Читать книгу Hamburg - Deine Morde. Der Spion ohne Vaterland - Andreas Behm - Страница 9
Kapitel 4
ОглавлениеEs war ein herrlicher Morgen. Obwohl der Balkon im Schatten lag, hatte die Luft sich bereits so erwärmt, dass Harry Hansen entspannt im kurzärmeligen T-Shirt draußen sitzen und seinen zweiten Kaffee genießen konnte. Er hatte Mareike zur Schule gebracht, auf dem Rückweg eine Tageszeitung gekauft und es sich dann gemütlich gemacht. Einen Meter von ihm entfernt erfreute sich eine Hummel am Frühstücksbüfett der Balkonblumen.
Der Artikel über den Mord in Harvestehude und der Zeugenaufruf seiner Kollegen entfachte die Neugier in ihm, doch er beherrschte sich und rief nicht im Präsidium an. Er fühlte sich wohl, es gab keinen Anlass, rückfällig zu werden.
Die Kollegen saßen zur gleichen Zeit im Besprechungsraum und trugen Fakten zusammen.
Vera Becker gab die neuen Erkenntnisse der Kriminaltechnik bekannt.
»Die Fingerabdrücke an dem Glas, das in der Küche gefunden wurde, stammen von einem Menschen, der bisher nicht erkennungsdienstlich behandelt wurde. Kurz gesagt: Wir wissen nicht, wer die Abdrücke hinterlassen hat. Aber es gibt Hoffnung. An dem Glas fanden sich auch Speichelreste. Das Labor arbeitet daran, vielleicht ist eine DNA-Bestimmung möglich. Der Polstersessel, auf dem Friedemann gefoltert wurde, ist ebenfalls interessant. Dort wurden grüne Stofffasern gefunden. Der unbekannte Besucher mit dem grünen Sakko muss auf dem Sessel gesessen haben, wahrscheinlich bevor Friedemann dort gefoltert wurde. Der Lederabrieb, den Doktor Peters in den Bartstoppeln des Opfers fand, stammt von zwei verschiedenen Arten Leder. Wie Peters schon vermutete: Wir haben es mit zwei Tätern zu tun.«
Lausen nickte zufrieden. »Gut, wir kommen langsam voran. Der Zeugenaufruf?«
»Der Zeuge selbst hat sich nicht gemeldet«, sagte Schwanitz, »aber ich bekam eben eine Nachricht. Eine Nachbarin, die im Haus gegenüber von Friedemann wohnt, will den Mann im grünen Sakko gesehen haben. Ich fahre gleich hin, um sie zu befragen.«
»Was haben wir noch?«
Reisberg meldete sich zu Wort. »Die Haushälterin, diese Frau Tornow, ist sich sicher, dass Friedemann einen Laptop hatte. Sie nannte ihn Klapp-Computer«. Er lachte. Als Einziger. »Naja, jedenfalls hat die Spusi keinen Laptop gefunden. Laut einer abgelegten Rechnung aus dem Jahr 2008 müsste es ein Acer sein. Typ und Seriennummer habe ich schon in unsere Datenbank eingegeben. Die Kollegen von Einbruch und Raub klappern die bekannten Hehler ab und halten die Augen offen.«
Lausen kaute auf dem Ende seines Kugelschreibers herum. Zum Sprechen unterbrach er das Kauen. »Der Obduktionsbericht liefert leider keine neuen Fakten, die uns weiterbringen könnten. Hat noch jemand was?«
»Die Telefongesellschaft hat uns den Einzelverbindungsnachweis von Friedemann geschickt«, sagte Bernstein. »Viel telefoniert hat er nicht, meistens mit dem Pflegedienst, dem Essenslieferservice oder seiner Haushälterin. Da taucht allerdings eine Nummer regelmäßig mindestens einmal pro Woche auf. Der Anschluss gehört einem Axel Rogowski, wohnhaft in Wismar. Ich hab’s schon versucht, der ist momentan nicht zu erreichen. Und von den Bundesbehörden ist bisher auch nichts gekommen.«
Lausen hatte den Druckknopf des Kugelschreibers fast kleingekriegt.
»Okay«, sagte er, »ist nicht viel, was wir haben. Dranbleiben, wir müssen mehr über Friedemann erfahren.«
Das Erwachen wurde schnell zur schmerzhaften Angelegenheit. Es war bereits 9.35 Uhr. Kaum hatte Dickel das Bett verlassen, meldeten sich heftige Katersymptome. Er vertrug einfach keinen Alkohol. Er nahm zwei Aspirin, wusch sich, zog sich an und zwang sich, ein Frühstück einzunehmen. Beim zweiten Kaffee ging es ihm besser. Er konnte endlich klar denken. Gestern Vormittag hatte er seinen Vater erneut besuchen wollen, als er jedoch die Polizeiwagen, den Leichenwagen und die Schaulustigen gesehen hatte, war er in Panik abgehauen.
Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er stürzte den Rest Kaffee hinunter und rannte zu seinem Zimmer. Hektisch wühlte er in den Taschen seines grünen Sakkos. Dann hielt er den schmalen SD-Speicherchip zwischen Daumen und Zeigefinger und atmete erleichtert auf. Suchend blickte er sich um. Wohin mit dem Ding? Wo war es sicher?
Er öffnete den Kleiderschrank, zog die Reisetasche hervor und nahm seine Digitalkamera heraus. Die hatte er auf Reisen ständig dabei, weil er ein begeisterter Hobbyfotograf war. Er zog die Speicherkarte aus der Kamera. Sie hatte das gleiche Format wie der Chip, den er von seinem Vater bekommen hatte. Den steckte er nun in die Kamera. Er öffnete das Fenster und knipste ein halbes Dutzend banale Fotos der Aussicht. Der freie Platz auf dem Speicher reichte dafür allemal. Wenn jemand die Kamera überprüfen sollte, würde er nichtssagende Bilder eines Hobbyfotografen finden. Die Datei mit dem Entschlüsselungscode zeigte die Kamera nicht an. Dickel war zufrieden. Den Speicher aus der Kamera steckte er in ein Seitenfach der Reisetasche, die er zurück in den Schrank stellte. Er ging ins Bad und wusch sich die Hände, als hätte er soeben unhygienische Dinge berührt.
Noch spürte er den Restalkohol, doch langsam dämmerte ihm, dass er womöglich in Lebensgefahr schwebte. Dickel wusste nicht viel über die Sache, in die sein Vater verwickelt gewesen war. Sie hatten zu wenig Zeit und zuviel zu klären gehabt. Johannes Zietlow alias Rudolf Friedemann hatte ihm zum Schluss die Speicherkarte in die Hand gedrückt und gesagt:
»Pass gut darauf auf. Das ist meine Lebensversicherung. Ich kenne dich zwar erst seit drei Stunden, doch du bist mein Sohn. Das sehe und spüre ich. Wem soll ich vertrauen, wenn nicht dir?«
Er hatte die Arme ausgebreitet und seinen Sohn an sich gepresst.
»Dass ich dich noch kennenlernen durfte, das ist das größte Geschenk meines Lebens«, hatte der alte Mann unter Tränen geflüstert. »Hätte ich bloß früher erfahren, dass es dich gibt, dann …«
Dickel kehrte in die Wirklichkeit des Hotelzimmers zurück. Sein Vater war vorgestern brutal ermordet worden, trotz dieser Lebensversicherung.
Was würden die Leute, die das getan hatten, mit ihm machen, wenn sie ihn erwischten? Er musste handeln, bevor er zum Spielball der Anderen werden würde. Er wählte die Rezeption an und ließ sich die Nummer des Polizeipräsidiums geben.
Dass vor seinem Hotel ein schwarzer Audi parkte, dessen Insassen großes Interesse an ihm hatten, ahnte er nicht.
Oberkommissar Schwanitz kehrte von der Befragung der Zeugin zurück, lief grußlos an den Kollegen vorbei zu seinem Arbeitsplatz und startete den Internetbrowser. Reisberg näherte sich von hinten und schaute ihm neugierig über die Schulter.
»Was machst du da?«
»Moment, ich muss kurz was googeln. Lass’ mich in Ruhe!«
»Okay, okay.« Reisberg trollte sich.
Nach zwei Minuten nahm Schwanitz den Telefonhörer zur Hand und führte ein kurzes Gespräch, bei dem er sich Notizen machte. Er stand auf und ging an Reisberg vorbei zu Bernstein und Becker, deren Schreibtische aneinandergrenzten.
»Kollegen, ich habe ihn«, sagte er, ohne dabei die Stimme zu erheben.
»Wen?«, fragte Bernstein.
»Den Mann im grünen Sakko. Ich weiß, wer er ist.«
Reisberg trat von hinten heran. »Nun komm’ in die Hufe! Wer ist der Kerl?«
Becker stand auf. »Ich hole den Chef dazu, der sollte dabei sein.«
»Gute Idee«, fand Schwanitz, »dann muss ich nicht alles zweimal erzählen.«
Becker kam mit Lausen zurück und Schwanitz durfte berichten.
»Also, ich war bei dieser Zeugin, die sich nach unserem Aufruf gemeldet hatte. Sie hat ausgesagt, an dem Tatabend einen Mann im grünen Sakko kurz vor zweiundzwanzig Uhr gesehen zu haben, der in seinen Wagen stieg, einen dunkelblauen Kombi.«
Reisberg stöhnte. »Toll, davon gibt es ja nur eine Handvoll.«
»Wart’s ab«, antwortete Schwanitz ruhig. »Die Frau ist eine Zeugin der seltenen Art. Sie hat sich die Firmenbeschriftung des Autos gemerkt: MWB, das steht für: Maschinen und Werkzeuge Brüderle. Die Firma hat ihren Sitz in Stuttgart und beliefert freie Autowerkstätten in ganz Deutschland.«
»Brüderle? Verwandt mit unserem Wirtschaftsminister?«, unterbrach Reisberg erneut.
Schwanitz warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Keine Ahnung, interessiert mich nicht. Ich habe mit der Firma telefoniert. Der Außendienstmitarbeiter für Norddeutschland heißt Joachim Dickel und er hat sich seit zwei Tagen nicht gemeldet, geht nicht an sein Handy und hat mehrere Kundentermine unentschuldigt verpasst. Die Leiterin der Personalabteilung hat sich gewundert, der Mann ist normalerweise sehr zuverlässig.«
Jörg Lausen hatte die ganze Zeit erstaunlich ruhig mit vor der Brust gekreuzten Armen dagestanden und zugehört. Nun meldete er sich zu Wort.
»Fein, dann weiß ich jetzt, mit wem ich mich nachher treffen werde.«
Vier Augenpaare guckten ihn erstaunt an.
Lausen zuckte mit den Achseln. »Ihr lasst einen ja nicht zu Wort kommen. Vor fünf Minuten bekam ich einen anonymen Anruf. Der Anrufer sagte, er sei der Zeuge, den wir suchen. Er versicherte, dass er Friedemann nicht ermordet habe und meinte, wenn ich seine Geschichte hören würde, dann würde ich ihm bestimmt glauben. Natürlich habe ich ihn aufgefordert, zu uns ins Präsidium zu kommen und eine Aussage zu machen. Das hat er strikt verweigert. Er wirkte auf mich sehr nervös. Man könnte es auch ängstlich nennen. Er bestand darauf, mich allein zu treffen, vor dem Eingang zur Freilichtbühne im Stadtpark, heute um vierzehn Uhr.«
Becker kannte die Freilichtbühne. Sie hatte rechtzeitig im Vorverkauf zwei Karten für das Konzert von Reamonn ergattert, das in rund acht Wochen stattfinden sollte. Sie wusste allerdings noch nicht, wen sie dann mitnehmen würde.
»Vor welchem der zwei Eingänge?«, fragte sie.
»Er meinte den Eingang im Stadtpark, nicht den Haupteingang am Ring 2«, antwortete Lausen.
»Du willst da allein hingehen? Das kommt nicht in Frage!«, protestierte Schwanitz.
»Natürlich nicht, Konrad. Du und Reisberg, ihr werdet mich begleiten. Aber ihr müsst Abstand wahren, euch im Hintergrund halten. Ich will den Mann nicht verscheuchen. Ich habe das Gefühl, dass wir mit seinen Informationen einen großen Schritt vorwärtskommen könnten. Konrad, ich brauche alles, was du in der Kürze der Zeit über den Mann rausfinden kannst.«
»Die Personalchefin schickt uns einen Lebenslauf. Das Fax müsste jeden Moment hier eintreffen.«
»Sehr gut. Jagt den Namen trotzdem durch alle Datenbanken.«
Bernstein suchte derweil im Internet nach Informationen über den Stadtpark und einen Wegeplan. Er wurde schnell fündig.
»Da haben wir ihn«, rief er und las halblaut vor. »Der Stadtpark … ab 1901 … hmm … hundertfünfzig Hektar groß …«
»Ha, der Central Park ist dreihundertfünfzig Hektar groß«, bemerkte Reisberg, der Rock ’n’ Roll- und Amerika-Fan.
»Ja ja, ich weiß«, antwortete Bernstein gereizt, »in den USA ist sowieso alles besser und größer. Warum gehst du nicht nach New York zur berittenen Polizei? Da kannst du den ganzen Tag Cowboy spielen und durch den Central Park reiten. Aber Vorsicht! In New York gibt’s auch Schwule.«
Bevor Reisberg einen Satz aussprechen konnte, der mit ›Du Arschloch‹ beginnen sollte, erhob Becker ihre Stimme:
»Der Ohlsdorfer Friedhof ist dreihundertneunzig Hektar groß, also größer als der Central Park. Können wir zum Wesentlichen zurückkehren?«
»Danke, Frau Becker«, sagte Lausen. »Manchmal wünsche ich mir ein reines Frauenteam.«
Die Personalchefin hielt Wort. Nun hatten sie wenigstens ein paar Informationen über den Mann im grünen Sakko. Joachim Dickel war neununddreißig Jahre alt, hundertachtzig Zentimeter groß, seit zehn Jahren verheiratet und Vater einer sieben Jahre alten Tochter. Er stammte aus Mörlenbach, einem kleinen Ort in der Nähe von Heppenheim, Südhessen. Nach der mittleren Reife machte er eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann. Seit fünf Jahren arbeitete er im Außendienst für MWB. Er galt als fleißig und zuverlässig. Das Foto der Personalakte zeigte einen Mann mit wohlgeordneter Scheitelfrisur ohne besondere Merkmale.
Der Stadtpark dehnte sich von Westen nach Osten über knapp zwei Kilometer und von Norden nach Süden bis zu einem Kilometer aus. Die Freilichtbühne für die Open-Air-Konzerte befand sich im nordöstlichen Eck des Parks, begrenzt von Jahnring und Saarlandstraße, und sie war Luftlinie nur anderthalb Kilometer vom Polizeipräsidium entfernt. Die beiden Eingänge waren von der Saarlandstraße und, über einen schmalen Waldweg, vom Jahnring aus erreichbar. Das Gelände der Freilichtbühne war durch Zäune und eiserne Tore an den Eingängen gesichert.
Lausen beschloss, um 13.50 Uhr zu starten und mit zwei Wagen zur Saarlandstraße zu fahren. Dort gab es Parkbuchten, die in der Woche kaum besetzt waren. Am Jahnring gab es keine Parkmöglichkeiten. Im ersten Wagen würde er selbst sitzen, im zweiten sollten Schwanitz und Reisberg folgen. Sie würden zu Fuß bis zum Waldweg am Jahnring gehen. Von dort müssten sie nur rund fünfzig Meter zurücklegen, bis zu dem Platz vor dem hinteren Eingang zur Freilichtbühne, der das Ende der breiten und imposanten Platanenallee bildete, die nach historischen Plänen erst im Jahr 2002 neu angelegt worden war und über mehrere hundert Meter bis an den Stadtparksee heranreichte.
Zunächst lief alles nach Plan. Lausen bog vom Jahnring aus in den Waldweg ein. Schwanitz und Reisberg folgten in einem Abstand von dreißig Metern. Am Rande des Waldstreifens, neben einem Toilettenhaus, das zur Freilichtbühne gehörte, blieb Lausen im Schatten der Bäume stehen und sondierte die Lage. Er hatte den von der Sonne hell bestrahlten Platz vor sich, der das Ende der zwanzig Meter breiten Platanenallee bildete. Zwei parallel verlaufende, fast weiße Sandwege, in der Mitte von Rasenbanketten getrennt, wurden von den langen Platanenreihen links und rechts umrahmt. Die jungen Bäume spendeten nur wenig Schatten. Links vor Lausen befand sich der Eingang zur Freilichtbühne, abgeriegelt durch knapp mannshohe Gitter. Zur Rechten zweigten zwei schmale Wege ab, die durch den dicht bewachsenen Laubwald führten. Schwanitz und Reisberg verbargen sich hinter zwei Baumstämmen und warteten ab.
Der Mann im grünen Sakko stand wie verabredet in der Mitte des Platzes, nur zwanzig Meter von Lausen entfernt und schaute in die andere Richtung, in der man weit entfernt das Glitzern des Stadtparksees erkennen konnte.
Der Hauptkommissar machte ein paar Schritte nach vorn. Doch bevor er nahe genug war, um den Mann anzusprechen, preschten plötzlich zwei Gestalten von rechts aus einem der schmalen Wege im Sprinttempo hervor. Beide trugen weiße Turnschuhe, schwarze Jeans und Kapuzenshirts. Trotz des warmen Wetters hatten sie die Kapuzen weit über die Köpfe gezogen, so dass ihre Gesichter kaum zu erkennen waren. Sie rannten zu dem Mann im grünen Sakko und packten ihn von beiden Seiten an den Armen. Joachim Dickel versuchte sofort, sich loszureißen und drehte sich dabei um hundertachtzig Grad. Nun erst sah er Hauptkommissar Lausen und er hörte dessen Stimme.
»Polizei! Lassen Sie sofort den Mann los!«
Die halb vermummten Typen reagierten. Der eine, muskulös gebaute, zerrte Dickel nach rechts, während der andere, schlank und drahtig, einen Satz nach links machte. Beide zogen Waffen aus den Taschen ihrer Shirts. Lausen schrie »Waffen fallen lassen!« und griff nach seiner Dienstwaffe, die er in einem Holster hinten rechts am Hosengürtel trug.
Die Angreifer hatten geschickt agiert. Mit ihren Bewegungen in entgegengesetzte Richtungen hatten sie das Bedrohungsfeld für Lausen vergrößert. Er konnte seine Aufmerksamkeit nicht mehr beiden Angreifern gleichzeitig widmen. Schwanitz und Reisberg konnten von ihren Standpunkten aus die gezogenen Waffen nicht sehen, da Lausen und diverse Bäume in ihrem Blickfeld standen. Sie hörten Lausens Warnruf und rannten vorwärts, um ihre Position zu verbessern.
Möglicherweise hatte das Sonnenlicht Lausen geblendet.
Möglicherweise war er noch nicht vertraut genug mit seiner neuen Dienstwaffe und dem passenden Holster. Die Hamburger Polizei hatte vor Kurzem mit der Beschaffung neuer Dienstwaffen begonnen, da die bisherigen SIG Sauer P6 schon bis zu dreißig Jahre alt waren. Die Walther P99 sollte in einem Zeitraum von drei Jahren für alle Polizisten Hamburgs beschafft werden. Lausen hatte als einer der ersten Beamten seine Waffe vor wenigen Tagen bekommen.
Möglicherweise eskalierte die Situation zu schnell und zu unerwartet. Möglicherweise war Lausen einfach nur einen Tick langsamer als seine Gegner.
Ein Doppelknall übertönte den Gesang der Vögel im Stadtpark, das Lachen zweier Spaziergänger, den Straßenlärm und alles andere. Die beiden Angreifer hatten fast zeitgleich gefeuert. Lausen hatte zu diesem Zeitpunkt seine Waffe aus dem Holster gezogen, der Lauf der Waffe zeigte auf den Boden. Die erste Kugel traf Lausen in die Brust und wurde von der schusssicheren Weste, die er vor dem Einsatz angelegt hatte, aufgehalten. Die Wucht des Aufpralls brachte ihn ins Wanken, doch das spielte keine Rolle mehr. Die zweite Kugel bohrte sich mit einer Geschwindigkeit von mehreren hundert Metern pro Sekunde oberhalb der Weste durch seinen Hals und zerfetzte die Hauptschlagader. Der Hauptkommissar fiel rücklings auf den sandigen Platz, Fontänen feinster Staubpartikel stoben seitlich an seinem Körper hoch wie Nebelschwaden. Lausen zeigte keine Abfangreaktion, sein Kopf knallte ungebremst auf den trockenen, harten Boden.
Joachim Dickel nutzte den Moment, riss sich von dem Muskelpaket los und rannte nach rechts in einen der schmalen Waldwege, den sogenannten Ententeichweg.
Schwanitz und Reisberg, die sich zehn Meter hinter Lausen befanden, hatten im Laufen ihre Dienstwaffen gezogen und feuerten auf die schwarz gekleideten Gestalten. Das Muskelpaket jagte Dickel hinterher und gab in der Bewegung zwei Schüsse auf Reisberg ab, ohne ihn zu treffen. Dann verschwand er hinter Bäumen und Sträuchern.
Der zweite Angreifer feuerte nur noch einmal, die Kugel streifte einen Baumstamm direkt neben Schwanitz’ Kopf. Danach stürmte er auf das geschlossene Tor der Freilichtbühne zu und überwand es mit einer akrobatischen Sprung- und Abrollbewegung. Schwanitz gab einen weiteren Schuss ab, der eine der Metallstreben des Tores traf. Der drahtige Angreifer sprang auf und sprintete quer durch das Gelände der Freilichtbühne zum Ausgang an der Saarlandstraße. In Sekundenschnelle kletterte er über das dortige Tor und lief weg.
Schwanitz rannte zu Lausen, kniete sich nieder und presste zwei Finger in die Halswunde, um die pulsierende Blutung zu stoppen.
»Ulf!«, schrie er. »Ruf einen Notarzt! Jörg verblutet uns hier!«
Ulf Reisberg reagierte nicht. Er schaute entgeistert nach links und rechts.
»Ich hätte ihn treffen müssen«, murmelte er. »Wieso habe ich nicht getroffen?«
Dann stand er nur da, im Schock erstarrt. Schwanitz musste ihn dreimal anschreien, bevor Reisberg sein Handy in die Hand nahm und den Notruf wählte.
Jörg Lausen spürte im wahrsten Sinne des Wortes, wie das Leben aus ihm herausfloss. Er wusste, dass er sterben würde. Da war nichts Tröstliches. Kein gleißendes Licht, das ihn auf die andere Seite lockte, keine Last, die von ihm abfiel. Nur Schmerz, Entsetzen, Kummer und Wut. Er wollte nach Hause, zu Frau und Kind, nichts anderes mehr, nur bei ihnen sein.
Viele Fragen, keine Antworten.
Warum ich?
Warum jetzt und hier?
Warum haben die sofort geschossen?
Was wird aus meiner Familie?
Das muss ein böser Traum sein, das passiert mir nicht wirklich.
Hilf mir bitte, du darfst mich nicht sterben lassen, wollte er Schwanitz anflehen, weil er der Einzige war. Der Einzige, der ihm in dieser beschissenen Minute nah war. Kein Buddha, kein Allah, kein Jehova, kein Gott. Einzig der gute Schwanitz, den eigentlich nichts aus der Ruhe bringen konnte, auf den man sich immer verlassen konnte und der plötzlich hilflos wie ein Neugeborenes zu sein schien. Lausen wollte reden, es gab noch so viel zu sagen, doch er brachte kein Wort mehr hervor.
Hauptkommissar Jörg Lausen – dreiundvierzig Jahre alt, verheiratet, Vater eines acht Jahre alten Sohnes – verstarb um 14.08 Uhr.
Dickel rannte um sein Leben. Das Geräusch der schweren Schritte des Muskelmannes hinter sich, befürchtete er, jeden Moment den Knall eines Schusses zu hören. Der Knall blieb aus.
Nein, dachte er dann, der schießt nicht. Die brauchen mich lebend.
Er konzentrierte sich auf das Laufen. Er musste anders laufen, als er es vom Marathontraining her gewohnt war. Eigentlich hatte er am Hamburg-Marathon teilnehmen wollen, doch eine Leistenzerrung hinderte ihn daran. Der Hamburg-Marathon hatte in diesem Jahr ohne ihn stattgefunden, und nun lief Joachim Dickel ein ganz besonderes Rennen. Es war ein Sprintrennen von Ost nach West. Der Ententeichweg mit seinem leicht geschwungenen Verlauf parallel zum Jahnring traf am Ende auf den bogenförmigen Linne-Ring. Über den Butenkamp würde er die Ohlsdorfer Straße erreichen, an der er seinen Wagen abgestellt hatte. Dickel schätzte, dass er bis zu seinem Auto etwa zwei Kilometer Weg vor sich haben müsste.
Die ersten hundert Meter hatte er in scharfem Tempo zurückgelegt, um einen Abstand zwischen sich und dem Verfolger zu schaffen. Danach drosselte er die Geschwindigkeit auf ein Niveau, das er beim Marathon kurzzeitig laufen konnte, wenn er eine Lücke zu vorauslaufenden Konkurrenten schließen wollte. Zum Problem konnte nur die Hindenburgstraße werden, die einzige Autostraße, die den Stadtpark in Nord-Süd-Richtung durchschnitt, und die er überqueren musste. Wenn dort viel Verkehr herrschte, müsste er seinen Lauf unterbrechen und der Verfolger könnte aufholen.
Er horchte auf den Klang der Schritte hinter sich. Wurde das Geräusch leiser? Er traute sich nicht, sich umzusehen. Sein Atmen wurde laut, er hörte nichts anderes mehr. Einatmen, ausatmen, laufen, laufen.
Die Hindenburgstraße konnte er ohne Verzögerung überqueren, jetzt war es nicht mehr weit. Dickel beschleunigte noch einmal, dann erreichte er die Ohlsdorfer Straße. Er lief nach rechts den Gehweg entlang, fingerte den Autoschlüssel aus der Hosentasche und stand endlich an der Fahrertür. Er drückte den Knopf der Fernbedienung, nichts passierte. Er drückte ihn erneut, ohne Erfolg. In seinem Stresszustand dauerte es eine Weile, bis der Groschen fiel. Die Fernbedienung funktionierte schon seit Tagen nicht mehr, weil die Batterie leer war. Keuchend und mit zitternden Fingern versuchte er, den Schlüssel in den vorgesehenen Schlitz zu stecken. Sekunden wurden zur Ewigkeit. Endlich klappte es irgendwie. Er saß auf dem Fahrersitz und schob den Schlüssel in das Zündschloss.
Welch’ ein Wahnsinn! Vor zwei Tagen hatte er seinen Vater gefunden. Den Mann, den er rund dreißig Jahre lang so schmerzlich vermisst hatte. Er war so glücklich gewesen, trotz allem. Gut vierzig Stunden später wurde er Zeuge einer Schießerei und furchterregende Typen jagten ihn.
Dickel schaute in den Rückspiegel und sah den Muskelmann aus dem Stadtpark kommen. Er startete den Motor und scherte ohne zu gucken in den fließenden Verkehr ein. Wütendes Hupen des Autofahrers hinter ihm begleitete seine Aktion.
Der Verfolger sah den Passat davonrasen, beugte sich vor und stützte atemlos die Hände auf die Knie.
An der nächsten roten Ampel kam Dickel zur Besinnung. Wo wollte er eigentlich hin? Zurück ins Hotel? Wie hatten diese Leute ihn gefunden? Über die Firma? Vielleicht hatten sie sich als Kunden ausgegeben. Vielleicht hatte der Vertriebsleiter ihnen das Hotel genannt, in dem er dieses Mal abgestiegen war. Hatte er mit dem Vertriebsleiter darüber gesprochen? Dickel konnte sich nicht erinnern. Hatten die Typen sein Handy geortet? Waren die dazu in der Lage?
Er hatte keine Wahl, er musste ins Hotel zurück. Dort, im Kleiderschrank, lag die Kamera mit der Speicherkarte. Und ein Schließfachschlüssel, den er separat versteckt hatte.
Die Ampel sprang auf Grün um und Dickel gab Gas. Er musste unbedingt schneller in seinem Hotel in Eidelstedt sein als die Verfolger.