Читать книгу Vater unser, lass uns glücklich sein - Andreas C. Habicht - Страница 5
KAPITEL 2 - Klar Schiff
ОглавлениеDie Autobahn A61 in Richtung Köln war leer. In meinen Playlisten suchte ich nach Musik eines Freundes. Als DJ legte er jeden Sommer auf Ibiza auf. Alle Alben von Woody van Eyden und Alex M.O.R.P.H. waren auf meinem iPhone hinterlegt. Auf dem Display tippte ich auf den zweiten Song Angel´s Love im Album Prime Mover. Lauter. Lauter. Noch lauter. Noch lauter:
I'll wait for you,
I'll wait forever
Hear my prayer as I search for heaven
For the love,
for the love of an angel
For the love,
for the love I pray
Hear my prayer,
take me to heaven
Nacheinander tippte ich auf meine Lieblingsstücke in dem Album. ´Bay of Bengal´ und ´Connected´ hörte ich mehrmals. Im Rückspiegel sah ich wie die Bässe die Heckscheibe vibrieren ließen. Beim Titel ´From the Universe“ kamen mir die Tränen.
You'll find the answer you were searching for
And so much more
From the universe with love
And everything you give
Will be returned twice the worth
From the universe with love
If you send it out until the end
It's a message that won't disappear
There's no obstacles, the path is clear
Got to keep the believe till you received
In der Ablage zwischen den Sitzen kramte ich blind nach einem Paket Papiertaschentücher. Ohne darüber nachzudenken fand ich den richtigen Weg. Das fühlte sich wie ein gutes Omen an! Nach einer halben Stunde wechselte ich hinter Erftstadt auf die Autobahn A1 Richtung Düsseldorf. Düsseldorf - war ich bereit meine schöne Wohnung aufzugeben? Keine Kö, keine Altstadt, keine Freunde! Will ich auch darauf verzichten? Will ich wirklich mein gesamtes Leben verändern? Ich schob die Gedanken beiseite.
Aus Richtung Westen zogen Wolken über die Rheinebene. Der Wind hatte zugenommen und sorgte dafür, dass es große Wolkenlücken gab und viel blauer Himmel durchkam. Ich überholte mehrere Wagen, die Rennräder auf den Fahrzeugdächern transportierten. Die Monotonie nahm wieder meine Gedanken ein und ich fuhr automatisch weiter.
Die Drei würden über mich sprechen. Mein Vater hatte vermutlich eine Ausrede erfunden, warum ich unbedingt zurück musste. Hatten die Freunde mich beobachtet? Hatte ich das Gewehr tatsächlich auf meinen Vater gerichtet? Mir kam alles jetzt unwirklich vor. Wie ein schlechter Traum. Beinahe konnte ich es nicht glauben! War das alles so passiert?
Ja, ich hatte mein Gewehr auf meinen eigenen Vater gerichtet und den Finger am Abzug! Gut, dass mein Verstand rechtzeitig eingesetzt hatte. Ein Schauer lief mir den Rücken herunter. Mir wurde übel. Magensäure stieg auf. Ich schluckte die saure Galle runter.
Er muss nicht sterben, er muss nur aus meinem Leben verschwinden! Vor mir tauchte das Hinweisschild zum nächsten Parkplatz an der Autobahn auf. Noch fünfhundert Meter. Ich fuhr von der Autobahn ab. Auf dem Parkplatz stand ein LKW und vor dem Toilettengebäude zwei weitere Fahrzeuge. Ich hielt weit entfernt davon an und legte den Kopf auf das Steuerrad. Ich schwitzte und fror gleichzeitig. In meinem Kopf schwirrten die Gedanken wie in einem Bienenstock. Mein Vater schien die Königin zu sein, um die sich alles drehte. Ich stieg aus, stellte mich neben den Wagen und atmete mehrmals tief die frische Luft ein. Das half. Mir ging es nach einer Minute besser. Der Brechreiz war verschwunden. Ich spürte den kühlen Wind durch den Pullover und das Hemd darunter. Meine Kleidung, zumindest das Hemd, war am Rücken durchgeschwitzt. Ich stieg wieder ein.
Als ich weiterfuhr war es still im Wagen - keine DJ-Musik. Nur der Wind und die Abrollgeräusche der breiten Räder. Meine Gedanken kreisten wieder um mein Dasein. Alles hatte er geregelt, welche Schule, welches Studium, welche Sportarten, welche Freunde. Ich hatte alles mitgemacht, habe als Jugendlicher kaum ernsthaften Widerstand geleistet. Habe mich nicht getraut. Hatte Angst und mich an viele Dinge gewöhnt. Wie wir alle. Warum auch, die Schule war okay, die Zeit im Schweizer Internat hat Spaß gemacht, viele Jungs waren zu Freunden geworden, meine Noten waren hervorragend und das Studium der Betriebswirtschaft war auch eine logische Entscheidung mit Blick auf unser Unternehmen. Ich habe mich immer privilegiert gefühlt, ganz Sohn einer wohlhabenden Düsseldorfer Unternehmerfamilie. Segeln, Golfen und Jagen, das gehörte zu meinem Leben. Ob es mir wirklich alles Spaß gemacht hat, habe ich kaum hinterfragt.
Die Jagd würde ich sofort aufgeben. Das Golfspiel auch. Segeln war mein Sport. Vermutlich auch, weil mein Vater dazu zu alt geworden war und ich damit weit weg von ihm sein konnte. Die kurze Zeit der Auflehnung in meiner pubertären Phase hat mein Vater mit einem Achselzucken und stoischer Sturheit überstanden.
Sogar die Schwiegertochter hätte er gerne ausgesucht. Damals setzte bei mir der Widerspruch ein und ich versuchte mich zum ersten Mal seinem Einfluss zu entziehen, als er mich mit Saskia verheiraten wollte. Ich habe Saskia gemocht, es war schön mit ihr, aber heiraten wollte ich sie nicht. Leider habe ich Ihr das zu spät gesagt, da war Charlotte schon unterwegs. Es war aber richtig nicht auf meine Eltern zu hören. Nein, ich habe sie nicht sitzen lassen. Wir haben uns getrennt und auch Saskia hat damals schnell gespürt, dass unsere Beziehung keine Zukunft hat, daran änderte auch die Geburt eines Kindes nichts. Manchmal sehne ich mich nach intensiveren Kontakt zu meiner Tochter. Ich habe mir gewünscht, sie könnte mich kennenlernen und ich könnte ihr ein guter Vater sein. Aber das Leben hat es anders für uns vorgesehen. Es war gut sich zu trennen. Saskia ist mit Charlotte zurück in ihre Heimat nach München gezogen und hat dort geheiratet. Die Trennung von Saskia bedeutete auch einen weiteren Bruch mit meinem Vater. Er wollte meine Entscheidung nicht akzeptieren und hat zigfach versucht, seinen Einfluss auf mich geltend zu machen. Doch damals bin ich bei meinem Entschluss geblieben, wahrscheinlich auch, weil Saskia und ich uns einig waren.
Jetzt hier in meinem Auto, auf der Autobahn in Richtung Düsseldorf, wurde mir eines bewusst: So wie früher wird es nicht weiter gehen. Das heutige Geschehen ist der große Schritt raus aus dem einen Leben in ein anderes. Noch niemals zuvor war mir etwas so klar vor Augen wie das Wissen darum, dass sich mein Leben verändern wird! Gut, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht in die Zukunft schauen konnte und somit nicht ahnte, was auf Holly und mich zukam. Aber selbst wenn, ich hätte doch diesen Weg gehen müssen.
Ich kann rückblickend nicht beschreiben, warum ich mich trotz einiger wirklich beunruhigender Gedanken an eine ungewisse Zukunft so erleichtert fühlte. Ich hätte mir Sorge machen müssen. Schon alleine wegen der Niederlegung der Geschäftsführung in den verschiedenen Gesellschaften, in denen wir gemeinsam eingetragen waren. Ich sah aus dem Seitenfenster in die vorbei ziehende Landschaft und öffnete das Fenster für einen Moment. Die frische Luft tat wieder gut. Erste Zweifel wollten sich in meinem Kopf breit machen, ich aber wollte es nicht zulassen. Ich wollte nur den Augenblick genießen, in dem ich mich zu meiner Entscheidung beglückwünschte und mich unantastbar fühlte. So stark hatte ich mich seit meinem Wechsel in die Tochtergesellschaften nach Amsterdam nicht gefühlt. Endlich mein Leben spüren. Den Augenblick wollte ich auskosten, die Realität würde früh genug auf mich einstürmen.
Das Telefon schellte. Das iPhone steckte in der Halterung am Armaturenbrett meines BMW´s. Es war meine Mutter und ich wusste was jetzt kam. Die Realität war da!
„Hallo Mama, hat er dich schon angerufen?“ Ich versuchte meiner Stimme eine gespielte Gelassenheit zu geben.
„Guten Morgen, mein Junge, ja, dein Vater hat mich angerufen. Was ist passiert?“
Mutter versuchte ruhig zu bleiben. Was sie genau von Vater erfahren hatte, ließ sie mich zu diesem Zeitpunkt nicht wissen.
„Ich fahre nur nach Hause, und das passt ihm nicht.“ Mein Herz schlug heftig, ich dachte daran, was passiert war. Das würde mein Geheimnis bleiben.
„Was ist denn los, warum bist du einfach von da weg?“
„Ich bin da nicht so einfach weg. Es gibt eine Menge Gründe dafür.“
Ich konnte ihr unmöglich erzählen, dass ich in einem dunklen Moment darüber nachgedacht hatte abzudrücken. Ich hätte Mutter damit belastet und das nur, um mein eigenes Gewissen zu erleichtern. Das konnte ich meiner Mutter nicht antun.
„Sag mir doch, was passiert ist.“ Sie spürte, etwas Unausgesprochenes hing in der Luft.
„Mama, heute ist nichts passiert, wirklich nicht. Glaub es mir!“
Schweigen!
„Aber in den vergangenen Jahren dafür um so mehr. Das ist mir heute früh endgültig klar geworden und auch, was das für mich bedeutet.“
Ich wusste nicht, ob Mutter mich verstand.
„Es hat mit deinem Vater und dir zu tun. Ja?“
Die Sachlichkeit in der Stimme meiner Mutter irritierte mich.
„Ja, so ist es. Du weißt das doch.“
Ich versuchte meine Erregung zu kontrollieren.
„Hast du ihm das gesagt?“
Wie es innerlich in ihr aussah, gab sie nicht zu verstehen.
„Nein, das werde ich aber bald sehr deutlich und endgültig tun.“
Ich machte eine Pause, um meiner Stimme wieder Festigkeit zu verleihen. „Nach meiner Schwester, die für Vater eine Versagerin ist und ein Lotterleben in Amsterdam lebt, bin ich jetzt der nächste, der sich von dem Patriarchen befreit.“
„Damit wirst du viel Glas zerschlagen.“
Sie hatte Angst davor.
„Erinnerst du dich, was er damals zu deiner Tochter gesagt hat? Weißt du noch, wie er reagiert hat als Holly gegangen ist?“
Mutter schwieg. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es ihr trotz allem immer schwer gefallen war sich gegen ihn zu stellen. Lieber schweigen als rebellieren! So hat sie es immer gemacht und wie es scheint, will sie diesen Weg weitergehen. Meine Mutter war nicht zur Kämpferin geboren.
Deshalb setzte ich nach: „Niemand wusste genau, was zwischen den beiden vorgefallen war. Und was tat mein Vater? Nichts! Sie war weg und er sagte kein Wort dazu. Ich glaube, er war froh darüber. Und so ungefähr wiederholt sich das jetzt mit mir. Er wird froh sein, wenn ich nicht mehr da bin. Dann ist sein größter Kritiker endlich fort. Ich werde Vater nie verstehen und ehrlich, jetzt will ich es auch nicht mehr!“
Meine Mutter sagte weiterhin nichts.
„Mama?“
„Ja, mein Junge.“ Mein Mutter weinte. Es zerriss mir das Herz. Warum hatte ich all das am Telefon gesagt, warum hatte ich damit nicht gewartet?
„Können wir uns später sehen, bitte. Ich komme nachher zu dir, bitte.“ Mutter flehte förmlich.
„Ja, Mama, ich bin auf dem weg nach Hause. Bitte sei nicht traurig. Ich muss etwas tun. Wenn ich nicht gehe, passiert etwas Schlimmes. Das spüre ich.“
Ich hatte meine Emotionen wieder unter Kontrolle.
„Und das wollen wir beide nicht, oder?“
„Bitte überstürze nichts, lass uns nachher reden.“
Mutter versuchte wie stets die Dinge runter zu spielen.
„Ja, das mache ich, versprochen. Wir sehen uns nachher. Ich muss gleich erst einmal unter die Dusche und etwas essen. Bis nachher. Mama, ich hab dich lieb.“
„Fahr vorsichtig mein Junge“, waren ihre letzten Worte. Ich drückte die rote Taste.
In Düsseldorf parkte ich meinen Wagen in der Tiefgarage, ging aber nicht sofort in meine Wohnung, sondern besorgte mir in einer Bäckerei fertig belegte Brötchen und zwei Stücke Mohnkuchen. Ich hatte Hunger und brauchte einen großen Kaffee. Am Eingang zu meinem Penthouse am Ende der Königsallee gegenüber vom Graf Adolf Platz, leerte ich zuerst den Briefkasten. Mit Einkauf und Post fuhr ich mit dem Fahrstuhl in die siebte Etage. Seit mehr als drei Jahren lebte ich hier in der Innenstadt. Als ich eingezogen war, hatte es lange Zeit nur die Einbauküche, mein Bett, einen Fernseher, und das Ankleidezimmer gegeben, sonst keine Möbel. Außer Wegwerfbesteck, einem Korkenzieher und einem Paket mit sechs Weingläser aus dem Supermarkt auch keine anderen Gegenstände in der Küche. Es hatte mehr als ein Jahr gedauert, bis ich wusste, ich würde hier bleiben wollen. Nach der Finanzkrise hatte ich drei Jahre in Amsterdam gelebt und dort die Finanzholding der Firma aufgebaut. Als ich zurück beordert wurde, weil mein Vater mich wieder in Düsseldorf haben wollte, wohnte ich zuerst in einem kleinen Bungalow in der Nähe der Villa meiner Eltern. Der Bungalow war das erste Wohnhaus unserer Familie gewesen. Ich war dort aufgewachsen. In dem Haus hielt ich es nur ein paar Wochen aus. Ich fühlte mich als würde ich immer noch bei den Eltern wohnen. Überall waren Erinnerungen. Vieles hatte dort mit meinem Vater zu tun. Er war immer anwesend. Ich empfand die Erinnerungen als eine Last. Mein Vater hatte oft gesagt: „Mein Junge, eines Tages wird dir alles gehören, dieses Haus, die Firma und was ich aufgebaut habe.“ Genau das wollte ich nie. Ich hatte mich lange gefügt. An diesem Tag endete es.
Ein Freund der Familie, Rechtsanwalt Andreas Weidlich, hatte mir aus steuerlichen Gründen geraten, diese sehr kostspielige Wohnung nicht privat zu kaufen, sondern eine Immobiliengesellschaft außerhalb Deutschlands dafür zu gründen. Mittlerweile lebte ich sehr gerne hier und genoss die Möglichkeiten der Stadt, die Restaurants und Bars. Ich traf mich mehrmals in der Woche mit Freunden und Stammgästen einiger Lokale ganz in der Nähe. Den Lebensstil einer Stadt hatte ich in Amsterdam lieben gelernt. Damals wohnte ich in einer Wohnung an der Prinsengracht, an einer der schönsten Stellen in Amsterdam. Meine Schwester hatte mich oft besucht und die Wohnung übernommen als ich zurück nach Düsseldorf ging.
Ich würde Düsseldorf auch vermissen. Aber meine Unabhängigkeit und meine Freiheit waren es wert mein Leben hier aufzugeben.
Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus. Die Jagdkleidung schmiss ich in den Hauswirtschaftsraum auf den Boden. Dann holte ich einen grauen Müllsack aus einem Schrank neben der Waschmaschine und stopfte die Kleidung für die Jagd in den Müllsack und verabschiedete mich laut: „Lebe wohl, Jäger Hendrik, das war deine letzte Jagd.“ Ich musste lachen. Den Müllsack nahm ich mit und ließ ihn im Ankleidezimmer mit dem Gedanken liegen, dass dort heute noch einige Dinge landen würden. Bevor ich ins Bad ging, nahm ich in der dunkelroten Küche einen großen Bissen vom Brötchen mit Mett und Zwiebeln - Maurersushi! Wieder musste ich lachen, diesen Begriff hatte ich von einem meiner Freunde, der im tiefsten Duisburg zur Welt gekommen war.
Die Küche lag im Halbschatten der geschlossenen Jalousien und dem Licht, das aus dem angrenzenden Loft hinein schien. Im Kühlschrank stand eine halb volle Flasche Ca Vaio Lugano. Ich zog den Korken aus der Flasche und spülte den Bissen vom Mettbrötchen damit herunter, nahm noch zwei große Schlucke, setzte die Falsch ab und holte tief Luft.
Ich trat ans Fenster und öffnete die elektrischen Jalousien. Der Motor zog die Lamellen langsam nach oben. Die Weinflasche hatte ich in der linken Hand. Ich nahm noch einen weiteren Schluck. Dann fiel das Licht unbehindert durch die beiden fast bodentiefen Fenster. Mein Blick schweifte hinaus über die Dächer ohne wirklich etwas zu sehen. Mein Gedanken waren im Wald, an der Lichtung, beim Gang zurück zum Wagen und dem Telefonat mit meiner Mutter.
Für diese Wohnung hatte ich mich damals entschieden ohne lange zu überlegen als ich an einem hellen sonnigen Tag zur ersten Besichtigung kam. Jemand war kurz vorher vom Kauf abgesprungen, weil es bei ihm mit der Finanzierung nicht geklappt hatte. Das Haus war erst zwei Jahre vorher fertig gestellt worden und mein Makler rief mich am gleichen Tag an, als er die Wohnung zum Verkauf angeboten bekommen hatte. Die Wohnung bot erheblich mehr an Raum und Luxus als eingeplant. Zwar sehr teuer, aber dafür luxuriös und technisch sehr gut ausgestattet. In jedem Raum war es Dank der großen Fenster tagsüber hell, aber von den Nachbarhäusern nicht einsehbar. Wenn man allein lebt, hat man viel Zeit sich alles perfekt zu machen und das hatte mir viel Freude bereitet, nachdem ich mich endgültig entschlossen hatte, diese Wohnung für mich zu nutzen. Der Vorbesitzer hatte alle Räume von einem Innenarchitekten ausstatten lassen. Ich konnte hier abschalten und mich regelmäßig ein wenig wie im Urlaub fühlen. Niemand mischte sich hier in meinen Lebensstil ein. Ich müsste irgendwo anders einen neuen Ort für mich finden.
Nachdem ich geduscht und mich gründlich rasiert hatte, stand ich vor dem großen Spiegel bevor ich mich anzog. Vom Aussehen meines Vaters hatte ich nichts geerbt, außer die schlanke Figur. Ich war etwas kleiner. Genau wie er, legte ich sehr viel Wert auf mein Aussehen. Seit einiger Zeit trug ich mein dunkelblondes Haar wieder länger. ´In einem schönen Körper wohnt ein schöner Geist´ hatte ich den Spruch des römischen Schriftstellers Juvenal angepasst, indem ich ´gesund´ gegen ´schön´ getauscht hatte. Wer bin ich eigentlich? Ich sah mich im Spiegel und fragte: „Was war das heute morgen, Hendrik? Wer bist du?“ Meine Stimme hallte gegen die Wände aus grauem Granit. „Und jetzt?“
Mach es nicht kompliziert, denk nicht zu viel. Der einfachste Weg nicht zu grübeln und dann in dunkle Gedanken einzutauchen, ist es einen schönern Plan zu haben. Ein Plan für die nächsten Stunden, den nächsten Tag. Nicht weiter denken und lieber in eine Routine fliehen. Einfach Dinge tun. Dazu gehört ein Ort für mich allein und schöne Dinge zu tun. Das war eines meiner Lebensmottos geworden. So begann ich eines Tages auf mein Äußeres mehr acht zu geben als auf mein Inneres. Innen traute ich mich nicht, Großes zu verändern. Alles war so wie ich es zugelassen hatte. Darum hatte ich im Wald mit dem Gewehr auf das Objekt gezielt, dem ich die Schuld für die Sackgasse in meinem Leben gab. „Du bist ein Feigling.“ Schluss damit.
Ich fühlte mich unrasiert unwohl. An manchen Tagen rasierte ich mich morgens und abends, bevor ich noch einmal Essen oder in eine Bar ging. Wenn ich länger als drei Wochen nicht beim Frisör war, gefiel ich mir nicht mehr. Alles Äußerlichkeiten. Der Rasierschaum quoll aus dem Kopf der Sprühflasche in meine linke Hand. „Hey Siri, spiel meine Playlist ´Lieblingsstücke´“. Das heiße Wasser lief in den fast zwei Meter breiten Waschtrog aus weißem Porzellan. Nach jedem Gang des Nassrasierers über mein Gesicht, spülte ich die Klinge unter dem Strahl ab.
„Hey Siri, lauter.“ Ich verteilte den Schaum auf meiner Brust. Die Behaarung des Mannes ist ein Relikt aus der Zeit als wir in Höhlen lebten. Mit dem Rasierer fuhr ich solange über meine Brust, bis kein Schaum mehr zu sehen war. Jeder zweite deutsche Mann trägt einen Bart. Der Versuch bei mir war gescheitert. Zu viele Lücken und ich fühlte mich immer unwohl mit Haaren im Gesicht. Alles Äußerlichkeiten.
Ich hört zum ersten mal genau hin bei diesem Song ´Time for our Lives´ von Paul van Dyk.
There is a time for mis-believing
There's a time to understand
A time for hurt, a time for healing
A time to run and make a stand
Es war schwer meine Gedanken auf das Rasieren zu konzentrieren. Immer wieder schossen mir der Wald, mein Vater, das Gewehr, meine Erinnerungen durch den Kopf.
Ich hatte ihn als Junge eine Zeit lang sogar bewundert, angefangen seinen Kleidungsstil zu imitieren und mir auch das Tragen einer randlosen Brille gewünscht. Diese Phase dauerte nicht lange, aber ich erinnerte mich in diesem Augenblick daran. Später im Internat habe ich meinen eigenen Stil entwickelt. Wichtig wurde es mir, mich nicht nur im Aussehen von meinem Vater zu unterscheiden, sondern vor allem auch ein anderer Charakter als er zu werden. Ich nahm damals schon bewußt war, dass sein Führungsstil immer ätzender wurde. Führen bedeutet Macht, Chef zu sein bedeutet alles zu wissen und jede Entscheidung im Unternehmen beeinflussen zu müssen. Heute war mir klar, er passte mit diesem Stil nicht mehr in diese Zeit und ich nicht zu ihm. Er hatte viele erfolgversprechende Nachwuchskräfte verschlissen und würde jetzt erleben, dass viele Mitarbeiter aus dem Führungskreis das Unternehmen verlassen werden, sobald mein Abschied aus der Firma bekannt wird.
Ich war fertig rasiert und hielt meine Hände unter das fließende Wasser. Mehrmals wusch ich mein Gesicht mit heißem Wasser, so als ob ich mit dem Schaum auch mein altes Leben abwaschen könnte.
Wir hatten uns beide verändert, Vater und ich. Jeder Mensch wird im Laufe der Jahre mehr von dem annehmen, was er ist, weil man sich an alles gewöhnt. Ich wollte es so nicht mehr. Unser gemeinsamer Weg war an seinem Ende angekommen. Meinen Hass auf ihn aufzugeben. Vergessen. Gleichgültigkeit ihm gegenüber zu empfinden - hierin bestand mein Ziel.
Das Rasierwasser brannte auf der Haut. Der schwere Duft aus der dunkel braunen Flasche von Aqua di Parma, holte mich zurück in die Realität. Ich nahm eine kleine Menge des gleichen Dufts als Parfum in die Innenfläche meiner linken Hand und verteilte es auf mein Haar, kämmte mich und ging in die Küche. Die offene Flasche Lugana neben dem Kühlschrank auf der glänzenden Arbeitsplatte aus schwarzem Granit lachte mich an. Ich öffnete eine Klappe der roten Hängeschränke, nahm ein Glas und schüttet den Rest hinein. Das Weinglas war bis zum Rand voll. Mit dem Wein und zwei Brötchenhälften ging ich barfuss zu den beiden Cocktailsesseln zwischen Ess- und Wohnbereich ans Fester und setze mich auf einen der beiden schwarzen Ledersessel. Das Weinglas stellte ich auf den kleinen Tisch neben dem Sesseln, griff nach einem iPad für die Steuerung der Jalousien und öffnete alle Lamellen vor den Fenstern im Wohnraum. Die Sonne war noch nicht so weit, dass sie in das Loft schien, sondern mehr auf die Gebäude der gegenüber liegenden Straßenseite. Meine Wohnung mit der Terrasse ging über die gesamte Fläche des Hauses. Von den mehr als dreihundert Quadratmetern Fläche, nahm der offene Wohn-, Eis-, Cocktail- und Küchenbereich mehr als die Hälfte ein. Von meinem Platz sah ich Fenster auf einer Länge von dreißig Metern, die vom Boden bis zur Decke reichten. Draußen davor gab es einen umlaufenden Gang um die gesamt Wohnung und an der Seite vom Loft, am Wohnbereich, eine große Terrasse.
Mein Magen freute sich über die Mettbrötchen. Aus der Küche holte ich eins der beiden Stücke Mohnkuchen und verzehrte auch diese mit viel Appetit. Mit dem Ipad steuert ich die Musik von Paul van Dyk auf alle HomePods in der Wohnung.
There's a time for us to let go
There's a time for holding on
A time to speak, a time to listen
There's a time for us to grow
Ich saß immer noch nackt im Sessel und fühlte eine wohlige Sattheit. Sehen konnte mich niemand und es war angenehm warm in der Wohnung. Ich würde lange nicht hier sein. Weil ich mir keine finanziellen Sorgen machen musste, konnte ich die Wohnung behalten und musste sie nicht verkaufen oder vermieten. Aber warum wollte ich das? Wollte ich vielleicht zurück?
Ich würde gerne nach Amsterdam gehen. Es war wie ein Blitz, der meine Phantasie in Gang brachte. Es gibt keinen Ort, der mich mehr angezogen hatte als Amsterdam, das IJsselmeer und die Strände an der Nordsee. Es war schön, den Sommer auf einer spanischen oder griechischen Insel zu verbringen, aber zum Leben und Arbeiten waren das keine Orte für mich. Davon habe ich nie geträumt. Ein Freund war nach Ibiza gezogen und nach einem Jahr wieder zurück in seine Heimat nach Hamburg gegangen. Er hatte gesagt: „Nichts ist so langweilig wie das Leben zwischen nicht arbeitenden Menschen.“
Für mich wäre das wohl kein Problem. Was ich mir schlimm vorstellte, waren die fehlenden Impulse einer lebendigen Stadt. Man müsste ausprobieren, wie es wäre zwischen dem Leben in einer Stadt und der Ruhe am Meer regelmäßig hin und her pendeln zu können. Das würde sich finden. Mir fiel wieder ein, dass meine Mutter mich sprechen wollte. Der Wein weitete meine Gefäße und ich entspannte zusehends. Alles deutete darauf hin, dass ich an einem Wendepunkt angekommen war. Mir kamen wieder Erlebnisse mit ihm in den Sinn, so präzise als wäre es gestern gewesen. Es war ein Abendessen mit asiatischen Gesprächspartner zu dem ich ohne Krawatte erschienen war. Vater schickte mich weg, um mir eine Krawatte zu besorgen. Die Geschäftspartner und zwei Führungskräfte aus unserem Unternehmen hatten das mitbekommen und genau erkannt, wer hier wem etwas zu sagen hatte.
Ein anderes Mal gab es im Unternehmen einen Umtrunk anlässlich eines Firmenjubiläums. Ich war dort auch ohne Krawatte, mit einer eleganten Jeans, einem blauen Tweetsakko, Schal und sportlichen, hellbraunen Sneakers erschienen. Am Tag darauf sagte Vater zu mir: „War dein Aufzug gestern ein Versuch mich zu provozieren oder wolltest du nur sehen, ob sich meine Meinung bezüglich deiner Kleidung im Unternehmen geändert hat?“
Ich trat damals sehr dicht vor meinen Vater, sah ihn scharf an und sprach sehr bewusst jedes einzelne Wort nacheinander und nicht in Sätzen aus: „Vater - weder - noch. Ich - trage - nur - das, - was - ich - möchte. Mein Kleidungsstil hat nichts mit dir zu tun und deshalb interessiert es mich nicht, ob es dich provoziert oder ob du eine Kleiderordnung für mich hast.“ Vater hatte sich umgedreht und war ohne ein Wort gegangen. Ein kleiner Sieg für mich. Damals war das keine große Sache zwischen Vater und Sohn, aber für unsere Beziehung ein Zeichen der Wandlung mit Folgen, die bis zu dem reichten, was heute geschehen war.
Neben mir auf dem Boden lag der graue Müllsack. In den offenen Schränken des Ankleidezimmers hingen blaue Anzüge, Jeans, weiße und blaue Hemden und Pullover. Am liebsten trug ich nur blau oder weiß. In einem Teil der Wandschränke hingen duzende Krawatten. Die meisten hatte mir meine Mutter geschenkt und das hauptsächlich, weil Vater darauf bestand, im Unternehmen und bei allen anderen beruflichen Aktivitäten immer Krawatten zu tragen. Er forderte das von allen führenden Angestellten. So war er. Ich stopfte sie in den grauen Sack. Das machte Spaß! Dann holte ich die 12-er Rolle grauer Müllsäcke aus dem Hauswirtschaftsraum und entsorgte aus einem anderen Schrank sämtliche Kleidung und Schuhe für die Jagd. Und auch die Golfbekleidung musste dran glauben bis ich fünf große Säcke mit Kleidung und Schuhen gefüllt hatte.
Alles war wie der Krawattenzwang meines Vaters. Der Golfsport und die Mitgliedschaften in Club Düsseldorf Hubbelrath und Sylt Buldersand waren eine Pflicht, genau wie der Rotaryclub. Ich hasste diese Gesellschaft und ihr Getue. Die Angeberei mit den Autos und Markenklamotten, die Botoxfrauen, ihre Internatskinder und in Spanien gekaufte Golfhandicaps. Ich trug alles in den Hauswirtschaftsraum und legte es auf den Boden zu den anderen Beuteln. An der Magnettafel schrieb ich einen Zettel für Ines, meine Haushaltshilfe, die zweimal in der Woche kam: ´Liebe Ines, die Kleidung und Schuhe in den Säcken brauche ich nicht mehr, bitte gib sie an jemanden, der das gebrauchen kann oder bring es in die Container für Altkleider und Schuhe. DANKE.´
Ich fühlte mich gut. Schluss. Ende. Aus. So sieht die Befreiung vom Patriarchen aus und ich musste lächeln. Albern, aber das musste sein. Auf dem Weg ins Wohnzimmer sah ich kurz in den großen Spiegel. Immer noch nackt. War das etwa symbolisch für meine momentane Situation? Mittlerweile war es Mittag und der Himmel war wolkenlos. Alle Jalousien waren geöffnet, es war hell in der gesamten Wohnung. Die Fenster im Wohnbereich gingen in Richtung Westen. Über die Geschäfts- und Bürohäuser auf der anderen Seite der Königsallee und dem Gustaf Adolf Platz konnte ich hinweg sehen. Am Horizont weit entfernt sah ein Stück der Rheinkniebrücke und vom Landtag. Ich nahm mein iPhone, ging zurück in den Hauswirtschaftsraum, machte Fotos von den Müllsäcken, wählte den Chatverlauf von Whatsapp mit meiner Schwester Holly und schickte ihr die Bilder mit dem Kommentar: ´Aufräumen und Platz für ein anderes Leben machen. Wo bist du gerade? Lass uns telefonieren, wenn du Zeit für deinen großen Bruder hast. Gruss Hendrik.´
Nachdem ich mich angezogen hatte, sah ich, meine Schwester hatte die Whatsapp Nachricht nicht gelesen. Ich wählte Ihre Telefonnummer. Es klingelte, sechs Mal, sieben Mal, acht Mal. Sie ging nicht dran. Dann wählte ich die Telefonnummer meiner Mutter, sie meldete sich sofort und ich bat sie, zu mir zu kommen: „Ich möchte nicht zu euch kommen. Bitte komm du. Melde dich, wenn du an der Einfahrt zur Tiefgarage bist, ich öffne dir dann.“ Mutter war einverstanden und versprach, sich sofort auf den Weg zu machen.