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Das Geheimnis der Zahl 153

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Die Ursprünge des Enneagramms lagen lange wie hinter einem Schleier verborgen. Das machte die Sache einerseits besonders geheimnisvoll – andererseits nährte es Spekulation und Skepsis und trug kaum zur Glaubwürdigkeit oder gar zu einer ernsthaften akademisch-wissenschaftlichen Würdigung des Systems bei. Es waren ja keinerlei schriftliche Quellen bekannt, aus denen man hätte nachvollziehen können, dass es sich tatsächlich um eine „uralte Weisheitslehre“ handelt, wie die beiden „Entdecker“ oder „Erfinder“ des Enneagramms behauptet haben. Auch wir mussten 1989, als unser Buch erschien, dieses Manko bekennen. Man wusste zunächst nur, dass das Enneagramm im Abendland erstmals 1916 von George Iwanowitsch Gurdjieff (1866 oder 1872 bis 1949, selbst sein Alter verschleierte er!) vorgestellt wurde – und zwar als umfassendes Symbol der harmonischen Struktur und der Dynamik des Kosmos, als kosmisches Prozessmodell – und nicht als Charaktertypologie. Gurdjieff gab niemals explizit Auskunft über seine Quellen. J. G. Bennett, einer der prominentesten Schüler Gurdjieffs, vertrat die Ansicht, Gurdjieff hätte das Enneagramm von asiatischen Sufis gelernt. Oscar Ichazo, der in den frühen 70er Jahren das „Enneagramm der Fixierungen“ entwickelte, benutzte Gurdjieffs Modell und verwies in mehreren – zum Teil sehr kryptischen – Aussagen ebenfalls auf geheime sufistische Quellen, aber auch auf Engelsvisionen und Ähnliches. Das macht die Sache nicht schlüssiger. Auch Ichazo (geb. 1931) hält seine Quellen bis heute letztlich geheim.

Die gängige Entstehungslegende des Enneagramms, die in der Zeit des ersten Enneagrammbooms in den 70er Jahren kolportiert wurde, lautet in etwa: Die Ursprünge des Enneagramms reichen viele Jahrtausende zurück bis in den Nahen Osten, wo die Wiege der großen Menschheitsreligionen stand. Dieses Wissen, das alle großen Religionen beeinflusst habe, sei im Lauf der Jahrtausende von vielen angereichert und tradiert worden. Bennett nennt in diesem Zusammenhang insbesondere die „Magi“, jene morgenländischen Weisen des ersten vorchristlichen Jahrtausends, die zugleich Priester, Philosophen, Astronomen, Astrologen, Psychologen, Theologen und Magier waren. (Nach Auskunft des Matthäusevangeliums kamen solche Magier nach der Geburt Jesu nach Jerusalem, um dem neugeborenen Heiland zu huldigen!)

In die Schule der Magi war auch Pythagoras eingeweiht, der große Universalgelehrte, Mathematiker und spirituelle Meister aus Samos (ca. 569 – 496 v. Chr.). Er war als junger Mann Priester geworden und hatte lange Jahre in den großen religiösen Zentren seiner Zeit, insbesondere in Ägypten und Babylonien, zugebracht. Am Ende seines langen Lebens gründete er in Süditalien eine Weisheitsschule, die in eine „exoterische“ und eine „esoterische“ Abteilung gegliedert war. In der exoterischen Schule wurde Lebensweisheit für jedermann gelehrt; in der esoterischen Abteilung wurden die Adepten in die geheimen Zusammenhänge des Kosmos eingeweiht, über die sie strengstes Stillschweigen bewahren mussten. Eine entscheidende Rolle im Weltbild des Pythagoras spielten – wie in der späteren jüdischen Kabbala – die Zahlen von eins bis neun, während die Zahl zehn den Kosmos als Ganzen bezeichnete. Diese Zahlen hatten für Pythagoras sowohl eine quantitative Bedeutung als auch einen qualitativen, symbolischen Sinn, der in der Antike weithin Common Sense war, von uns aber mühsam entschlüsselt werden muss.

Nun klafft in der Legende eine Zeitspanne von 1000 Jahren. Es handelt sich immerhin um jene geschichtlich bedeutenden 1000 Jahre, in denen das Römische Reich aufstieg und unterging und in denen das Christentum entstand, zunächst verfolgt wurde und sich schließlich als Staatsreligion etablierte.

Nach dem Entstehen des Islam (etwa 1000 Jahre nach Pythagoras) – so die bisherige Legende weiter – sei das alte Geheimwissen insbesondere durch eine Sufischule aufbewahrt, entwickelt und tradiert worden. Der „Sufismus“ bezeichnet die große mystisch-asketische Bewegung innerhalb des Islam. Die Sufimeister hätten das Enneagramm nie als Ganzes weitergegeben, sondern einer/​einem Ratsuchenden jeweils nur diejenigen Teile offenbart, die für die spirituelle Entwicklung dieses Menschen nützlich gewesen seien. In der gesamten sufistischen Literatur findet sich allerdings nicht der leiseste Hinweis auf das Enneagramm. Das wurde von den Anhängern dieser Legende in der Regel damit begründet, dass es sich um Geheimwissen gehandelt habe, das ausschließlich mündlich weitergegeben werden durfte.

1995 stieß ich (Andreas Ebert) auf einen Text des altchristlichen Wüstenvaters Evagrius Pontikus, der mich verblüffte. Auch wenn ich nicht alles verstand, hatte ich sofort das Gefühl, dieser Text müsste etwas mit dem Enneagramm zu tun haben. Handelte es sich womöglich um die erste und einzige alte schriftliche Quelle, die auf die Entstehung des Enneagrammsymbols hindeutete? Im Januar 1996 veröffentlichte ich meine Entdeckung in Heft 11 des „Enneagram Monthly“, einer internationalen Enneagrammzeitschrift („Are the Origins of the Enneagram Christian after all?“). Im April und Mai 1996 folgte in derselben Zeitschrift ein großer Aufsatz von Lynn Quirolo („Pythagoras, Gurdjieff and the Enneagram“), die unabhängig von mir zur selben Zeit dieselbe Entdeckung gemacht hatte. Lynn Quirolo ist eine Absolventin von J.G. Bennetts „International Academy for Continuous Education“ in Sherborne (England). Ihrem Artikel habe ich eine Reihe von zusätzlichen Erkenntnissen zu verdanken, insbesondere die Entschlüsselung der pythagoräischen Zahlensymbolik (siehe unten). Der Text, der uns synchron zugefallen war, enthält allem Anschein nach wesentlich klarere Hinweise auf die Ursprünge des Enneagramms als alle früheren Legenden und Spekulationen.3

Sollten die Ursprünge des Enneagramms doch christlich – und nicht sufistisch – sein? Schon der Jesuit Bob Ochs, einer der ersten Enneagrammschüler Claudio Naranjos, „war überzeugt, dass das Enneagramm zutiefst in der christlichen Mystik verwurzelt war … Ochs erkannte die Tradition der Wüstenväter wieder, einer Gruppe von Mönchen des vierten Jahrhunderts, die die christliche Sicht der sieben kapitalen Leidenschaften entwickelt hatten, die die Typen energetisch aufladen …“4 1992 hat dann auch und unabhängig von Ochs der deutsche Benediktiner Anselm Grün die erstaunlichen Parallelen zwischen dem Enneagramm und der Lehre von den Leidenschaften festgestellt, wie sie Evagrius entwickelt hatte.5

Die Wüstenväter oder „Anachoreten“ waren eine Bewegung des 4. nachchristlichen Jahrhunderts. Als die christliche Kirche nach langen Zeiten der Verfolgung im 4. Jahrhundert allmählich toleriert und schließlich sogar privilegiert und zur Staatsreligion erhoben wurde, ließ der Ernst der Christusnachfolge allenthalben nach. Opportunisten drängten zur Taufe. Bald wurden die heidnischen Tempel geschlossen und manche „Unbekehrbare“ ebenso grausam verfolgt wie seinerzeit die Christen durch die Heiden. Die neue Amtskirche hatte große Angst vor heidnischer Unterwanderung ihrer Lehre und vor „häretischen“ (insbesondere gnostischen) Strömungen. Mit staatlicher Unterstützung setzte sie ihre Version von „Rechtgläubigkeit“ durch. Gleichzeitig bemerkte sie nicht, wie „heidnisch“ sie selbst wurde. Anstelle eines schlichten Christusglaubens und echten Leidensbereitschaft trat immer mehr der Kampf um ein dogmatisches Monopol und um gesellschaftliche Privilegien und Macht.

Zahllose Menschen, Männer und Frauen, die Christus ernsthaft nachfolgen wollten, sahen sich zum Rückzug gezwungen. Sie zogen aus den städtischen Zentren in die Wüste, um in kleinen Gemeinschaften oder als Einsiedler zu leben. Sie verzichteten auf die Ehe, auf weltliche Güter und weltliche Betätigung, um zur Ruhe des Herzens (hesychia) zu finden. Die Lebensgeschichte des ersten großen Wüstenvaters Antonius, die literarisch stark an die Lebensgeschichte des Pythagoras angelehnt ist, hat nicht zuletzt die bildende Kunst immer wieder inspiriert. Beliebt ist etwa die Darstellung der Versuchungen des Hl. Antonius, wie sie zum Beispiel Matthias Grünewald auf dem Isenheimer Altar dargestellt hat.

Das Leben in der Wüste diente der Auseinandersetzung mit den Leidenschaften oder „Dämonen“, die sich insbesondere in Gestalt von Fantasien und Gedanken des Eremiten bemächtigten. Sie galt es zu besiegen. In heutiger psychologischer Sprache würde man eher von der „Integration des Schattens“ sprechen. Verdienst der Wüstenväter und -mütter war es, diese Leidenschaften zu identifizieren und gezielte Methoden zu entwickeln, wie man mit ihnen „fertig werden“ könnte.

Evagrius Pontikus wurde im Jahre 345 in Ibora in der Provinz Pontus (im heutigen Georgien) als Sohn eines Bischofs geboren. Mit 34 Jahren wurde er zum Diakon geweiht. 381 ging er nach Konstantinopel, musste aber die Stadt wegen einer Liebesaffäre verlassen. Nach einem Zwischenaufenthalt in Jerusalem begab er sich nach Ägypten, um dort als Mönch zu leben. Bis zu seinem Tode im Jahre 399 blieb er in einer Einsiedelei in der nitrischen Wüste. Dort verfasste er seine wichtigsten Werke. Besonderen geistigen Einfluss übten auf ihn die Werke des Origenes aus, der wiederum von pythagoräischem Denken beeinflusst war und sich für eine allegorische Bibelauslegung einsetzte (das heißt, man suchte zwischen den jedermann zugänglichen Zeilen der biblischen Texte nach einem geheimnisvollen symbolischen Sinn; dabei spielte die Zahlenspekulation eine wesentliche Rolle). Die Origenisten wurden von den „Anthropomorphisten“, die nur die wortwörtliche Bibelauslegung gelten lassen wollten, bekämpft und schließlich verfolgt.

Im Jahre 399, kurz nachdem Evagrius gestorben war, mussten seine Gesinnungsfreunde fliehen. Auf diese Weise fanden seine Werke, die sie mitnahmen, weite Verbreitung. Sie gelangten über die Grenzen des römischen Imperiums hinaus nach Armenien und in die arabische Welt, wo sie später auch die persischen Sufis beeinflussten. In Armenien genießt Evagrius bis heute große Verehrung; zum Teil wurden seine Schriften überhaupt nur in armenischer Übersetzung aufbewahrt. Die Lehre des Evagrius und der Wüstenväter übte und übt vor allem auf die Mönche der Orthodoxie, etwa auf dem Berg Athos, einen gewaltigen Einfluss aus – trotz der einstmaligen Verfolgungen und Verurteilungen. Auf dem Konzil von Konstantinopel (553) nämlich wurde neben Origenes auch Evagrius verurteilt. Drei spätere Konzilien wiederholten diese Verurteilungen.


Versuchung des Hl. Antonius (Matthias Grünewald), Isenheimer Altar

Das Werk des Evagrius berührt sich an zwei Punkten eng mit dem Enneagramm: In seiner Lehre von den Leidenschaften und in der Beschreibung einer auf pythagoräischer Zahlenspekulation beruhenden Figur, die wesentliche Züge des Enneagrammsymbols zeigt.

Evagrius entwickelte erstens eine Liste von acht bzw. neun Lastern bzw. ablenkenden „Gedanken“, die den Weg zu Gott und zu leidenschaftsloser Herzensruhe behindern. Ausgangspunkt war für ihn jenes seltsame Jesuswort Matthäus 12,43 – 45: „Wenn ein böser Geist einen Menschen verlässt, dann schweift er über ödes Land und sucht nach einem Ruheplatz. Wenn es keinen findet, sagt er sich:, Ich will in mein Haus zurückkehren, das ich verlassen habe!‘ Also geht er zurück – und findet das Haus leer, sauber und geordnet vor. Dann geht er und bringt sieben andere böse Geister mit, die noch schlimmer sind als er selbst, und sie kommen und wohnen hier. So befindet sich der Mensch am Ende in einem schlimmeren Zustand als am Anfang.“ Nach Evagrius ist der erste böse Geist die „Völlerei“, die sich schließlich die sieben weiteren Laster „einverleibt“, sodass es zur Achtzahl kommt. In seiner Neunlasterschrift, die in unserem Zusammenhang besonders interessant ist, ordnet er drei Leidenschaften der sinnlich-materiellen Welt zu (bei ihm sind dies Völlerei, Unzucht und Geiz), drei der „erregbaren Seele“ (Traurigkeit, Zorn und „Trägheit“) und drei dem geistigen Bereich, der allein dem Menschen vorbehalten ist (Ehrsucht, Neid und Stolz). Die „Furcht“, die im Enneagramm Typ SECHS zugeordnet wird, fehlt. Papst Gregor I. hat die Liste der acht bzw. neun Leidenschaften später auf die bis heute gängige Liste der sieben klassischen Hauptsünden reduziert (oft fälschlich als die „sieben Todsünden“ bezeichnet). Er fasste Ruhmsucht und Stolz sowie Traurigkeit und Faulheit zusammen. Ergebnis war ein Jahrhunderte lang gültiger Katalog: Stolz, Neid, Zorn, Traurigkeit, Habgier, Völlerei, Unkeuschheit. Im 7. Jahrhundert wurde die Traurigkeit durch die Trägheit ersetzt. Als die sieben Hauptsünden bezeichnet die katholische Kirche gegenwärtig Stolz (superbia), Habsucht (avaritia), Neid (invidia), Zorn (ira), Unkeuschheit (luxuria), Unmäßigkeit (gula, immoderatio), Trägheit oder Überdruss (pigrata oder acedia).

Auch wenn Evagrius neun Laster nennt, ist doch offenkundig, dass er sie noch nicht als jenes „Enneagramm der Fixierungen“ systematisiert hat, das Oscar Ichazo in den 70er Jahren entwickelt hat. Er ordnet sie zum Beispiel nach anderen Gesichtspunkten der physischen, psychischen und geistige Sphäre zu, als es Oscar Ichazo mit den neun Leidenschaften bzw. Fixierungen im Enneagramm getan hat.

Neben der Identifikation von neun Leidenschaften und drei Zentren, denen jeweils drei Leidenschaften zugeordnet werden, beschreibt Evagrius auch ein geometrisches Symbol, das sich nur erschließt, wenn man die Zahlensymbolik des Pythagoras kennt. Dabei geht es um die Darstellung einer geheimnisumrankten biblischen Zahl: Gegen Ende des Johannesevangeliums wird berichtet, wie Jesus nach seiner Auferstehung an Ostern seinen Jüngern gebietet, das Fischernetz im See Genezareth auszuwerfen. Sie gehorchen ihm und fangen 153 große Fische. Warum nennt der Evangelist diese Zahl? Das Johannesevangelium ist voll von hintergründigen und mehrdeutigen Redewendungen mit „doppeltem Boden“. Hinter einer platt wörtlichen Bedeutung steckt immer ein tieferer Sinn. Weil die Menschen – einschließlich der Jünger Jesu – seine Worte allzu buchstäblich deuten, kommt es im Johannesevangelium ständig zu kuriosen Missverständnissen. Es ist offenkundig, dass diese Zahlenangabe nicht willkürlich ist, sondern einen symbolischen Sinn hat. Hieronymus (um 420) deutet die Zahl so: Man hätte seinerzeit angenommen, es gäbe insgesamt 153 Fischarten. Die Zahl sei also ein Hinweis auf die Universalität und Vollständigkeit der Kirche, die alle Völker umfasst. Spekulativer ist bereits Augustinus:

„In der Anzahl der Fische, die unser Herr nach seiner Auferstehung auf der rechten Seite des Schiffes zu fangen befiehlt, um dieses neue Leben zu zeigen, findet sich die Zahl 50 mit drei multipliziert. Wenn man drei hinzuzählt (das Symbol der Trinität), ist das heilige Geheimnis noch offenbarer. Dann (im neuen Leben) soll der neue Mensch, vollendet und zur Ruhe gekommen, durch die lauteren Worte Gottes an Leib und Seele geläutert, die wie entschlacktes Silber sind, das siebenmal gereinigt ist, seinen Lohn erhalten – die Münze. Mit diesem Lohn begegnen sich die Zahlen sieben und zehn in ihm. Denn in dieser Zahl (17) findet sich – wie in anderen Zahlen, die eine Kombination von Symbolen darstellen –, ein wundervolles Geheimnis … Und wann wird der Körper endgültig von allen Feinden befreit sein? Ist es nicht dann, wenn der letzte Feind, der Tod, vernichtet sein wird? Bis zu dieser Zeit also wird die Zahl der 153 Fische reichen. Denn wenn die Zahl 17 als Seite eines gleichseitigen Dreiecks genommen wird … beträgt die Gesamtsumme der Einheiten 153.“6

Diese Deutung ist ein Beispiel für die spekulative Art und Weise, mit Zahlen umzugehen, wie sie in der Antike und in der Frühzeit der Kirche gang und gäbe war.

Auch Evagrius interpretiert die Zahl 153 mit Rückgriff auf die pythagoräische Zahlensymbolik. Seine Interpretation findet sich in der Einleitung zu einem Büchlein mit dem Titel „153 Kapitel über das Gebet“, einem Leitfaden zur Kontemplation. Diese 153 kurzen Kapitel sind auch Teil der „Philokalia“, jener berühmten Sammlung altkirchlicher Anleitungen zum Gebet, die die spirituelle Grundlage ostkirchlicher Mystik ist und die es jetzt endlich auch in einer deutschen Gesamtausgabe gibt. Evagrius schreibt in der Einleitung:

„Ich habe diese Abhandlung über das Gebet in 153 Kapitel eingeteilt. Mit ihnen sende ich dir einen Leckerbissen des Evangeliums, damit du dich an einer symbolischen Zahl erfreuen kannst, die eine dreieckige und ein sechseckige Figur miteinander verbindet. Das Dreieck steht symbolisch für die Trinität, das Sechseck für die geordnete Erschaffung der Welt in sechs Tagen. Die Zahl 100 bezeichnet ein Quadrat, die Zahl 53 ein Dreieck und zugleich einen Kreis. Weshalb? Weil sie die Summe von 25 und 28 ist. 28 ist das Dreieck und 25 der Kreis, da 25 fünf mal fünf ist. So stellt diese Summe eine quadratische Figur da, da sie die vierfache Qualität der (sieben) Tugenden symbolisiert. Der Kreis drückt durch seine runde Form den Fluss der Zeit aus und ist zugleich ein angemessenes Symbol für die wahre Welterkenntnis. Im Fluss der Zeit folgt Woche auf Woche, Monat auf Monat, Jahr auf Jahr und Jahreszeit auf Jahreszeit, wie es die Bewegung von Sonne und Mond, Frühling und Sommer und so weiter zeigen. Das Dreieck, das in der Zahl 28 zum Ausdruck kommt, bezeichnet die Erkenntnis der Heiligen Trinität. Oder wir könnten die ganze Summe von 153 als ein Dreieck deuten, das die asketische Praxis, die Kontemplation der Natur und die Betrachtung des spirituellen Wissens von Gott bedeutet – oder Glaube, Hoffnung und Liebe, oder Gold, Silber und Edelsteine. So viel zu dieser Zahl …“

Diese Interpretation des Evagrius ergibt nur Sinn, wenn man mit der pythagoräischen Zahlensymbolik vertraut ist. Pythagoras unterschied unter anderem Dreieckszahlen, Quadratzahlen, Sechseckzahlen und Kreiszahlen:

Dreieckszahlen: Die Summe aufeinander folgender Zahlen, beginnend mit 1. Beispiele:

3 = 1 + 2; 6 = 1 + 2 + 3; 10 = 1 + 2 + 3 + 4 usw.

2. Quadratzahlen: Die Summe von Zahlen, beginnend mit 1, wobei jeweils eine Zahl ausgelassen wird. Beispiele:

4 = 1 + 3 (2 ausgelassen); 9 = 1 + 3 + 5; 16 = 1 + 3 + 5 + 7 usw.

3. Sechseckzahlen: Die Summe von Zahlen, beginnend mit 1, wobei jeweils drei Zahlen ausgelassen werden. Beispiele:

6 = 1 + 5 (2, 3 und 4 ausgelassen); 15 = 1 + 5 + 9; 28 = 1 + 5 + 9 + 13 usw.

4. Kreiszahlen: Eine Zahl, die Produkt einer Zahl ist, die sich beim Quadrieren an letzter Stelle wiederholt. Beispiele:

25 = 5 x 5; 36 = 6 x 6.

Für die Zahl 153 bedeutet das: Sie ist nach pythagoreischer Interpretation „dreieckig“ (1 + 2 + 3 + … 17) und zugleich „sechseckig“ (1 + 5 + 9 … + 33). Deshalb hat diese Zahl zugleich „dreieckige“ (trinitarische) und „sechseckige“ Qualität; das Dreieck bezeichnet nach Evagrius die göttliche Wirklichkeit und das Sechseck – wie erwähnt – die sechs Schöpfungstage und somit die irdische Welt. Es gäbe mehrere Möglichkeiten, diese Kombination von Dreieck und Sechseck bildlich darzustellen:


153 lässt sich nach Evagrius aber auch als Summe von 100 + 28 + 25 verstehen. 100 ist eine „Quadratzahl“ (1 + 3 + 5 + 7 … + 19). Evagrius deutet 4 x 7 als Hinweis auf die vierfache Qualität der (sieben) klassischen Tugenden. 28 ist ein „Dreieck“ (1 + 2 + 3 + … 7) und bezeichnet die Heilige Trinität. 25 ist ein „Kreis“ (5 x 5). Der Kreis ist für Evagrius ein Hinweis auf den Lauf der Zeit und auf wahre (vollständige) Erkenntnis. Graphisch ließe sich die Kombination von Quadrat, Dreieck und Kreis wiederum auf unterschiedliche Weise darstellen:


Eine dritte Möglichkeit sieht Evagrius darin, die gesamte Zahl 153 als „Dreieck“ zu interpretieren (1 + 2 + 3 + … 17). Das könnte man graphisch als gleichseitiges Dreieck mit der Seitenlänge 17 (Punkte) darstellen:


Zusammenfassend kann man sagen: Evagrius hat eine Charakterpsychologie entwickelt, die auf acht bzw. neun „Gedanken“ oder Leidenschaften basierte. Gleichzeitig hat er eine Kosmologie entworfen, die durch eine Kombination von Kreis, Dreieck, Viereck und Sechseck symbolisch dargestellt werden kann. Es gibt allerdings keinen Hinweis darauf, dass Evagrius selbst seine Leidenschaftslehre und das kosmische Symbol miteinander verquickt hätte. Das Enneagramm der Fixierungen dürfte eine Neuschöpfung Oscar Ichazos aus dem 20. Jahrhundert sein. Es wäre also abwegig zu behaupten, das Enneagramm, so wie wir es kennen, ginge als solches auf die Wüstenväter zurück. Richtig ist jedoch, dass sich die zwei wichtigsten Elemente moderner Enneagrammkunde (kosmisches Prozesssymbol, das – neben dem Quadrat – Dreieck, Kreis und Sechseck enthält, plus eine Charakterlehre, die auf den „Hauptleidenschaften“ basiert und sie den drei Zentren Körper, Seele und Geist zuordnet) unmittelbar auf Evagrius, diesen großen frühchristlichen Welt- und Seelenkenner, zurückführen lassen.

Eine zweite große christliche Gestalt, deren Werk entscheidende Aspekte moderner Enneagrammkunde vorwegnimmt, ist der seliggesprochene Ramon Lull, der 1232 in Palma (Mallorca) geboren wurde.

Ramon, dessen Vater 1229 mit Jakob I. auf die Insel gekommen war, um sie von muslimischer Herrschaft zu befreien, wuchs in einer Umgebung auf, die stark maurisch geprägt war. Er heiratete 1253, wurde Hofpage, führte ein sehr „verweltlichtes“ Leben und unternahm in seiner politischen Funktion zahlreiche Reisen. Im Juni 1263 erlebt der 34-Jährige aufgrund von fünf Erscheinungen des gekreuzigten Christus eine tief greifende Bekehrung. Er wird Mitglied des 3. Ordens der Franziskaner, der für Verheiratete offen ist. Fortan sieht Lull seine Aufgabe darin, Argumente für das Christentum zu sammeln, um so zur Bekehrung von Juden und Muslimen beitragen zu können. Er begibt sich auf Pilgerreisen (Jerusalem und Santiago de Compostela) und entfaltet eine rege literarische Produktivität. Unter anderem regt er die Errichtung von Sprachschulen für das Arabische und Hebräische an, um Grundlagen für einen seriösen interreligiösen Dialog zu schaffen.

Im Gegensatz zu früheren missionarischen Ambitionen der Kirche, die letztlich der Zwangsbekehrung der „Heiden“ dienten, entwickelt Lull Prinzipien eines respektvoll und rational geführten Dialogs, in dessen Verlauf alle Beteiligten dazulernen. Die eigene Identität kann letztlich nicht in Abgrenzung von anderen gefunden werden, sondern nur im Gespräch mit ihnen. Lull nimmt wesentliche Kriterien moderner Kommunikationstheorien und der Friedens- und Konfliktforschung vorweg und entwickelt das, was man heute eine „Hermeneutik des Anderen“ nennen würde: Um mit einem anderen wirklich zu kommunizieren, muss ich seine Sprache und seine Voraussetzungen kennen und achten.

„Das Buch vom Heiden und den drei Weisen“ schildert das Gespräch eines religiös suchenden Heiden mit einem Juden, einem Christen und einem Muslim. Alle tragen ihre Argumente nacheinander vor, ohne einander zu unterbrechen oder anzugreifen. Nur dem Suchenden sind kritische Nachfragen gestattet. Am Ende geht der „Heide“ getröstet davon und es bleibt – wie in Lessings „Ringparabel“ – offen, für welchen der drei Wege er sich letztlich entscheidet.

Lulls Leidenschaft gilt der Suche nach einer neuen Sprache der Spiritualität, die von keiner der bestehenden Religionen besetzt ist. Denn er ist überzeugt davon, dass die interreligiöse Sprachverwirrung eine der Hauptursachen für Kriege und Konflikte ist. Wie Hans Küng in unseren Tagen hält er insbesondere die monotheistischen Religionen für fähig, ein gemeinsames Weltethos zu entwickeln, das dem Frieden dient. Das setzt aber voraus, dass sie im Umgang miteinander jene gewaltfreien Prinzipien praktizieren, die allein Grundlage des Völkerfriedens sein könnten. Insbesondere für die Kirche gilt: Bevor sie die Welt evangelisieren kann, bedarf sie der eigenen Bekehrung und Erneuerung; sie muss das leben, was sie lehrt, und bleibt in diesem Prozess immer auch Lernende.

Ausgangspunkt für die gemeinsame Wahrheitssuche der großen Religionen sind für Lull die neun (!) Namen oder Eigenschaften Gottes, die er auf der Peripherie seiner Kreisfigur „A“ im Uhrzeigersinn anordnet, wobei „A“ für Gottes Wesen steht, während die neun Eigenschaften die Anfangsbuchstaben von B bis K tragen. Sie sind mit der Mitte, dem unaussprechlichen Geheimnis Gottes, und untereinander vernetzt. (Figur A)


Daneben entwickelt Lull eine zweite Figur (T), die neben den absoluten Prinzipien der Figur A „relative“ Prinzipien bezeichnet. Sie sollen „sowohl die Nähe als auch den Unterschied zwischen Gott und den Geschöpfen bezeichnen“. Lull spricht „von Unterschied (differentia), Eintracht (concordia), Gegensätzlichkeit (contrietas). Weil der Vollkommene jenseits eines geschöpflichen Mehr oder Weniger in absoluter Gleichheit existiert, spricht er von Größer-Sein (maioritas), Gleichheit (aequalitas), Kleiner-Sein (minoritas). Und da es nur in der Schöpfung Anfang und Ende gibt, Gott aber die Mitte von allem darstellt, in der Anfang, Mitte und Ende als dreieinige Personen koinzidieren, spricht Lull von Anfang (principium), Mitte (medium) und Ende (finis)“7. Figur T ist ein Kreis, der mit drei Dreiecken ausgefüllt ist, die die relativen Prinzipien bezeichnen. (Figur T)


Lulls Figur T

Die Nähe dieser beiden Figuren zur Enneagrammfigur ist unverkennbar. Ähnlich wie die Figuren des Evagrius könnte man auch Lulls Schemata als „Vor-Enneagramm“ bezeichnen. Lull glaubt ferner, dass nicht nur die Gottesnamen eine gemeinsame Dialoggrundlage zwischen den Religionen sein könnten. Auch das Erkennen der „Tugenden“ und „Laster“ ist gemeinreligiöses Gut. Er bildet die klassischen sieben Tugenden und Todsünden als Bäume ab und meint, diejenige Religion habe Recht, die die überzeugendsten Tugendfrüchte hervorbringt. Damit verlagert sich der Wettstreit von der dogmatischen auf die spirituelle und ethische Ebene und die Toleranzfähigkeit innerhalb des Wettstreits wird zu einem wesentlichen Kriterium der Glaubwürdigkeit und des Wertes einer Glaubensgemeinschaft. Wer Recht hat, muss nicht rechthaberisch sein.

Lulls Nähe zur jüdischen Kabbala und zur islamischen Sufimystik ist mit Händen zu greifen. Die Kabbala stellt die Eigenschaften Gottes wie Lull als Lebensbaum dar; der Sufismus meditiert die 99 Namen Gottes, um durch die Meditation dem unaussprechlichen Gott selbst immer näher zu kommen. Lulls besondere Liebe gilt jenen Sufigeschichten, deren Absicht es ist, die Liebe zu Gott anzufachen. Nur eine Philosophie der Liebe, so glaubt Lull, ist allen Menschen zugänglich und ermöglicht eine interreligiöse Ökumene. Umberto Eco meint, Lulls Entwürfe seien neben der jüdischen Kabbala der zweite große europäische Versuch, eine gemeinsame neue spirituelle Sprache zu finden.

Lull ist zutiefst davon überzeugt, dass selbst schwierigste theologische Behauptungen wie die Lehre vom dreieinigen Gott oder der Glaube an die Auferstehung vernünftig begründbar und daher in Freimut diskutierbar sind. Damit nimmt er die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts vorweg, die der Vernunft einen Vorrang vor der Autorität einräumte.

Es würde sich lohnen, Lulls Bedeutung für die Enneagrammforschung tiefer zu ergründen. Jedenfalls findet sich bei ihm (ebenso wie bei Evagrius) im Kern bereits vieles von dem, was wir im Folgenden entfalten wollen. Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz haben Lull ebenso geschätzt wie Bartolomé de las Casas, der leidenschaftliche Anwalt der amerikanischen Ureinwohner angesichts der Schrecken der „christlichen“ Eroberung, wie Nikolaus von Kues und wie Arthur Schopenhauer, der Lulls Lebenswende unter die „echten Bekehrungen“ einreiht. Es ist damit zu rechnen, dass Lull im Zeitalter des interreligiösen Dialogs neu entdeckt und wertgeschätzt werden wird. Sein franziskanisches Ideal einer demütigen, überzeugenden, machtlosen und lernfähigen Kirche ist bis heute aktuell.8

Gurdjieff und seine Schüler waren nachweislich von der Lehre der Wüstenväter und vom Sufismus beeinflusst. Gurdjieff wurde vermutlich 1877 als Sohn einer armenischen Mutter und eines griechischen Vaters im Grenzgebiet zwischen Armenien und Georgien geboren. Zu dieser Zeit lebten in seinem Umfeld AnhängerInnen vieler großer Religionen zusammen. In diesem Landstrich wird Evagrius bis heute besonders verehrt. Die Lehre der Wüstenväter wird in der orthodoxen Spiritualität, insbesondere in der Mönchsrepublik vom Berg Athos, hochgehalten. Das mantrische „Herzensgebet“ etwa, das auf die Wüstenväter zurückgeht, hat sich dort über die Jahrhunderte erhalten. Gurdjieff ist von dieser Tradition zweifelsohne nachhaltig beeinflusst worden.

Gurdjieff wollte Arzt werden und ließ sich gleichzeitig zum russisch-orthodoxen Priester ausbilden. Die offizielle kirchliche Lehre konnte jedoch seinen Wissensdrang und seine existenzielle Sinnsuche nicht befriedigen. Es ging ihm darum, wie wir Menschen wach werden können für unseren wirklichen Lebenssinn. Lang reiste Gurdjieff nach eigenen Auskünften von einem spirituellen Zentrum des Ostens zum anderen – bis nach Ägypten, Tibet und Indien. In einem Kloster der sufistischen „Sarmoun“-Bruderschaft will er die Überlieferung kennengelernt haben, die dem Enneagramm zugrunde liegt, wenn auch dieses Kloster bis heute unauffindbar bleibt. Zeitlebens bezeichnet Gurdjieff sich selbst als „pythagoräischen Griechen“ und „esoterischen Christen“. Gurdjieff verstand sein Werk als „esoterisches Christentum“. Vielleicht war sein Bewusstsein, „hinter den Schleier“ geschaut zu haben, der Grund, weshalb er die Ursprünge seines Wissens buchstäblich „verschleiert“ hat.

Zusammenfassend zitiere ich Lynn Quirolos Studie:

„In den Schriften des Evagrius Pontikus finden wir eine hoch entwickelte kontemplative Psychologie, wie sie im Westen inzwischen so gut wie ausgelöscht ist. Wir finden ferner eine pythagoräische Interpretation einer wichtigen biblischen Symbolzahl. Fragmente sowohl dieser Psychologie als auch dieser Symbollehre findet man in den Lehren von Gurdjieff und Ouspensky. Da diese Ideen Teil der hellenistischen, Kettfäden‘ im Gewebe der christlichen und islamischen Religionen waren, finden wir erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen frühchristlichem Denken und der späteren sufistischen Spiritualität und Kosmologie … Die Schriften des Evagrius und der Wüstenväter … sind eine Inspiration für Suchende in einem technologisch intelligenten, aber spirituell dunklen Zeitalter. Sie können unser Herz und unseren Verstand für jene größeren Möglichkeiten öffnen, die in jedem und jeder von uns schlummern.“

Das mystisch-kontemplative Wissen der Wüstenväter ist auch in die Spiritualität der Sufis eingeflossen. Schon etwa 100 Jahre nach Mohammeds Tod gab es fromme Muslime, die ein einfaches Leben führen wollten. Sie verzichteten oftmals auf jeglichen Besitz und trugen als Zeichen der Askese grobe Wollgewänder (arabisch „suf“). Manche von ihnen zogen als Wanderprediger umher; andere lebten in geistlichen Bruderschaften und Gemeinschaften. Vieles an ihrer Lebensweise erinnerte an die späteren Franziskaner, die vermutlich ihrerseits unter sufistischem Einfluss standen.9 Wie an der christlichen Mystik des Mittelalters waren auch an der Bewegung des Sufismus auffallend viele Frauen beteiligt.

Durch Gebet und Meditation wollten die Sufis der Liebe Gottes gewiss werden. Die Gottesliebe war zentrales Thema der Bewegung, wie das Gebet der Sufi-Meisterin Rabia al-Adawiyya aus dem 8. Jahrhundert zeigt:

„O Gott, wenn ich dich aus Furcht vor der Hölle anbete, so verbrenne mich in der Hölle, und wenn ich dich in Hoffnung auf das Paradies anbete, so gib es mir nicht, doch wenn ich dich um deiner selbst willen anbete, so enthalte mir deine ewige Schönheit nicht vor!“10

Die Sufis wurden vonseiten des offiziellen Islam heftig bekämpft. Beim einfachen Volk wurden sie aber bald als Heilige verehrt. Vielen von ihnen schrieb man Wunderkräfte zu. Legenden rankten sich um das Leben und Wirken großer Sufi-Meister. Zu den sufistischen Bruderschaften gehören auch die Orden der Derwische und die Bewegung der Fakire (faqir = arm). Vor allem in Nordafrika existieren viele von ihnen bis heute.11

Bei den Sufis gab es, ähnlich wie bei den Wüstenvätern, eine Tradition der Seelenführung, die das Ziel verfolgte, Menschen auf dem Weg zu Gott zu begleiten.

Jene Weisheit, deren Essenz sich auch in heutiger Enneagrammkunde wiederfindet, war offenbar eine mündliche Tradition, die über die Jahrhunderte hin vom Meister an den Schüler weitergegeben wurde. Gurdjieff hatte das Enneagramm nach eigenen Angaben in Afghanistan kennengelernt und beschrieb es als ein Perpetuum mobile. Ein Teil der Tanz- und Bewegungsformen, die er entwickelte, basierte auf der Dynamik des Enneagramms. Gurdjieff verglich das Enneagramm mit dem legendären „Stein der Weisen“ und betonte, es sei in der Geheimliteratur „nirgends zu finden … Ihm wurde von Wissenden eine so große Bedeutung verliehen, dass sie es für notwendig erachteten, seine Kenntnis geheim zu halten“.12 Als psychologische Typenlehre hat das Enneagramm bei Gurdjieff keine Rolle gespielt. Er hat niemals eine Beschreibung von neun Persönlichkeitstypen ausgearbeitet. Die heute bekannteste Form des Enneagramms der Fixierungen geht, wie erwähnt, auf Oscar Ichazo zurück. Er behauptet, dieses System von Sufimeistern in Pamir (Afghanistan) gelernt zu haben, und zwar bevor er auf Gurdjieffs Schriften stieß. In den 50er und 60er Jahren lehrte Ichazo in La Paz (Bolivien) und Arica (Chile). 1971 kam er in die USA.13 Der Psychiater Claudio Naranjo vom Esalen-Institut in Big Sur/​Kalifornien eignete sich Ichazos Modell an und entwickelte es weiter. Eine Reihe von US-amerikanischen Jesuiten, vor allem Pater Robert Ochs, stießen bei Naranjo auf das Modell. Nach langjähriger Erprobung und theologischer Prüfung entschloss sich der Jesuitenorden, das Enneagramm als ein Mittel der geistlichen Begleitung und als ein Modell für die Exerzitienarbeit zu übernehmen.

Seit Mitte der 80er Jahre ist eine Reihe von Büchern über das Enneagramm erschienen, die zum Teil aus der Arbeit amerikanischer religiöser Orden mit dem Enneagramm erwachsen sind und zum Teil mehr von der Psychoanalyse bzw. der humanistischen Psychologie herkommen.

Es hat sich gezeigt, dass das Enneagramm mit der christlichen Tradition geistlicher Begleitung und Menschenführung ebenso zu vereinbaren ist wie mit diversen psychotherapeutischen Ansätzen. Deshalb kann es eine Brücke zwischen Spiritualität und Psychologie schlagen. Es ist so etwas wie jene „neue Sprache“ der interkulturellen und interreligiösen Verständigung, nach der Ramon Lull gesucht hat. Das Enneagramm ist inzwischen auch „wissenschaftlich“ mehr und mehr erhärtet. Klinische Untersuchungen in den USA haben erstaunliche Ergebnisse gezeitigt. Die renommierte kalifornische Stanford University und ihre psychologische Fakultät waren Schauplatz der Ersten Internationalen Enneagrammkonferenz im Jahre 1994. Seither hat die akademische Enneagrammforschung große Fortschritte gemacht.

Die „Vermischung“ von Psychologie, Spiritualität und Theologie mag jene stören, die auf eine „methodisch saubere“ Trennung dieser scheinbar so unterschiedlichen Zugänge zur Wirklichkeit insistieren. Die Traditionen östlicher und westlicher Weisheit und Seelenführung (die wahren Gurus, Starzen und Meister des Ostens, Ignatius), denen dieses Buch verpflichtet ist, haben dagegen immer die Zusammengehörigkeit seelischcharakterlicher und religiös-spiritueller Reifung betont. Inzwischen haben Forscher wie Ken Wilber eine integrale Spiritualität und Psychologie entwickelt, die von einem ganzheitlichen Menschenbild ausgeht und in der psychologische und spirituelle Aspekte sich ergänzen und bereichern. Einem solch ganzheitlichen Ansatz ist auch unsere Arbeit mit dem Enneagramm verpflichtet.

Das Enneagramm

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