersuchen und alles genau vermessen.
Hansen hatte konzentriert zugehört. Er besaß nun eine Vorstellung des Ablaufs, prägte sich ein dreidimensionales Bild ein und speicherte Gerüche, Geräusche, Farben und vieles andere ab. Das war wichtig, er brauchte diese realen Eindrücke. Fotos, Berichte und grafische Darstellungen gaben nur die halbe Wahrheit wieder.
Ein Spurensicherer beschwerte sich bei Bernstein. »Wo bleibt denn der Typ, der den Schlüssel für das Tor hat?«
»Der muss jede Minute hier eintreffen, immer mit der Ruhe.«
»Nix mit der Ruhe! Schaut mal dahin.« Der Kollege der Dienststelle LKA 31 zeigte in Richtung Westen gen Himmel. Bernstein und Hansen hoben die Köpfe. Eine dunkelgraue Wolkenwand bewegte sich auf ihren Standort zu. Aus der Ferne war das erste drohende Grollen zu hören.
»Was soll’s, dann klettere ich eben über das Tor«, beschloss der Mann im weißen Overall. »Das Gewitter, das da anrollt, wird alle möglichen Spuren fortspülen.«
Hansen tippte Bernstein an.
»Ich muss ins Präsidium, zu Thorwald. Ich bin wohl gerade reaktiviert worden.«
Bernstein nickte. »Das ist gut, wir brauchen dich. Ich bin hier gleich fertig und komme dann nach.«
Bevor er das Präsidium betrat, gönnte sich Hansen eine Auszeit, setzte sich auf eine der Stufen der breiten Freitreppe und rauchte eine Zigarette.
Beim Betreten der Eingangshalle glaubte er, die Ausläufer der Schockwelle, die das Gebäude erschüttert hatte, mit den Händen greifen zu können. Er wehrte sich dagegen, indem er die Hände in den Hosentaschen vergrub. Doch das änderte nichts. In jedem Blick, in jeder Körperhaltung, in jeder hilflosen Geste und jedem leise gesprochenen Wort war die Fassungslosigkeit der Kollegen zu spüren. Hansen vermied weitere Blickkontakte und beeilte sich, Thorwalds Büro zu erreichen.
Der Kriminaloberrat stand mit dem Rücken zur Tür am Fenster und haderte mit Gott. Hansen machte sich durch ein Räuspern bemerkbar. Thorwald drehte sich ruckartig herum. Seine äußere Erscheinung war perfekt wie immer.
»Herr Hansen, Entschuldigung, ich war in Gedanken.«
»Dafür habe ich volles Verständnis.«
Thorwald zupfte an seiner Krawatte. »Wir sind Profis, wir packen das«, sagte er. Es klang hohl.
Sie nahmen am Schreibtisch Platz.
»Gut, dass Sie da sind, Hansen. Gehen wir gleich in medias res.«
Das war Hansen recht. Trauerreden sollten andere halten, er war Ermittler. Er wollte jagen gehen und den Mistkerl von Polizistenmörder zur Strecke bringen.
»Bevor ich herkam, war ich am Tatort und habe mir einen ersten Eindruck verschafft.«
»Und was denken Sie?«, fragte Thorwald.
»Dass Lausen wahrscheinlich keine Chance hatte. Es muss alles sehr schnell gegangen sein und die Lage war unklar. Für uns Polizisten ist die Situation immer schwierig, wenn ein Angreifer ohne vorherige Eskalation anfängt zu schießen. Aber das ist nur eine erste Einschätzung, ich muss erst alle Fakten haben.«
»Klar.« Thorwald stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und faltete die Hände. »Ich denke, ein organisatorisches Problem kann ich aus dem Weg räumen.«
Hansen hatte keinen Schimmer, wovon der Kriminaloberrat sprach.
»Welches Problem?«
»Naja, Hansen, Sie werden sich vorstellen können, welchen Wirbel der …« Thorwald zögerte, es fiel ihm schwer, den Tod des Kollegen als ›Fall‹ zu bezeichnen, »… ähm, das schreckliche Ereignis im Stadtpark erzeugen wird. Diese Geschichte wird sich sehr schnell zum Politikum ausweiten und jeder Idiot mit Profilierungssucht wird in die Medien drängen. Der Polizeipräsident hat schon angerufen. Wir müssten nun Stärke zeigen, meinte er, wir dürften die ausufernde Gewalt gegen Polizisten nicht länger hinnehmen.«
»Was soll das?«, fragte Hansen. »Wir haben die Gewalt gegen Kollegen nie hingenommen. Aber was sollen wir denn anders machen? Amok laufen?«
»Ach, Hansen. Sie wissen doch, wie das läuft. Da werden markige Sprüche abgesondert, die niemandem helfen und am Ende bleibt alles, wie es ist.«
»Ich verstehe nicht. Von welchem Problem sprachen Sie dann?«
»Wie ich schon sagte, die Führungsetage will Stärke zeigen. Das heißt, große Sonderkommission und alles, was dazu gehört. Dafür sind Sie nicht der richtige Mann. Das weiß ich seit dem Lippennäher-Fall. Deshalb habe ich mir Folgendes überlegt: Hauptkommissar Schneider übernimmt die Leitung der Sonderkommission, die den Mord an Lausen untersucht. Und Sie kümmern sich mit einem eigens dafür zusammengestellten Team um den Fall Friedemann.«
»Ich glaube, ich bin gerade nicht auf der Höhe. Friedemann? Ist das der Fall, um den es bei dem Treffen mit dem Zeugen im Stadtpark gehen sollte? Die beiden Fälle gehören doch zusammen.«
»Ja, der Meinung bin ich auch, obwohl es rein theoretisch auch andere Möglichkeiten gibt. Hier geht’s um Politik und Diplomatie, Hansen – nicht unbedingt Ihre starke Seite. Das ist mein Job! Ich muss die Politik zufriedenstellen, diplomatisch vorgehen und gleichzeitig dafür sorgen, dass meine Leute die besten Voraussetzungen für effektive Ermittlungsarbeit haben. Ihre Fähigkeiten liegen in der konzentrierten Arbeit mit einem kleinen, kompetenten Team. Für die Soko kann ich Sie, offen gesagt, nicht gebrauchen. Offiziell leitet Schneider die Soko ›Lausen‹ und Ihr Team arbeitet ihm zu. Inoffiziell kriegen Sie Einblick in alle Ergebnisse der Soko und jede Ressource, die Sie brauchen. Mit Schneider habe ich gesprochen, der hat kein Problem damit.
Der Schlüssel zur Aufklärung beider Morde liegt im Fall Friedemann verborgen, davon bin ich überzeugt. Sie sind quasi meine heimliche Speerspitze in dieser Geschichte.«
»Wenn das so ist, sollte ich rasch an die Arbeit gehen. Wer soll in meinem Team arbeiten?«
»Tja, Schwanitz und Reisberg sind draußen, da sie direkt beteiligt waren. Ich gehe davon aus, dass Sie Bernstein und Becker wollen.«
Hansen nickte. »Und wer noch? Ich brauche vier Leute.«
»Anstandshalber sollten Sie die beiden verbleibenden Kollegen aus Lausens Team nehmen, Förster und Wolter. Ich habe mit denen bereits telefoniert. Herr Förster ist eigentlich mit einem Bänderriss krankgeschrieben, lässt sich aber gesundschreiben und könnte den Innendienst übernehmen. Und Wolter war sofort bereit, seinen Urlaub abzubrechen. Er wird morgen früh hier auftauchen.«
»Das klingt vernünftig. Kann ich Schwanitz und Reisberg befragen?« »Reisberg nicht, der ist mit einem Schock ins Krankenhaus Barmbek gebracht worden. Schwanitz müsste zusammen mit Frau Becker in einem der Vernehmungsräume sein.«
»Gut, dann rede ich zuerst mit Schwanitz und danach lese ich die Akten zum Fall Friedemann.« Thorwald stand auf und reichte Hansen die Hand. »Knapp drei Wochen noch, dann muss ich Sie in den Ruhestand schicken. Ich hoffe, Sie schaffen es bis dahin.«
»Wenn nicht, werde ich bestimmt nicht die Hände in den Schoß legen«, versprach Hansen.
Thorwald hatte bis dahin sehr professionell und gefasst gewirkt. Plötzlich bröckelte die Fassade und die Kraft schien aus ihm herauszufließen.
»Ich muss jetzt zu Jörgs Frau und ihr sagen, dass ihr Mann heute Abend nicht nach Hause kommen wird. Meine Frau und ich, wir waren vor zwei Wochen bei den Lausens zum Grillen eingeladen. Sehr schöner Abend, wirklich nette Familie … Mein Gott, wie soll ich ihr das sagen?«
Darauf wusste Hansen keine Antwort. Er ließ Thorwald allein.
Schwanitz kauerte mit gesenktem Kopf auf einem Stuhl. Er stützte seine Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab und verbarg sein Gesicht in den großen Handflächen. Der kräftige Mann bebte und zitterte. Kommissarin Becker stand neben ihm und hatte eine Hand auf seinen gekrümmten Rücken gelegt. Sie redete beruhigend auf ihn ein. Die Worte konnte Hansen nicht verstehen.
»Hallo«, sagte er leise.
Becker hob den Kopf. »Harry! Was machst du hier? Du kommst wie gerufen.«
Es war das dritte Mal innerhalb einer Stunde, dass Hansen begrüßt wurde, als sei er der Heiland persönlich. Die Sache wurde ihm langsam unheimlich. Glaubten seine Kollegen und Vorgesetzten, er müsse nur mit den Fingern schnipsen, um den Täter zu fassen?
»Kann ich mit dem Kollegen sprechen?«, fragte er Becker mit einem Fingerzeig auf Schwanitz.
»Übernimmst du den Fall?«, antwortete Becker mit einer Gegenfrage.
»Das klären wir später in meinem Büro. Was ist nun?«
Schwanitz richtete den Oberkörper auf. »Ich bin anwesend und durchaus in der Lage, selbst zu sprechen!«
»Entschuldigung«, sagte Hansen. »Können Sie mir irgendwelche Hinweise auf die Täter geben?«
»Ich weiß nicht. Die ganze Geschichte dauerte nur Sekunden. Diese Typen tauchten aus dem Nichts auf, Jörg schrie ›Polizei! Waffen fallen lassen‹ oder so ähnlich, dann fielen zwei Schüsse, wir stürmten nach vorn, um Jörg zu helfen, der sank zu Boden, der Zeuge rannte davon, der eine Typ verfolgte ihn, der andere lief in entgegengesetzter Richtung weg, wir feuerten, die schossen auch, dann waren sie weg und alles vorbei.«
»Konnte der Kollege Lausen noch etwas sagen, bevor er …«
Aus den geröteten Augen des Oberkommissars flossen Tränen.
»Nein, er hat’s versucht. Aber ich konnte ihn nicht verstehen.«
»Ich habe Schwanitz’ Aussage schon aufgenommen, soweit es ging«, sagte Becker.
Hansen sah ein, dass er Geduld mit dem Kollegen haben musste.
»Okay, lassen wir das für den Moment. Vera, tipp mir bitte die Aussage des Kollegen ab. Und ich brauche alles, was ihr über den Fall Friedemann habt.«
»Ja, ich komme gleich rüber in dein Büro.«
»Danke.«
»Moment, Herr Hansen!«, rief Schwanitz. »Der zweite Typ, der schlanke, der über das Gelände der Freilichtbühne abgehauen ist … Diese Person war sehr athletisch, fast schon artistisch in den Bewegungsabläufen … und trotzdem irgendwie anders. Ich weiß nicht, wie ich es begründen soll, aber ich glaube, das war eine Frau.«
»Wir werden das bei unseren Ermittlungen berücksichtigen. Danke, Kollege, das kann uns helfen.«
»Es ist aber kein Fakt, nur so ein Gefühl«, betonte Schwanitz.
Hansen nickte. »Das habe ich verstanden. Wir werden sehen, was dabei rauskommt.«
Joachim Dickel öffnete mit der Schlüsselkarte die Hotelzimmertür. Ängstlich suchten seine Augen das Zimmer ab, in der Erwartung, triumphierend grinsende Verfolger vorzufinden. Seine Befürchtung erfüllte sich nicht, das Zimmer war leer. Dickel war kein Mensch, der zum Heldentum neigte. Es wäre vernünftig gewesen, nicht hierher zurückzukehren. Kleidungsstücke hätte man neu kaufen können, sogar der Verlust des Firmenlaptops wäre zu verschmerzen gewesen. Er hätte sich absetzen, schnurstracks nach Hause fahren können. In jedem anderen Fall hätte Dickel genau das getan. Er wäre vor den Problemen davongelaufen. Das hatte er schon oft mit Erfolg geschafft. Dickel war ein Meister der Ausweichmanöver.
Der Tod seines Vaters versperrte diesen Weg. Wahrscheinlich hatten dieselben Kerle, die ihn jetzt jagten, seinen Vater getötet. Wenn er den Medienberichten Glauben schenken durfte, hatten sie ihn nicht bloß getötet, sondern vorher grausam gefoltert. Hatte sein Vater das Leid ertragen, um ihn, seinen Sohn, nicht verraten zu müssen?
Dickel hatte allenfalls eine blasse Ahnung von dem, was sich auf der Speicherkarte befand. Sein Vater hatte sich auf Andeutungen beschränkt. Aber die winzige Karte und der Schlüssel zum Bankschließfach bildeten das an ihn gerichtete Vermächtnis seines Vaters. Mehr war ihm nicht geblieben, nach über dreißig Jahren ohne den Vater und zweieinhalb gemeinsamen Stunden.
Dickel raffte seine Sachen zusammen, schmiss sie in die Reisetasche, packte den Laptop ein und wollte gerade die Zahlenkombination eingeben, um den kleinen Zimmersafe zu öffnen, da hörte er ein Klopfen an der Tür. Unwillkürlich sah er sich um, als gäbe es einen Notausgang, den er nur finden müsste. Doch der existierte nicht. Dickel blieben zwei Möglichkeiten: Er konnte sich aus dem Fenster stürzen – im dritten Stock keine gute Idee. Oder er konnte die Tür öffnen und hoffen, dass das Zimmermädchen davor stand. Er ließ den Safe geschlossen und entschied sich für die zweite Wahl.
Vor der Tür stand nicht das Zimmermädchen, sondern der breitschultrige Kerl aus dem Stadtpark. Dickel erkannte den würfelförmigen Kopf mit den Schweinsaugen sofort. Unter der platten Nase versuchte der schmallippige Mund des Muskelpaketes eine Art Lächeln zu produzieren, was gründlich misslang. Sein linker Arm schnellte nach vorn und gab Dickel einen Stoß, der ihn mehrere Schritte rückwärts taumeln ließ. Der Muskelmann betrat das Zimmer, eine weitere, sehr viel schlankere Person folgte ihm. Die zweite Person hatte strubbeliges, hellblond gefärbtes Haar, dunkle Augenbrauen mit Piercingstäbchen nah bei den Schläfen und ein weiteres Piercing in Ringform im rechten Nasenflügel. Trotz der herben Gesichtszüge und des durchtrainierten Körpers mit schwach ausgeprägten weiblichen Rundungen erkannte Dickel nun, dass es sich bei dem zweiten Kerl aus dem Stadtpark um eine Frau handelte. Der Muskelmann sagte kein Wort und zwang Dickel, sich auf das Bett zu setzen.
Die blonde Frau führte offensichtlich das Kommando und fragte ohne Umschweife: »Wo ist der Speicherchip?«
Dickel gab keine Antwort. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen begann die Blonde mit der Durchsuchung des Zimmers. Beiläufig machte sie ihn mit den Konsequenzen seines Schweigens bekannt.
»Du kannst den einfachen Weg gehen und plaudern. Dann wird es kaum weh tun. Oder du kannst den Helden spielen und beharrlich schweigen. Dann werde ich meinen Spaß mit dir haben. Du wirst dabei keinen haben, das verspreche ich dir.«
Sie wirkte sehr überzeugend. Dickel glaubte ihr jedes Wort. Doch was konnte sie tun? Ihn hier im Hotel foltern? So, wie sie seinen Vater gefoltert hatte? Das würde schnell einen Aufruhr geben. Nein, so leicht wollte er sich nicht einschüchtern lassen. Er unterdrückte das aufkommende Zittern seiner Muskeln, verschränkte trotzig die Arme und hielt ihrem Blick stand. Dabei stellte er fest, dass er noch nie in so ausdruckslose Augen gesehen hatte. Er senkte den Blick zu Boden.
Sie schüttete den Inhalt seiner Reisetasche auf dem Boden aus und untersuchte die wenigen Teile. Dann durchsuchte sie die Kleidung, die Dickel am Leib trug. Anschließend überprüfte sie den Inhalt seines Laptops, was etwas mehr Zeit in Anspruch nahm. Währenddessen stand ihr Partner mit gespreizten Beinen vor Dickel, hielt ihn in Schach, sagte kein Wort und verzog keine Miene.
Dickel versuchte, seine Angst zu bändigen, indem er an die Bibel dachte, an die Geschichte von Sodom und Gomorrha, an die Frau, die verbotenerweise zurückblickte. Der Muskelmann stand kaum eine Armlänge von ihm entfernt, starr wie eine Salzsäule. Wenn er ihm mit dem ausgestreckten Zeigefinger in den Bauch pieksen würde, würde der Mann dann zerrieseln und nur ein Häufchen Salz von ihm übrigbleiben?
Die Stimme der Frau unterbrach Dickels Gedankenspiele.
»Auf dem Laptop ist die Datei auch nicht. Wir werden wohl zu härteren Mitteln greifen müssen, Ronny.«
Der Muskelmann, der also Ronny hieß, streckte stumm den Arm aus und zeigte auf den Safe im geöffneten Kleiderschrank.
Die Blonde nickte. »Ja, das ist die letzte Möglichkeit. Fragt sich nur, ob unser Held hier bereit ist, uns die Kombination zu sagen. Was denkst du, Ronny? Ist er klug genug, klein beizugeben?«
Dickel ging in die Offensive. »Auf keinen Fall. Von mir erfahren Sie gar nichts! Es reicht! Ich werde das ganze Hotel zusammenschreien.«
Der Schlag von Ronny war heftig, traf den auf dem Bett sitzenden Dickel an der rechten Schläfe und schickte ihn augenblicklich ins Land der Besinnungslosigkeit. Sein Oberkörper sackte zur Seite auf die Matratze.
Die Blonde kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr.
»Wir könnten den Safe aus seiner Halterung herausbrechen«, überlegte sie laut. »Aber dafür bräuchten wir Werkzeug und außerdem dürfte es zuviel Lärm machen. Und unser Möchtegern-Held hier«, sie zeigte auf den bewusstlosen Dickel, »schreit uns womöglich wirklich das ganze Hotel zusammen, wenn wir die Kombination aus ihm herauskitzeln wollen.«
Ronny sagte nichts, er schaute sie nur fragend an. Sie rieb sich das Ohrläppchen.
»Wir müssen vorsichtig sein, Ronny. Der Chef wird sowieso stinksauer werden, wenn er von der Schießerei mit den Bullen erfährt. Ich glaube, wir haben bereits mehr als genug für Aufsehen gesorgt. Das Beste ist, wir nehmen den Schlaffsack einfach mit zu unserer Schlachterei, das ist von hier aus höchstens eine Viertelstunde Fahrzeit. Da können wir ihn ganz in Ruhe ausquetschen. Dann komme ich hierher zurück und hole die Speicherkarte aus dem Safe. Und wenn wir mit ihm fertig sind, ist die Entsorgung in der Schlachterei leicht zu erledigen.«
Aus einer Tasche ihres Kapuzenshirts holte sie ein schwarzes Kabelbinderband und gab es Ronny.
»Fessel’ ihm die Hände auf den Rücken und weck’ ihn auf. Ich fahre unseren Wagen in die Tiefgarage. Dort laden wir ihn ein.«
Drei Minuten später kam sie zurück. Ronny hatte Dickel inzwischen mithilfe eines nasskalten Handtuchs in die Wirklichkeit zurückgeholt. Die Blonde beugte sich zu Dickel herab, der wieder aufrecht saß.
»Hör’ zu, du kleiner Querkopf. Du kommst jetzt brav mit uns oder es wird dir sehr, sehr leid tun.«
Dickel brummte der Schädel, er spürte pochendes Blut in seiner Schläfe. Aber er wollte seinen Widerstand noch immer nicht aufgeben.
»Was wollen Sie denn machen?«, fragte er provozierend. »Mich erschießen? Dann erfahren Sie nie, wo die Speicherkarte ist!«
»Dich erschießen? Nein, wir sind ja nicht blöd. Wir nehmen stattdessen den erstbesten Menschen, der uns über den Weg läuft, egal ob es ein Hotelgast, ein Zimmermädchen oder der Direktor persönlich ist. Und du wirst Schuld sein am Tod dieses Menschen.«
Dickel merkte, dass die blonde Punkerin es ernst meinte. Mit so viel Skrupellosigkeit hatte er nicht gerechnet. Er kapitulierte.
Sie legten ihm seine Jacke über die Schultern, damit die auf den Rücken gefesselten Hände nicht zu sehen waren, brachten ihn mit dem Lift in die Tiefgarage, stopften ihm einen Knebel in den Mund und packten ihn in den Kofferraum ihres Audi.
Fünfzehn Minuten später merkte Dickel, dass der Audi über einen holperigen Untergrund fuhr. Nach einem kurzen Stopp wurde der Wagen anscheinend in eine Halle gefahren, denn das Motorgeräusch veränderte sich. Die Kofferraumklappe wurde geöffnet und Ronny zerrte Dickel unsanft heraus. Nun konnte er sehen, dass sie sich tatsächlich in einer Art Fahrzeughalle befanden, die Platz für drei bis vier Autos bot. Sie führten ihn durch die halbe Halle zu einer Brandschutztür, einen breiten Gang entlang, bogen nach links in einen weiteren Gang ab und durchquerten zwei riesige Räume, die bis auf ein paar Paletten, Pappkartons und anderen Müll leer waren. Schließlich blieben sie vor einer Wand mit einem Aktenschrank stehen. Die Gänge und Räume waren verdreckt, dunkel und feucht. Alles wirkte moderig und verlassen. Ronny schob den Schrank zwei Meter nach links. Dahinter kam eine Tür aus blankpoliertem Edelstahl mit großem Griff zum Vorschein, die mit mehreren Schlössern und einer Eisenkette gesichert war. Die Blonde hantierte mit verschiedenen Schlüsseln herum und öffnete endlich die Tür, indem sie den massiven Riegel nach unten drückte. Dabei entstand ein schmatzendes Geräusch. Dickel sah die Dickwandigkeit der Tür und begriff, dass er in einen alten Kühlraum gebracht wurde.
Die Blonde betätigte einen Schalter. Ein halbes Dutzend Neonröhren flackerte auf und erleuchtete mit grellem Licht den rund dreißig Quadratmeter großen, fensterlosen Raum. Der hellbraun geflieste Boden hatte zwei abgesenkte, rechteckige Abläufe, durch die wohl früher das Blut der geschlachteten Tiere abgeflossen war. Die Wände waren bis unter die Decke weiß gekachelt. An der Decke sah Dickel lange Metallschienen, von denen vereinzelte Fleischerhaken herabhingen. Die Einrichtung bestand aus einem Wandregal, einem großen Tisch und einem Stuhl, die allesamt aus Edelstahl gefertigt waren – sehr praktisch, leicht zu reinigen. An einer Wand standen zwei grau lackierte Spinde. Auf dem Tisch lagen diverse Werkzeuge, die erschreckende Bilder ausgeweideter Tiere bei Dickel hervorriefen. Der Raum war trotz der draußen herrschenden Schwüle kühl, doch Dickel schwitzte. Es roch nach Verzweiflung und Tod. Ihm wurde klar, dass er sich an einem einsamen Ort befand und ihm hier niemand zu Hilfe kommen würde.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte die Punkerin: »Hier sind wir ganz unter uns. Du kannst schreien, so laut du willst. Außer Ronny und mir wird dich niemand hören. Und ich werde deine Schreie genießen.«
Sie stellte seine Reisetasche und den Laptop auf den Tisch, stellte sich dicht vor ihn und riss mit einem Ruck sein Hemd auf. Einige Knöpfe flogen davon und machten niedliche Pling-Geräusche auf den Bodenfliesen.
Dickel war zu keiner Reaktion fähig, eine Überdosis Angst lähmte ihn. Sie griff in seinen Hosenbund, öffnete Gürtel und Reißverschluss, zog ihm die Hose bis zu den Kniekehlen herunter. Sie befreite seine Handgelenke vom Kabelbinder und drängte ihn auf den Stuhl aus Metall, fesselte seine Unterarme an die Armlehnen und die Fußknöchel an die Stuhlbeine. Für die Fesselung benutzte sie erneut die praktischen Kabelbinder. Sie trat einen Schritt zurück, betrachtete ihr Werk und war zufrieden.
»Jetzt beginnt der nette Teil des Tages«, sagte sie.
Ronny stand nur breitbeinig da und schwieg. Die Blonde ging zu dem Metalltisch, schüttete aus einem Plastiktütchen weißes Pulver auf die polierte Tischplatte, formte mit Dickels Hotelkarte eine Linie und sog die Substanz durch ein Röhrchen in die Nase. Ronny schaute missbilligend zu und Dickel bekam Zweifel. Er hätte besser im Hotel alles sagen sollen. Sein Vorsatz, sich standhaft und mutig zu verhalten, schmolz angesichts einer koksenden Sadistin dahin wie Speiseeis in der Mikrowelle. Doch er musste an seinen Vater denken, der die Folter ertragen hatte. Er hatte es bestimmt für ihn, seinen Sohn, getan. Sollte er jetzt nach ein paar Psychospielchen kneifen? Nein, so leicht würde er sich nicht beeindrucken lassen.
»Eigentlich möchte ich dich nicht in diese Sache hineinziehen«, hatte sein Vater gesagt. »Das ist eine Sache zwischen mir und diesen Leuten, ein Krieg aus der Vergangenheit. Die Organisation ist sehr gefährlich, sehr einflussreich, und sie wird sich mit allen Mitteln wehren. Andererseits bist du hier aufgetaucht wie ein Zeichen Gottes.«
»Bist du religiös?«, hatte Dickel verwundert gefragt.
»Nein, aber es ist eine schöne Metapher, nicht wahr?«
Dickel kehrte gezwungenermaßen in die Gegenwart zurück, denn die blonde Frau näherte sich ihm mit langsamen, geschmeidigen Schritten, wie eine Raubkatze, die sich an das ausgewählte Opfer heranpirscht. Sie brachte ihr Gesicht dicht an das seine und lächelte. Zum ersten Mal konnte Dickel in ihren Augen, die bis dahin wie schwarze Knöpfe gewirkt hatten, eine Emotion entdecken. Er sah die pure Vorfreude auf das, was nun geschehen würde.
Sie bohrte ihre schwarz lackierten Fingernägel in seine Brustwarzen und steigerte den Druck stetig. Dickel riss sich zusammen und hielt es aus. Sie lockerte den Griff, trat einen Schritt zurück und grinste.
»Brav, mein Kleiner. Wir wollen ja nicht, dass das Spiel allzu schnell beendet ist.«
Sie ging zum Tisch zurück, nahm sich eine Zigarre und zündete sie an.
Sie sog daran, bis die Zigarre kräftig glühte. Blitzschnell war sie bei Dickel und drückte ihm das glühende Ende der Zigarre auf den rechten Unterarm. Der Schmerz kam mit einer Sekunde Verzögerung und er kam gewaltig. Dickel schrie sein Leid heraus. Der Geruch von verbrannten Haaren und angeschmorter Haut stieg ihm in die Nase. Seine Haare, seine Haut!
Ronny hatte sich abgewendet. Es schien, als teile er die Leidenschaft seiner Partnerin nicht.
Die Blonde holte eine Schere, schnitt Dickels Unterhose in zwei Teile und zog sie unter seinem Hintern hervor. Sie knüllte die Teile zusammen, schob ihm den Ballen in den Mund und sorgte mit einem Stück Klebeband dafür, dass er den Knebel nicht ausspucken konnte.
In den nächsten zwanzig Minuten lernte Dickel die unterschiedlichsten Arten von Schmerz kennen. Den stechenden, sekundenschnellen Schmerz, den allmählich anschwellenden, immer bedrohlicher werdenden Schmerz, den nachhaltigen brennenden und den stetig pochenden Schmerz. Die blonde Teufelin ließ ihm jedes Mal genug Zeit, den Schmerz zu verinnerlichen und durch die Nasenlöcher Luft zu holen, bevor sie den nächsten Angriff auf seine Widerstandsfähigkeit startete. Allmählich verstand Dickel, dass sie ihn nicht geknebelt hatte, um seine Schreie zu dämpfen, die an diesem gottverlassenen Ort von niemandem gehört werden konnten. Sie wollte verhindern, dass er zu früh aufgab. Ohne den Knebel hätte er sagen können, was sie von ihm wissen wollte, aber dann wäre das ›Spiel‹, wie sie es nannte, zu Ende gewesen.
Das Klingeln ihres Handys schenkte ihm eine Erholungspause. Sie redete nicht, hörte ihrem Gesprächspartner nur zu und sagte am Ende: »Verstanden.« Dann sprach sie leise ein paar Worte mit Ronny.
Dickel war am Ende. Sein Hirn konnte die unterschiedlichen Schmerzen kaum noch den Quellen zuordnen. Aus der Nase tropfendes Blut erschwerte seine Atmung, das linke Auge war fast zugeschwollen, sein Unterkiefer pochte, der Hodensack war rot und fühlte sich prall an, die Brandwunden quälten ihn und die Blase hatte sich irgendwann unwillkürlich entleert, sodass er in einer Pfütze eigenen Urins saß. Dickel hatte den Punkt erreicht, an dem der Überlebenswille eines Menschen in den Hintergrund tritt, weil der Wunsch nach dem Ende des Leidens alles Denken beherrscht.
Aber bevor er mitteilen konnte, dass er bereit war, alles zu sagen, hatte die Frau den Knebel entfernt, danach mit Daumen und Zeigefinger in seine Wangen gegriffen, ihn so gezwungen, den Mund zu öffnen und eine eigentümlich geformte, metallene Klammer eingeführt, die seinen Mund aufspreizte und gleichzeitig die Lippen nach oben und unten zwängte, wodurch seine Zähne blank lagen.
Sie nahm eine Mini-Bohrmaschine vom Tisch und verkündete, dass sie die Geschichte nun abkürzen müsse.
»Ich brauche Antworten. Keine Zeit mehr für Spiele«, sagte sie und steckte einen Bohrer mit einem Durchmesser von einem Millimeter in das Bohrfutter. Sie schaltete das Gerät ein.
Dickel hörte das Motorgeräusch und augenblicklich wurde ihm klar, was sie vorhatte. Sie wollte Zahnarzt spielen, an gesunden Zähnen mit intakten Nerven, ohne Betäubung.
Er schrie mit aufgesperrtem Mund, so laut er konnte: »Ih lede! Ih ouill lede!«
Sie beugte sich zu ihm herab. »Was sagst du? Ich verstehe dich nicht.«
Die Bohrmaschine sang derweil mit hoher Drehzahl ihr Lied.
»Ih lede!«, schrie Dickel verzweifelt. Deutlicher konnte er es nicht hervorbringen.
»Du willst reden?«, fragte sie und schaltete die Bohrmaschine aus.
Dickel nickte heftig. Sämtliche Poren seines Körpers schütteten Schweiß aus.
Sie streichelte den Bohrer.
»Schade. Ich hätte das Ding gerne an dir ausprobiert. Aber ich will fair bleiben. Wenn du redest und die Wahrheit sagst, bleibt dir diese Erfahrung erspart.«
Sie entfernte die Klammer aus seinem Mund.
»Wo ist die Speicherkarte, die du von Friedemann bekommen hast?«
»Sie steckt in meiner Kamera. Und die ist in dem Zimmersafe, im Hotel.«
»Na also, geht doch. Die Kombination für den Safe?«
»Mein Geburtstag, achter Februar. Null – acht – null – zwei.«
Sie lachte höhnisch. »Ich glaub’s nicht! Ich dachte, so blöd ist heute kein Mensch mehr. Da hätte ich ja bloß in deinen Ausweis gucken und es ausprobieren müssen. Das hätte dir eine Menge Leid erspart. Naja, so hatte ich wenigstens meinen Spaß.«
Sie wandte sich an Ronny. »Hör zu. Ich fahre ins Hotel und hole die Speicherkarte. Ich nehme den Laptop mit, damit ich die Karte überprüfen kann. Wenn alles in Ordnung ist, rufe ich dich an. Du kannst ihn dann erlösen.«
Sie warf Ronny einen siebzig Zentimeter langen Metalldraht zu, an dessen Enden runde Holzgriffe befestigt waren. Ronny fing die Garotte lässig mit der linken Hand auf.
»Schmeiß’ ihn in einen der Müllcontainer auf dem Hinterhof. Es wird eine Weile dauern, bis dort jemand seine Überreste findet. Ich bringe unserem Auftraggeber die Karte, danach hauen wir ab.«
Ronny tat das Übliche. Er nickte stumm.
Die Blonde ging zu einem der Spinde, holte einen Schminkspiegel und diverse andere Sachen heraus und stellte den Spiegel auf den Tisch.
»Ist wohl besser, wenn ich mein Outfit verändere«, sagte sie und entfernte vor dem Spiegel ihre Piercings. Anschließend zog sie das schwarze Kapuzenshirt aus, streifte sich ein rotes T-Shirt über und setzte eine mittellange, braune Perücke auf. Die Punkerin hatte sich in eine normale junge Frau verwandelt.
»Ich nehme das Motorrad, du kommst mit dem Audi später nach«, sagte sie noch, schnappte sich eine Lederjacke und einen Sturzhelm, dann verschwand sie.
Hansen brauchte eine halbe Stunde, um die Akte zum Fall Friedemann zu lesen und die Tatortfotos zu studieren. Becker brachte ihm die Aussage von Schwanitz. Bernstein kam dazu und sie setzten sich an den Schreibtisch. Becker raffte ihre rote Haarpracht am Hinterkopf zusammen, zauberte ein Zopfgummi hervor und fädelte die Haare mit geschickten Fingern ein.
»Die Luft hier ist stickig«, meckerte sie.
»Stimmt«, sagte Hansen. »Die Klimaanlage funktioniert mal wieder nicht richtig.« Er wischte sich mit einem Papiertaschentuch den Schweiß von der Stirn und schaute aus dem Fenster. »Das Gewitter scheint an uns vorbeigezogen zu sein.«
Bernstein sagte nichts, er krempelte seine Hemdsärmel hoch und er tat dies sehr sorgfältig.
Hansen erläuterte seinen Mitarbeitern Thorwalds Konstrukt für die Verteilung der Ermittlungsaufgaben.
»Ich glaube, ich verstehe das nicht«, sagte Bernstein, nachdem Hansen seine Ausführungen beendet hatte. »Ermitteln wir nun im Fall Friedemann oder suchen wir den Mörder von Lausen?«
»Beides«, antwortete Hansen und beobachtete die beiden vor ihm sitzenden Kommissare. Vera Becker wirkte nach außen erstaunlich gefasst. Sie ließ nicht erkennen, wie es in ihrem Inneren aussah.
Bernstein zeigte ein gerötetes Gesicht, das mochte von der Hitze kommen. Aber er hatte seine Hände zwischen die leicht geöffneten Beine gelegt und knetete intensiv seine Finger durch, einen nach dem anderen.
»Thomas, du bist doch sonst nicht so begriffsstutzig«, sagte Hansen. »Objektiv betrachtet gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die beiden Fälle zusammenhängen, außer der Tatsache, dass ein möglicherweise wichtiger Zeuge in unserem Fall dabei war, als es zu der tödlichen Schießerei im Stadtpark kam.«
»Harry, das kann nicht dein Ernst sein!«, protestierte Bernstein.
Hansen zog die Augenbrauen hoch. »Darum geht’s doch gar nicht. Hauptsache, die Staatsanwaltschaft akzeptiert unser Vorgehen. Dann muss sich der Kollege Schneider mit der aufgeblähten Soko und der Presse herumschlagen und wir können in aller Ruhe ermitteln.«
»Du meinst, du kannst in aller Ruhe auf deine Art ermitteln.«
»Wenn du es so siehst, von mir aus. Können wir das Thema jetzt beenden und uns den Fakten zuwenden?«
»Genau«, schaltete sich Becker ein, »ich habe nämlich Neuigkeiten für euch. Schwanitz ist etwas eingefallen. Er meint, dass der schlanke Täter, der eine Frau gewesen sein könnte, ein Piercing an der Augenbraue trug. Schwanitz sah für einen Moment eine Reflexion des Sonnenlichtes, ein Aufblitzen oberhalb des linken Auges. Außerdem war Grunwald von der Kriminaltechnik eben bei mir.«
»Der taucht immer öfter hier auf«, bemerkte Hansen. »Ich vermute, der würde am liebsten mitermitteln.«
Mathias Grunwald, ein kleiner Mann Anfang vierzig, mit Bierbauch, spärlichem Haarkranz und großer Brille, der als studierter Biologe bei der Kriminaltechnik arbeitete, war bekannt dafür, dass er Untersuchungsergebnisse gern persönlich brachte. Dass er dabei häufig gegen übliche Vorgehensweisen und Regeln verstieß, störte ihn nicht. DNA-Analysen zum Beispiel wurden vom Labor anonymisiert vorgenommen. Das verwendete Material hatte eine neutrale – nicht namentliche – Kennzeichnung und der Mitarbeiter, der die Untersuchung vornahm, wusste nicht, zu welchem Fall es gehörte. Grunwald schaffte es immer wieder, die Untersuchungen zuzuordnen und tauchte dann oft voller Neugier bei dem jeweiligen Ermittler auf. Gerüchten zufolge, die im Polizeipräsidium kursierten, beschäftigte sich der ledige Mann in seiner Freizeit mit berühmten ungelösten oder seiner Meinung nach nur vermeintlich gelösten Mordfällen, wie dem Mord an J. F. Kennedy oder dem angeblichen Selbstmord von Uwe Barschel. Allerdings mussten sogar die größten Lästerer zugeben, dass er seinen Job akribisch und gut erledigte.
»Ja, der Grunwald ist unser eifrigster Hobby-Ermittler«, stimmte Becker zu. »Aber wollen wir nun über Grunwald oder über die Ergebnisse reden?«
Hansen machte eine einladende Handbewegung. »Ergebnisse, bitte.«
»Na fein. Also, die Blutflecken auf dem Orientteppich von Friedemann stammen alle vom Opfer. Da kommen wir nicht weiter. Die Spusi hat den Teppich gründlich abgesaugt und es fand sich ein Haar, hellblond gefärbt, mit Wurzel. Grunwald macht nun eine DNA-Analyse und untersucht das Haar auf weitere Stoffe. Wie ihr wisst, kann man ja in Haaren so einiges finden.«
»Wissen wir, weiter im Text«, forderte Hansen ungeduldig.
Becker sah Hansen erstaunt an. »Mensch, Harry, das ist doch schon was! Schwanitz meinte, er hätte im Stadtpark vielleicht eine Frau gesehen. Ein blond gefärbtes Haar deutet auch auf eine Frau hin, denn die Zeiten von David Bowie sind ja wohl schon lange vorbei.«
»Da täuschst du dich aber«, warf Bernstein ein. »Die Anzahl der Männer, die sich die Haare färben lassen, steigt stetig. Und das sind keineswegs nur Schwule.«
»Aber Platinblond?«
»Auch das.«
»Leute, meine Haare sind auch gefärbt«, sagte Hansen. »Der Farbton nennt sich platingrau.«
»Schon verstanden«, versicherte Becker.
»Was ist mit dem Glas, das in der Küche gefunden wurde?«
»Das Ergebnis der DNA-Analyse sollen wir morgen früh auf dem Schreibtisch haben, hat Grunwald versprochen.«
»Eine Sache verstehe ich nicht«, sagte Hansen und kratzte sich die Bartstoppel. »Lausen hat heute Vormittag einen Anruf gekriegt, von dem Mann, der gestern Abend Friedemann besucht hat, bevor der ermordet wurde. Inzwischen hattet ihr herausbekommen, wer der Mann ist. Ein Außendienstler, der regelmäßig in Hamburg zu tun hat. Da hätte es doch möglich sein müssen, das Hotel ausfindig zu machen, in dem er normalerweise übernachtet. Wieso habt ihr euch den Kerl nicht gegriffen?«
»Das kann ich erklären«, sagte Bernstein. »Dazu muss ich sowieso was erzählen.«
»Dann mal los.«
»Schwanitz hatte mit der Personalchefin der Firma MWB telefoniert. Die hatte schon versucht, den Joachim Dickel zu erreichen. Erfolglos, denn er war in keinem der gewohnten Hotels abgestiegen. Erst vor zehn Minuten konnte ich den Verkaufsleiter von MWB erreichen. Der war mit Geschäftspartnern unterwegs und hatte sein Handy ausgeschaltet. Er konnte mir sagen, dass Dickel diesmal im Nova in Eidelstedt ein Zimmer gebucht hat, weil er in den üblichen, billigeren Hotels keines mehr bekommen hat.«
Hansen wurde wütend. »Warum sagst du das nicht gleich? Das ist doch eine Chance, den Kerl zu kriegen!«
»Komm’ wieder runter, Harry. Was glaubst du denn? Ich bin nicht blöd, ein Streifenwagen ist auf dem Weg. Ich warte auf deren Anruf.«
»Okay, entschuldige, Thomas.«
Bernstein machte eine wegwerfende Handbewegung. »Geschenkt. Viel interessanter ist die Frage, was wir mit diesem Dickel machen, wenn wir ihn haben. Übergeben wir ihn der Soko? Er war dabei, als Lausen erschossen wurde.«
»Da sehe ich kein Problem«, antwortete Hansen. »Die Soko wird in diesen Minuten zusammengestellt, ist also noch gar nicht einsatzfähig. Wir verhören Dickel, dann geben wir ihn weiter.«
»Ich glaube nicht, dass der Mann in sein Hotel zurückkehrt«, meinte Becker. »Der muss eine Heidenangst vor irgendwem oder irgendwas haben, sonst wäre er einfach zu uns ins Präsidium gekommen, um seine Aussage zu machen. Nach dem Erlebnis im Stadtpark fährt der bestimmt nicht ins Hotel. Bevor ich es vergesse: Zwei niedersächsische Kollegen sind auf dem Weg zu Dickels Frau in Barsinghausen. Vielleicht weiß sie, wo wir ihn finden können.«
Hansen reckte einen Finger in die Luft. »Da stellt sich eine weitere Frage: Warum wollte Dickel nicht hierherkommen? Misstraut er der Polizei?