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KAPITEL 4 - Zurück in Amsterdam

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Eine Stunde nachdem meine Mutter gegangen war, hatte ich zwei Reisetaschen gepackt und saß in meinem Wagen auf dem Weg nach Amsterdam. Weil ich selber einen Schlüssel für die Wohnung in Amsterdam hatte, machte ich mir keine Mühe noch einmal meine Schwester Holly anzurufen. So konnte ich sie überraschen. Ich freute mich auf ihr erstauntes Gesicht. Nach zweieinhalb Stunden stand ich vor der Wohnungstür in Amsterdam. Den Wagen hatte ich in einem privaten Parkaus geparkt, die anstatt der üblichen 38 Euro nur 28 pro Tag für das Unterstellen verlangten. Den Schlüssel für den Wagen musste ich dort lassen, weil die Fahrzeuge in der umfunktionierten ehemaligen Autowerkstatt dicht verschachtelt eingeparkt wurden. Man musste sich am besten eine halbe Stunde vorher melden, bevor man seinen Wagen wieder abholen wollte. Ich nahm erst einmal nur meine Tasche mit Macbook und iPad und eine der beiden Reisetaschen mit, die ich gepackt hatte. Vom Parkhaus waren es fünf Minuten zu Fuß auf der gegenüber liegenden Seite der Prinsengracht.

Auf der Fahrt hierher hatte ich über die Worte meiner Mutter nachgedacht. Voller Hoffnung freute ich mich darüber, welche positive Wendung alles nehmen könnte. Es ist schwer den Vater als Feind im eigenen Leben zu bezeichnen. Aber er ist zu meinem Feind geworden. Niemand kann sich vorstellen, wie es sich anfühlt, den Vater töten zu wollen. Vieles bleibt hinter den Erfahrungen anderer Menschen weit zurück. Zum Glück.

Ich schellte an der Tür, nichts regte sich, ich nahm meinen Schlüssel, ging hinein und fuhr mit dem nachträglich in das alte Haus aus dem 17. Jahrhundert eingebauten hydraulischen Aufzug in die dritte Etage. Das letzte Mal bin ich Silvester in der Wohnung gewesen. In den vergangenen neun Monaten hatte meine Schwester nichts verändert. Es war alles so, wie ich es eingerichtet hatte. Ich stand sofort in dem großen Wohnraum, eine abgeschlossene Diele gab es nicht. Die Wohnung erstreckt sich über die gesamte dritte und vierte Etage sowie das Dachgeschoss des alten Grachtenhauses. Über eine interne steile Treppe erreicht man von der dritten Etage mit Wohnraum, Essbereich, Küche, Gästetoilette und kleinen Lagerraum die vierte Etage mit zwei Schlaf- und Arbeitszimmern und einem großen Bad. Im Dachgeschoss hatte ich alle Wände rausnehmen lassen und meinen Schlaf- und Arbeitsraum mit Bad über die gesamte Grundfläche und den Spitzbogen ausgebaut. Von hier kam ich auf eine kleine Terrasse auf der Rückseite des Hauses zu den Innenhöfen mit Blick über die Dächer im Grachtengürtel. Hier hatte ich mich damals eingerichtet, mein kleiner Schreibtisch stand dort, es gab einen Apple Monitor und einige Bücher, die ich nicht mitgenommen hatte. Alles sah so aus wie ich es verlassen hatte. Es erleichterte mich, wieder hier zu sein.

Ich ließ meine Taschen oben stehen und ging die steile Holztreppe wieder nach unten, um mir einen Drink zu nehmen. Die Wohnetage war auch aus mehreren Räumen entstanden, nachdem man die ursprünglichen Wände weggerissen hatte. Gegenüber der Treppe lag zwischen dem Wohnbereich, der zur Gracht ging und dem Essbereich zu den Innenhöfen und Gärten, eine lange offene Küchenzeile. Die drei großen Fenster im Wohnbereich gingen hinaus auf die Prinsengracht. Vor den Fenstern zur Gracht gab es eine weiße Holzfensterbank über die Breite des gesamten Raums unter der sich Heizkörper befanden, die weiß verkleidet waren. Der Raum war fast fünf Meter hoch und die Fenster reichten bis unter die Decke, die von schweren Holzbalken getragen wurde. Es war kalt in der Wohnung. Die Fenster der denkmalgeschützten Fassade waren aus Einfachglas und nicht dicht. Im Kühlschrank stand eine ungeöffnete Flasche Pastis und mehrere Flaschen Weißwein. Ich mixte mir den Pastis mit wenig Wasser und viel Eis. Ich fühlte mich zuhause. Eine gute Entscheidung hierher zurück zu kommen. Zurücklassen würde ich nichts. Das Gespräch mit Mutter hatte mich aufgewühlt. Aber es geschah etwas, und ich war nicht allein damit.

Draußen wurde es dunkel. Die Laternen spiegelten sich im Wasser der Gracht. Zwei der Fenster auf dem neuen Hausboot auf der anderen Seite der Gracht waren beleuchtet. Das neue Hausboot war einem alten Plattbodenschiff gewichen und glich einem modernen Bungalow, nur das dieser schwimmen konnte. Über die Brücke der Reguliersgracht fuhren mehrere Radfahrer. Von der anderen Seite der Brücke kam in diesem Moment ein Fahrgastschiff. Ich sah die Lichter, die den Innenraum beleuchteten, es waren nur wenige Plätze besetzt. Es hatte angefangen zu regnen. In der Gracht erzeugten die Regentropfen kleine Blasen. Ein Radfahrer auf der gegenüberliegenden Seite und eine Gruppe von zwei Fußgängern beeilten sich, um ins Trockene zu kommen. Ein offenes Boot mit jungen Leuten fuhr vorbei, jemand hatten einen Sonnenschirm von Heineken aufgespannt. Unter einem Heineken Sonnenschirm auf dem Boot, das aussah wie ein altes Rettungsschiff, saßen zwei junge Männer mit Bierdosen in der Hand. Der Mann am Ruder trug eine rote Regenjacke, seine langen Haare hingen nass über den Kragen. Der Regen schien sie nicht zu stören. Jeder, der hier lebt weiß, dass es zehn Mal am Tag aufhören kann zu regnen und in den Pausen dazwischen scheint schnell die Sonne oder nachts ist es sternenklar zwischen den Schauern. Alle, die hier zu Besuch sind, gewöhnen sich daran beim Regen in eine Bar zu gehen und sobald es aufhört, sich gleich wieder auf die Straße zu setzen. Hier in Amsterdam hatte ich gelernt, das Beste aus allem zu machen.

Ich versuchte meine Schwester anzurufen, dann hörte das Klingeln und Vibrieren eines Telefons von der Küchenzeile. Ich ging hinüber und sah ein iPhone auf dem Regal oberhalb der Arbeitsplatte aus ausgeblichenem Teakholz neben einem Kochbuch liegen. In Gedanken sah ich Holly, wie sie die Wohnung in Hektik verlassen, in letzter Sekunde wenigsten den Schlüssel mitgenommen hatte und sich unten auf der Gracht auf ihr Fahrrad setzte, um rasch an einen anderen Ort zu kommen.

Ich schüttete mir Pastis 51 nach, brachte die Flasche zurück in den Kühlschrank, ging wieder in den Wohnraum und stellte mich an das Fenster mit Blick auf die Gracht. Der Anblick beruhigte mich. Die letzten Tage hier, bevor ich vor zwei Jahren nach Düsseldorf zurück gegangen bin, hatten mich sehr aufgewühlt. Damals hatte ich Angst, jetzt nicht mehr. Ich wollte nicht zurück nach Deutschland. Hier in Amsterdam hatte ich mit meinem Team die Finanzholding und die ersten Investments in der Blockchaintechnologie aufgebaut und viel für die Reputation der alten Unternehmen unserer Familie, vor allem in Asien, erreicht. Von hier hatte ich die produzierenden Standorte der Unternehmensgruppe betreut, neue Technologien eingeführt und viel Anerkennung im Management dafür bekommen. Einige der Führungskräfte in den Tochtergesellschaften brachten mir das Vertrauen entgegen, was mein Vater sich weigerte mir zu geben. Die Anordnungen meines Vaters waren während meiner Zeit in Amsterdam bei Führungskräften immer mehr in Frage gestellt worden. Viele seiner vermeintlichen Fehlentscheidungen hatten für Diskussionen in der gesamten Gruppe geführt. Als das immer offensichtlicher wurde, holte mein Vater mich zurück nach Deutschland in die Zentrale. Offizieller Grund war die Vorbereitung des Generationswechsels. Tatsächlich benötigte mein alter Herr jemanden hinter sich, der grobe Fehler richten konnte. Mein Organisationstalent schätzen viele unserer Führungskräfte. Meine Begabung in komplexen Verträgen mögliche Risiken zu erkennen und endsprechende Formulierungen zur Absicherung zu finden und dies in Verhandlungen durchsetzen zu können, hatte ich oft bewiesen. Mein Vater war zu ungeduldig.

Ich war damals in der Muttergesellschaft und einigen Beteiligungen zum Feuerwehrmann von Bränden geworden, dessen Verursacher mein Vater und seine engsten Mitarbeiter waren. Einer der älteren Mitarbeiter hatte einmal lachend zu mir gesagt: „Ohne dich wäre dein Vater schon bettelarm. Deinem Vater geht es nur um sich und nicht mehr um die Firma. Ohne dich, Hendrik, würde es zu einer Katastrophe kommen.“ Ich hatte ihm damals geantwortet: „Mein Vater hat Angst davor alt zu werden und keine Bedeutung mehr zu haben. Das Schlimme ist, ich konnte ihm bis jetzt in der Sache helfen, aber das eigentliche Problem nicht lösen. Er will nicht aufhören. Und wahrscheinlich braucht er eine Krise, um zur Vernunft zu kommen. Kein Wandel ohne Krisen.“

Die seit vielen Jahren im Unternehmen arbeitenden Mitarbeiter setzten ihre Hoffnungen auf mich als Nachfolger, als ich wieder zurück kam.

Mein Blick nach draußen auf die Gracht ließ die vielen schönen Erinnerungen an das Leben hier zurückkommen. Von den geöffneten Fenstern aus hatten wir im Sommer vor drei Jahren stundenlang beim Roze Zaterdag, der holländischen Version der Gay Pride auf der Gracht zugesehen und die Vielfalt des Lebens mitgefeiert. Die Stimmung war ausgelassen, trotzig und ansteckend zugleich. In Amsterdam hatte ich meine Arbeit mit der größten Begeisterung gemacht, konnte Ideen umsetzen, hatte ein perfektes Team und niemanden mit einer bevormundenden Fürsorge um mich. Ich hätte nie gehen dürfen. Die Zeit in Deutschland, so eng zusammen mit meinem Vater und seiner Art die Dinge zu tun, hatten mich verändert. Wie bei einer Krankheit, kann es zu spät sein, wenn man nichts bemerkt. Es war leichter sich anzupassen. Der Komfort bestand darin zu akzeptieren, was man bedenklich fand oder vor dem man früher sogar Angst hatte. Man gewöhnt sich an Beschwerden und dann wird es normal. Es kommen immer weitere Symptome dazu. Am Ende ist man so krank wie andere, deren Krankheit man früher als bedrohlich empfand.

Mich hatte alles müde gemacht, es war soviel passiert.

Ich nahm einen letzten Schluck Pastis, das Eis hatte sich aufgelöst. Die Müdigkeit machte sich in meinem ganzen Körper bemerkbar. Das Gespräch mit meiner Mutter hatte alles noch intensiver in Bewegung gebrach als vorher der Moment im Wald, das ausgerichtete Gewehr und das Telefonat mit meinem Vater.

Es war so ruhig hier in der Wohnung. Nur vereinzelt waren Motorengeräusche, Fahrradklingeln oder laut sprechende Passanten zu hören. An der Wand hinter dem Esstisch, der aus einem alten Seitenschwert eines Plattbodenschiffes bestand, das auf einem rostigen Stahlgestell lag, hingen ein dutzend großformatiger Schwarzweißfotos in dunklen Metallrahmen und ein Bild von Piet Mondrian. Damals, in den ersten Wochen nach meinem Einzug war ich mehrmals mit dem Auto nördlich von Amsterdam unterwegs gewesen, um Nordholland kennen zu lernen. Die Landschaft der Polder, die Deiche und die Atmosphäre am Wattenmeer, eine gute Stunde von hier, haben mich begeistert. Viele Menschen können es nicht nachempfinden, aber gerade die künstliche Landschaft der Kanäle und Polder, wie am Zeichentisch entworfen, die gerade und rechtwinkelig verlaufenden Kanäle und Landstraßen ordnen etwas und schaffen Struktur im Kopf, im Denken und Empfinden. Einer der Gründer der niederländischen De Stijl Gruppe der Architekt Jacobus Johannes Pieter Out hatte 1916 zu dieser Landschaft gesagt, dass sie ihn inspirieren würde. Er schrieb: „…das macht mich so frei hier um klar denken zu können, mich von dem traditionellen abzuwenden und für mich völlig neue Dinge entwicklen zu können.“ Ich hatte damals mehrere großformatige Kalender mit Fotos dieser Landschaft gekauft und die schönsten Fotos eingerahmt und aufgehängt. Es war noch alles da, die Bilder und die Erinnerungen.

In dem Augenblick hörte ich den Schlüssel in der Wohnungstür. Ich erblickte zuerst meine Schwester und dann eine weitere Person hinter ihr. Holly schrie erschrocken auf. Sie sah mich nur im Gegenlicht der Laternen im sonst dunklen Raum stehen, während Holly und ihre Freundin für mich deutlich erkennbar waren. „Nicht erschrecken Holly, ich bin es Hendrik.“

„Wahnsinn, ich habe mich so erschrocken, was machst du hier?, rief Holly und war schon bei mir und wir umarmten einander. Ich hob meine kleine Schwester vom Boden, hörte wie sie dann sagte: „Ich freue mich dich zu sehen, diese Überraschung ist dir gelungen.“

„Ich wollte dich eigentlich nicht überraschen und habe dir geschrieben und dich mehrmals angerufen, aber dein iPhone liegt hier.“

„Ich habe erst heute Mittag gemerkt, dass ich mein Telefon gestern hier vergessen habe. Wir haben nach einer langen Nacht mit Freunden bei Marjet geschlafen“, sagte Holly. Sie trug ihr dunkles Haar viel kürzer und hatte neuerdings eine braune Brille. Ich hatte es vor einigen Wochen auf ihrem Profilbild bei Whatsapp gesehen und sie per Facetime angerufen. Bevor sie mich begrüßen konnte, hatte ich gesagt: „Steht dir wirklich gut das kurze Haar und übrigens, ich habe schon immer hübsche Mädchen mit Brille gemocht.“

Holly hatte lachend gekontert: „Hendrik, ich kenne deinen Geschmack bei Frauen, aber du musst mir aus Mitleid mit deiner Schwester keine Komplimente machen. Du hast nie ein Faible für kurze Haare bei Frauen gehabt.“

„Stimmt, aber Brillen mochte ich wirklich bei einigen Mädchen.“

„Dann waren sie aber auch ohne Brille hübsch.“ Wir lachten beide, unterhielten uns noch über alles Mögliche und ich versprach, sie bald zu besuchen.

Jetzt standen wir uns endlich gegenüber. Holly konnte die Frisur mit den kurzen wüsten Haare wirklich gut tragen. Ihre Ohren schmückten große Stecker, die wie Diamanten geschliffen waren, in denen sich das wenige Licht spiegelte. Die dunkelbraune, fast schwarze Brille, stand ihr sehr gut und passte zu ihrer Haarfarbe. Der kurze Haarschnitt ließ ihr Gesicht mehr strahlen als früher mit dem langen Haar, das es viel mehr bedeckt hatte. Sie trug ein weißes Langarmshirt mit tiefen Ausschnitt und eine enge Jeans, die ihre Knöchel frei ließ. Es war dunkel geworden. Die Laternen von der Straße gaben zu wenig Licht, um mehr sehen zu können. Holly lachte, ließ mich los und drehte sich zu ihrer Freundin um. „Das ist Marjet, ihr kennt euch doch von der Silvesterparty…“

„Hallo Marjet“, sagte ich, ging auf sie zu und begrüßte sie mit den drei obligatorischen holländischen Wangenküssen, links, rechts, links.

Marjet war beinah so groß wie ich, also mehr als einen Kopf größer als Holly. Holly schaltete das Licht an und stellte ihre Tasche mit dem Macbook auf die Küchenzeile. Die zwei Stehlampen gaben dem Raum Helligkeit und ich sah, dass Marjet eine sehr attraktive Frau war. Ihr rotes Haar hatte ich nicht so leuchtend in Erinnerung. Ich sah ihr einen Moment länger in ihre großen grünen Augen. Sie hatte lange Wimpern, das schmale Gesicht mit einem schönen geschwungenen Mund lächelte mich an. Sie trug einen schwarzen kurzen Rock, darunter eine graue Strumpfhose, eine leichte grüne Bluse, die oberen Knöpfe waren weit offen. Ihr Décolleté und der Ansatz ihrer festen Büste zogen meinen Blick an und einen Moment zu lange sah ich ihr in die Augen. Ein kleiner Funke der Erregung durchzuckte mich. Sie war schlank mit langen Beinen. Ihre Haut war heller als die von Holly. Beim Lächeln entblößte sie ihre schönen Zähne und sagte: „Hallo Hendrik, ich habe mir gewünscht dich wieder zu sehen. Holly hat viel von euch und eurer Familie erzählt.“ Sie zögerte und lächelte Holly an.

In Hollys Augen blieb stets, auch dann wenn sie lächelte, immer ein Schatten von Melancholie, doch dieses Mal nicht. Ich sah ihr an, sie war glücklich. Es sah so aus, als wollten die beiden Luft holen, um mir etwas zu sagen, aber ich kam ihnen zuvor:

„Ihr wollt mir jetzt wohl erzählen, dass ihr ein Paar seid. Das müsst ihr nicht.“

Die beiden sahen einander an und lachten laut los. „Nein Hendrik, dass wollen wir nicht sagen. Wir sind kein Paar“, erwiderte meine Schwester. Ich streckte meine beiden Hände nach ihr aus. Sie kam auf mich zu und lehnte sich an meine Brust. Mit beiden Händen umfasste ich liebevoll Ihren Kopf und schaute sie an. Als ich aufsah, stand Marjet hinter ihr, in ihren Augen glänzten Freudentränen. Wir lächelten einander an und ich drückte Holly noch fester, gab ihr einen Kuss auf ihr kurzes dunkles Haar und sagte in das schöne Gesicht ihrer Freundin: „Sorry, aber irgendwie hatte ich so ein Gefühl. Mir war klar, dass Ihr Freundinnen geworden seid, und es könnte ja mehr sein.“

„Lieber Bruder, du und deine Phantasie.“ Holly sah mich schmunzelnd an.

Dann blickte sie erst auf Marjet, drehte sich wieder zu mir und sagte: „Nur, weil zwei Menschen ab und an Sex miteinander haben, sind sie noch kein Paar. Und lesbisch sind wir deshalb auch nicht.“ Marjet zuckte nur kurz mit den Schultern ohne sich dazu zu äußern.

„Also habe ich doch etwas mehr zwischen euch gefühlt. Und ja, ich habe eine ausgeprägte Phantasie. Schlimm?“ Ich wollte noch nicht von dem Thema lassen!

Hier in Amsterdam war das Leben weiter gegangen und meine Schwester wirkte sehr viel glücklicher als vorher. „Komm Hendrik, nicht alle befreundeten Frauen, die viel Zeit miteinander verbringen, sind Lesben“, sagte sie noch einmal.

Ich musste ihr zwangsläufig innerlich zustimmen, aber Hollys glücklicher Gesichtsausdruck hatte mich nicht in die Irre geleitet.

Meine Schwester brachte die nassen Mäntel und Schuhe an die Garderobe und wir setzten uns zu dritt in den Wohnbereich auf große Kissen vor die Heizung am Fenster. Holly zog sich die roten Söckchen aus und schob die Füsse unter der Holzverkleidung an die Heizung. Ich erhob mich nochmals und ging in die Küche, dort nahm ich eine Flasche Rotwein von dem Regal. Ich hatte die Flasche Pinotage aus Südafrika schnell geöffnet, nahm drei Gläser aus einem der Hängeschranke, schenkte ein und brachte die gut gefüllten Gläser ans Fenster, wo die beiden es sich gemütlich gemacht hatten. Auf dem dicken Wollteppich im Wohnbereich lagen immer Kissen. Sie nahmen mir Ihre Gläser ab und ich setze mich den beiden gegenüber in den Sessel, der mit Kuhfell bezogen war. Noch bevor ich richtig im Sessel saß, hatte Holly schon von dem Wein getrunken und sagte: „Puh, den Schluck habe ich jetzt gebraucht!“ Marjet und ich sahen sie nur an, lachten und prosteten einander zu. „Auf den Genuss und die Liebe“, sagte Marjet.“

Ich lacht erleichtert auf und sagte: „Ja, auf die Liebe, aber bei euch tut es die gute Freundschaft auch, oder?“ Holly sah erst ihre Freundin und dann mich an und antwortete: „Hendrik, wir beide sind wirklich gut befreundet. In manchen Situationen sind wir auch besonders gut und zärtlich zueinander, aber deshalb ist es nicht mehr. Okay? Zärtlichkeit und Liebe sind zwei verschiedene Dinge, die zusammen gehören können, aber nicht müssen.“

„Ich verstehe“, und lächelte die beiden an.

Marjet sagte: „Hendrik, es gibt Männer und Frauen die sich nicht in allen Dingen zu jeder Zeit auf etwas festlegen.“ Sie lächelte als ob sie mit mir flirten wollte.

„Okay, ich habe verstanden, ihr beiden. Nur, dass ihr es wisst: für mich ist alles in Ordnung solange du, Holly, wirklich glücklich bist.“ Ich kehrte bewußt den großen und verständnisvollen Bruder heraus.

„Bevor wir jetzt noch mehr über uns sprechen Hendrik…“, dabei sah Holly Marjet an, „möchte ich wissen, was los ist. Ich möchte über die Fotos sprechen, die du mir geschickt hast?“

Wir nahmen alle einen Schluck aus unserem Glas bevor sie fortfuhr:

„Du hast diesen Kram in Säcke gepackt, alles an Kleidung, Schuhe und Krawatten und schmeißt das auf den Müll?“

„Ja, genau das habe ich gemacht.“

Ich erzählte sehr lange und ausführlich über die letzen Wochen in Deutschland. Es tat mir gut offen darüber zu sprechen, was seit einiger Zeit in mir vorging. Marjet war die erste außerhalb der Familie mit der ich über meine Angst und die Wut sprach und so fing an, die ganze Geschichte zu erzählen. „Die ersten Wochen mit Vater nach meiner damaligen Rückkehr aus Amsterdam waren komplett anders geplant“, begann ich und berichtete dann von meinen Gedanken und Gefühlen der ersten Zeit: „Ich hatte so gehofft, dass Vater mich weiter gewähren lässt und sich zurückzieht. Ich kannte es seit der Kindheit nicht anders, unser Vater bestimmte wer, was, wann in der Familie, und besonders im Unternehmen, tun und lassen sollte. Ich habe zu spät kapiert, was mit mir dabei passiert. Weißt du noch Holly, wir haben einmal über den „Überwachungsstaat Hellmann“ gesprochen. Es ist viel schlimmer als wir damals vermutet haben. Er überwacht uns nicht nur, er benutzt uns.“

Holly hatte Tränen in den Augen: „Hendrik, es tut mir leid, dass es so gekommen ist. Ich habe gedacht, du bist gerne für uns alle eingesprungen und wolltest die Verantwortung übernehmen, weil ich nichts mit Vater und der Firma zu tun haben wollte.“

„Lass Holly, es ist okay.“ Nachdem ich meiner Schwester erzählt hatte wie der Tag verlaufen war, und was meine Mutter mir gestanden hatte, war sie sprachlos. Das Ereignis im Wald erwähnte ich nicht.

„Was soll ich sagen Hendrik? Es musste so oder anders dramatisch enden.“

„Ich bin jetzt hier, will jetzt nach vorne sehen und schnell entscheiden wie es weiter geht. Der Anfang ist gemacht, als nächstes muss ich mit unserem Vater sprechen, je früher desto besser. So und jetzt möchte ich über euch und Amsterdam reden und mich freuen wieder hier zu sein.“ Ich wollte für heute einen Schlussstrich ziehen und die beiden Frauen nicht noch mehr belasten.

Wir entschieden uns, fein auszugehen. Erst einen Drink und danach ein ausgefallenes Abendessen. Nach einstimmiger Meinung wäre der beste Ort dafür das „Vinkeles“ in der Keizersgracht. Wir würden uns chic anziehen, könnten zu Fuß gegen und in der Bar beginnen, um in den Abend und die Nacht einzutauchen. Holly rief dort an und reservierte einen Tisch für drei Personen. Ich ging in mein Bad in die oberste Etage und zog mir einen dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd an. Als ich fertig war, setzte ich mich wieder in den Sessel vor dem Fenster zur Gracht und trank von dem Rotwein. Von oben hörte ich die Geräusche der beiden Frauen. Ich drehte den Sessel zu der Wand mit den Bildern. Mir fiel das erstes Mal auf, dass auf keinem der Fotos, die ich damals hier aufgehängt hatte, Menschen zu sehen sind. In jedem der Bilder hatte ich früher Momente gesehen, in die ich mich hinein gewünscht hatte. Ich fühlte mich auf einem der Segelschiffe bei der Regatta, bei Sonnenschein auf dem Deich, bei Sturm am Meer, mit dem kleinen Ruderboot auf dem Kanal entlang der Wiesen fahren, beim Sonnenuntergang am Meer, in den Dünen liegen, im Liegestuhl sitzen mit einem Glas Weißwein in der Hand durch das man nicht durchsehen kann, weil es beschlagen ist. Diese Bilder sagten mir alle das gleiche. Alleine zu sein, keine Verpflichtungen zu haben, keine Rücksicht nehmen zu müssen, nicht in den Plan eines anderen zu gehören, bedeutet, die Freiheit zu haben, sein eigenes Glück suchen zu können.

Ich bemerkte Holly, die die Treppe herunter kam. Sie trug ein mattrotes Seidenkleid, rote hohe Lackschuhe, eine Kette mit einem großen silbernen Anhänger. Ihr kurzes dunkles Haar war durch eine Baskenmütze bedeckt, über dem Arm trug sie einen schwarzen Trenchcoat. Ich drehte den Cocktailsessel in ihre Richtung und staunte. Sie wurde zu einer Frau mit Persönlichkeit und Stil. Hinter ihr betrat auch Marjet die Treppe. Als beide Frauen nebeneinander standen, lächelte Holly, sah erst ihre Freundin und dann wieder mich an und fragte: „Nimmst du uns so mit? Gefallen wir dir?“

„Die Frage ist nicht, ob ich euch mitnehme, sondern Ihr mich?“ Wir lachten alle drei. Marjet trug einen dunkelbraunen Hosenanzug mit tiefem Ausschnitt und weiße Sneakers. „Ich für meinen Teil nehme euch mit Vergnügen mit. Ihr seht toll aus. Ich freue mich auf den Abend.“ Wir zogen unsere Mäntel an und gingen los durch die abendlichen Straßen von Amsterdam.

Zu Fuß bis zum Hotel Dylan, in dem sich das Restaurant Vinkeles befand,

brauchten wir keine Viertelstunde. Das Hotel, das aus mehreren miteinander verbundenen Grachtenhäusern besteht, zählt zu den renommiertesten, aber auch teuersten Hotels der Stadt. Das Restaurant ist nach dem Maler und Kupferstecher Reinier Vinkeles aus dem 18. Jahrhundert benannt. Der Eingang zum Hotel war ein Überbleibsel eines ehemaligen Theaters, das 1772 niedergebrannt war. Auf dem Grundstück wurde später ein Armenhaus und eine Armenküche errichtet, hierin befand sich jetzt das Restaurant.

Wir setzten uns zuerst in die Bar und bestellten eine Flasche Taittinger Champagner. Als die Bedienung uns einschenkte, sagte ich: „Wisst Ihr wann ich das letzte Mal Taittinger getrunken habe? Es war auch hier in Amsterdam. An dem Abend als ich dich, Marjet, kennengelernt habe. Damals habt ihr euch auch das erste Mal gesehen, oder? Ihr habt bei uns in der Wohnung fast die ganze Zeit miteinander gesprochen und euch nicht um die anderen Gäste gekümmert. Es war ein schöner Abend. In jedem Fall habe ich damals alle beneidet, die hier bleiben konnten. Aber jetzt bin ich zum Glück wieder da. Auf einen schönen Abend!“

Wir prosteten einander zu und die beiden begannen von ihrem Alltag zu erzählen. Es fiel mir schwer mich ablenken zu lassen und nicht an den Tag und die Zukunft zu denken. Später im Restaurant wurden wir an einen großen, alten Bauerntisch geführt, auf dem kein Tischtuch lag, der aber mit sehr schönem Besteck und edlem Geschirr eingedeckt war. Eine kleine dunkelhäutige Frau, etwas älter als ich, stellte sich uns als Cleo vor.

Nachdem wir bestellt hatten und die zweite Flache Champagner auf dem Tisch stand, wollte ich mehr über Marjet persönlich erfahren. Außerdem war ich neugierig, warum meine Schwester in keiner festen Beziehung stand.

Weil niemand in direkter Nähe bei uns saß, konnten wir offen sprechen.

„Ich muss dir das einmal in aller Ruhe erzählen, aber es gibt keine feste Beziehung in meinem Leben, obwohl ich es mir einmal sehr gewünscht habe. Es hat wohl mit Dingen zu tun, vor denen ich mich fürchte. Sieh dir an, was aus unseren Eltern und unserer Familie geworden ist. Sieh, welche Angst ich vor unserem Vater habe. Das alles war der Grund, warum ich fortgegangen bin.“ Sie schaute mich traurig an. „Aber das ist eine Geschichte, die nicht für heute Abend gedacht ist. Lass uns über fröhlichere Dinge sprechen!“

„Du hast vollkommen recht, wir sehen uns jetzt ja auch wieder öfter!“ Ich prostete den beiden Frauen zu und ließ den Champagner auf der Zunge perlen.

„Jetzt erzähle ich dir eine andere Geschichte aus meinem Leben, die auch Marjet mit einschließt Willst du sie hören, Hendrik?“ “Schieß los, Schwesterherz!“ Unsere Stimmung stieg zusehends und wir fingen an, den Abend richtig zu genießen.

„An einem Abend im Winter waren wir beide alleine in der Wohnung von Marjet. Sie hatte ihre neue Wohnung lange renoviert und immer wieder Freunde eingeladen, um zu zeigen, was sie aus der alten Druckerei in einem Hinterhof in der Bloomgracht gezaubert hatte. Die Renovierung von Wohnungen und Häusern ist nämlich ihr Hobby“, dabei lächelte sie Marjet an und fuhr fort: „Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Eigentlich waren wir zu dritt an dem Abend verabredet, aber ein Freund von Marjet hatte abgesagt und so waren wir allein“.

Die beiden jungen Frauen lachten und redeten und erzählten und erzählten. Schließlich kam Holly zum Punkt: „ Weißt du Hendrik, erst schien alles ganz normal. Doch plötzlich gab es diesen Augenblick. Als wir immer vertrauter miteinander wurden, habe ich Marjet von meinem Problem berichtet. Eher langsam und stockend, denn es war tatsächlich das erste Mal, dass ich darüber mit jemandem gesprochen habe.“ Holly und Marjet sahen sich an und Marjet nickte meiner Schwester fast unmerklich zu.

„Ich habe ihr von unserem Vater erzählt, auch wie er unsere Mutter behandelt hat und wie sie litt. Ich habe ihr erzählt, dass ich das nicht mehr ertragen wollte und einen Ausweg gesucht habe.“

Holly beschrieb diese Dinge in einer Offenheit, die mich überraschte. Ich fühlte mich ihr sehr verbunden.

Marjet wiederum berichtete von ihrer gescheiterten Beziehung zu einem Kollegen mit dem sie sogar von gemeinsamen Kindern, dem Häuschen mit Garten und Hund geträumt hatte. Diese Liebe war an ihren zu hohen Erwartungen zerbrochen.

Wir wurden alle drei ein wenig melancholisch und hingen einen Augenblick unseren eigenen Gedanken nach. Mir fiel wieder meine gescheiterte Beziehung zu Saskia ein, die mit ähnlichen Wünschen an mich herangetreten war und die ich ihr nicht erfüllen konnte

Holly nahm erst einen Schluck Champagner und dann das Gespräch wieder auf: „Also mein lieber Bruder: Auf die Freundschaft und die guten Gefühle. Wir verstehen uns gut und wir ergänzen uns, irgendwie stimmt die Chemie, wie wir Deutsche so gerne sagen. Ich weiß nicht, was noch kommt, aber jemand mit dem ich über alles reden konnte, hat mir lange gefehlt.

Ich mag Männer sehr, es gab wirklich schöne Momente, aber es bleibt auch immer die Angst vor einer Bindung und vor dem, was ich Zuhause erlebt habe. Sind Männer nicht immer autoritär? Du musst es doch wissen, Hendrik?“

„Äh, nein, ich weiß nicht. Ich denke nicht. Vater ist es, sicherlich. Er ist auch antidemokratisch, das ist klar! Aber doch nicht jeder Mann ist so!“

„Nach den ersten Gesprächen mit Marjet bin ich dann zu einem Therapeuten gegangen, um einige Dinge aufzuarbeiten. Das hat mir geholfen und unendlich gut getan. Was ich jetzt empfinde ist anders, besser und irgendwie einfacher. Wenn es mit den Männern ernster oder enger wurde, ihr wisst, was ich meine, dann beendete ich es. Es war so, dass ich nie über einen bestimmten Punkt hinaus wollte. Ich habe immer den Weg in eine Beziehung gesucht, aber es ging nicht.“ Sie nahm wieder einen Schluck aus ihrem Glas, das die Kellnerin noch einmal gefüllt hatte.

„Seitdem ich mit einem Therapeuten darüber spreche, erlebe ich eine komplette Verwandlung in mir und zu allem hat mir meine Freundschaft zu Marjet geholfen. Deshalb ist sie mir so wichtig. Ich habe nicht nur das mit der Beziehung zu Männern unterdrückt, sondern zu allem, was Nähe und Vertrauen bedeutet. Jetzt traue ich mich etwas zu verändern und etwas Neues zu suchen. Mit Marjet will ich das jetzt so, es bedeutet Freundschaft und auch ein wenig Zärtlichkeit. Ich möchte im Moment nicht darüber nachdenken, was noch kommt, nur genießen.“

Dann legte sie eine Hand auf meine, sah mich an und sagte: „Aber du Hendrik musst jetzt auch endlich einmal erleben wie schön es ist, dich selbst und einen anderen Menschen lieben zu können.“

Dann sah sie mich an. Ihr Lächeln war verschwunden und ich spürte ihre bedrückte Stimmung. Sie dachte an etwas ganz anderes. Meine Stimmung war auch dahin. Ich sah meinen Vater und Assmann vor mir. Ich würde später mit Holly allein sprechen müssen.

Um mich selber wieder zurück zur ausgelassenen Stimmung zu zwingen, fing ich an zu erzählen, was es in Düsseldorf sonst Neues gab. Wir ließen uns die Weinkarte kommen und bestellten einen Barrique ausgebaute n Chardonnay aus Südafrika. Der Themenwechsel, der starke Wein und die Geschwindigkeit mit der wir tranken, verbesserte die Stimmung.

Das Essen schmeckte herrlich und dauerte inklusive Dessert und Kaffee fast drei Stunden. Wir bedankten uns bei Cleo, gaben ihr ein fürstliches Trinkgeld und wollten schlafen gehen. Das gute Essen, der Alkohol, die vielen Gespräche und die Ereignisse des Tages forderten ihren Tribut. Ich war todmüde. Dieser Tag, der im Wald voller Hass mit einer Waffe in der Hand begann und in Amsterdam mitten in der Geschichte von Menschen, die Liebe und Glück suchen, endete, war körperlich und emotional anstrengend gewesen.

Marjet schlug vor, dass wir sie zu einem Taxistand an der Westerkerk bringen sollten und sagte: „Ihr beide habt euch bestimmt noch eine Menge zu erzählen. Lasst uns Morgen Nachmittag etwas gemeinsam unternehmen.“

Ich erwachte in der Nacht. Mitten in dem immer gleichen wiederkehrenden Traum, in dem ich unterwegs bin und versuche ein unbekanntes Ziel zu erreichen. Meistens sitze ich in einem Zug oder Bus, mal in einem Taxi oder ich wartet in einem Raum auf einem Flughafen und mein Flugzeug verspätet sich wieder und wieder. Ich will weiter, werde aber immer aufgehalten. Jemand sagt mir, ich müsste mich beeilen, aber ich komme nicht voran. In diesem aktuellen Traum saß auch ich in einem Bus. Der Fahrer war in anderen Träumen auch Taxifahrer und Pilot gewesen. Immer der gleiche Mann. Er besitzt kein Gesicht, das ich kenne. Eine graue Kontur mit grauem Gesicht und schwarzen Haar ohne jemandem ähnlich zu sein. Er trägt immer eine graue Uniform und sagt im Traum zu mir: „Du bist hier falsch. Du musst in eine andere Richtung, wenn du und die anderen nicht sterben sollen.“ Ich bin im Traum immer verzweifelt, weil ich nicht weiß, wie ich es schaffen soll an mein Ziel zu gelangen. Mein Ziel ist ein Zuhause, das mir unbekannt ist. Ich komme niemals an. Oftmals erreiche ich im Traum mehrmals die Stelle, die Ausgang meiner Irrfahrt war. Es ist immer Nacht, die Beleuchtung, egal wo, ist schummerig, nie weißes Licht, sondern braungelb, diesig. Es regnet oft, wenn ich unterwegs bin. Überall, wo ich bin, ist es verdreckt. Die Straßen, Häuser, Bahnhöfe, Züge und Autos sind herunter gekommen. Die Menschen sind schmutzig. Klebrig die Luft. Es stinkt nach Abgasen und Schweiß. Alle Menschen gehen oder sitzen allein. Ich frage die Menschen in meiner Nähe nach dem Weg. Niemand antwortet mir ehrlich, alle lügen mich an. Der Fahrer in der grauen Uniform sagt: „Andere wie du sind schon tot“. Ich suche verzweifelt nach jemanden, den ich kenne, der mir den richtigen Weg zeigt. Ich rufe nach den Menschen, die mir bekannt vorkommen. Ich weiß aber nicht, wer es ist. Ich wache durch mein eigenes Rufen im Traum auf. Dieses Mal auch.

Nach Luft ringend stand ich auf. Meine Brust und das Shirt waren nass vom Schweiß. Ich wollte auf die Terrasse, an die kühle Luft.

Holly kam die Treppe hoch, blieb an der Tür stehen und fragte erschrocken „Was ist los? Du hast geschrien. Hast du schlecht geträumt?“

Ich öffnete die Tür zu der kleinen Terrasse. Die kühle Luft strömte mir entgegen. Das vom Schweiß feuchte T-Shirt zog ich mir über den Kopf und warf es hinter mir auf den Boden. Wir traten barfuß auf die kleine Terrasse. Der Holzboden war kalt und feucht. Die Lichter der Stadt schienen über die Dächer. Zwischen zwei Giebeln sah ich die beleuchtete Spitze des über achtzig Meter hohen Turms der Westerkerk und die goldenen Zeiger des Zifferblattes.

„Möchtest du reden Hendrik? Du hattest einen schlimmen Tag. Es ist noch mehr passiert oder?“

Wir gingen nach unten in das Wohnzimmer und setzten uns nebeneinander auf die große graue Couch. Holly brachte mir eine gesteppte Decke aus Baumwolle.

„Warum bist du noch wach?“, fragte ich sie.

„Ich konnte nicht schlafen, meine Gedanken kreisen um den Abend und unser Gespräch. Aber jetzt erzähl! Hendrik, was ist los?“

Ich erzählte von dem Morgen im Wald, dem Gewehr und meiner Wut auf mein Leben im Glashaus unseres Vaters und wie allein ich mich fühlte: „Ich habe immer funktioniert. Das bedeutet doch, dass ich nicht mehr von mir und meinem Leben erwartet habe. Alles, was ich in den vergangenen Jahren gemacht habe, habe ich für unsere Eltern und die Firma getan. Am Anfang war ich glücklich, weil unsere Eltern stolz waren. Zumindest glaubte ich, sie seien es. Aber unser Vater ist nicht stolz auf mich, sondern auf sich, weil er Macht über mich hat, wie über seine Angestellten und Berater. Das Schlimmste ist, ich ließ es so laufen. Habe mich bis heute nur selten dagegen gewährt.“

„Hast du jemals richtig gelebt, Hendrik?“

„Was soll diese Frage jetzt?“

„Ich verstehe, was in dir vorgeht. Mir ist es auch so gegangen als ich hierher kam und mit allem zuhause in Düsseldorf abgeschlossen habe. Alles hat mich verbittert, mir die Träume auf ein schönes Leben genommen. Ich habe dir von meiner Therapie erzählt. Das Wichtigste, das ich verstanden habe, ist: Ich war unfähig mich und andere zu lieben. Deshalb habe ich dich das gefragt. Du bist in der gleichen Situation. Du musst da raus. Bevor ich eingesehen habe, ich brauche einen Therapeuten, wollte ich mir das Leben nehmen.“

Ich war erschrocken. Meine kleine Schwester. Ich war so blind gewesen. Nichts habe ich gesehen, nicht wie unsere Mutter litt und wie verzweifelt meine Schwester gewesen ist. Ich nahm ihre Hand und sagte:

„Holly, das hast du niemandem erzählt. Auch Mutter nicht?“

„Nein. Ich werde es Mutter auch nie erzählen. Es würde sie noch trauriger und verzweifelter sein lassen.“

„Und jetzt, wie geht es dir zu Zeit?“

„Besser, viel besser. Und das liegt daran, dass ich dabei bin, ein anderer Mensch zu werden, meinen Hass auf alles los zu lassen. Ich lerne bedingungslos lieben zu können. Richtig lieben zu können.“

„Was bedeutet richtig lieben` für dich?“

„Ohne wenn und aber. Bedingungslos. Ohne einen Grund für das Glück zu suchen, es ist einfach da, schon wenn man an einander denkt. Es bedeutet alles andere vergessen zu können. Nichts erwarten zu müssen und alles zu geben und alles zu nehmen von diesem Glück.

„Holly, du sprichst von einem Glücksgefühl wie von Schwerelosigkeit?“

„Ja, und es ist einfach da, es gibt nichts Stärkeres.“ Holly geriet beinahe ins Schwärmen.

In der Gracht sah ich wieder die Regentropfen, die kleine Blasen erzeugten. Im Hausboot gegenüber war es dunkel. Auf den Straßen war niemand zu sehen. Mir kam der Gedanke an Saskia und die gemeinsame Zeit mit ihr, die Geburt von Charlotte und all die Freundinnen, die ich davor und danach hatte. Verliebtheit, Lust, Leidenschaft - ja. Liebe so wie Schwerelosigkeit - nein.

„Nein Holly, richtig gelebt und richtig geliebt so wie du das beschreibst, habe ich nicht. Ich möchte es aber gerne erleben. Diese bedingungslose Liebe. Nicht eine Liebe, die durch Selbstsucht geprägt ist. Wir haben vorhin im Restaurant darüber gesprochen. Du hast mich nach meinen Zukunftsplänen gefragt. Ich kenne sie noch nicht genau, aber Schwerelosigkeit ist eine gute Bezeichnung dafür, was ich mir wünsche.“

Ich stockte und hing einen Augenblick meinen Gedanken nach. In meinen Plänen kam Charlotte meine kleine Tochter gar nicht vor. Stimmte mich das traurig oder hatte ich eher Angst vor noch mehr Verantwortung und Aufgaben? Ich glaube Letzteres! Darüber musste ich mir zu einem späteren Zeitpunkt Gedanken machen.

„Holly, ich möchte meinen Traum leben und nicht nur meine Pflicht erfüllen. Du, ich, unsere Mutter, wir drei hatten den Plan unseres Vaters zu erfüllen. Du warst sehr jung, als du verstanden hast, was mit dir passiert ist und bist gegangen. Du hast es gemerkt und dich von dieser Pflichterfüllung und den Plänen, die unser Vater für dich hatte, frei gemacht und sogar die enge Beziehung zu Mama dafür aufgegeben. Du warst neunzehn als du angefangen hast an deiner Schwerelosigkeit zu arbeiten. Ich bin heute fünfzehn Jahre älter als du damals und beginne jetzt keine Angst mehr vor der Veränderung zu haben. Du hast meine Bewunderung!“

Holly schaute mich traurig an.

„Es gab noch mehr Gründe zu gehen als allein meine Träume, Hendrik. Für mich war es ein Albtraum mit Vater in einem Haus zu leben. Glaub mir, es ist mir sehr schwer gefallen kaum Kontakt zu Mama zu haben. Aber mit ihr wollte ich nicht über alles sprechen. Unser Vater hat mir Angst gemacht.“

„Der Preis für die Suche nach Schwerelosigkeit…“ Bei diesem Wort lächelte sie mich an, weil es wohl ein schönes Wort für das war, was wir beide in unserem Leben suchten. „…war sehr hoch.“

Nach einer kurzen Zeit sprach sie weiter: „Ich habe mich nicht nur getrennt, sondern meiner Mutter und mir die Gelegenheit genommen, zusammen zu sein. Aber ohne diese Trennung hätte ich über mich sprechen müssen und das wollte ich nicht. Ich habe Mama gesagt, dass es besser ist einander zu schreiben. Ich wollte auch nicht, dass sie mich oft besuchen kommt.“ Sie schluckte schwer und schaute mich traurig an.

„Hendrik, sie akzeptiert es, aber es tut ihr sehr weh. Im Moment leidet sie am meisten. Das weiß ich und fühle mich beschissen dabei!“

Ich erinnerte mich an eine Situation im Restaurant, als ich bemerkte, dass ihr Gesichtsausdruck nicht zu ihren Worten passte. Ich drehte mich auf der Couch weiter zu ihr und fragte: „Holly, an was hast du vorhin gedacht, als du gesagt hast, ich müsste auch endlich einmal erleben wie schön es ist mich selbst und einen anderen Menschen lieben zu können? Du hattest auf einmal Angst, ich habe es dir angesehen“ Ich kannte sie und jeden Blick von ihr. Sie hätte nie Schauspielerin werden können. Zumindest konnte sie den Menschen, die sie kannten, nichts vormachen: „Was ist passiert? Sag es mir jetzt bitte.“

Vater unser, lass uns glücklich sein

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