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Kapitel 1

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Harald Hansen hockte auf der Ecke einer Armlehne seines schäbigen Sofas – in der linken Hand einen Becher Kaffee, in der rechten eine Zigarette – und betrachtete ratlos das Chaos, das sein Vorhaben ›Umzug‹ verursacht hatte. Der Aschenbecher stand auf einem dieser praktischen Faltkartons, die ihm die Möbelspedition massenweise zur Verfügung gestellt hatte. Er würde nur einen Bruchteil davon brauchen, denn der größte Teil seiner Besitztümer gehörte auf den Müll.

Der Hauptkommissar der Hamburger Mordkommission löste mit dem Umzug ein Versprechen ein, das er seiner zwanzig Jahre jüngeren Lebensgefährtin Nadja Kunze vor zwei Jahren gegeben hatte. Wenn ihre Beziehung bis zu seiner Pensionierung noch intakt sein sollte, würde er zu ihr und ihrer Tochter Mareike ziehen.

Das hatte er versprochen. Nun war es soweit. In drei Wochen dürfte er sich nur noch Hauptkommissar a. D. nennen. Kein Dienstausweis, kein Diensthandy, keine Dienstwaffe und kein Dienstwagen. Hansen hatte keinen blassen Schimmer, wie sein Dasein dann funktionieren sollte, es lag außerhalb seiner Vorstellungskraft.

Ja, er hatte seine Einstellung zum Leben allgemein und zu seinem eigenen im Besonderen geändert, seitdem er vor zwei Jahren beinahe in der Elbe vor Brunsbüttel ertrunken wäre und später im Krankenhaus erfahren hatte, dass sein Herz schwächelte. Inzwischen lebte er mit zwei Stents, die man ihm eingesetzt hatte, um verengte Gefäße zu erweitern und Hansen hatte begonnen, den Raubbau an sich selbst zu reduzieren.

Wirklich konsequent war ihm das nicht gelungen. Er hätte das Rauchen ganz aufgeben sollen, zurzeit kam er mit fünf bis zehn Stück aus. Er hätte fünfzehn bis zwanzig Kilo abnehmen sollen, geschafft hatte er fünf. Die Ärzte rieten ihm, den Alkohol generell zu meiden, er vermied lieber den Rat der Ärzte.

Natürlich gab es Auseinandersetzungen mit Nadja. Sie reagierte meistens tolerant und versuchte, ihn so wenig wie möglich zu maßregeln. Andererseits war sie eine ausgebildete OP-Schwester und kannte die Risiken. Für Nadja war es nicht leicht, den Drahtseilakt zwischen Sorge und Bevormundung zu meistern. Dass sie es geschafft hatte, war ein Grund mehr, das Wagnis einer gemeinsamen Wohnung einzugehen.

Hansen war in den letzten zwei Jahren zu der Erkenntnis gelangt, dass sein Leben aus mehr bestehen könnte und müsste als der Jagd nach Mördern. Er hatte alte Leidenschaften wiederentdeckt, die in Vergessenheit geraten waren. Er las Bücher, nicht nur die Geschichten der Kinderbücher, denen die inzwischen achtjährige Mareike atemlos lauschte, sondern auch solche, die seinen Gehirnzellen einen kräftigen Schubs gaben. Er kramte seine alten Vinylscheiben aus dem Keller hervor, wunderte sich, dass man Plattenspieler noch als Neuware erwerben konnte, schritt zur Tat und kaufte sich eine komplette HiFi-Anlage mit Verstärker, Lautsprechern und Plattenspieler. Er brauchte einen halben Tag, um alle Bedienungsanleitungen zu lesen, die Geräte aufzubauen und alle Kabel korrekt zu verbinden. Dann legte er erwartungsvoll die erste Scheibe auf, Heinz Rudolf Kunze – Live! Das Anheben des Tonabnehmers, das Führen an die richtige Stelle und das Umlegen des Hebels zum Absenken des Tonabnehmerarms empfand Hansen wie eine bedeutsame rituelle Handlung. Die Nadel des Tonabnehmers nahm sanft Kontakt zur Oberfläche der Vinylscheibe auf. Hansen lauschte gebannt dem anfänglichen Knistern und die ersten Töne genügten, um Erinnerungen in ihm hervorzurufen, die zu einer rasanten Zeitreise führten.

Hansen war im Grunde einer aus der 68er-Generation, also einer von denen, die Polizisten als Bullen beschimpften und mit Pflastersteinen bewarfen. Diese Leute waren Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre der Schrecken der gutbürgerlichen Schichten, die sich damals nie hätten träumen lassen, dass einer von denen später einmal als Außenminister Deutschlands eine souveräne Figur abgeben würde.

Hansen gehörte in seiner Jugendzeit nicht zu den Steinewerfern. Er war nie ein Freund von Massenaufläufen und gehörte schon im Alter von zwanzig Jahren eher zu den Sonderlingen. Nichtsdestotrotz begeisterte auch ihn die Vorstellung von mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Erotik.

Im Rückblick fiel es ihm schwer, ein Argument dafür zu finden, warum er zur Polizei gegangen war. Er hatte die Entscheidung nie bereut, obwohl es merkwürdig anmutete, dass er Anfang der Achtziger auf dem Weg zum Dienst oft den Song ›Polizisten‹ der deutschen Rockband ›Extrabreit‹ laut im Auto mitsang, der bei seinen Kollegen nicht sonderlich beliebt war.

Der Song von Heinz Rudolf Kunze, den Hansen sich anhörte, hieß ›Bestandsaufnahme‹ und obwohl er in einer anderen Zeit für eine andere Altersgruppe gemacht worden war, traf er bei Hansen ins Schwarze, denn er hatte sich mittendrin befunden – in der Bestandsaufnahme.

Nun galt es, eine neue Form des Lebens anzunehmen! Alternativ konnte man zunächst auf das Klingeln des Handys reagieren.

»Lausen hier. Na, Hansen, wie läuft’s mit den Pensionsvorbereitungen?«

Hauptkommissar Jörg Lausen war der Erste Hauptkommissar der Dienststelle LKA 41 und damit der Stellvertreter bei Abwesenheit des Leiters der Mordkommission, Kriminaloberrat Thorwald. Lausens Hauptaufgabe bestand aber in der Führung der eigenen Mordbereitschaft mit im Regelfall vier Mitarbeitern. Er befand sich ständig unter einem subjektiven Zeitdruck, weshalb er oft in unvollständigen Sätzen sprach.

»Ich stecke mitten in den Umzugsvorbereitungen und würde lieber wieder zur Arbeit kommen«, gab Hansen offen zu.

Lausen lachte. »Umzug ist Horror. Will nicht lange stören, habe nur eine kurze Frage. In meiner Truppe herrscht Personalnot, Ihr Nachfolger kommt am nächsten Ersten, würde gerne bis dahin Ihre Ressourcen nutzen. Schätze, Sie kommen nicht wieder, oder?«

Hansen war überrascht. Er hatte seinen Resturlaub genommen, um den Umzug auf die Reihe zu kriegen. Er würde eine Abschiedsfeier geben und Schluss! Im Grunde befand er sich schon im Zustand des Pensionärs. Der Erste Hauptkommissar hätte Hansens Mitarbeiter Thomas Bernstein und Vera Becker ohne Rücksprache neu einteilen können. Es passte zu Lausen, der als absolut fairer Kollege galt, dass er Hansen nicht übergehen wollte, der nominell immer noch der Teamleiter von Bernstein und Becker war.

»Nein, ich gebe noch meinen Abschied, dann bin ich weg. Und danke, ich weiß Ihre Anfrage zu schätzen. Natürlich können Sie meine Mitarbeiter einsetzen, wie Sie es für richtig halten. Aber seien Sie nett zu den beiden, das sind unsere größten Talente.«

»Das weiß ich, Hansen. Hab’ Sie immer darum beneidet, dass Sie die beiden in Ihrem Team hatten. Wir sehen uns bei der Abschiedsfeier, bis dann.«

Hansen legte das Handy beiseite und verzog das Gesicht, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen. Das Wort Abschiedsfeier tat weh und erstaunt über sich selbst stellte Hansen fest, dass er vor allem den schwulen Lulatsch Bernstein und die wehrhafte Becker vermissen würde.

Er grinste, während er an Vera Becker dachte. Manche Kollegen der Dienststelle Mordkommission nannten sie inzwischen ›Female Harry‹ und meinten damit die weibliche Form des ›Dirty Harry‹. Diesen Spitznamen hatte man Harald Hansen in Anlehnung an Filme mit Clint Eastwood verpasst, was sich allerdings eher auf seine Methoden denn auf sein Aussehen bezog.

Vera Becker wurde Hansens Team vor zwei Jahren zunächst befristet zugeteilt, als es darum ging, den Lippennäher zu fassen, der reihenweise ältere Hamburger Frauen umbrachte. Im Verlauf der Ermittlungen hatte sie üble Erfahrungen sammeln müssen. Danach bemerkte Hansen zum ersten Mal gewisse Ähnlichkeiten zu seiner eigenen Persönlichkeit. Stur wie ein alter Maulesel hatte Becker jegliche psychologische Hilfe zur Verarbeitung der Erlebnisse abgelehnt. Stattdessen bewarb sie sich auf die frei gewordene Stelle des Kollegen Albrecht in Hansens Mordbereitschaft. Der alte Hauptkommissar hatte Gefallen an der nassforschen, jungen Kollegin gefunden und befürwortete ihren Antrag. Der Rest war Formsache. Vera Becker hatte sich als gelehrige Schülerin erwiesen und ging inzwischen bei Ermittlungen gern mal ihre eigenen Wege, so wie es Hansen jahrzehntelang praktiziert hatte. Diese Eigenart und ihre Dickköpfigkeit hatten ihr den Spitznamen eingebracht. In einem Punkt eiferte sie Hansen zum Glück nicht nach: Sie war nicht annähernd so muffelig wie er.

Oberkommissar Thomas Bernstein, selbst erst seit knapp drei Jahren in der Dienststelle tätig, verstand sich gut mit Becker. Ihre Alleingänge brachten ihn aber regelmäßig auf die Palme. Bernstein war der einzige Teamplayer im Team Hansen. Normalerweise bestand eine Mordbereitschaft aus vier Mitarbeitern und einem Hauptkommissar, dem Leiter der Gruppe. Bei Hansens Team hatte man darauf verzichtet, die beiden offenen Stellen für die letzten zwei Dienstjahre von ›Dirty Harry‹ zu besetzen. Das war kaum aufgefallen, denn Hansen hatte jahrelang als eine Art Sonderermittler ohne feste Mitarbeiter fungiert.

Er würde sich daran gewöhnen müssen, dass all das in Zukunft nicht mehr zu seinem Leben gehörte. Stattdessen mutierte er zum Familienmenschen. Der alte Eremit in ihm hatte Bedenken und seufzte leise.

Es lag noch viel Arbeit vor ihm. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, verfluchte sich dafür, dass er diese Sucht wohl nie ganz besiegen würde und setzte das Packen fort.

Hamburg - Deine Morde. Der Spion ohne Vaterland

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