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KAPITEL 3 - Geständnisse

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Eine gute halbe Stunde später kam meine Mutter. Charlotte war die fürsorglichste Mutter, die ich mir vorstellen konnte. Ihre herzliche Ausstrahlung, Kontaktfreudigkeit, ihre Attraktivität und ihre aufrichtige Art auf Andere zuzugehen, zog viele Menschen an. Sie sah nicht aus und wirkte nicht wie eine Frau in den Sechzigern. Mutter tat viel für ihr Äußeres und war wahrscheinlich zudem eine geborene Schönheit. Sie war schlank, 1,66 groß und hatte blondes Haar, das sie gerne glatt gekämmt und offen bis auf ihre Schultern fallen ließ. Sie kleidete sich apart, trug gerne enge Hosen oder kurze Kleider und liebte leuchtende Farben. Diese disziplinierte Frau. Neben dem regelmäßigem Sport und der Disziplin beim Essen, pflegte sie so lange ich denken konnte ihre Gesichtshaut, sorgte für eine professionelle Beibehaltung der Haarfarbe und schminkte sich immer leicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals vergaß ihre Lippen nachzuziehen und ihr Haar in Ordnung zu bringen. Für ihre Konfektionsgröße 36 verzichtete sie auf üppiges Essen und Süßigkeiten. Beim Wein und Cocktails hielt sie sich nicht zurück, aber sie war auch in dieser Hinsicht ehrlich: „Ein Laster möchte ich auch haben, was wäre ich sonst für ein garstiger Mensch?“, fragte sie jedes Mal, wenn man mit ihr über Gesundheit, Fitness und ihre Figur sprach. Ich fand allerdings, sie quälte sich für Ihre schlanke Figur. So weit ich wusste, ging sie ins Fitnessstudio und neuerdings auch zum Aquajogging. Das war wohl momentan in Mode und sie ging einmal in der Woche mit ihrer Freundin dort hin. Wenn sie jemand auf ihr attraktives und gutes Aussehen ansprach, antwortete sie gern: „Ich habe Glück gehabt, dass ich solche Gene besitze.“ Aber ihr oft bewundertes oder beneidetes Äußeres war auch ein Schutzmantel.

Nicht viele Menschen wussten wie es im Inneren dieser attraktiven und sympathischen Frau aussah. Sie wollte immer für uns da sei und dafür Sorge tragen, dass wir eine glückliche Familie sind. Dafür lebte, nein, kämpfte sie. Diesen Kampf verlor sie jeden Tag. Unser Vater machte ihr das unmöglich. Ihre Herzlichkeit und liebevolle Fürsorge ging in seinem Egoismus und Herrschaftsanspruch verloren. Keine Liebe der Welt besteht gegen die Angst. Das Gegenteil von Liebe ist Angst, nicht Hass. Wer Angst hat, verlernt zu lieben. Mutter hat sich immer nach Liebe für uns alle gesehnt. Wir alle sehnen uns nach Liebe und hofften, dass es richtig ist, danach in unserer eigenen Familie zu suchen. Sie hat am längsten dafür gekämpft. Wir anderen hatten längst aufgeben. Ich zog jetzt die Konsequenz. Im Gegensatz zu mir, würde Mutter daran zerbrechen können. Nur der Mut der Verzweiflung könnte sie von der irrigen Hoffnung auf Liebe befreien.

Mutter lebt für die Verbundenheit, Harmonie und Liebe, aber auch dafür sich für die Familie aufzuopfern. Es lässt sich nicht beschreiben, welche Grenzen überschritten werden, wenn jemand bereit ist, alles für die Familie zu tun. Dieses Opfer erinnert an die Aufopferung für die Sünden anderer.

Als es an der Einfahrt zu Tiefgarage schellte, nahm ich mein iPad und öffnete die Mitteilung der Überwachungskamera. Sie hatte das Fenster ihres alten roten Jeep Wrangler komplett geöffnet und lächelte in die Kamera.

„Hallo, schönste der Mütter“, sagte ich. Sie konnte mich nur hören, nicht sehen.

„Ach, du immer. Mach auf mein lieber Junge.“

Ich wusste, dass sie in diesem Moment unruhig und ängstlich war. Sie nahm alles in sich auf, was heute geschehen war und machte sich große Sorgen. Ihre Gedanken, die sie nicht los ließen und der Versuch, alles zu antizipieren, was zukünftig geschehen könnte, rieb sie auf. Sie häufte in sich die Sorgen und Probleme der erwachsenen Kinder und ihre eigenen Ängste. So war meine Mutter. Charlotte sah, was mit uns geschah und wiegte sich in der Hoffnung auf ein anderes Leben. Sie zeigte das nie, aber verbergen konnte sie es auch nicht. Ihre Tochter hatte die Familie verlassen. Ich würde jetzt auch gehen und sie blieb allein zurück.

„Hallo Mama“, begrüsste ich sie und half ihr aus dem hellblauen Burberry Mantel. Ich nahm sie in den Arm und hielt sie etwas länger als üblich fest. Ihr Kopf lag auf meiner Brust und sie legte ihre Arme um meine Taille: „Hendrik, ich habe solche Angst.“ Sie löste die Umarmung und sah mich an. Tränen schimmerten in ihren Augen. Mich erfasste eine Woge der Liebe zu ihr. Es war schmerzhaft sie leiden zu sehen.

„Komm erst einmal und setzt dich, Mama. Möchtest du etwas trinken? Ich habe einen guten Wein, oder möchtest du lieber einen Kaffee oder einen Tee?“

„Ich nehme gerne ein Glas Wein, der ist jetzt besser als ein Kaffee.“

Mit einer neuen Flasche in der einen und dem Korkenzieher in der anderen Hand sah ich meine Mutter an, die sich vor eines der Fenster in der Küche gestellt hatte an. Sie sah nach draußen, von mir abgewandt und hielt ein weißes Spitzentaschentuch fest umklammert.

Sie hatte mich immer sehr stolz gemacht. Als ich zur Schule ging, war sie eine der wenigen Mütter, nach der sich die Oberstufenschüler umgedreht hatten. Zumindest hatte ich es so empfunden. Wir beide hatten oft darüber gelacht, wenn wir über die Zeit damals sprachen. Sie ist eine schöne Frau, heute noch. Ihr makelloser Teint und das dezente Makeup ließen sie jünger aussehen. Sie trug strahlend weiße Turnschuhe mit den drei Steifen, eine blaue Jeans, eine dünne rote Strickjacke über einer ebenfalls weißen Bluse. Ein blauer Schal mit weißen Ornamenten machten das Outfit perfekt. Alles wirkte äußerlich schön für all diejenigen, die nur von Außen auf uns schauten. Unsere Familie, eine schöne Hülle.

In Mutters Augen nahm ich ihre Depression wahr. Sie war bekümmert, ich kannte diese Augen voller Traurigkeit. Meine Schuld. Sie hatte heute vermutlich schon viele Tränen vergossen. Ich trat zu ihr und legte fürsorglich den Arm um ihre Schultern.

In den vergangenen Jahren hatte ich die intensivste Beziehung von allen Familienmitgliedern zu ihr. Wenn ich heute darüber nachdenke, war ich der Einzige, der damals eine liebevolle und verständnisvolle Beziehung zu ihr hatte. Meine Schwester, auf ich ich eigentlich immer mit Stolz schaute, hatte sich nicht nur von Vater und mir, sondern auch von unserer Mutter zurückgezogen. Wie schlimm musste das alles für Mutter sein? Wieder spürte ich diese große und schmerzhaft Liebe zu ihr, auch weil ich genau wusste, dass ich ihr noch mehr Leid zufügen würde. Aber ich musste jetzt an mich und meine Zukunft denken. Momentan war das Leben mit meinem Vater unweigerlich an das Leben mit meiner Mutter gekoppelt. Ich würde sie auch verlassen. Gab es eine andere Möglichkeit?

Wir setzten uns in den Cocktailbereich vom Loft, in die zwei schwarzen, drehbaren Sessel aus Leder. Zur Mittagszeit wanderte die Sonne, so dass sie anfing durch die großen Fenster auf den Holzfussboden aus breiten Eichendielen zu scheinen. Die farbigen Ölgemälde, hauptsächlich von Nachwuchskünstlern aus der Region und Studenten der Kunsthochschule in Düsseldorf, ließen den Wohnraum wie eine Galerie wirken, da das Licht den Raum noch größer erscheinen ließ. Die beiden extra großen grauen Zweiersofas mit vielen farbigen Kissen vor den Fenstern sorgten für Gemütlichkeit in diesem Raum. Die beiden Sessel, in denen wir saßen, standen vor einem der Fenster zwischen dem Essbereich und den beiden Sofas mit einem langen Sideboard und dem großen Flachbildschirm.

Meine Mutter sagte nichts, während ich mit der Flasche hantierte. Sie sah hinaus in den blauen Himmel, an dem helle Wolken langsam von Westen über die Stadt hinweg zogen. Als ich mich mit zwei Gläsern und der offenen Flasche neben meine Mutter gesetzt und uns beiden Wein eingeschenkt hatte, fragte ich: „Woran denkst du?“

„Ich habe Angst vor dem, was gerade mit dir passiert. Mir ist klar, was in dir abläuft. Ich bin deine Mutter. Du willst weg von allem, von deinem Vater, der Firma und aus Düsseldorf. Und auch von mir! Ist es so?“

„Nicht ganz so Mama. Ich will eigentlich nur weg von meinem Vater, aber das lässt sich nicht von der Firma oder Düsseldorf trennen. Es ist nicht so, dass ich weg will von hier oder der Firma. Das ist eigentlich mein Zuhause, meine Heimat. Aber Vater hat das alles zu dem gemacht, was ich mittlerweile am meisten hasse und wovor ich die meiste Angst habe, wenn ich an meine Zukunft denke. Fast alles, meine Arbeit, Geschäftspartner, die Jagd, Golfen, Clubs, die Feste in eurem Haus hier und auf Sylt, alles ist von Ihm."

Ich zeigte auf einen der Müllsäcke, der in der Tür zum Schlafbereich lag. „Da in dem Müllsack sind meine Krawatten. Seinetwegen habe ich dutzende Krawatten, die ich tragen musste. Ich hasse Krawatten! Er hat damals bestimmt, was und wo ich studiere. Denke bitte an Saskia und was er damals gemacht hat, damit wir zusammen kamen. Kannst du dir vorstellen wie ich mich fühlte? Es gibt mich eigentlich nicht. Es gibt nur den Hendrik, den Vater aus mir gemacht hat. Meine Persönlichkeit war ihm schon lange egal. Ich meine, ich hätte gerne meine Träume gehabt und ein bisschen mein Leben gelebt.“ Es fiel mir schwer weiterzusprechen. Meine negativen Gefühle nahmen von mir Besitz und ich fragte mich zum wiederholten Mal an diesem Tag, warum ich so lange gefügiges Werkzeug in den Händen meines Vaters gewesen bin? Bin ich zu schwach mich ihm zu widersetzen? Habe ich mich an seine Manipulationen gewöhnt? Wollte ich sie nicht erkennen und bin deshalb den Weg ohne großen Widerstand gegangen? Oder wollte ich meine Mutter nicht enttäuschen? Mit der Beantwortung dieser Fragen musste ich mich bald auseinandersetzen, um zu meinem inneren Frieden zu gelangen. Aber in diesem Monat war mir wichtig, dass Mama mich verstand.

„Seit der Rückkehr aus Amsterdam bin ich sein Assistent. Er sagt, was zu tun ist. Alles, was ich auf den Weg bringe, wird geschickt von ihm negiert. Er allein regiert. Und wenn er es nicht allein schafft, mich von etwas abzubringen, dann spannt er sein Gefolge aus den so genannten Freunden der Familie ein, die auch mit Honoraren an seinem Hintern kleben.“ Ich sah Mutter an und fügte leise hinzu: „Und wenn nichts mehr geht, spannt er dich ein. Was sind wir eigentlich alle für ihn, kannst du mir das sagen?“ Mit dieser eher rhetorischen Frage auf die ich keine Antwort erwartete, nahm ich einen tiefen Schluck aus meinem Glas. Der kühle Weißwein rann mir die Kehle hinunter. Ich war aufgestanden, griff das iPad, schalte die Musik aus und trat ans Fenster. Als ich hinaus, über die Dächer hinweg sah, verlor ich mich für einen Moment in meine Gedanken an den Morgen. Mir wurde übel.

Meine Mutter weinte leise. Ich drehte mich zu ihr um. Ihr liefen die Tränen über das Gesicht. Ich trat auf sie zu, kniete vor ihr und nahm ihre beiden Hände in meine: „Mama, es tut mir leid, aber für mich ist definitiv Schluss mit meiner Arbeit und dem Leben zusammen mit Vater. Ich bin mehr als erwachsen, aber er versteht nicht, was das bedeutet. Er hat keinen Respekt. Nicht vor mir, nicht vor dem was ich kann, und vor allem nicht vor dem, was ich ihm rate. Er ist skrupellos und geht mit aller Gewalt seinen Weg. Er schadet unserer Firma. Vieles von dem was er tut, kann ich nicht verantworten. Wir beide haben zulange zugelassen, dass er seine eigenen Geschäfte macht.“

Sie sagt nichts und ich setzte mich wieder in den Sessel neben ihr. Meine Worte klangen nach und ich spürte wie hart sie für Mutter gewesen waren. „Mama, schau mich bitte an.“ Mit dem weißen Spitzentaschentuch, das überhaupt nicht zu der Kleidung und ihrer modernen Ausstrahlung passte, trocknete sie sich die Tränen.

„Wir beide haben schon seit langem Angst um die Firma. Er betreibt Geschäfte, die uns beide und alles was wir besitzen, mit einbeziehen. Wir sind Geschäftsführer der Holding und können nicht ausschließen, dass er dafür gesorgt hat, uns raus zu halten. Mutter, er ist unberechenbar.“ Das klang hart, entsprach aber meiner gefühlten Wahrheit.

Sie wirkte wieder gefasst und fragte : „Hendrik, was weißt du?

„Nicht alles. Er hat die Investmentgesellschaft in den USA damals mit deinem Einverständnis auf seinen Namen gegründet und es damit geschafft, dass die Holding da raus gehalten wird. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. In Wahrheit wollte er uns beiden keinen Einblick geben und allein das Sagen haben. Mit diesem Unternehmen hat er sich zusammen mit Weidlich und mindestens zwei Treuhändern an anderen Unternehmen beteiligt. Eines davon hat den Firmensitz auf Malta, das andere in Hongkong. Wenn jemand sich durch einen Treuhänder vertreten lässt, will er nicht persönlich in Erscheinung treten. Ich habe vor einiger Zeit ein persönliches Emailaccount von Vater einsehen können.“

„Du spionierst deinen Vater aus?“ Mutters Entsetzen schien echt.

„Nein. Er ist sehr vorsichtig. Nur einmal hat er sein iPhone im Büro vergessen. Ich wusste, es ist erst fünfzehn Minuten nach der letzten Benutzung gesperrt. Er war zum Golfen gefahren. Ich war in seinem Vorzimmer und sprach mit Gabriele als er sich verabschiedete. Die Tür zu seinem Büro stand offen, auf dem Schreibtisch lag das iPhone. Er hat mindestens zwei Emailsaccounts, die nicht auf Anhieb einzusehen sind. In dem Moment als ich das iPhone in der Hand hielt, gingen zwei Emails eingegangen. Ich nahm es mit in mein Büro und las ein dutzend Nachrichten der vergangenen Tage. Es ging um den Aufbau einer Waffenproduktion und Waffentransporte. Als ich aus dem Fenster sah, kam Vater wieder auf den Parkplatz gefahren. Mehr konnte ich nicht lesen und legte das Gerät wieder auf seinen Schreibtisch.“

„Was bedeutet das alles?“

„Mama, es kann nicht sein, dass du nichts weißt.“

Sie reagierte nicht darauf und fragte stattdessen:

„Was sollen wir tun?“

„Wir können nichts tun, außer wir entmündigen ihn. Sein plötzliches Verschwinden wäre das Beste für uns. Den Gefallen wird er uns nicht tun!“ Meine Worte hingen im Raum. „Mutter, wenn er jetzt einen Unfall hätte und sterben würde? Was wäre dann?“

„Sag das nicht, Hendrik. Das tut mir weh.“

„Sei endlich ehrlich zu dir selbst und mir gegenüber. Liebst du Vater noch?Ja? Ach, du musst nicht antworten. Sei ehrlich, du kannst ihn nicht mehr lieben. Schon lange nicht mehr. Geh endlich weg von ihm, dann fällt es mir nicht so schwer. Mama wir müssen ihn verlassen, um endlich ein anderes Leben zu haben.“

Ich ließ meine Worte wirken und sagte nach einem Moment: „Alles, was er da macht, wird in die Luft fliegen. Für diese Prognose müssen wir keine Propheten sein! Du musst dich auch schützen. Das alles ist der Grund, warum ich heute morgen abgehauen bin. Das kann ich nicht mehr jeden Tag, jede Woche, mittlerweile Jahre ertragen. Verstehst du mich, Mama?“ Ich hoffte so sehr auf ihr Verständnis, das mir den Mut zu meinem weiteren Handeln geben würde.

Meine Mutter antwortete mit fester Stimme: „Hendrik, natürlich ich verstehe das, aber deshalb kannst du deinen Vater und vor allem mich jetzt nicht alleine lassen. Das Unternehmen braucht dich. Wenn du gehst, dann geht ein großer Teil der Belegschaft auch. Und das bedeutet das Ende!“ Sie verstand mich nicht. Oder sie tat es und hatte Angst vor den Konsequenzen. Auch jetzt ging es nicht um mich oder sie, sondern nur um Vater. Und um die vermaledeite Firma. Wie ich das hasste!

„Mama, ich habe ihn vor fast zwei Jahren gefragt, wie lange er noch an der Spitze bleiben will und wann er die Führung auf ein Managementteam übergibt. Ich habe ihm gesagt, dass ich gar nicht alleine an der Spitze sitzen muss. Es kann auch einen starken Beirat geben, das habe ich ihm vorgeschlagen. Du weißt doch, was er geantwortet hat: Ich bleibe bis ich nicht mehr kann und wann das ist, entscheide ich ganz allein. Damals habe ich mich aus Respekt und Angst vor ihm nicht getraut zu sagen, dass er gehen muss, weil er seine Position nicht mehr erfüllen kann. Ich werde es ihm bald sagen und zwar deutlich.“

Ich redete mich in Rage: „Er ist ein Schwein, er betrügt dich. Du bist ihm gleichgültig. Seit Jahren hält er sich andere Frauen, geht in Puffs und was noch alles. Du lässt dir das alles gefallen. Nebenbei richtet er vielleicht das Lebenswerk deiner Eltern zugrunde.“

„Hendrik bitte, hör auf.“

„Ja, ich höre auf“, und holte tief Luft bevor ich weiter sprach: "Wir sprechen nicht das erste Mal darüber. Nur heute ist Schluss. Ich kann dir auch nicht mehr helfen, weil du es nicht willst. Du betest und hoffst. Deine und meine gescheiterten Versuche ihn für unsere Familie zurück zu gewinnen, haben uns nur kaputt gemacht. Er hat dafür gesorgt, dass wir keine Träume mehr haben. Schon lange fällt mir nichts Schönes mehr ein, wenn ich an die Zukunft denke. Von dir haben Holly und ich gelernt am Abend vor dem Schlafen immer an etwas Schönes zu denken, auf das wir uns freuen können.“ Ich lächelte sie an: „Ein bisschen so wie die gute Nachtgeschichten, die du Holly und mir immer vorgelesen hast als wir kleine Kinder waren.“ Zu gerne erinnerte ich mich an diese Vertrautheit zwischen meiner Mutter, Holly und mir zurück.

„Es ist der Horror für mich, aber ich träume nichts Schönes mehr. Im Gegenteil, ich träume von ihm und werde nachts wach, weil in den Träumen das Chaos über mir zusammenbricht und ich der Schuldige bin. Jetzt ist Schluss mit diesem Leben, das mir diese Albträume beschert. Ich wünsche mir nichts mehr als die Zeit zurück als ich ihn nicht um mich hatte. In Amsterdam alleine und später gemeinsam mit Holly war die beste Zeit, die ich hatte. Erinnerst du dich damals, er war viele Wochen krank mit seinem Herzinfarkt und den Operationen. Als ich dann zurück kam, haben wir gedacht, er würde ein anderer Mensch werden. Aber ganz im Gegenteil, er dreht seitdem immer mehr auf, wie ein Besessener und…“

Mein Mutter unterbrach mich: „Hendrik, ich mache mir größere Sorgen.“

„Was meinst du?“ Ich schaute meine Mutter überrascht an.

Ihr war anzusehen, dass sie mehr zu sagen hatte. Ich ahnte nicht, was, aber ihre Enthüllungen nahmen mir dann tatsächlich die Sicherheit und den Mut für den Entschluss, den ich gefasst hatte. Ihre Worte versetzten meine Entscheidungen wieder zurück auf den Nullpunkt und die Furcht vor den Konsequenzen meiner Entscheidung war wieder zurück. Ihre Worte trafen mich wie ein unerwarteter Fausthieb und ich wollte nicht glauben, was sie mir dann im ruhigen Ton sagte: „Hendrik, ich weiß noch nichts Genaueres, aber dein Vater ist in eine Sache verstrickt, die mir große Sorge bereitet.“ Ihre Stimme zitterte jetzt leicht und die Worte fielen ihr schwer. „Er hat seit einigen Wochen oft Abendtermine. Er behauptet, er spielt Golf, aber auf dem Platz war er dann nicht. Er führt zuhause Telefonate und geht dafür nach draußen, so dass ich nichts hören kann. Einmal habe ich mitbekommen, dass er morgens nach London geflogen ist und am Abend wieder zurück. Mir hat er gesagt, er wäre den ganzen Tag im Büro in Frankfurt gewesen. In seinem Sakko aber habe ich die Schnipsel der Bordkarten gefunden. Als er dann die beiden Male in China war, hat er mir nicht gesagt, mit wem er sich wirklich getroffen hat. In seinem Kalender war nichts an Terminen eingetragen während seines Aufenthalts dort. Er verschweigt etwas und lügt mich in einer anderen Dimension als früher an. Das spüre ich.

„Bestimmt hat es mit den Dingen zu tun, die ich in den Emails gelesen habe.“

„Vor einiger Zeit habe ich ihn und Ullrich Assmann überrascht als sie über eine Bilanz sprachen, die niemand in die Hände bekommen darf. Als die Beiden mich bemerkten, haben sie schnell das Thema gewechselt und über die Jagd gesprochen.“

Sie machte eine Pause, holte zweimal tief Luft. In ihrem Gesicht sah ich die Angst, die ich erst einige später Tage bitter zu deuten verstand. Sie fuhr fort: „Er hat erwähnt unser Testament und einige Gesellschafterverträge anpassen zu müssen! Auf meine Frage nach dem Warum, hat er nur drumherum geredet und von einigen Veränderungen in der Firma gesprochen, die nach der letzten Testamentsabfassung geschehen sind. Da stimmt doch etwas nicht?“ Meine Mutter war jetzt so erregt, dass ihre Stimme ins Stolpern geriet.

„Du meinst, dass er mit Assmann etwas Geschäftliches macht, was nicht sauber ist?“ Ging mein Vater wirklich so weit?

Meine Mutter antwortete nicht, nahm das Weinglas vom Tisch und trank.

Meine Gedanken überschlugen sich. Ich würde sie mit meinem Vater alleine lassen und der ist womöglich gerade dabei irgendeine neue Sauerei zu veranstalten. Es wird noch schwerer für Mama werden, wenn ich nicht mehr in Düsseldorf und in ihrer Nähe bin. Wenn sie besonders unter meinem Vater litt, dann suchte sie bis vor einiger Zeit regelmäßig Kontakt zu mir. Sie sah mir in diesem Moment an, dass ich keine Worte fand und übernahm es, zu sprechen: „Du musst dir keine Gedanken um mich machen, Hendrik. Ich komme schon klar. Es ist an der Zeit, etwas zu verändern, deshalb musst du jetzt gehen.“

„Was ist mit dir Mutter?“

Sie hatte wieder Tränen in den Augen, sprach aber weiter: „Ich denke über all das nach. Bis jetzt habe ich immer gehofft, es passiert ein Wunder. Für Wunder ist man aber auch selber verantwortlich. Wenn man sie nicht zulässt, geschehen sie nicht!“

Ich wollte etwas sagen, aber sie drehte den Sessel zu mir, rückte nach vorne, legte ihre Finger der rechten Hand auf meinen Mund und flüsterte: „Sag jetzt nichts mehr, mein lieber Junge. Ich hätte schon vor langer Zeit reagieren und mit dir reden müssen!“ Sie schaute mich traurig an: „Ich habe zugelassen, dass euer Vater euch so erzogen hat. Man kann das gar nicht Erziehung nennen! Er besitzt uns einfach und geht entsprechend mit uns um. Ich war zu schwach, euch davor zu schützen. Ich bin mit schuldig.

Dass er in diese Geschäfte verwickelt ist, hätte ich verhindern können. Und hätte es tun sollen, auch wenn das unsere Scheidung und alles, was damit zusammenhängt, bedeutet hätte.“

Ich wollte sie unterbrechen und suchte nach Worten, um sie in Schutz nehmen, aber sie fuhr fort: „Er war nicht immer so. Er ist erst im Laufe unseres gemeinsamen Lebens so geworden. Wir gehören schon lange nicht mehr zusammen. Aber ich habe auch nichts dagegen getan. Es ist alles so gekommen, weil ich es zugelassen habe. Ich habe den Zeitpunkt versäumt, mich gegen die Veränderung zu wehren und euch zu beschützen. Nachdem Holly ausgezogen war und du auch in Amsterdam warst, hätte ich gehen und neu anfangen sollen.“

Sie blickte mich traurig an. „Nenne es wie du willst, Hendrik. Ich nenne es Schwäche. Und so war es auch, ich war zu schwach und habe die Augen verschlossen!“

„Das tut mir alles leid, Mutter.“

Sie nahm meine beiden Hände. Etwas in ihren Augen veränderte sich, sie lächelte. Ich merkte sie zögerte. Ein weiteres Geständnis? Dann: „Hendrik, es gibt einen anderen Mann in meinem Leben.“

„Was?“ Mein Erstaunen gepaart mit Entsetzen war ehrlich.

„Ja! Mach dir keine Sorgen um mich.“ Mama lächelte leicht.

Ich schaute sie ungläubig an und erwiderte automatisch: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll!?“ Pause. Ein tiefer Atemzug, ein besseres Gefühl und ich sagte: „Das ist gut Mutter, ja, wahrscheinlich sogar das Beste, was dir passieren kann.“ Trotz dieses Satzes war ich immer noch geschockt. „Wer ist es, kenne ich ihn?“ Ich wartete gespannt auf die Antwort, gleichzeitig fürchtete ich mich davor. Ich wusste, dass ein eheähnliches Verhältnis zwischen meinen Eltern nicht mehr bestand und dass sie ebenso unter ihm litt wie Holly und ich, aber Untreue ihm gegenüber hätte ich ihr nicht zugetraut.

„Ja, du kennst ihn. Ich habe mich ihm anvertraut, weil er mir und uns helfen wird und ich ihn sehr gern habe. Bitte frage nicht weiter. Ich will noch nicht mit dir über ihn sprechen.“

„Weiß Holly Bescheid?“

„Nein, und behalte es bitte für dich. Sie soll es von mir erfahren, hörst du? Wir müssen uns vor den Reaktionen deines Vaters schützen, bis wir einige Dinge geregelt haben.“

„Ganz ehrlich Mama? Erst war ich geschockt, aber jetzt bin ich sehr froh.“

„Das ist schön, aber ich habe Angst. Es geht mir gut damit und ich glaube endlich den Mann gefunden zu haben, den ich wirklich liebe und der meine Liebe erwidert. Ehrliche Liebe, nicht nur eine Fassade nach außen ! Verstehst du mich?“

Wollte sie Absolution und Verständnis von mir? Ich wusste es gerade nicht und auch keinen Rat, wie sie damit umgehen sollte. Verstand ich sie wirklich? Es fiel mir schwer, mir meine Mutter an der Seite eines anderen Mannes vorzustellen. Vater würde toben und zu unkontrollierten Handlungen fähig sein. Ich wollte mir diese Szene nicht weiter ausmalen. Ihn, den Patriarchen und Herrscher über die Familie betrügt man nicht. Er ahnte nicht, dass nichts mehr von der Familie übrig geblieben war.

„Wie soll es jetzt weitergehen, Mama?“

„Wir bereiten etwas vor. Deshalb sorge dich nicht um mich. Vertraue mir. Dein Vater hat sich in etwas verstrickt, mit dem wir ihn loswerden. Es wird genug sein, um ihn Jahre ins Gefängnis zu bringen. Nicht, dass du mich falsch verstehst, wir wollen das nicht. Aber mit den Dingen, die wir zusammenstellen, wird er der Scheidung zustimmen müssen, ansonsten bekommt er große Probleme. Was du gesehen hast, ist nur ein kleiner Teil dessen, was er alles getan hat.“

„Woher weiß derjenige, der dir zur Seite steht soviel über ihn?“

„Hendrik, ich habe mein Wort gegeben, bitte warte noch eine Zeit.“

„Wenn du, wenn ihr, mehr wisst als ich, warum hast du mir vorher nichts gesagt?“ Ich schaute meine Mutter erleichtert an. Sie zwang sich zu einem zuversichtlich wirkenden Lächeln und sagte: „Ach Hendrik, ich wusste nicht, wann ich es dir sagen sollte. Wir wollten alles zusammentragen und deinen Vater damit konfrontieren, in der Hoffnung, dass alles schnell zu Ende geht und ich gehen kann. Ich habe schon vorher überlegt dir die Wahrheit zu sagen. Aber das ist ja nicht so einfach, wenn man sich nicht über den nächsten Schritte sicher ist. Das sind wir aber jetzt.“

Mir wurde heiß. Was tat meine Mutter? Damals kam mir nicht der Gedanke daran, in welche Gefahren sie sich begeben könnte.

Das Weinglas hatte ich die gesamte Zeit in meiner Hand gehalten und trank in diesem Moment den letzten Schluck aus. Am Himmel vor dem Fenster zog ein Flugzeug in großer Höhe einen weißen Kondensstreifen hinter sich her. Die Hand schwitze. Ich stellte das Glas auf den kleinen runden Betontisch. Warum spricht sie erst jetzt mit mir? Vielleicht hätte ich ihr helfen können? Warum hatte ich nicht weiter versucht den Dingen auf den Grund zu gehen? Ich erinnerte mich an das, was sie vorher gesagt hatte. Wir hatten Angst, uns nicht getraut und immer gehofft, dass eines Tages alles wieder besser wird. So ein Unsinn. So eine Feigheit.

Mutter spürte wohl, was ich dachte und sagte: „Auch ohne deinen Anruf heute Vormittag wäre ich in den nächsten Tagen zu dir gekommen und hätte dich und Holly darum gebeten, uns bei dem Gespräch mit deinem Vater zu begleiten. Es ist wichtig, dass wir jetzt beginnen uns von einigen Dingen zu distanzieren, solange er lebt. Persönlich und auch rechtlich, soweit das möglich ist. Die Geschäftsführung, die ich noch in der Verwaltungsgesellschaft habe, werde ich niederlegen.“ Sie sah mich an und nickte mir beinahe unmerklich zu. „Wir bleiben nur Gesellschafter und werden alles einem Vermögensverwalter übertragen.“

„Mama, wer ist es mit dem du das alles besprichst?“

„Hendrik, ich habe ihm versprochen seinen Namen noch nicht zu nennen. Vertraue mir. Du kennst ihn und ich denke du schätzt ihn. Er rät uns zu den Dingen. In ein paar Tagen wissen wir mehr, wahrscheinlich auch was dein Vater mit Assmann unternimmt. Viele Dinge sind ihm bekannt. Er weiß mehr als jemand sonst, der nicht dazu gehört. Ich wäre nie allein darauf gestoßen.“

Ich kämpfte mit mir und sagte: „Ich lass dich nicht eher gehen, bis du mir alles gesagt hast. Du bist meine Mutter, ich habe dir immer alles erzählt. Immer! Du stimmst mir zu, dass es besser gewesen wäre, wenn du auch mir immer alles erzählt hättest. Du hast mir nie gesagt, was zwischen Holly, dir und Vater passiert ist. Du schweigst, wenn ich dich danach frage!“ Ich wirkte wie ein trotziges Kind, das war mir klar, aber auch egal. „Du hast nie zugegeben, dass er dich geschlagen hat.“ Eigentlich hatte ich ihr nie sagen wollen, dass ich davon wusste.

„Weißt du etwa davon?“ Mutter war entsetzt.

„Ja, natürlich. Und jetzt gerade schäme ich mich, es zugelassen zu haben,

Mama!“ Das Mama klang wie ein Schrei in meinen Ohren. Wieder erfasste mich die Welle der zärtlichen Liebe zu meiner Mutter. Mir kamen die Tränen. Ich trat auf sie, zog sie zu mir hoch und als sie vor mir stand, umarmte ich sie. „Mama, ich hätte es nicht zulassen dürfen. Es tut mir so leid.“

Wir klammerten uns förmlich aneinander. Ich startete einen letzten Versuch.

„Mama, wer ist es? Ich will es wissen!“

„Es darf niemand wissen.“

„Bitte. Kannst du bei ihm sicher sein?“

„Ja, mein Junge.“

Sie kämpfte damit, den Namen des Mannes auszusprechen.

Endlich.

„Es ist Andreas Weidlich.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Andreas?“, ich sah ihn vor mir.

„Andreas. Seit wann? Ich hätte doch was merken müssen? Ihr kennt euch doch schon ewig? Seit ihr etwa.. ?

„Nein!“ Mutter lachte. „Wir sind noch nicht ewig ein Paar! Aber schon eine ganze Zeit.“

„Und niemand hat es bemerkt?“

Wieder schaute ich sie ungläubig an.

„Wir sind doch als Familien miteinander befreundet! Etwa schon als Andreas Frau noch lebte? Sie hat sich doch wohl nicht deshalb das Leben genommen?“ Ich bekam plötzlich Angst vor der Antwort meiner Frage.

„Oh Gott nein, Hendrik. Wir sind erst weniger als zwei ´ Jahren zusammen und Andreas ist seit 5 Jahren Witwer. Traust du mir das etwa zu?“ Sie sah mich traurig an.

„Ach Mama, nein, aber ich weiß gerade gar nicht, was das alles bedeutet.“

„Das verstehe ich. Gib mir eine paar Tage Zeit. Ich werde noch einige Dinge regeln und vorbereiten, bevor ich deinem Vater sage, dass ich ihn verlassen werde. So mutig wie das jetzt klingt, bin ich gerade nicht, aber ich bin auf einem guten Weg und dann wird sich auch alles für dich ändern können.“

„Was willst du konkret tun?“

„Auf jeden Fall nichts überstürzen. Nichts tun, was ich hinterher bereuen werde. Es sind so viele Schritte zu überlegen, aber Andreas und ich haben einen Plan. Und Hendrik, ich fühle mich gut dabei, Andreas macht mich glücklich und gibt mir die nötige Kraft. Dieses Gefühl habe ich lange nicht gespürt.“

„Versprich mir, dass du Vater verlässt, und zwar innerhalb der nächsten Tage. Hörst du, Mama, versprich mir das!“

„Ja, ich verspreche es, mein Junge. Und was wirst du jetzt tun?“

„Nach Amsterdam gehen! Zu Holly. Das war mein Plan heute früh. Da wusste ich aber noch nichts von deiner Geständnis.“

„Hendrik, es stimmt, wir beide sollten anfangen unseren Träumen zu folgen.“

Wenn wir in diesem Moment gewusst hätten, was in den nächsten Tagen geschieht, wären wir nicht so voller Hoffnung gewesen!

Vater unser, lass uns glücklich sein

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