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Kapitel 3

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Jörg Lausen hätte ein zufriedener Mensch sein können. Mit Anfang vierzig hatte er vor gut zwei Jahren den Posten des Ersten Hauptkommissars der Dienststelle LKA 41 bekommen und damit sein Wunschziel erreicht. Höher aufsteigen wollte er nicht, denn er fühlte sich in der praktischen Arbeit wohl. Der Arbeitsalltag seines direkten Vorgesetzten, Kriminaloberrat Michael Thorwald, war von Verwaltungsarbeit geprägt, für die Ermittlungen waren Leute wie Lausen zuständig.

Der Hauptkommissar wurde von den Kollegen respektiert, seine Fachkompetenz war unbestritten. Er arbeitete gern im Team und versuchte, jeden Mitarbeiter seinen Fähigkeiten entsprechend sinnvoll einzusetzen.

Erstaunlicherweise konnte Lausen trotz seines Berufes ein intaktes Familienleben vorweisen. Er war seit zwölf Jahren glücklich verheiratet und sehr stolz auf seinen achtjährigen Sohn Jonas, der als hochbegabt galt.

Eigentlich war alles in Ordnung. Erfolg im Beruf, ein erfülltes Privatleben und eine stabile Gesundheit: Mehr konnte sich ein bescheidener Mensch kaum wünschen.

Aber Lausen war ein Getriebener. Keiner, der dem Geld oder den Frauen hinterherjagte. Keiner, dem Macht oder Prestige wichtig waren. Er war getrieben von der nicht enden wollenden Flut der Gewalttaten, die einzudämmen er zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte. Zu jeder Zeit gab es einen Fall. Wenn kein aktueller vorhanden war, dann gab es einen ungelösten aus dem letzten Jahr, aus der letzten Dekade, aus dem letzten Jahrhundert.

Lausen schaffte es nicht, zur Ruhe zu kommen. Er glaubte ständig, dem Zeitplan hinterherzuhinken, wessen Zeitplan das auch immer war. Die Kollegen mochten ihn, weil er ehrlich und fair mit ihnen umging. Seine nervöse Unruhe stresste aber fast jeden, der längere Zeit mit Lausen zusammenarbeiten musste. Der einzige, der immun dagegen zu sein schien, war Oberkommissar Konrad Schwanitz, dem man im Kollegenkreis das Gemüt (und die Statur) eines Moschusochsen nachsagte.

Um Zeit zu sparen, hatte Lausen die Mitglieder seines Teams gebeten, die Mittagspause zusammen zu verbringen und mit der Besprechung der Fakten des neuen Falls zu verbinden. Folglich saß er gemeinsam mit Schwanitz, Bernstein, Reisberg und Becker beim Essen in der Kantine.

Vera Becker strich sich eine Strähne ihrer dunkelrot gefärbten Haare aus dem Gesicht und machte sich mit Appetit über ihren Matjes her. Ihr Wunsch, bei der Mordkommission arbeiten zu können, hatte sich unerwartet schnell erfüllt. Vor zwei Jahren, im Alter von sechsundzwanzig Jahren, hatte sie das Glück, vorübergehend Hansens Team zugeteilt zu werden. Später hatte sich Hansen für sie eingesetzt und sie bekam die offene Stelle. Der mürrische, alte Querkopf Harry Hansen hatte viel von ihr gefordert, aber sie hatte auch viel von ihm gelernt. Sie mochte ihn und würde ihn vermissen. Er war am Ende seiner Laufbahn gar nicht mehr so grantig, wie ihn die meisten Kollegen immer noch einschätzten.

Nun begann eine neue Zeit mit einem frisch zusammengestellten Team. Neugierig studierte Becker die Essgewohnheiten ihrer Kollegen. Dass Thomas Bernstein unglaubliche Mengen vertilgen konnte und trotzdem rank und schlank blieb, wusste sie bereits aus den letzten zwei Jahren der Zusammenarbeit. Der neben ihr sitzende Ulf Reisberg aß mit aufgestützten Ellenbogen und erzählte zwischen zwei Bissen einen flachen Blondinenwitz, der allen anderen am Tisch nur ein müdes Lächeln entlockte. Oberkommissar Schwanitz sezierte sein Kotelett in aller Ruhe. Mengenmäßig konnte er mit Bernstein mithalten, sein Körper verzieh die Kalorienzufuhr allerdings nicht so folgenlos. Ihr neuer Chef, Hauptkommissar Jörg Lausen, schien die Aufnahme von Nahrung für Zeitverschwendung zu halten. Er hatte sich eine kleine Portion auffüllen lassen und diese hastig, mit kaum wahrnehmbaren Kaubewegungen, in kurzer Zeit verschlungen. Direkt nach dem letzten Bissen begann er die Fallbesprechung. Alle anderen aßen noch.

»Herr Reisberg, was haben die Recherchen bezüglich Friedemann ergeben?«

Reisberg legte seine Gabel auf den Teller. »Tja, das war jetzt nicht so viel, in der kurzen Zeit. Also, der Friedemann war wohl längere Zeit im Ausland, in Venezuela. Er soll dort mit dem Handel von Eisenerz ein Vermögen gemacht haben und ist dann 1991 nach Deutschland zurückgekehrt. In dem Jahr hat er das Haus in Harvestehude gekauft. Die Infos sind aber nicht sicher, ich habe sie von dem Makler, der ihm damals das Haus vermittelt hat. Eine Anfrage an die venezu… also, an die Behörden von Venezuela läuft.«

»Er ist aber gebürtiger Deutscher?«, fragte Lausen.

Reisberg guckte verdutzt. »Ja, wieso? Er hat doch einen deutschen Pass.«

»Gut, ich wollt’s nur wissen, er hätte ja Venezolaner sein können. Was hat er gemacht, bevor er ausgewandert ist?«

Reisberg streichelte mit Daumen und Zeigefinger die Ausläufer seines Mongolenbartes. Überhaupt schien er sich in einer Retro-Look-Phase zu befinden. Er trug Cowboystiefel mit extra langen Spitzen, Röhrenjeans, ein blau-weiß kariertes Flanellhemd und eine Lederweste. So liefen sonst nur die Undercover-Drogenfahnder rum.

Mit der Zunge benetzte er seine Lippen. »Ich sach mal, da wird es ein bisschen schwierig. Ich habe bisher nichts über ihn gefunden aus der Zeit vor einundneunzig.«

»Dann klemmen Sie sich dahinter. Gibt es Verwandte?«

»Keine Ahnung. Ich kümmere mich drum.« Reisberg aß weiter.

Schwanitz schob den sauber vom Fleisch getrennten Knochen an den Rand seines Tellers und sprach mit halbvollem Mund.

»Ohne dem Obduktionsergebnis vorgreifen zu wollen, denke ich, dass wir den Todeszeitpunkt recht gut eingrenzen können.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Lausen.

»Die Zeugenaussagen der Nachbarn. Gegen zweiundzwanzig Uhr soll die Musik in Friedemanns Wohnung laut gedreht worden sein. Im ersten Stock, neben diesem überkandidelten Discjockey, wohnt ein pensionierter Oberstudienrat. Der meinte, dass es kurz vor dreiundzwanzig Uhr wieder leise wurde in Friedemanns Wohnung. Da war dann wohl die Folter beendet.«

»Das muss aber nicht heißen, dass Friedemann in der Zeit auch getötet wurde«, widersprach Bernstein, »theoretisch könnte er später umgebracht worden sein.«

»Naja, theoretisch …«, begann Schwanitz.

Lausen unterbrach ihn. »Warten wir mal die Obduktion ab, die ist für vierzehn Uhr angesetzt.«

»Wer soll da hin?«, fragte Reisberg mit dem sicheren Gefühl, dass es ihn treffen würde. Die Vorschrift besagte, dass bei einer Obduktion ein Beamter der Dienststelle und ein Vertreter der Staatsanwaltschaft anwesend sein mussten.

»Das macht ein Kollege des Teams von Schneider, der sowieso heute vor Ort ist«, erklärte Lausen. »Irgendwelche Thesen zur Tat?«

Reisberg freute sich, nicht bei der Obduktion anwesend sein zu müssen und vermutete aufgrund des offenen und leeren Tresors einen Raubmord. Schwanitz irritierte die brutale Art der Folter, weshalb er persönliche Motive und starke Hassgefühle als Triebfeder sah.

»Frau Becker, wie denken Sie darüber?«, fragte Lausen, der wusste, dass Becker vor ihrer Ausbildung bei der Polizei ein paar Semester Psychologie studiert hatte. Er hoffte auf eine psychologische Interpretation des Tathergangs.

»Ich habe noch keine Meinung«, antwortete die junge Kommissarin. »Vielleicht ist es eine Mischung aus beiden Ansätzen. An einen normalen Raubmord glaube ich allerdings nicht. Auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Ohrensessel lag eine Armbanduhr. Wenn ich mich nicht getäuscht habe, war das eine Breitling. Das sind Luxusuhren, die kosten normalerweise ein paar tausend Euro. So was lässt kein Raubmörder liegen.«

»Ja, die Uhr ist mir auch aufgefallen, gutes Argument.«

»Was ist mit dem Typen im grünen Sakko?«, fragte Reisberg. »Sollen wir den zur Fahndung ausschreiben?«

Lausen stand auf. »Nein, wir haben nichts gegen die Person in der Hand. Ein Zeugenaufruf in den Medien reicht für den Anfang. Unwahrscheinlich, dass dieser Mann unser Täter ist, der Zeitablauf passt nicht. Der Besucher kam um neunzehn Uhr. Er hätte sich drei Stunden mit Friedemann unterhalten müssen, bevor er mit der Folter anfing. Schwer vorstellbar. Beenden wir die Spekulationen. Herr Reisberg, Sie wissen, was zu tun ist. Kollege Bernstein kann Ihnen bei den Nachforschungen über Friedemann helfen. Frau Becker, Sie kümmern sich um die Ergebnisse der Spusi. Konrad, du versuchst, den Mann im grünen Sakko aufzutreiben und ich werde die Staatsanwaltschaft informieren. Neues Treffen um sechzehn Uhr im Büro.«

Während Hauptkommissar Lausen mit seinem Team zu Mittag aß, war der fast im Ruhestand befindliche Hauptkommissar Hansen bereits auf dem Weg zu seiner neuen Bleibe. Er fuhr in seinem vor wenigen Tagen gekauften, zehn Jahre alten Opel Astra Caravan hinter dem Wagen des Umzugsunternehmens her. Früher war er ohne eigenes Auto ausgekommen, hatte entweder den Dienstwagen oder Bus und Bahn benutzt. Der Dienstwagen war weg und die Kleinfamilie wollte in Zukunft durch die Gegend kutschiert werden. Somit war ein preiswerter Kombi die richtige Wahl, fand Hansen.

Die Möbelpacker hatten zügig gearbeitet und Hansens Hab und Gut nach einer Stunde in ihrem LKW verstaut. Er hatte ihnen am Schluss ein Bier angeboten, weil er glaubte, das sei so üblich. Die drei kräftigen Männer hatten dankend abgelehnt.

Bier gab es bei ihnen erst nach Feierabend. Moderne Zeiten, andere Sitten. Hansens letzter Umzug lag über zwanzig Jahre zurück. Damals wäre das Bier gut angekommen. Die in der Wohnung verbliebenen Reste sollte die städtische Sperrmüllabfuhr in ein paar Tagen abholen.

Nadja und ihre Tochter wohnten schon seit einem Jahr in der Vier-Zimmer-Wohnung, die nun das gemeinsame Domizil werden sollte. Hansen zahlte von Beginn an einen Teil der Miete. Nadja hätte die Kosten allein nicht tragen können, obwohl sie einen neuen, gut bezahlten Teilzeitjob im Krankenhaus Barmbek gefunden hatte. Eigentlich lief alles gut. Mareike profitierte von dem Konzept der integrierten Gesamtschule, die sie seit einem Jahr besuchte. Hier wurde sie gezielt gefördert und konnte trotz ihrer Lernschwäche mithalten.

Nadja hatte Hansen ein eigenes Zimmer zugestanden, das groß genug war, um darin neben dem Bett und dem Kleiderschrank einen Schreibtisch, ein Regal und einen bequemen Sessel unterzubringen. Sie musste ihn nicht stören, wenn sie wegen des Schichtdienstes in aller Frühe aufstehen musste und er konnte sie mit seinem Schnarchen nicht in den Wahnsinn treiben. Sie hatten alles im Voraus vernünftig geregelt. Trotzdem hatte er Angst, dass es schiefgehen könnte. Den Altersunterschied von zwanzig Jahren konnte man nicht wegregeln.

Hansen schreckte aus seinen Gedanken hoch. Der Möbelwagenfahrer vor ihm wollte einen falschen Abzweig nehmen. Hansen hupte und setzte sich mittels eines riskanten Überholmanövers vor den LKW, um die Führung zu übernehmen. Er kannte den Weg in sein neues Heim, war schon oft genug dort gewesen. Er hätte sich freuen müssen. Ein Leben ohne Nachtbereitschaft, ohne dutzende Überstunden, ohne Blutlachen, Lügen, psychisch Gestörte und Verwesungsgeruch. Das hätte ihn fröhlich stimmen sollen. Aber Hansen wusste, dass er all das vermissen würde.

Nadja stand wartend vor der Haustür, als der kleine Umzugstross sein Ziel erreichte. Ihre große Nase zeigte leicht gerötet einen beginnenden Sonnenbrand an.

Sie hatte sich diesen Tag freigenommen, um Harry helfen zu können. Mareike war in der Schule. Er ging zu Nadja, schaute wieder einmal fasziniert in ihre klaren, blauen Augen und umarmte sie.

Sie gab ihm einen Kuss. »Willkommen im neuen Zuhause. Vor dem Auspacken gibt es was zu essen. Ich habe Gulasch mit Nudeln gekocht.«

Sie winkte den Möbelpackern zu. Die freuten sich und folgten ihr bereitwillig. Hansen bewunderte ihr Organisationstalent und Zeitgefühl. Sie wusste, wer wann was brauchte und zauberte es genau dann hervor.

Nach dem Essen ging Hansen zusammen mit einem der Möbelpacker auf den Balkon, um eine Zigarette zu schmöken. In der Wohnung durfte er nicht rauchen. Der Möbelpacker stützte seine kräftigen Arme auf das Geländer. Da er ein halbärmeliges T-Shirt trug, konnte Hansen zahlreiche Tätowierungen auf den Unterarmen sehen.

»Schön haben Sie es hier«, sagte der Mann, während er den Ausblick prüfte. »Und Ihre Freundin macht ein klasse Gulasch. Sie sind zu beneiden.«

Bin ich das?, fragte sich Hansen zweifelnd und glücklich zugleich.

»Sie sind ein Bulle … tschuldigung, Polizist, nä?«, fragte der Mann freundlich.

»So gerade noch«, antwortete Hansen, »in drei Wochen nicht mehr. Wie kommen Sie darauf?«

»Hab’ Sie mal gesehen, im Polizeipräsidium, vor ungefähr drei Jahren. Ich wurde dort vernommen.«

»Sie waren im Knast.« Hansen stellte keine Frage, es war eine Feststellung.

Der Möbelpacker schaute ihn offen an.

Hansen deutete auf die tätowierten Unterarme. »Das sind doch Knast-Tattoos, oder? Man sieht es an der schlechten Qualität.«

»Ja, so ist das. Hab’ in meinem Leben viel Mist gebaut. Das ist Vergangenheit, seit einem Jahr bin ich solide. Mein Chef weiß Bescheid, der hat ’ne soziale Ader. Ich bin echt froh, die Kurve gekriegt zu haben. Für einen Vorbestraften ist es nicht leicht, an einen Job zu kommen.«

Hansen schüttelte verwundert den Kopf. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ihr Knackis seid manchmal echt blöd. Jeder hat eine zweite Chance verdient, keine Frage. Naja, fast jeder. Ihr sehnt euch nach einem Neuanfang, wollt nicht als Kriminelle abgestempelt werden. Aber im Knast lasst ihr euch mit den Tätowierungen genau den Stempel auf ewig in die Haut ritzen. Das verstehe ich nicht.«

Der Ex-Knacki betrachtete nachdenklich seine Arme. »So habe ich das noch nie gesehen. Sie haben recht, die Tattoos sind wie ein Ausweis. Zum Glück habe ich den Absprung trotzdem geschafft.«

Hansen gab dem Mann die Hand. »Ich wünsche Ihnen, dass es so bleibt.«

»Danke, Ihnen auch alles Gute für das neue Leben. Na, dann wollen wir mal Ihre paar Klamotten hier rauf bringen.«

Das Büro hatte eine Fläche von mindestens sechzig Quadratmetern und war das einzige, das durch gemauerte Wände von den anderen Räumen abgetrennt war. Die Firma hatte eine komplette Etage des modernisierten Speichers nahe der neuen Hafencity angemietet. Die anderen Büros wurden durch Glaswände voneinander getrennt und hatten zwischen zehn und zwanzig Quadratmetern. Bei der Renovierung blieb die massive Holzstützenkonstruktion mit den mächtigen Querbalken an der Decke erhalten. Die ursprünglichen Fenster mit oberen Halbbögen und die Ladeluken mit Schiebetüren waren behutsam mit modernen Materialien den Anforderungen der Zeit angepasst worden. Der rustikale Charme des alten Speicherhauses blieb so erhalten.

Der Mann hinter dem drei Meter breiten Schreibtisch hatte trotz seines Alters volles, schwarzes Haar. Er wirkte sehr gepflegt und seine Kleidung sehr teuer. Die weiße Schiebetür in seinem Rücken stand halb offen. Früher wurden durch diese Lücke in der Außenwand die Kaffeesäcke aus den Schuten unten im Fleet in das Lager im dritten Stock gehievt. Heute schützte ein schmiedeeisernes Gitter vor einem unbeabsichtigten Fehltritt mit Folgen.

Der Raum kannte nur zwei Farben: schwarz und weiß. Glänzend weiß lackierte Fronten der Schränke vor weiß getünchten Wänden standen in scharfem Kontrast zu schwarzen Sitzmöbeln und Tischen. Sogar das zwei Meter breite und einen Meter hohe abstrakte Gemälde an einer Seitenwand zeigte Karos in schwarz, weiß und ein wenig grau. Nur der Fußboden mit seinen dunkelbraun gebeizten Holzdielen wich von diesem Schema ab. Der Raum gestattete keine unklaren Äußerungen oder Zwischentöne, er symbolisierte ein Konzept: Einschüchterung.

Der Chef legte seinen Hinterkopf an die hohe Lehne des Lederstuhls. In gebührendem Abstand vor dem Schreibtisch standen breitbeinig, die Hände an den Rücken gelegt, zwei passenderweise schwarz gekleidete Gestalten. Der Mann hatte eine Figur wie ein durchtrainierter Schwimmer, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Mit seinem Bizeps wäre auch ein Arnold Schwarzenegger zufrieden gewesen. Die Frau neben ihm trug eine blonde Punkerfrisur und diverse Piercings. Sie war schlank und ihre Haltung strahlte absolute Körperbeherrschung aus.

»Haben Sie das Problem gelöst?«, sprach der Chef die Frau an.

»Zum Teil«, antwortete die Blonde.

Der Chef verzog das Gesicht, Antworten dieser Art mochte er nicht.

»Was soll das heißen?«, fragte er scharf.

Die Punkerin holte hinter dem Rücken eine Aktenmappe hervor und warf sie auf den Schreibtisch. Die Mappe rutschte über die glatt polierte Fläche, bis der Chef sie mit seiner Hand stoppte.

»Die Unterlagen, die Sie angefordert hatten. Den Laptop haben wir auch.«

Sie gab dem Schwimmer ein Zeichen, der daraufhin eine Laptoptasche von seiner Schulter nahm und sie vorsichtig auf die Schreibtischplatte legte.

»Die Dateien?«

»Sind auf dem Laptop«, sagte die Blonde.

Der Chef zupfte seine Krawatte gerade und beugte sich vor. »Wunderbar. Wo ist das Problem?«

»Die Dateien sind verschlüsselt. Ohne den Entschlüsselungscode kann man die nicht öffnen.«

»Ach was! Sie müssen mir nicht erklären, welche Bedeutung eine Verschlüsselung hat! Sie sollten die Dateien gar nicht öffnen, nur nachsehen, ob sie vorhanden sind.«

Er nahm den Laptop aus der Tasche und startete ihn. Dann durchsuchte er verschiedene Verzeichnisse. Die Blonde und der Schwimmer warteten schweigend ab. Abrupt stand der Chef auf, lief um den Schreibtisch herum und stellte sich dicht vor die Blonde.

»Da haben wir das Problem. Der Mistkerl hat den Schlüsselcode exportiert. Hat der alte Knacker etwas von einem USB-Stick oder einer Speicherkarte erzählt?«

»Nein.«

»Das begreife ich nicht. Sie haben alles aus ihm herausgekriegt, aber den Code hat er Ihnen nicht gegeben?«

Die Blonde änderte ihre Körperhaltung um keinen Millimeter. Er fixierte ihre dunklen Augen. Normalerweise konnte er in den Augen seiner Gesprächspartner lesen wie in einem offenen Buch. Bei dieser Frau versagten seine Künste.

»Nein. Er war weitaus widerstandsfähiger, als ich erwartet hätte. Wir sind wirklich an die Grenzen gegangen. Am Ende stand nur noch die Frage, wie er stirbt. Gesagt hätte er so oder so nichts mehr. Im Tresor waren nur die Akten.«

Der Chef massierte sich mit zwei Fingern die linke Schläfe als hätte er Kopfschmerzen.

»Der alte Mann muss einen Helfer gehabt haben. Von alleine wäre er nie auf die Idee gekommen. So gut waren seine Computerkenntnisse nicht. Was ist mit dem Typ in dem grünen Jackett, den die Polizei sucht? Ich hörte es im Radio. Könnte er den Code haben?«

»An den habe ich gerade gedacht«, sagte die Blonde. »Er war bei unserem Zielobjekt. Wir mussten vor der Tür warten, bis er endlich ging.«

»Sie wissen nicht, wer er ist?«

»Wir mussten Prioritäten setzen. Unser Ziel war Friedemann, nicht das grüne Jackett.«

»Können Sie ihn aufspüren?«

»Das sollte kein Problem sein. Ich sah, wie er in seinen Wagen stieg, ein blauer VW Passat Kombi.«

»Davon gibt’s aber viele.«

Die Blonde lächelte siegesgewiss. »Es war ein Firmenwagen und ich habe mir die Firma gemerkt.«

Nun lächelte der Chef auch und setzte sich wieder. »Ich mag fähige Mitarbeiter. Na gut, dann suchen Sie mal.«

Die Blonde und der Schwimmer gingen zur Tür. Der Chef holte die Blonde mit einem Räuspern und einem Wink zurück. Sie trat dicht an seinen Schreibtisch. Der Schwimmer stand acht Meter entfernt an der Bürotür.

»Eine Frage«, flüsterte er. »Wir kennen uns jetzt schon eine Weile, aber ich habe Ihren Kompagnon nie sprechen hören. Ist der Mann stumm?«

Die Blonde zeigte blitzsaubere, weiße Schneidezähne. »Ronny? Der spricht nur, wenn ich es ihm erlaube.«

»Das gefällt mir.«

Als der Chef allein im Büro war, nahm er das Telefon zur Hand.

»Fritsche, kommen Sie mal in mein Büro.«

Fritsche kam und der Chef übergab ihm den Laptop.

»Versuchen Sie mal, ob Sie die Verschlüsselung der Dateien knacken können. Ich glaube es zwar nicht, aber man soll ja nichts unversucht lassen. Wenn es klappt, geben Sie mir sofort Bescheid.«

»Das sollte kein Problem sein.«

»Bei einer 256-Bit-Verschlüsselung?«

»In Friedemanns Laptop steckt ein kleiner, hässlicher Trojaner, der jedes Passwort aufzeichnet. Den habe ich selbst installiert. Mit dem richtigen Passwort können wir die Schlüsseldatei öffnen und das Problem ist gelöst«, antwortete Fritsche stolz.

»Gut gemacht, Fritsche. Nur leider nicht zu Ende gedacht. Der Schlüssel befindet sich auf einem externen Speicher. Da nützt uns der Trojaner zurzeit gar nichts. Aber wenn wir den Speicher finden, könnte er noch nützlich werden.«

Fritsche lief rot an, sein erwarteter Triumph hatte sich als Rohrkrepierer erwiesen.

Die Kommissare Bernstein und Reisberg saßen frustriert vor ihren Monitoren. Sie hatten Datenbanken und Melderegister durchsucht, bei Finanzämtern und Amtsgerichten nachgefragt und sogar die Flensburger mit ihrer Verkehrssünderdatei eingeschaltet. Nirgendwo gab es Informationen über Rudolf Friedemann aus der Zeit vor 1991. Familienangehörige konnten sie ebenfalls nicht ausfindig machen.

Ulf Reisberg war besonders schlecht gelaunt. Der erfolglose Nachmittag war nicht sein einziges Problem. Reisberg hatte in Bezug auf Menschen eine sehr schlichte Einstellung. Mit heterosexuellen, weißhäutigen Männern aus dem westeuropäischen Raum, die Fußball liebten und Bier tranken, kam er klar. Mit Frauen, die ihre von der Natur vorgegebene Rolle als Mutter, Hausfrau und Sexgespielin akzeptierten, hatte er keine Probleme. Zumindest glaubte er das. Er war erst zweiunddreißig Jahre alt, aber im Geiste lebte er in den fünfziger Jahren, einer Zeit, in der die Rollen klar verteilt waren, junge Frauen Petticoats trugen, Männer wie James Dean sein wollten und Ehefrauen ihre Gatten um Erlaubnis bitten mussten, wenn sie einen Beruf ausüben und eigenes Geld verdienen wollten. Offen zugegeben hätte er das so deutlich nie. Reisberg fühlte sich in ein falsches Zeitalter hineingeboren.

Und nun musste er mit einem schwulen Kollegen und einem emanzipierten Mannweib zusammen in einem Team arbeiten! Wo sollte das noch hinführen? Überhaupt, wieso war der Schwule eigentlich schon Oberkommissar, obwohl er ein Jahr jünger als Reisberg war? Der hatte bestimmt Beziehungen nach oben.

»Wieso finden wir rein gar nichts über Friedemann?«, fragte Bernstein ratlos. »Der hatte vor 1991 anscheinend nicht mal ein Auto angemeldet.«

»Apropos Auto«, nahm Reisberg dankbar den Faden auf, »fährst du eigentlich immer noch diesen alten Schrottbulli, die Dreckschleuder? Kannst ja froh sein, dass Hamburg bisher keine Umweltzonen eingeführt hat. Mit der Kiste dürftest du dann nicht mehr fahren.«

Reisberg war selbst ein Fan von alten Autos, leider waren die gut erhaltenen Ami-Schlitten aus den Fünfzigern bei seinem Gehalt unerschwinglich. Trotzdem nutzte er gerne jede Gelegenheit, um dem schwulen Kollegen einen beizupulen.

Bernstein reagierte zunächst nicht. Er bereute zutiefst, in seiner Anfangszeit in der Abteilung fast jedem jungen Kollegen von gleichem Rang das ›Du‹ angeboten zu haben. Er hätte besser selektieren sollen.

»Der Schrottbulli, wie du ihn nennst, ist ein gut erhaltener VW Bus T3 mit seltener Westfalia-Ausstattung. In einem Jahr wird er dreißig, dann kriegt er ein H-Kennzeichen und darf in Umweltzonen gefahren werden.«

»Trotzdem ist das ’ne Umweltsünde«, ließ Reisberg nicht locker.

Bei diesem Thema kam Bernstein in Rage. Er hasste es, wenn Leute mit oberflächlichem Halbwissen argumentierten und ihr Horizont dabei an der eigenen Nasenspitze endete.

»Du hast keine Ahnung, Ulf. Erstens wurden die Umweltzonen eingeführt, um den Feinstaubgehalt in der Luft zu reduzieren. Benzinmotoren erzeugen gar keinen Feinstaub in ihren Abgasen. Das schaffen nur Dieselmotoren. Fährst du nicht einen alten Golf Diesel?«

Reisberg merkte, dass er ein Eigentor geschossen hatte.

»Zweitens«, setzte Bernstein seinen Vortrag fort, »werden historische Fahrzeuge, also die mit dem H-Kennzeichen, in der Regel nur wenige tausend Kilometer im Jahr gefahren, fallen somit gar nicht ins Gewicht. Und drittens sollte man mal auf die komplette Öko-Bilanz eines Autos schauen. Wusstest du, dass vierzig Prozent der gesamten Co2-Menge, die ein Auto während eines durchschnittlich langen Lebens verursacht, bei der Produktion anfallen? Es macht durchaus Sinn, ein Auto möglichst lange zu fahren, um Ressourcen zu schonen.«

Die beiden Hitzköpfe hatten nicht bemerkt, dass ihr Chef Lausen seit geraumer Zeit hinter ihnen stand. Sie zuckten erschreckt zusammen, als sie seine Stimme hörten.

»Leute, könntet ihr eure Diskussion auf den Feierabend verlegen? Was ist nun mit Friedemann? Habt ihr was rausgefunden?«

»Nee, das … das ist echt schwierig«, stotterte Reisberg.

Bernstein stand auf. Schlechte Nachrichten verkündete man im Stehen leichter, vor allem, wenn man hundertneunzig Zentimeter groß war. Er schaute auf Lausen herab.

»Sorry, wir haben leider nichts gefunden. Wir sind alle Datenbanken und Register durchgegangen. Jetzt können wir nur noch auf Antworten der Bundesbehörden hoffen.«

»Das gibt’s doch nicht«, schimpfte Lausen. »Irgendeine Spur seines Lebens muss es geben! Der Mann ist kein Phantom, immerhin haben wir seine Leiche.«

»Für mich gibt es nur eine logische Erklärung«, meinte Bernstein. »Der Mann, der als Rudolf Friedemann seit fast zwanzig Jahren in Harvestehude gelebt hat, ist in Wahrheit jemand anderes.«

»Gut möglich«, stimmte Lausen zu. »Wir sollten seine Papiere einer gründlichen Überprüfung unterziehen lassen. Vielleicht sind sie gefälscht. So, und jetzt ab in den Besprechungsraum, Ergebnisse zusammentragen.«

Lausen hatte Kaffee, Mineralwasser und Kekse in den Besprechungsraum bringen lassen. Nachdem alle Mitarbeiter versorgt waren, bat er zunächst Vera Becker um ihren Bericht.

»Unsere Kollegen von der Kriminaltechnik haben die Untersuchung des Tatorts abgeschlossen«, begann die Kommissarin. »Der vorläufige Bericht ist ziemlich kurz. Eine Reihe von Untersuchungen zu den sichergestellten Spuren steht noch aus. Von der Spurenlage her muss Friedemann auf einem Polsterstuhl mit Holzarmlehnen gesessen haben, während er gefoltert wurde. Es ist davon auszugehen, dass er gefesselt und geknebelt war. Material zur Fesselung wurde komischerweise nicht gefunden, das muss vom Täter beseitigt worden sein. Geknebelt wurde das Opfer anscheinend mit einem Waschlappen aus dem eigenen Haushalt. Der Waschlappen lag unter dem Stuhl, neben der Leiche. Die deutlich sichtbaren Speichelanhaftungen werden gerade im Labor untersucht. Die Analyse der zahlreichen kleinen Blutspritzer auf dem Teppich läuft ebenfalls noch. Vermutlich stammen sie alle vom Opfer. Die Kollegen fanden diverse Stofffasern, an deren Zuordnung wird gearbeitet. Am interessantesten dürfte die Lage bei den Fingerabdrücken sein. In der Bibliothek, also im Tatraum, gibt es an den üblichen Stellen – Tresor, Türklinken, Tischkante und so weiter – keine oder nur verwischte Fingerabdrücke, gleiches gilt für die Wohnungstür und den Klingelknopf. Aber in der Küche standen mehrere benutzte Gläser und auf einem sind Abdrücke, die nicht vom Opfer stammen. Die Haushälterin hat das Glas nicht angefasst, die habe ich befragt. Es könnte gut sein, dass diese Abdrücke von dem unbekannten Besucher mit dem grünen Sakko stammen. Wenn wir Glück haben, ist der in unserer Datenbank. Das war’s für den Anfang.«

»Danke, Frau Becker«, sagte Lausen. »Dann ergänze ich das mit dem ebenfalls vorläufigen Obduktionsbericht von Doktor Peters. Die zeitliche Abfolge der unappetitlichen Details kann der Doktor nicht festlegen. Die Liste ist lang: Faustschläge ins Gesicht und in den Bauch, teilweise vielleicht mit einem Schlagring ausgeführt, oberflächliche Schnittwunden an den Armen und im Brustbereich, Schläge mit einem unbekannten Gegenstand auf die Finger, die Genitalien wurden mittels eines Kupferdrahtes mit Stromschlägen malträtiert. Die Liste der Verletzungen ist unglaublich lang: Jochbeinbruch, Unterkieferbruch, gebrochene Rippen, Milzriss, Nierenquetschung, verbrannte Haut an den Genitalien und so weiter. Am Ende wurde der arme Mann mit einer Drahtschlinge erdrosselt. So schrecklich das klingt, aber das muss eine Erlösung gewesen sein. Peters meint, dass hier jemand zu Werke ging, der wusste, wie weit man gehen kann, ohne dass das Opfer zu früh stirbt. Er geht von mindestens zwei Tätern aus. Die Schläge ins Gesicht wurden von links und von rechts mit gleicher Kraft ausgeübt. Entweder haben wir es mit einem durchtrainierten Boxer zu tun, der beidhändig annähernd gleich gut zuschlagen kann oder eben mit einem Rechts- und einem Linkshänder. In den Bartstoppeln des Opfers, das sich wohl zwei oder drei Tage nicht rasiert hatte, fand unser guter Doktor kleine schwarze Partikel, die im Labor bereits untersucht wurden. Es handelt sich um gefärbtes Leder. Die Täter trugen Lederhandschuhe.«

»Dann müssen wir nur die Handschuhe und ihre Besitzer finden, das ist ja einfach«, stellte Reisberg fest.

Lausen warf ihm einen genervten Blick zu. »Zum Schluss sei noch erwähnt, dass Rudolf Friedemann schwer krank war. Peters fand ein Fentanylpflaster auf seinem Oberarm.«

»Fentanyl? Ist das nicht eine Art Opiat, das man bei starken Tumorschmerzen verschreibt?«, fragte Bernstein.

»Ja, Peters hat daraufhin den Leichnam entsprechend untersucht und diverse Metastasen in den Organen gefunden. Nach seiner Einschätzung lag Friedemanns Lebenserwartung bei höchsten drei Monaten.«

»Vielleicht wurde er so ausgiebig gefoltert, weil das Schmerzmittel ihm half, länger durchzuhalten«, spekulierte Becker. »Und irgendjemand war mächtig unter Zeitdruck, er konnte Friedemanns natürlichen Tod nicht abwarten.«

»Oder der Zeitdruck entstand durch das bevorstehende Ableben Friedemanns«, sagte Schwanitz, der bisher geschwiegen hatte.

»Zeitdruck ist ein gutes Stichwort.« Lausen schaute auf seine Armbanduhr. »Muss gleich los, meinen Sohn vom Fußballtraining abholen. Konrad, gibt’s was Neues in Sachen grünes Sakko?«

Schwanitz zog die Schultern hoch. »Noch nicht. Der Aufruf läuft im Radio bei NDR, RSH, Radio Hamburg und Alster-Radio. Die Zeitungen bringen die Meldung morgen früh, Hamburger Express, BILD, Mopo und so weiter.«

»Okay, die Geschichte mit Friedemanns ominösem Vorleben kann der Kollege Bernstein erzählen. Schreibt eure Berichte, dann ist Feierabend. Wie gesagt, ich muss los, tschüss.«

Lausen hob grüßend die Hand und verschwand.

Bernstein setzte sich auf die Kante von Beckers Schreibtisch.

»Na, wie sieht’s aus?«, fragte er. »Bist du fertig?«

Beckers Finger huschten über die Tastatur. Schließlich vollführte ihr rechter Zeigefinger eine Pirouette in der Luft und landete auf der Enter-Taste.

»Ja, fertig!«, jubilierte sie. »Berichte schreiben, ich hasse es. Wie spät ist es?«

»Kurz vor sieben«, maulte Reisberg zwei Tische weiter. »Regelarbeitszeit bis 16.30 Uhr, dass ich nicht lache!«

»Lustig ist das Polizistenleben, faria, faria, hoo!«, trällerte Bernstein.

Er beugte sich zu Beckers Ohr hinab und flüsterte, damit Reisberg nichts mitbekam. »Gehen wir was essen? Ich habe einen Bärenhunger.«

Vera Becker nickte, schnappte sich ihre Jeansjacke und zog Bernstein mit sich fort. Als Reisberg von seiner Tastatur aufschaute, saß er allein im Büro.

Sie einigten sich auf den Spanier in der Alsterdorfer Straße und bestellten sich Tapas und Wein.

»Wir sind lange nicht mehr nach Feierabend zusammen essen gegangen«, stellte Becker fest. Ihre Hand ergriff Bernsteins Unterarm und drückte ihn freundschaftlich. »Schön, dass es mal wieder geklappt hat. Aber was ist mit Jan? Wartet der nicht auf dich?«

»Mein hoffentlich treuer Lebenspartner weilt in Köln.«

»Machst du dir Sorgen?«

»Hat Köln nicht nach Berlin die zweitgrößte Ansammlung von Schwulen in Deutschland?«

Becker lachte. »Da darfst du mich nicht fragen. Du bist doch der Schwule von uns beiden.«

»Nein, war nur ein Joke. Jan hat da einen großen Auftrag an Land gezogen, das könnte für ihn der Durchbruch werden. Bisher war das ja nicht so doll mit seiner Selbstständigkeit als Innenarchitekt.«

»Ist bestimmt nicht einfach, sich inmitten der Finanzkrise selbstständig zu machen.«

»Wohl wahr. In den letzten Monaten haben wir ausschließlich von meinem Beamtengehalt gelebt. Und bei dir? Wie läuft es mit Erik?«

Becker verzog ihr Gesicht. »Erik ist passé. Er hatte wenig Verständnis für meine wechselnden Arbeitszeiten und mir ging es ebenso mit seiner Vorliebe für Blondinen. Können wir das Thema wechseln?«

Sie strich sich mit einer Hand durch das rotbraune Haar, als wollte sie betonen, wie weit sie davon entfernt war, blond zu sein.

Bernstein guckte betreten. »Sorry, ich wollte nicht …«

»Schon gut. Neues Thema: Wie findest du unser Übergangsteam? Lange werden wir in dieser Zusammensetzung ja nicht arbeiten.«

»Nö, wenn zum nächsten Ersten der neue Hauptkommissar seinen Dienst antritt, wird alles neu gemischt. Hauptsache, wir müssen dann nicht mit Reisberg in einer Gruppe zusammenarbeiten.«

»Der hat was gegen Schwule, stimmt’s?«

»Ja, seine Sprüche sind nervig. Außerdem ist er meiner Meinung nach geistig ziemlich beschränkt. Pass bloß auf, für den sind Frauen Freiwild!«

Becker grinste schelmisch. »Der soll nur kommen. Aber Schwanitz ist ein Netter, oder?«

»Das ist der Ausgleichende in der Truppe, der hat die Ruhe weg. Im Gegensatz zu unserem Chef Lausen, der ist in Ordnung, aber seine Hibbeligkeit kann einem auf Dauer zu schaffen machen.«

»Was Harry wohl gerade macht?«, fragte Becker unvermittelt.

Da die Kellnerin mit dem Essen kam, wurde dieses Thema vertagt.

Besagter Harry Hansen genoss zur selben Zeit den lauen Sommerabend. Er hatte auf dem Balkon mit Rücksicht auf die Nachbarn einen Elektrogrill aufgebaut, obwohl er das Grillen mit Holzkohle bevorzugte. Hansen spielte den Grillmeister und Nadja servierte dazu Salat, Pellkartoffeln mit Sourcream und Knobi-Brot. Nach dem Essen bestand Mareike darauf, von Onkel Harry ins Bett gebracht zu werden. Dieser Pflicht kam er gerne nach.

»Erzähl mir eine Geschichte, eine mit Polizei und Räubern«, verlangte die Achtjährige.

Hansen grübelte. »Habe ich dir schon die Geschichte von den dummen Bankräubern erzählt?«

»Nein, die kenne ich nicht, nun fang endlich an!«

Hansen erzählte von den Bankräubern, die von einem Nebengebäude der Bank aus über viele Tage einen Tunnel durch die Erde gruben. Sie wollten am Wochenende von unten her in den Tresorraum gelangen und richtig fette Beute machen. Hansen schilderte mit zahlreichen Ausschmückungen, wie sie buddelten und schufteten. Sie merkten nicht, dass ihr Tunnel viel zu lang wurde und sie sich unter der Bank hindurch bis zum nächsten Gebäude gebuddelt hatten. Sie gruben sich nach oben, bohrten ein großes Loch in den Fußboden, streckten die Köpfe heraus und wurden von brüllendem Gelächter empfangen. Der Ausgang ihres Tunnels befand sich mitten in einem Polizeirevier.

Hansen machte die Gesichter der verblüfften Bankräuber nach und Mareike kicherte vor Vergnügen.

»Und was lernen wir daraus?«, fragte er zum Schluss.

Mareike guckte ihn ratlos an.

»Man sollte im Unterricht beim Rechnen gut aufpassen. Wenn die Räuber in der Schule besser aufgepasst hätten, dann hätten sie sich bei der Länge des Tunnels nicht verrechnet.«

»Ich will gar keine Banken ausrauben«, entgegnete Mareike entrüstet.

Eins zu null für das Kind, dachte Hansen. Meine pädagogisch wertvollen Geschichten sind noch verbesserungsfähig.

Auf den Balkon zurückgekehrt, schenkte er sich einen Korn ein.

»Willst du auch einen?«, fragte er Nadja.

»Lieber nicht, nach dem Genuss von Hochprozentigem werde ich hemmungslos.«

»Dann solltest du einen nehmen«. Hansen machte sich Hoffnungen.

»Auf meinem vollgefutterten Bauch turnt heute keiner mehr rum«, klärte sie die Fronten.

Hansen streichelte den eigenen Bauch. »Hast recht, ich schaffe auch keine Turnübungen mehr.«

Er streckte sich genüsslich und betrachtete das kitschige Rot der untergehenden Sonne. Nadja nippte an ihrem Weinglas.

»Na, alter Mann, hast du schon Pläne für deinen Ruhestand?« »Ist das eine Berufskrankheit von Krankenschwestern? In offenen Wunden wühlen zu müssen? Alter Mann! Ruhestand! Ich fühle mich nicht wie ein Rentner.«

»Du bist aber einer.« Sie grinste ihn schelmisch an.

»Noch bin ich Hauptkommissar im Dienst. Ich habe nur Urlaub und den werde ich genießen.«

»Das sollst du ja. Trotzdem, was willst du in Zukunft machen?«

Hansen zündete sich eine Zigarette an. »Ich werde all die Bücher lesen, die ich in den letzten Jahren gern gelesen hätte, ich werde meine alten Schallplatten hören und ich werde schön lange ausschlafen, ohne dass mitten in der Nacht mein Handy klingelt.«

Nadja schüttelte bedauernd den Kopf. »Morgen wirst du nicht ausschlafen, Harry. Ich habe Frühdienst, du musst Mareike zur Schule bringen. Das hatte ich dir vor ein paar Tagen gesagt.«

»Oh, na schön. Ich werde übermorgen mit dem Ausschlafen anfangen.«

Nadja ließ nicht locker, sie konnte auf ihre Art genauso beharrlich sein wie er.

»Nun sag’ schon«, forderte sie. »Bücher lesen und Schallplatten hören, das füllt wohl kaum den Tag aus.«

Wie machen die Frauen das?, fragte sich Hansen im Stillen. Mit zwei, drei Sätzen treiben sie einen Mann mühelos in die Enge. Die haben eine natürliche Begabung für Verhöre.

»Du musst arbeiten«, sagte er. »Also werde ich dich unterstützen, mit Mareike und im Haushalt.«

Nadja lachte laut. »Bitte nicht, Harry! Erinnerst du dich? Du hast mir mindestens ein halbes Jahr lang deine Wohnung vorenthalten, und als ich sie dann sehen durfte, verstand ich auch, warum. Du hast viele Qualitäten, aber Hausarbeit gehört sicher nicht dazu.«

»Ich bin lernfähig«, maulte er.

Sie beugte sich vor und ergriff seine Hand.

»Harry, ich will dir nur helfen. Du brauchst eine sinnvolle Beschäftigung, sonst wirst du unleidlich.«

»Ja, ich weiß. Ich denk’ drüber nach.«

»An dem Punkt waren wir schon mehrmals in den letzten Wochen.«

Joachim Dickel hatte Mühe, die Schlüsselkarte in den Schlitz des elektronischen Türschlosses zu stecken. Er hatte an der Hotelbar zwei Bier und einen Longdrink getrunken, er hatte vorher nichts gegessen und er war das Trinken von Alkohol nicht gewöhnt. Leicht schwankend betrat er sein Hotelzimmer. Er hängte seine braune Sommerjacke an den Garderobenhaken. Das grüne Sakko hatte er vorsorglich in seinen Koffer gepackt. Die Polizei suchte ihn. Für eine Zeugenaussage, sagten sie im Radio.

Sie werden mich in die Mangel nehmen, dachte er. Stundenlang, immer wieder dieselben Fragen. Ich bin ein Tatverdächtiger.

Aus der Minibar entnahm er eine Flasche Mineralwasser und, nach kurzem Zögern, ein kleines Wodkafläschchen. Er schüttete den Wodka in sich hinein und ließ das Wasser hinterherlaufen. Danach legte er sich rücklings auf das Bett. Das Deckenlicht blendete. Er schaltete die Nachttischlampe ein, das Deckenlicht aus und legte sich wieder hin.

Er verteidigte seinen Alkoholkonsum vor sich selbst. Wenn einer heute Grund hatte, sich zu betrinken, dann jawohl er. Dickel starrte die Zimmerdecke an und versuchte, im Nebel des Alkohols klare Gedanken zu finden.

Von einem Tag auf den anderen war er Teil einer Geschichte geworden, deren Inhalt er nur ansatzweise begriff. Das war nicht gut, denn diese Geschichte hatte das Potenzial, sein gewohntes Leben komplett auf den Kopf zu stellen. Womöglich war das bereits geschehen und er würde der Letzte sein, der es kapierte.

Vor vier Jahren war Dickels Mutter schwer krank geworden. Zunächst hatte ihn ihre Einweisung in das Kreiskrankenhaus nicht allzu sehr beunruhigt. Ihre Nieren funktionierten schon länger nicht mehr einwandfrei, sie war Dialyse-Patientin und musste immer wieder kurze Krankenhausaufenthalte hinter sich bringen.

Der Anruf des behandelnden Arztes kam spät am Abend.

»Sie sollten sich sofort auf den Weg machen«, sagte der Arzt, »wenn Sie Ihre Mutter noch lebend antreffen wollen.«

Dickel konnte sich genau erinnern, an alles. Er würde es nie vergessen.

Er gab seiner Frau eine knappe Erklärung, stieg in sein Auto und raste los, von Barsinghausen nach Südhessen. Er kam rechtzeitig an, seine Mutter schlug die Augen auf, als er ihre Hand ergriff.

»Mein Sohn, ich bin so froh, dich zu sehen«, sagte sie. »Der Herrgott will mich zu sich holen, ich spüre das.«

Die Religiosität seiner Mutter war ihm schon häufig auf die Nerven gegangen. Der Herrgott schert sich einen Dreck um dich, Mama, hätte er gern geschrien, der hat sich nie um dich gekümmert! Er sagte nichts, streichelte sanft ihren knöchernen Handrücken. Wenn es das Sterben leichter macht, ist es gut, dachte er.

»Ich will beichten«, sagte sie.

»Natürlich, ich hole einen Priester.«

Sie richtete sich auf, mit einem plötzlich erscheinenden lebendigen Funkeln in ihren Augen, als wäre der Tod weit entfernt.

»Ich brauche keinen Priester, dir muss ich beichten, Jockel!«

Er mochte diesen Kosenamen nicht. Jockel Dickel, wie bescheuert klang das denn? Er schluckte seinen Ärger runter.

»Was willst du mir beichten, Mama? Ich brauche deine Beichte nicht.«

»Du brauchst sie. Du kannst das nicht ahnen, aber du brauchst sie. Und jetzt hör’ mir zu. Ich weiß nicht, wie lange meine Kraft noch reicht.«

Er beugte sich vor, küsste ihre eingefallene Wange. »Schon gut, Mama, reg’ dich nicht auf, ich höre dir zu.«

Er saß auf einem harten Plastikstuhl, am Sterbebett seiner Mutter und hörte die Wahrheit, die sie ihm jahrzehntelang verschwiegen hatte.

»Dein Vater war kein Seemann, kein Offizier auf einem Stückgutfrachter. Ich habe dich belogen, dein ganzes Leben lang. Ich tat das nicht, um dir zu schaden, sondern um dich zu schützen. Bitte, das musst du mir glauben!«

»Ich verstehe nicht, was erzählst du mir da? Mein Vater ist bei einem Schiffsunglück im Pazifik ums Leben gekommen, bevor er dich heiraten konnte. Deshalb bin ich als uneheliches Kind zur Welt gekommen.«

»Ja, das ist die Geschichte, die ich dir und allen anderen im Dorf erzählt habe. Ich musste das tun. Denk’ mal nach! Du wurdest 1971 geboren. Wir lebten in einem kleinen, erzkatholischen Dorf. Was glaubst du, wäre passiert, wenn ich die Wahrheit gesagt hätte?«

Dickel erinnerte sich an das beklemmende Gefühl, das damals im Krankenhaus in ihm hochstieg.

»Welche Wahrheit, Mama?«

»Ich habe deinen Vater geliebt, er war mein Traummann. Und er hat mich geliebt, das musst du wissen. Aber er musste damals fort, Hals über Kopf. Er hat mich ein letztes Mal getroffen, mitten in der Nacht, am Dorfweiher. Er hat geweint, bevor er mich verließ. Ich weiß bis heute nicht, was er damals getan hat, aber er sagte mir, dass er fort müsse, dass er gezwungen würde, zu gehen und keine Wahl hätte. Er hat für irgendeine geheime Organisation gearbeitet, für die hatte er in unserer Gegend etwas erledigen müssen und dann musste er fliehen. Sonst hätte er riskiert, ins Gefängnis zu kommen.«

»Du willst mir also beichten, dass mein Vater in Wahrheit ein Verbrecher war, der dich, schwanger mit mir, hat sitzen lassen, um nicht in den Knast zu müssen?«

»Nein, das verstehst du falsch. Er wusste nicht, dass ich schwanger war. Ich wusste es selbst nicht. Und er war kein Verbrecher, er hat für ein höheres Ziel gearbeitet. Das hat er mir geschworen, und ich habe ihm geglaubt!«

»Ein höheres Ziel! Was soll das denn gewesen sein?«

»Jockel, ich weiß es nicht. Wir hatten nur eine Viertelstunde, um uns zu verabschieden.« Sie lächelte. »Und ein Großteil der Zeit ging beim Küssen drauf.«

»Was ist mit seinem Namen, der in meiner Geburtsurkunde steht? Stimmt der wenigstens?«

Sie schaute beschämt zur Seite. »Nein. Erinnerst du dich an Karl, unseren damaligen Bürgermeister? Ihm hatte ich mich anvertraut, als mir klar wurde, dass ich schwanger war. Er hat das alles für mich geregelt – Gott sei seiner Seele gnädig. Der Name gehört zu einem Seemann, der tatsächlich zu der Zeit mit seinem Schiff unterging und ledig war. Karl kannte einen Standesbeamten, der mitgespielt hat. Ich stellte keine Ansprüche, es ging nur darum, meinen Ruf zu wahren, dich zu schützen und Schaden vom Dorf abzuwenden. Dein richtiger Vater wohnte ja nur ein paar Wochen in unserem Gasthof. Deshalb wussten die Leute im Dorf praktisch nichts über ihn und wir kamen mit unserer Geschichte durch.«

Dickel saß fassungslos auf dem harten Krankenhausstuhl, starrte die Wand an und versuchte verzweifelt, die aufkommenden widerstrebenden Gefühle in den Griff zu kriegen.

»Wie ist der richtige Name meines Vaters?«, fragte er mit heiserer Stimme.

»Johannes Zietlow. Zuhause in meinem Schlafzimmer, in der Nachttischschublade findest du ein Bild von ihm, das einzige, das ich habe.«

Minutenlang saß er schweigend neben ihr.

»Jockel?«

»Ja, Mama?«

»Verzeihst du mir?«

»Ja, Mama. Du hast mich schützen wollen, dafür musst du dich nicht entschuldigen.«

»Dann ist es gut. Nun kann ich beruhigt einschlafen.«

Dass sie gestorben war, merkte er erst zwei Stunden später. Ihre Hand, die er streichelte, war erkaltet.

Am frühen Morgen betrat er die Wohnung seiner Mutter. Sein Weg führte ihn direkt in das Schlafzimmer zum Nachttisch. Er fand das Bild und betrachtete es eingehend. Sein Vater umarmte seine Mutter und lächelte charmant in die Kamera, ein hochgewachsener, schlanker und gut aussehender Mann mit dem Ansatz von Geheimratsecken. Er konnte verstehen, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Er ging zu einem Spiegel auf dem Flur und untersuchte den eigenen Haaransatz.

Er nahm sich eine Woche Urlaub, löste den Hausstand auf und kümmerte sich um die Beerdigung. Dabei lernte er die Vorzüge eines verlässlichen Bestattungsunternehmens kennen, das ihm viele Behördengänge ersparte. Diese Leute wussten, was man nach dem Tod eines Menschen zu erledigen hatte und wie man vorgehen musste. Er wäre damit völlig überfordert gewesen.

Am Tage der Rückkehr nach Barsinghausen begann er die Suche nach Johannes Zietlow, seinem Vater.

Joachim Dickel lag noch immer auf dem Rücken auf seinem Hotelbett, die Knie am Bettrand angewinkelt, die Füße auf dem Boden. Er raffte sich auf, zog Schuhe, Strümpfe und Hose aus, dann ging er ins Bad, um zu pinkeln.

Er hatte vier Jahre lang alles versucht, Anfragen an Behörden gestellt, Suchdienste informiert, zu Selbsthilfegruppen von Angehörigen vermisster Menschen Kontakt aufgenommen und eine eigene Homepage kreiert, auf der er um Hinweise über den Verbleib seines Vaters bat. Menschen meldeten sich, die glaubten, diesen Johannes Zietlow zu kennen oder gesehen zu haben. Alle Anhaltspunkte liefen ins Leere. Mit der Zeit wuchs in Dickel das Gefühl heran, einem Phantom nachzujagen, oder einem Menschen, der womöglich längst nicht mehr existierte. Seine Hoffnung schwand. Seine Ehe geriet in Gefahr, weil er jede freie Minute für die Suche opferte. Schließlich, vor einem Jahr, entschloss er sich, aufzugeben. Es machte keinen Sinn, für die Suche nach einem Mann, den er gar nicht kannte und der seit fast vierzig Jahren verschwunden war, das Glück der Gegenwart aufs Spiel zu setzen.

Dann, vor einer Woche, geschah es. Er hockte nach Feierabend in diesem trostlosen Hotelzimmer. Im dritten Fernsehprogramm lief das Hamburg-Journal. Es zeigte einen Bericht über einen Autounfall in der Hochallee. Eine junge Frau war einem Hund ausgewichen, der über die Fahrbahn gelaufen war. Ein stattlicher Baum stoppte ihre Fahrt. Frau und Hund blieben unverletzt, ein banales Ereignis. Die Kamera zeigte das zerbeulte Auto, im Hintergrund waren einige Gaffer zu sehen. Ein alter Mann schlurfte desinteressiert vorbei, er drängelte sich durch die Menge. Dickel sah das Gesicht des Mannes nur für eine Sekunde, doch in seinem Kopf tauchte sofort das Foto auf, das er im Nachttisch seiner Mutter gefunden hatte. Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in ihm breit, so unerwartet wie eine Mischung aus Autounfall und Lottogewinn. Minutenlang glotzte er fassungslos den Monitor an, obwohl dort schon längst andere Beiträge liefen.

Er rief in der Redaktion des NDR an, er blieb hartnäckig, ließ sich nicht abwimmeln, bettelte fast um Hilfe. Ein mitfühlender oder entnervter Redakteur willigte endlich ein, ihm einen Mitschnitt des Beitrages per E-Mail zu schicken.

Auf seinem Laptop schaute er sich die Szene wieder und wieder an. Mit jedem Mal wurde sein Glaube fester und seine Stimmung euphorischer. Er wählte das beste Standbild, vergrößerte es und speicherte es auf einem USB-Stick. Am nächsten Morgen suchte er eine Druckerei in der Nähe auf und ließ sich das Bild mehrmals ausdrucken. Nach vier Tagen, in denen er die Straßen von Harvestehude auf und ab gelaufen war und jedem Passanten, der ihm begegnete, das Bild gezeigt hatte, bekam er den entscheidenden Hinweis. Fünf Stunden später wusste er, wo der Mann wohnte, der wie sein Vater aussah. Er brauchte weitere zwei Tage, um den Mut zu sammeln, an der Tür seines Vaters zu klingeln.

Dickel erhob sich von der Toilette, legte sich, bekleidet mit Slip und Oberhemd, in das Bett, zog die Decke bis zum Kinn hoch, den Blick erneut auf die Zimmerdecke gerichtet. Er war jetzt neununddreißig. Seit mindestens fünfunddreißig Jahren vermisste er seinen Vater. Seit vier Jahren suchte er nach ihm. Gestern hatte er knapp drei Stunden mit seinem Vater reden können. Und heute war sein Vater tot.

Tränen bildeten sich, liefen aus den äußeren Augenwinkeln seitlich an den Schläfen herab bis in seine Ohrmuscheln und verursachten ein Kitzeln.

Hamburg - Deine Morde. Der Spion ohne Vaterland

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