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TEIL 1 Hendrik KAPITEL 1 - Im Visier

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Ich richtete mein Gewehr auf einen Punkt auf der anderen Seite der Lichtung. Mehr als meinen Atem hörte ich nicht. Gleichmäßig und ruhig. Erstaunlich ruhig.

Stille, nur ganz leise. Dann entfernt im Wald ein Vogelgeräusch. Die ersten Sonnenstrahlen schienen über die jungen Tannen auf den Boden der Waldlichtung vor mir. Dieser Tag und seine unweigerlichen Folgen nach meinem Schuss würden grausam werden. Doch der innere Drang war mächtig. Übermächtig!

Im Fadenkreuz sah ich seine linke Körperseite, direkt den Punkt, an dem sich das Herz befand. Der Punkt, den ich auch beim Erschießen des Wilds anvisieren muss. Ein Schuss und er wäre erlegt. Wie ein Tier, das nicht leiden sollte.

Der Punkt bewegte sich minimal. Ich hatte das Gewehr wieder ausgerichtet. Wenn ich jetzt abdrücke, wäre er sofort tot. Mein Gewehr beherrsche ich. Diese Entfernung, dieses Licht und zu wissen, er würde still halten. Nicht wie ein Tier, das auf der Hut war. Er ist ahnungslos. Ein gutes Gefühl zu wissen, ich habe es in der Hand. Ich kann bestimmen wie alles weiter gehen wird mit diesem Untier.

Den Zeigefinger am Abzug und mein linkes zugedrücktes Auge fühlte ich nicht. Ich war beherrscht von dem Gedanken, dieses Leben zu beenden. Gedanken jagten mich. Einfach so! So wie er Dinge einfach so tat. Jagdunfälle passieren. In meiner Naivität konnte ich denken, niemand würde behaupte, ich wäre dazu in der Lage. Niemals würde der Verdacht der absichtlichen Tat auf mich fallen, so weit weg war ich von der Realität. So weit war ich nicht mehr ich selbst. Jeglichen klaren Gedankens beraubt.

Er hatte sich einen Platz hinter einem Stapel alter Holzstämme gesucht. Es gab in seinem Revier wenige Hochsitze, weil er nicht gerne kletterte. Deshalb hatte er in seiner Pacht mehrere dieser Stellen mit alten Stämmen eingerichtet. Von diesem Platz übersah er die Lichtung und die Furt. Die Flachstelle im Bach, die viele Tiere als Weg nutzten, war ein guter Ort. Vielleicht waren wir heute aber schon zu spät an dieser Stelle und würden hier heute kein Wild mehr zu sehen bekommen.

Er duckte sich nicht. Er stand aufrecht, groß, schlank, in seiner gesamten imposanten Größe. Mit dem Fernglas suchte er den Waldrand ab. Sein Gewehr sah ich nicht. Sein Gesicht war mir abgewandt. Er hatte nicht einmal zu mir herüber gesehen, obwohl er wusste, ich stand hier. Die anderen beiden Jäger waren auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung tiefer in den Wald gegangen.

Die ersten niedrig in den Wald fallenden Sonnenstrahlen erhellten die Stelle, an der er sich befand. Er hatte sich etwas in meine Richtung gedreht. Zartes Licht der aufgehenden Sonne fiel auf die Schulter seiner dunkelgrünen Barborjacke. Das Steiner Fernglas hielt er mit beiden Händen hoch an der Brust. Unter dem streng zurückgekämmten Haar war die linke Gesichtshälfte deutlich zu erkennen. Wenn er sich jetzt umdrehen würde, könnte er mich sehen. Mein Gewehr in seine Richtung. Was würde er denken? Was würde passieren? Würde er herüber sehen und vermuten, ich beobachte ihn durch das Zielfernrohr. In diesem Moment hatte ich keine Angst mit ihm ins Gericht zu gehen und ihn zu fragen: „Wem aus unserer Familie würdest du fehlen? Was glaubst du? Ich bin nicht der einzige, der dich hasst.“

Er würde antworten: „Du sprichst von Hass? Mich hasst niemand. Viele haben Angst, so wie du. Deshalb drückst du auch nicht ab! Du nicht und auch sonst niemand. Aus Angst handelt kein Mensch vernünftig. Niemand traut sich etwas. Niemand von euch hat den Mumm.“

Ich spürte meinen Finger am Abzug. Zwei Atemzüge lang und ich war wieder mit meinen Gedanken bei seinem Tod.

Die Geräusche der Vögel und das leise Rauschen in den Blättern kehrten zurück in mein Bewusstsein. Die beiden Jagdfreunde waren bereits weiter gegangen, ich sah nur ihn. Er nahm sein Gewehr und fixierte einen Punkt auf der anderen Seite der Furt. Ich konnte nicht erkennen, was er sah. Ich hatte ihn im Visier. Die Vorstellung, es zu tun, war einfach. Es tatsächlich zu tun, nicht. Die Macht, es wirklich zu tun, elektrisierte mich. Der Gedanke daran, seine Herrschsucht und Boshaftigkeit nicht mehr ertragen zu müssen, keine Angst mehr davor zu haben, mich rechtfertigen zu müssen, ließ mich innerlich erschauern. Der Wunsch, allein entscheiden zu können, ohne an die Fehler zu denken, die er zwangsläufig in meinem Tun immer fand, war übergroß. Würde es mein Handeln lenken?

In der ersten Zeit war es nur seine entmündigende und bevormundende Fürsorge gewesen. Dann war es immer mehr zur Machtbesessenheit geworden, die sein Verhalten bestimmte. Er litt an Entzugserscheinungen der Macht, wenn er nicht über alles und jeden bestimmen konnte. Er hatte sich zu einem boshaften und unberechenbaren Patriarchen entwickelt und setzte jedes Mittel ein, um seine alleinige Herrschaft zu sichern.

Seine Statur im Visier, keine Regung bei ihm. Ich hatte keine Angst mehr. Mein Verstand kehrte zurück und ich sah ohne Wut auf ihn. Was wäre, wenn nicht alle an einen Unfall glauben würden? Zu viele Menschen aus unserem privaten und geschäftlichen Umfeld vermuteten zu Recht, ich würde ihn hassen. Es geht um mein Leben und nicht um seins. Ich muss alles verändern. Ich muss weg von hier und weg von ihm. Ich muss meinen eigenen Traum leben und nicht seinen Wahnsinn ertragen und ihm folgen! Ich brauche nur meinen eigenen Weg, um wieder glücklich zu werden. Diesen Weg muss ich suchen und ihn dann gehen. Es war mein Kampf um Anerkennung und gleichzeitig um Freiheit.

Bis zu dem Moment als ich auf ihn gezielt habe, war er allein verantwortlich, dass ich mich so sehr nach beidem sehnte und nichts tat, um es zu finden. Ich habe und hatte immer die Wahl. Jeder kann gegen.

Kein Leben beenden, nur ein neues beginnen. Nicht seinen Tod gegen mein Leben in Freiheit und Würde eintauschen. Diese Erkenntnis traf mich tief, ich nahm ihn aus dem Visier. Ich sicherte das Gewehr, drehte mich um und sah nicht mehr zu ihm zurück. Meine Hände fingen an zu zittern. Ich spürte den Schweiß auf der Brust und unter meinem Halstuch als ich in Gedanken versunken zurück in Richtung Jagdhütte und zu meinem Auto ging.

Meine Erinnerungen kreisten um die erste gemeinsame Jagd mit meinem Vater. Ich war zehn oder elf Jahre alt und hatte mich sehr auf diesen Tag gefreut. Schon die Tage vor der Jagd war ich aufgeregt und ängstlich. Vorher hatte ich ihn mit unterschiedlichen Fragen zum Ablauf der Jagd gelöchert. Aber mein Vater hatte immer nur geschmunzelt und gesagt: “Warte es einfach ab. Das Gefühl ist unbeschreiblich! Du bist der Herr über Leben und Tod!“ Himmel, ich war damals noch ein Kind.

Am Morgen der Jagd nieselte es leicht und der Wald erschien mir grau und düster. Die Atmosphäre drückte meine Stimmung. Ich zitterte seitdem wir aus dem Wagen an unserer Jagdhütte ausgestiegen waren. Wir liefen lange durch den düsteren Wald bis wir vor einer seiner Schanzen standen. Er hatte diese Plätze, die der Jagdaufseher an vielen Stellen errichtet hatte, so genannt. Wir warteten. Er flüsterte immer wieder und erklärte, was passieren würde, wenn wir ein Tier erspähen. Ich durfte nicht sprechen. „Du wartest einfach und bist leise.“ Später fiel ein Schuss und ein Reh lag tot auf dem Waldboden. Wir standen vor dem toten Tier. Aus einer klaffenden Wunde unter dem Hals sickerte Blut. Ich hatte mit dem aufsteigenden Ekel zu kämpfen. Ich werde diesen Augenblick niemals vergessen. Es war nicht nur das tote Tier. Mein Vater sagte: „Du hast jetzt gesehen wie man tötet, möchtest du das auch einmal tun?“ Mein Vater bemerkte nicht die Tränen in meinen Augen.

Manche Erinnerungen sind so lebendig, als wären die Dinge gestern geschehen. Viele Ereignisse an Vater haben ihn zu meinem Feind im Leben gemacht. Warum habe ich nicht einmal gesagt, ich brauche dich nicht und du brauchst mich auch nicht? Viele Verletzungen hätte es nicht gegeben. Wir brauchten einander nicht und fühlten uns doch gleichzeitig abhängig voneinander. Bei mir war es so. Nur weil er mein Vater und ich sein Sohn war, dachten wir, wir gehörten zusammen. Großer Irrtum, großer Fehler, viel Lebenszeit verschenkt. Ich hasste ihn, er nahm mir meine Freiheit und manipulierte mich in allem. Ich zeichnete mir lange ein Bild von ihm, das ich jetzt erst vollends verstehe. Ganz früher hielt ich meinen Vater für streng, diszipliniert, konsequent und ehrgeizig. Jetzt weiß ich, er ist besessen von der Macht über sein Leben und über das derjenigen, die er für diese Macht braucht. Ich schluckte hart bei diesen Gedanken, die mir ungefiltert durch den Kopf schossen. Schon oftmals hatte ich über meinen Vater und seinen Einfluss auf mein Leben nachgedacht, aber hier im Licht des heraufziehenden Tages beendete ich das Leben mit ihm, ohne ihn zu töten. Aber was nach diesem Morgen geschah, war schlimmer als alles davor.

Bewunderung für ihn zu empfinden oder ihn gar als Vorbild zu sehen, war sein größter Wunsch. Die Wut darüber, diese Bewunderung nie bekommen zu haben, ließ ihn zu dem werden, was er heute war. Gerne hätte ich ihn dort tot auf dem Boden liegen gesehen. Einfach tot, Jagdunfall, Herzinfarkt, egal. Wer nicht geliebt wird, wird zum Tyrann, oder ist es umgekehrt?

Als ich begann diese Geschichte aufzuschreiben, habe ich gemerkt, wie schwer es ist, ihn zu beschreiben. Meinen Vater als Despoten zu bezeichnen wäre zu wenig. Seiner cholerischen Art und dem diktatorischen Ton, mit dem er die Aufgaben an seine Angestellten weitergibt und seine Familie beherrscht, verdankt er seine Macht. Ganz gleich wie man ihn bezeichnet, er würde behaupten, alles im Leben erreicht zu haben, weil er so ist wie er ist. Sein einziges Bestreben im Leben ist, das Geschehen an sich zu reißen und über seine Umgebung zu herrschen. Um an sein Ziel zu kommen betrügt, lügt und schauspielert er, dabei verletzt er andere ohne Rücksicht auf Verluste. Aber das muss alles so sein, um Erfolg zu haben! Er überträgt diese Erfahrung auf alle, die etwas im Leben erreichen wollen. Viele Menschen machten die Erfahrung, wer mit dem wahren Ich meines Vaters in Berührung kam, der sah keine Tugenden, keine Kraft im guten Sinne und wandte sich ab von ihm.

Respekt ihm gegenüber hatte sich bei uns allen in Angst und Sorge gewandelt. Bei meiner Mutter war es die Sorge um mich, meine Schwester und die Angst vor der Zukunft mit ihm. Ich spürte das, es bedurfte hierfür keine Erklärung oder Worte von ihr. Sie hatte geweint und gesagt: „Unser Leben gleicht einem Haus aus Glas. Alle Räume in dem Haus sind vollständig aus Glas und Vorhänge zum Schutz gibt es nicht. Alles ist durchsichtig und einsehbar und wir befinden uns wehrlos in diesem Glaskasten. Es gibt keinen Beschützer, aber einen der immer anwesend ist und uns sagt, was wir machen sollen. Der vergibt Noten für unser Handeln. Die beste Note ist ein Ausreichend.“

„Ein Ausreichend, aber wofür? Warum nur ein Ausreichend, was mache ich verkehrt?“, hatte ich gefragt?

„Warum genüge ich seinen Ansprüchen nicht?“

Die Antworten blieben aus. Meine Mutter hatte geweint und ließ mich allein mit meinen Fragen zurück.

Ich schaute nach oben und suchte ein Stück des blauen Himmels über mir. Mein Verlangen nach Freiheit und Unabhängigkeit war wie die Gier nach Sonne, Licht und Wärme. Als ob ich dies dort oben am Himmel finden könnte? Absurd, aber dennoch fühlte ich so, und ich spürte mich gestärkt als ein kleiner Raubvogel plötzlich in mein Sichtfeld flog und hoch über den Spitzen der Bäume seine Kreise zog.

Ohne mir Gedanken über den Weg zu machen, ging ich weiter durch den Wald. Ab wann habe ich bemerkt, dass jemand Anderes mir sagt, worin mein Glück und worin meine Träume zu bestehen haben? Und worin das Glück der ganzen Familie liegt? Wer hat mich mit einer Kette an dieses Glück gefesselt? Wie komme ich aus diesem Glashaus heraus und wie schaffe ich es, die Fesseln zu lösen und meinen eigenen Weg zu gehen? Ich muss es schaffen, sonst bleibe ich ein Gefangener der Zwänge und Fesseln. Warum gehe ich nicht einfach fort?

Holly hat diese Gefangenschaft schon früh empfunden, sie hatte Angst davor, weiter zusehen zu müssen, welche Macht und Bevormundung von unserem Vater ausgeht und hat frühzeitig das Haus mit den Glaszimmern verlassen. Sie hat es geschafft. Meine Mutter hat damals nicht versucht, meine Schwester aufzuhalten. Im Gegenteil. So weit ich mich erinnere, hat sie Holly darin bestärkt, ihren eigenen Weg auch gegen den Widerstand unseres Vaters zu gehen.

Mutter und ich merkten, was mit uns passiert, aber wir änderten bis zu diesem Tag nichts. Später sollte ich erfahren, dass dies in Blick auf Mutter ein Irrtum war.

Wir leben als ob wir mit Schlägen zum Gehorsam gezwungen werden. Warum ist er so mächtig über meine und unsere Gedanken geworden? Der Patriarch sorgte immer wieder für Ausgelassenheit bei seinen Untergebenen. Diese Ausgelassenheit ist aber nur gespielt, wir reagieren so wie er es sich wünscht. Wir funktionieren in seinem Sinn, ohne zu merken, wie es uns verändert hat. Wir sind Marionetten dieses Despoten. Die immer da gewesene Autorität meines Vaters rechtfertigt, wie sich die Dinge entwickelt haben. Aber nicht mehr für mich. Ich muss etwas verändern, wenn ich nicht zugrunde gehen will.

Holly, meine kleine, schöne Schwester. Ihr Fortgang hatte mich traurig gemacht. Ich fühlte mich damals von ihr im Stich gelassen. Ich war zwar der große Bruder, aber brauchte sie mehr als sie mich. Ich bewundere sie für ihre Konsequenz. An diesem Morgen war ich froh, dass sie diesen Schritt gewagt hat und frei war. Auch das war ein Irrtum.

Ein Schuss. Die haben etwas erlegt. Was jetzt kam, war wieder diese täuschende Ausgelassenheit meines Vaters. Er würde auch diesen Tag mit seinen Jagdfreunden beherrschen und den Ablauf bestimmen. Da passte ich nicht mehr hinein. Ich gehörte nicht hierher. Ich gehörte nie dazu, war nur immer folgsam. Bin nie erwachsen geworden, er hat stets gesagt, was ich zu tun hatte. Armselig! Aus - vorbei!

Die Sonne schien mittlerweile intensiver durch das Blätterdach. Der Boden war feucht. Kein fester Weg. Meine Schritte weich auf der dicken Schicht Blätter. Melancholisch grübelte ich. Ich werde jetzt gehen, so als ob er langsam für mich sterben würde. Der Gedanke ließ mich ruhiger werden. Mit dem Bild vor Augen, dass ich die Dinge hinter mir lassen konnte, wenn ich mutig und konsequent wäre, beschleunigte ich meine Schritte.

Waren wir am heute Morgen vor Sonnenaufgang so lange gelaufen? Ich wusste es nicht mehr. Konnte mich auch nicht erinnern, an mehreren Holzstapeln vorbei gekommen zu sein. Ich beschleunigte nochmals meine Schritte, kam schneller voran, weil ich jetzt auf einem Forstweg ging. In den Fahrspuren schwerer Waldmaschinen stand das Regenwasser der Vortage. Nur das Geräusch meiner Stiefel in der Matsche. Ich schwitzte noch mehr. Das Gewehr und die Tasche mit den Patronen über der Schulter drückten. Mein Handy vibrierte lautlos in der Hosentasche. Es ist bestimmt Vater, der mich sucht. Soll er doch! Ich nahm das iPhone in die Hand und sah auf den Bildschirm. Ja, er war es. Wenn ich reagiere, muss ich etwas erklären. Vater würde mich auffordern, sofort wieder zurück zu kommen und die Jagd gemeinsam mit seinen Freunden zu beenden. Wie immer, wenn etwas so laufen musste wie er es wollte, würde er laut werden. Egal wer neben ihm stand und mithörte. Er hatte schließlich seinen Sohn im Griff und alle Freunde und Geschäftspartner wussten das ohnehin.

Wie gut es sich anfühlen wird, nein zu sagen, nach so vielen Jahren zum ersten Mal zu sagen: „Nein, Vater!“ Und nie mehr: “Ja, Vater!“ Ich fühlte mich bei dem Gedanken gut und nahm das Gespräch an. Vater legte sofort los:

„Wo bist du, wir haben dich gesucht.“

„Ich bin weg.“

„Wie, du bist weg, wohin?

„Ich fahre zurück.“

„Du kommst sofort wieder hierher, was soll das, was sollen die Anderen denken?“

„Ich fahre nach Hause, Vater, und es ist mir egal, was die Anderen denken.“

Ich wartete innerlich aufs Äußerste angespannt bis mein Vater sich den nächsten Satz überlegte. Ich wusste, es ist gut zu warten und ihn kommen zu lassen. Den Anderen kommen lassen, oft kam dann nichts wirklich Überlegtes. Vater verstrickte sich in seiner Wut, wurde nur lauter und wiederholte sich.

„Du kommst sofort wieder zu uns, Hendrik. Sofort!“

Er besteht nur auf seinem Willen, er fragt nicht, warum ich nach Haus will.

„Du kommst sofort“, sagte mein Vater noch einmal.

Das Sofort, sprach er besonders hart und mit der Betonung der ersten Silbe aus, als würde er einem Hund einen Befehl zum x-ten Mal wiederholen. Aber der Hund hörte nicht.

“Vater, ich wünsche euch noch ein schönes Wochenende. Grüße Assmann, Weidlich und Keller von mir“, sagte ich gestelzt und hielt die Luft an. Meine Hand mit dem Telefon darin zittere leicht. Aber es war niemand da, der es sehen konnte.

Mein Vater reagierte nicht. Ich hörte auch nicht mehr die Stimmen der anderen Jagdteilnehmer im Hintergrund. Er hatte sich offensichtlich räumlich von seinen Freunden entfernt, so dass die anderen ihn nicht mehr hören konnten. Er sagte ruhig und emotionslos: „Hendrik?“

Spürt mein Vater etwa, was in mir vorgeht, fragte ich mich verwundert?

„Hendrik, hörst du mich noch?“

Ich versuchte meiner Stimme Festigkeit zu verleihen, keine Ahnung, ob es mir gelang. Ich war aufs Höchste angespannt und wollte mir jetzt, gerade jetzt, keinen Fehler erlauben. „Ja, ich ich höre dich, Vater. Ich bin gegangen. Akzeptiere es! Wir sprechen noch darüber, ich melde mich irgendwann.“

„Wie bitte, bist du…..“

Sein Schreien war sicherlich weit zu hören und ich beendete das Telefonat, ohne ihn aussprechen zu lassen, steckte das iPhone in meine Hosentasche und spürte mein Herz deutlich schlagen. Meine Knie fühlten sich weich an und ich hatte auf einmal das Verlangen nach einem starken Kaffee. Ironischerweise musste ich schmunzeln. Fühlte ich mich etwa wie ein Held? Noch hatte ich doch nichts Großartigeres vollbracht als ein Telefonat mit meinem schreienden Vater unterbrochen!

Nach wenigen Sekunden fing das Iphone wieder an zu vibrieren. Ich ignorierte es und fühlte mich immer besser.

Es war noch ein Stück Weg bis zur Jagdhütte. Ich erinnerte mich daran, diese Stelle heute morgen passiert zu haben. Das Telefon blieb ruhig. Erstaunlich für meinen Vater!

Der Wald lichtete sich und ich hatte einen Blick weit in die Rheinebene. Wunderschön. Ich blieb stehen und sah hinunter. Der Morgendunst hing über dem Hang bis zu den Feldern. Auf der gegenüberliegenden Seite sah ich Weinhänge. Die Vögel zwitscherten, ein Specht klopfte laut vernehmlich irgendwo neben mir in einem Baum. Ich sah hoch, konnte ihn aber nicht ausmachen. Sonnenstrahlen trafen auf die feuchten Farne am Wegrand und das Licht erzeugte winzige Lampen auf den Tautropfen. Ein wunderbares Bild. Ich atmete tief ein. Die Jacke hatte ich geöffnet und das Halstuch abgenommen. Ich schwitzte nicht mehr. Die innere Ruhe finden, vergessen. Alles was passiert war hinter mir zu lassen. Die Entscheidung begann in mir zu wirken. Der Weg war hier trocken, ohne Fahrspuren der Waldfahrzeuge, keine Pfützen. Was denkt Vater jetzt? Die Frage war nicht mehr entscheidend. Darüber war ich erleichtert wie noch nie. Spürt er, was gerade abläuft, es wäre schön, wenn er es täte. Oder haben wir uns zu weit von einander entfernt? Waren wir uns überhaupt je so nah gewesen, dass er mich in meinen Gefühlen und Gedanken verstehen konnte?

Er hatte sich nie Sorgen über mich gemacht, vielleicht würde er es jetzt tun. Nicht um meiner Willen, sondern weil er an Macht verlor. In Wahrheit hatte ich Angst vor der Nichtbeachtung durch ihn. Ich gab deshalb nach. Nur einmal habe mich von meinem Vater abgewandt und eine Zeit keinen Kontakt zu ihm gehabt. Wir waren an einem Abend zu dritt. Mein Vater, meine Mutter und ich. Nach dem Abendessen hatten wir diskutiert. Es ging um meine Ausbildung für das Führen eines Unternehmens. Mein Vater vertrat intensiv seine Meinung. Für ihn spielten mehrere Faktoren eine Rolle für ein verantwortungsvolles Führen eines Betriebs. Eine gute und fundierte Ausbildung als Grundlage für den Leader, der allerdings, so seine Meinung, das Führen eines Unternehmens so zu sagen im Blut haben und sich an Vorbildern orientieren muss. Vor allem das Vorbild war ihm damals sehr wichtig gewesen. Allerdings eskalierte der Streit, als mein Vater sich selbst als sehr gutes Vorbild für alle die Führung lernen wollten, bezeichnete.

Ich erinnerte mich noch an seine Worte, die er mit vielen Gesten untermalte. Er war aufgestanden und dozierte vor uns wie ein Professor vor seinen Studenten. Dann sagte ich wütend zu ihm: „Warum haben denn so viele gute Leute die Firma verlassen? Viele sind doch wegen dir nicht mehr in unseren Unternehmen. Sie haben dich als Vorbild abgelehnt und behauptet, du seist das schlechteste Vorbild, das man einem Unternehmen und seinen Mitarbeitern zumuten kann.“ Ich konnte diesen Einwurf damals nicht für mich behalten. Ich wollte ihm mit der Wahrheit weh tun. Er sollte gekränkt sein. Es tat mir gut ihn mit der Nase auf seine Fehler zu stoßen.

Mein Vater wurde laut und schrie fast: „Die Leute hassen mich, sie hassen alles, was mit Arbeit, Macht und Geld verdienen zu tun hat. Übrigens genau wie deine Schwester.“ So kannte ich ihn, er wollte verletzen, wenn er angegriffen wurde und er fuhr fort: „Das sind alles Versager, deine Schwester auch.“ Er lief damals rot an und ich dachte, gleich kriegt er einen Infarkt. Meine Mutter versucht meinen Vater zu stoppen, aber es gelang ihr nicht. Dazu war sie immer zu sanft und harmoniebedürftig. Mein Vater mit seiner ihm eigenen starken und herrischen Persönlichkeit, zu dem noch arrogant und selbstherrlich, braucht einen Gegenspieler gleichen Formats. Da konnte meine Mutter mit ihrer sanften und nachgiebigen Art nicht viel ausrichten.

Vater redete über meine Schwester und erniedrigte sie mit seinen abwertenden Worten. Er hatte die Kontrolle über sich selbst verloren. Ich sprang wütend auf und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Meine Mutter sprang zwischen Vater und mich und wollte Schlimmeres verhindern. Vater holte mit seinem rechten Arm aus, traf mich aber nicht.

Ich schrie: „So sprichst du nicht über meine Schwester. Sie ist auch dein Kind.“ Das Schreien fiel mir schwer. Ich war völlig außer Atem und aufgeregt: „Niemand kann es dir recht machen. Nur du bist immer der Größte und Beste. Wir haben so zu sein wie du, aber Holly will das so nicht und deshalb ist sie weg. Was du sagst, stimmt nicht und ich will das nicht mehr hören.“

Ohne Nachzudenken fuhr ich fort: „Einen Vater wie dich brauchen deine Kinder nicht. Oft wünsche ich mir, auch fort zu sein. Oder, ich wünsche mir, dass du weg bist. Einfach nur weg!“ Dann drehte ich mich um, nahm meine Jacke und rannte ohne meine Mutter anzusehen aus dem Haus. Ich raste mit dem Motorrad zu einem Freund und übernachtete dort.

Schließlich erreichte die Stelle, wo mein Wagen stand. Ich nahm den Schlüssel aus der Umhängetasche und öffnete den Kofferraum. Mein Gewehr und die Patronentasche legte ich unter die Bodenplatte des Kofferraums meines X5. Mir war immer etwas mulmig die Waffe im Auto zu transportieren. Schon oft hatte ich vergessen, sie nach der Jagd mitzunehmen und zuhause im Waffenschrank einzuschließen. Damit sie niemand im Wagen sah, auch wenn der Kofferraum geöffnet wurde, verstaute ich sie immer sorgsam dort. Ich stieg ein, nahm mein iPhone aus der Tasche und steckte es in die Ladestation am Armaturenbrett vor mir. Bevor ich den den Motor startete, gab ich im Navigationssystem meine Adresse in Düsseldorf ein. Das war ein Reflex, weil ich sehen wollte, ob es irgendwelche Staus gibt. Heute war das sicher nicht der Fall. Die Scheiben waren mit Tau bedeckt. Ich nahm ein Tuch aus der Ablage in der Fahrertür, stieg noch einmal aus, um die Seitenscheiben zu trocknen. Das Tuch musste ich mehrmals auswringen, so viel Wasser befand sich auf den Scheiben des SUV´s. Der Forstweg in Richtung Lüstlingen zur Autobahn nach Norden war ausgefahren. Ich musste sehr langsam fahren. Als ich den Forstweg in Richtung Landstraße verlassen hatte und ich auf dem Weg war, den ich kannte, überlegte ich, wie es jetzt weiter gehen sollte. Ich hatte keinen Plan. Das Gewehr auf meinen Vater zu richten, bedeutete das Ende einer Ära. Dieser Morgen war nur der Anfang in das Leben ohne ihn. Es würde ein brutaler und schmerzlicher Weg werden, darüber war ich mir im Klaren. Aber ich hatte mich entschieden und und nun musste ich diese Entscheidung annehmen - mit allen Konsequenzen.

Freude und Sorge hielten sich gerade die Waage.

Vater unser, lass uns glücklich sein

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