Читать книгу Hamburg - Deine Morde. Der Spion ohne Vaterland - Andreas Behm - Страница 5
Prolog
ОглавлениеDer alte Mann stöhnte, während er sich vorsichtig auf die Sitzfläche des Ohrensessels hinab ließ. Wie in Zeitlupe hob er die Beine auf den Fußhocker und lehnte sich zurück. Er legte sich eine Wolldecke über die Beine, nahm mit zittrigen Fingern eine filigrane Tasse von dem antiken Beistelltisch neben sich und schlürfte den heißen Tee. Bald würde die Wirkung des Schmerzpflasters einsetzen, das er sich soeben auf die Haut geklebt hatte. Dann würde es erträglich werden.
Erträglich! Eine Besserung war nicht mehr zu erwarten. Der alte Mann wusste, dass er in wenigen Wochen sterben würde. »Austherapiert«, hatte der Arzt im Krankenhaus mit professionellem Bedauern gesagt. Ein unscheinbares Wort für eine gewaltige Wahrheit.
Er würde sterben, damit hatte er sich abgefunden. Ein erfülltes, sechsundsiebzig Jahre währendes Leben lag hinter ihm. Und der Ballast falscher Taten drückte ihn nieder. Die Zeit der Befreiung war gekommen. Er würde alles offenlegen, schonungslos gegen sich selbst und die anderen. Wenigstens einmal in seinem Leben wollte er das Gefühl genießen, wahrhaftig zu sein. Den anderen würde es nicht gefallen. Und wenn schon, er schuldete ihnen nichts.
Die wenigen Tage, die ihm bei klarem Verstand blieben, würde er nutzen, um sein Vorhaben zu vollenden. Die Öffentlichkeit sollte alles erfahren. Einen großen Teil seiner Arbeit hatte er bereits geschafft, es bedurfte nur noch der mediengerechten Aufarbeitung der Informationen, um das Erdbeben in Gang zu setzen, das er sich erhoffte und leider nicht mehr erleben würde. Denn am Ende dieser Arbeit stand sein Tod, rechtzeitig herbeigeführt, bevor das Siechtum begänne.
Die Türklingel holte ihn in die Gegenwart zurück. Er schaute auf die Zeiger der Standuhr. Es war kurz vor sieben Uhr am Abend. Wer klingelte so spät an seiner Tür? Er bekam selten Besuch und so gut wie nie unangekündigt.
Verärgert und mühevoll stand er auf, schlurfte zur Wohnungstür und öffnete sie. Auf der Fußmatte stand ein etwa vierzigjähriger Mann, der mit seiner sandfarbenen Bundfaltenhose und dem dunkelgrünen Sakko wie ein mäßig erfolgreicher Vertreter aussah.
»Guten Abend, Herr Friedemann, entschuldigen Sie die Störung«, begann der Besucher das Gespräch.
»Ich kaufe nichts, verschwinden Sie!«, schimpfte der alte Mann.
»Das ist ein Missverständnis, ich will Ihnen nichts verkaufen. Ich habe nur eine Frage.«
»Dann fragen Sie, junger Mann, aber zackig!«
Der Besucher straffte die Schultern und holte Luft. »Könnte es sein, dass Sie mein Vater sind?«
Der alte Mann funkelte ihn böse an. »Ach, versuchen Sie hier eine neue Variante des Enkeltricks? Der verlorene Sohn, unverschuldet in Not geraten, braucht dringend eine größere Summe Geld? Jetzt hören Sie mal zu: Ich bin alt und gebrechlich, aber nicht senil. Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei!«
Friedemann trat einen Schritt zurück, um die Tür schließen zu können.
»Warten Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen«, flehte der Besucher, holte ein vergilbtes Foto aus seiner Sakkotasche und hielt es dem alten Mann unter die Nase. »Links, das ist meine Mutter. Und daneben – ich glaube, das sind Sie.«
Friedemann setzte die Lesebrille auf, die er seit einiger Zeit an einem Lederbändchen um seinen Hals trug, weil er sie vorher zu oft verlegt hatte. Er nahm dem Besucher das Foto aus der Hand und betrachtete es sehr gründlich.»Oh mein Gott, das ist Margot!«, entfuhr es ihm schließlich. »Bitte, kommen Sie herein.«