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Kapitel 1

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In ungefähr zwanzig Jahren

Ein Mann.

Er verabschiedete sich an einem warmen Samstagmorgen im Frühling von seiner Frau und seiner Tochter. Seine Tochter hatte Generalprobe in der Ballettschule. Die Aufführung war der jährliche Höhepunkt.

Etwas nervös, oder eher ungeduldig, endlich die Anspannung beenden und mit dem Tanzen anfangen zu können, übte seine Tochter erste Schritte auf dem ziegelroten Fliesenboden mit den grauen Fugen. „Ich freue mich schon auf morgen Abend“, sagte er zu beiden. Er gab erst seiner Frau, dann seiner Tochter einen Kuss. Dazu musste er sich zu ihr hinunterbeugen und sie mit weit ausholenden Armen einfangen.

Dann öffnete er ihnen die Tür, blickte ihnen hinterher, wie sie die kurze, breite Treppe hinuntergingen. Links und rechts standen große Tontöpfe mit blühenden, duftenden Blumen. Die Sonne strahlte wärmend vom Himmel. Schmetterlinge flatterten vorbei. Sie stiegen in eine dunkelblau schimmernde Limousine.

Er winkte dem Beifahrer zu, der die Türen hinter seiner Frau und Tochter geschlossen hatte. „Buenos Dias, José!“

«Buenos Dias, Senor!", antwortete der in einen dunklen Anzug gekleidete Personenschützer.

Für José war es Routine. Ein kleiner Ausflug zur Ballettschule, 20 km Fahrt. Die kleine Tochter seines Chefs übte für ihren großen Auftritt am Sonntag. Es war angenehm warm. Die Luft roch nach Frühling.

Der erste Halt fand bereits nach ziemlich genau 1500 Metern statt. Auf der Piazza des kleinen Dorfes, beherrscht durch eine weiße Kirche, stoppte das Auto. Einige Bewohner des Dorfes blieben stehen und versuchten zu erkennen, wer im Wagen saß. Als sie die Frau sahen, lächelten und winkten sie. Die Frau winkte und lächelte zurück.

Währenddessen war der Beifahrer längst ausgestiegen, nahm die balletttanzende Tochter einer Familie aus dem Dorf entgegen. Er öffnete ihr die hintere Wagentür, ließ sie einsteigen und schloss die Tür wieder sanft. Ein paar Autos fuhren vorbei. Nichts Außergewöhnliches.

Im Auto begrüßten sich die beiden Ballerinas so als hätten sie sich seit Monaten nicht gesehen. Dabei war es noch nicht einmal 24 Stunden her, dass sie sich nach der Schule trennten. Aber die Anspannung zeigte ihre Wirkung. Sie erzählten sich alles, was sie seit gestern Mittag getan und erlebt hatten. Alles, bis ins kleinste Detail. Nur über das Ballett schwiegen sie. Bloß nichts davon erwähnen, als könnte man damit einen schlafenden Drachen wecken. Dabei war das Ballett allgegenwärtig. Sie trugen ihre Trikots fürs Balletttraining, hatten ihre Ballettschuhen vor sich auf den Boden gelegt und berührten sie immer wieder streichelnd mit der Hand, wie einen Hund. Als würden sie dann besser tanzen.

Die dunkelblau schimmernde Limousine glitt sanft die Serpentinen hinunter, welche in die steilen vulkanischen Berghänge der Küste gemeißelt worden waren. Rechts und links der Strasse wucherte das frische Grün des Frühlings, blühten Sträucher und Bäume. In der herrlichen Luft lag mehr als der Duft der Frühlingsblüten. Es war die Energie, die Menschen unwahrscheinlich lebendig werden, Pläne schmieden, Neues anpacken ließ.

Nachdem er die Haustür hinter seinen beiden Liebsten geschlossen hatte, ging er durch den Flur in das Esszimmer zurück. Dort trank er noch seine Tasse Kaffee aus, die von seinem Frühstück übrig geblieben war. Er ließ sich immer Zeit beim Frühstück. Es sollte üppig sein und vor allem lange dauern. Mit wenig Geplauder, dafür umso mehr Pläne schmieden, Termine für den Tag festlegen, Aktivitäten ausdiskutieren.

Als er das Speisezimmer verließ, erschien ihre Köchin, wünschte ihm noch einen schönen Vormittag und begann den Tisch abzuräumen. Er trat durch eine Glastür hinaus in einen üppig bepflanzten Innenhof, durchquerte ihn ohne Hast, blieb zwei mal stehen, um den Duft von Blumen und Kräutern tief einzuatmen. Auf der anderen Seite betrat er durch eine weitere Glastüre einen schmalen Flur, der in einer Treppe endete. Die Treppe war mit einem weichen, grünen Teppich bedeckt und führte ihn zu den Arbeitsräumen einen Stock tiefer.

Sein Büro war wie alle anderen von außen durch eine einzige riesige Glasfront einsehbar. Auf seinem Schreibtisch lag bereits alles an Post und Nachrichten, was sich seit gestern Abend angesammelt hatte. Die Post war für ihn erst einmal unwichtig. Er ging in einen der Räume, die rechts und links des gläsernen Flurs lagen. Es war ein Labor, in dem sein Sekretär mit der Untersuchung von Gewebe- und Flüssigkeitsproben beschäftigt war.

„Guten Morgen, Franco!“, begrüßte er seinen Sekretär, der mehr war als nur ein Angestellter. Der 35jährige Mann in Jeans und T-Shirt, immer mit einem euphorischen Lächeln, war etwas Butler. Etwas Arzt. Etwas Gärtner. Etwas Architekt. Etwas Psychologe. Etwas Biologe. Etwas Freund. Etwas von allem. Hochbezahlt, aber nicht käuflich. Jemand, wie es ihn kaum noch gab. Jemand, von dessen Sorte es noch nie viel gab. Jemand, den man nicht suchen konnte. Eher wird man selbst von ihm gefunden. Oder: entdeckt?

„Was macht unser Neuzugang?“, fragte er seinen „Sekretär“, Franco.

„Er ist für sein Alter entsprechend gesund. Und gesünder als er es nach all diesen Jahren sein müsste. Sein Verhalten macht mir mehr Sorgen. Das kriegen wir nicht mehr hin.“ Es klang nach einem Bericht, nüchtern und doch alles andere als gleichgültig.

„Ich bin froh dass wir ihn gefunden haben. Wir brauchen ihn. Wir bräuchten mehr von ihm. Selbst wenn sie verhaltensgestört sind. Hauptsache lebend!“ Er erntete ein einfaches, zustimmendes Nicken von Franco. Sie hatten schon oft darüber gesprochen. Nicht nur sie.

Er sah durch die verglaste Rückwand des Labors. Dort saß er. Irgendwie teilnahmslos. Irgendwie verängstigt. Irgendwie leer. Er sah alles andere aus wie ein Held. Nicht einmal mehr richtig lebendig. Die Jahre der Einsamkeit und der Enge waren nicht spurlos vorbei gegangen. Niemand konnte mehr sagen, wie lange er einsam war. Die Lebensfreude war in all diesen Jahren des Wartens verschwunden. Eingetrocknet wie ein Baum in der Wüste, in der es nie mehr regnete. Nein, da saß kein Held.

„Pass gut auf ihn auf!“, sagte er zu Franco. „Er ist Teil der Rettung einer ganzen Art!“

Mittlerweile ging es in der Ballettschule drunter und drüber. Die Lehrerin, sie war selbst eine Prima Ballerina gewesen, stand kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Ein paar Mütter waren hin und her gerissen zwischen Entsetzen und Belustigung. Auch die Senora selbst musste mehrmals lachen. Das Ballett, das sie sah, erinnerte sie an ihre Kindheit, als ihre Hamster Nachwuchs hatten. Eines Tages durften die kleinen Hamster dann das erste Mal ihre kleine Höhle aus Heu und Karton verlassen und stolperten ziellos, sich gegenseitig anrempelnd, planlos und tapsig auf den noch ungewohnten Beinen umher.

Eine Stunde vor dem Mittagessen war die Generalprobe vorbei. Mit bewundernswerter Geduld, ohne einen Schrei der Verzweiflung oder des Entsetzens schaffte es die Ballettlehrerin schließlich,daß sich ihre Schüler beruhigten und konzentriert übten. Jetzt stolperten nicht mehr die tapsigen Hamster über den Parkettboden sondern anmutige Schwanenkinder, voll graziöser Körperbeherrschung.

Am Eingang des Übungssaales wartete der Beifahrer auf sie. Er stand über Funk in ständigem Kontakt zum Fahrer. Nichts Außergewöhnliches. Alles wie sonst auch. An jedem Samstag im und vor dem Haus der Ballettschule. Über Funk orderte der Beifahrer die Limousine, während er die beiden Ballerinas und die heitere Senora die Treppe hinunter vor die Haustüre in der engen Gasse begleitete. Dort ließ er sie wieder im Fond einsteigen und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Alles wie immer.

Die Limousine fuhr das kurze Stück der Küstenstrasse wieder zurück, bis sie auf die Strasse hoch zu ihrem Dorf abbogen. Die Limousine arbeitete sich mühelos die Serpentinen hinauf. Auf der Piazza hielten sie wieder. Das kleine Mädchen, mit dem die Tochter befreundet war, verabschiedete sich und stieg aus. Dann lief sie zum Haus ihrer Eltern. Wieder winkten die Menschen, die allmählich damit begannen, sich in ihre Häuser zur Siesta zurückzuziehen.

Er saß mit Franco in seinem Arbeitszimmer. Die Post hatte er inzwischen gesichtet. Es waren keine richtig guten Nachrichten dabei. Seit Jahren gab es kaum noch gute Nachrichten. Und selbst wenn es gute Nachrichten waren, musste man sie im großen Ganzen sehen, und dann sah es düster aus. Es waren nicht einmal die Tropfen auf dem heißen Stein. Diese vermeintlich guten Nachrichten.

„Glaubst Du, dass wir noch welche finden?“, fragte er Franco.

„Ich weiß es nicht. Es gibt sicher noch welche, aber die will niemand hergeben. Wer einen davon hat, ist so gut situiert, dass er keinen herzugeben braucht.“

„Wir müssen weitersuchen. Wenn es noch welche gibt, müssen wir sie finden. Je länger wir warten, desto weniger werden es.“ Seine Worte klangen kämpferisch, selbstsicher.

Franco nickte wieder. Was sollte er noch sagen?

„Kommst Du zum Mittagessen hoch?“, wollte er von Franco wissen.

„Gern!“, war die Antwort. Franco gehörte längst schon zur Familie. „Ich muss mir noch ein paar Proben anschauen.“

Als die Limousine das Dorf verließ, verdeckte eine kleine einsame Wolke die inzwischen mehr als wärmende Mittagssonne. Die Strasse, welche sie befuhren, führte in erster Linie zu ihrem Anwesen und zu den Gärten der Dorfbewohner. In zweiter Linie war es eine Sackgasse, die an einem Parkplatz mit Aussichtspunkt endete, von dem sich ein paar Wanderwege durch die Pinienwälder verzweigten. Hin und wieder konnte man hier Touristen antreffen, die in Autos dem Parkplatz entgegen brausten oder sich auf Fahrrädern die Serpentinen hoch quälten.

Einen solchen überholten sie kurz vor der Einfahrt zu ihrem Anwesen. Das Tor öffnete sich bereits durch Funk ausgelöst, als die Insassen durch einen Schlag auf die rechte Seite des Fahrzeugs erschraken. Er war nicht besonders laut, aber mit der plötzlichen Erkenntnis verbunden, dass etwas oder jemand gestreift, angefahren worden war. Im Rückspiegel erkannten Fahrer und Beifahrer, dass der Radfahrer auf der Strasse lag. Er bewegte sich, stand aber nicht auf. Viel konnte nicht passiert sein.

„Lass mich schnell raus, fahr weiter zum Haus, ruf einen Notarzt!“, wies der Beifahrer den Fahrer mit fester und schneller Stimme an.

"Ja," sagte der Fahrer hochkonzentriert, hielt kurz, um seinen Beifahrer aussteigen zu lassen und gab gleich wieder Gas.

Während die Limousine durch das Tor die kurze Auffahrt vor das Haus fuhr, rannte der Beifahrer zu dem Verletzten auf der Strasse. Dieser wimmerte und versuchte sich zu bewegen.

Als der Beifahrer bei ihm war, kniete er sich neben ihn, legte seine Hand auf seine Schulter und sprach ihn an: „Wo sind Sie verletzt? Wo spüren Sie Schmerzen?“

Er erhielt als Antwort lediglich ein Stöhnen, ein Röcheln. Daraufhin beugte er sich noch weiter zu dem Verletzten. „Hilfe ist unterwegs. Ein Notarzt kommt. Können Sie mich hören? Ein Notarzt ist gleich hier!“

Er betrachtete den Verletzten näher. Kein Blut! Das war gut. Dann konnte es sich wahrscheinlich nur um eine Gehirnerschütterung handeln. Vielleicht auch nur ein Schock. Der Verletzte war noch keine dreißig Jahre alt. Schlank. Vielleicht war es aber auch schlimmer.

„Können Sie sich bewegen?“, fragte er ihn. Ein lauteres Stöhnen folgte. Unbeholfen versuchte der gestürzte Radfahrer seine Beine zu strecken. Die Arme bewegten sich besser. Während eine Hand an die Hüfte griff, mit der er auf dem Boden lag, zeigte die andere Hand begleitet von Mitleid erregendem Gewinsel Richtung Haus. Der Beifahrer blickte dorthin, konnte aber nichts erkennen. Die andere Hand löste sich wieder von der Hüfte, transportierte einen Gegenstand in Richtung des Beifahrers. Schwarz, glatt, schwer, mit einem langen Rohr.

Kurz darauf stürzte José, der Beifahrer, selbst auf die Strasse. Nichts war zu hören. Nur der Fall eines soeben noch lebendigen Körpers, der aus der Hocke umfiel. Außer seinem Blut, das auf den Asphalt strömte, bewegte sich nichts mehr an ihm. Der Radfahrer sprang auf, steckte die Pistole in ein Halfter an seiner Hüfte und begann den Beifahrer ins Gebüsch zu ziehen. Hinter einer alten Steinmauer versteckte er den leblosen Körper, durchsuchte seine Taschen und nahm ihm Pistole, Schlüssel und Geldbeutel ab.

Der Radfahrer rannte aus dem Gebüsch heraus, hob sein Fahrrad auf und trat in die Pedale. Das Tor war noch offen. Kurz vor dem Haus sprang er vom Fahrrad, zog sich eine schwarze Sturmmaske über das blutverschmierte Gesicht und rannte zur Haustür. Unterhalb der Treppe stand die Limousine. Hinter dem Wagen musste er über den leblos daliegenden Fahrer steigen, dessen Taschen er schnell durchsuchte und deren Inhalt er an sich nahm. Schlüssel, Pistole, Geldbeutel.

Als er seine Beute hastig eingesteckt hatte, stürmte der Radfahrer mit seiner Pistole in der Hand die Treppe hinauf und schloss die Tür hinter sich. Sein Komplize hatte den linken Arm um den Hals der kleinen Balletttänzerin gelegt. Sie stand unbeweglich auf den ziegelroten Fliesen mit den grauen Fugen. Mit der Pistole in der anderen Hand bedrohte er sie am Kopf.

„Wenn Du schreist oder davonläufst, töten wir Deine Tochter!“, herrschte der Komplize ihre Mutter an. „Wo wird das Tor geschlossen?“

Sie deutete auf einen Schalter gleich an der Tür. Der Radfahrer betätigte den Schalter, woraufhin sich das Tor geräuschlos schloss.

„Du führst uns jetzt zu Deinem Mann!“, wies er sie an.

Sie tat wie ihr geheißen. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass die Mörder taten, was sie sagten. Sie hatte gesehen, wie der Mann plötzlich hinter dem Wagen auftauchte, woher er auch immer kam. Sie hatte gesehen, wie der Fahrer ihn anzurufen versuchte und dann zusammenbrach. Die Schüsse waren lautlos. Aber Blut spritzte. Und sie konnte die Pistole mit dem langen Lauf erkennen, auf dem der Schalldämpfer angebracht war.

Nein, das war nicht der Zeitpunkt für Verhandlungen. Keine Zeit für Tricks. Nur Zeit für Angst. Panische Angst. Die Angst einer Mutter für ihr Kind. Um ihr Kind.

„Kommen Sie mit!“, sagte sie. Sie versuchte ruhig und beherrscht zu bleiben. Auch für ihre Tochter. „Es wird Dir nichts geschehen. Mami ist bei Dir!“, versuchte sie die Kleine zu beruhigen.

Sie ging voran. Der Komplize mit ihrer Tochter folgte. Er trug einen schwarzen Nylonrucksack auf dem Rücken. Danach der Radfahrer. Sie ging voran durch einen Flur, der in den Innenhof mündete, durchquerte ihn bis zu der Glastür. Sie hatte keine Augen für die Blumen. Sie roch keinen der Düfte. Kein Gehör für das Plätschern eines kleinen verspielten Brunnens. Keinen Sinn für die terrakottafarbenen Bögen und orangefarbenen Mauern des Innenhofes. Sie ging weiter voran durch den Flur, der an der Treppe endete, und ging sie hinunter.

Dabei überlegte sie fieberhaft, wer alles im Haus war. Die Köchin, aber die war kurz vor dem Essen mit Kochen beschäftigt. Wer sonst? Vielleicht hatte sie aber etwas mitbekommen und die Polizei gerufen! Und wenn? Wie lange bräuchte die Polizei? Die Polizei war genauso weit weg wie die Feuerwehr, die vor einem Jahr wegen eines Fehlalarms angerückt war. Neun Minuten Fahrzeit. Und dann?

Franco war noch da. Sonst niemand. Einer der Gärtner würde am späten Nachmittag noch eine Kontrolle machen. Sonst hatten alle frei. Wochenende.

Franco war da. Sie sah ihn zuerst. Er stand im Labor. Seite an Seite mit ihrem Mann. Beide mit dem Rücken zu ihnen. Sie betrachteten ihren Neuzugang. Erschrocken drehten sie sich um, als die Tür aufgestoßen wurde und die beiden Männer mit den schwarzen Sturmhauben, die nur Öffnungen für Augen und Mund hatten, Mutter und Tochter in das Labor schoben.

Er war im Begriff zu seiner Tochter und zu seiner Frau hinüberzueilen, ein paar Schritte nur. Aber er blieb nach einem Schritt stehen, als er erkannte, dass er genau dies nicht tun durfte.

„Bleib stehen!“, wurde er schon angeherrscht. „Hände hoch“

Beide Männer nahmen die Hände hoch. Ruhig bleiben. Keine Angst zeigen. Aber auch keine falschen Bewegungen.

„Wenn Ihr tut, was wir wollen, wird Euch nichts passieren.“ Die Stimme war fest entschlossen. Keine Unsicherheit, keine Anzeichen für Diskussionen. Und mit einem Deut der Pistole auf die Tochter ergänzte der Radfahrer: „Vor allem ihr nicht!“

Er fragte das, was jeder in dieser Situation fragen würde: „Was wollen Sie?“

„Wo sind die Blauen?“ Der Radfahrer hatte das Reden ganz übernommen. Es sah auch langsam so aus als wäre er der Anführer. Die Blutspritzer auf seinem dunkelblauen Sportanzug unterstrichen seinen Willen zur Gewalt. Er hatte das Sagen. Er würde sich nehmen, was er wollte. Ohne Rücksicht. Ohne Skrupel.

„Wenn Sie Geld wollen - ich gebe Ihnen alles, was ich habe. Aber die Blauen - die bringen Ihnen doch nichts.“ Er verstand nicht, warum sie die Blauen wollten. Sie waren praktisch nicht verkäuflich. Das war so als würde man Leonardo da Vinci´s „Mona Lisa“ stehlen und verkaufen wollen.

Die Scheibe hinter ihm zersprang. Der Radfahrer hatte die Waffe knapp neben seinen Kopf gerichtet und abgedrückt. Der Schuss selbst war lautlos. Das Zerbersten der Scheibe durchfuhr sie alle mit dem Schreck und der Erkenntnis, dass sie hilflos diesen beiden Männern ausgeliefert waren.

„Das nächste Mal ist einer von Euch dran!“, sagte der Radfahrer kurz. Keine Diskussion. Kein Zweifel an seinen Forderungen.

„Los geht´s!“ Zwei Worte. Ein Befehl. Unmissverständlich. Kompromisslos.

„Kommen Sie mit!“ Er ging voran.

Sie folgten ihm. Unmittelbar hinter ihm Franco. Dann der Radfahrer, der die Frau am linken Arm festhielt. Schließlich ihre Tochter, um die der Komplize immer noch den Arm im Klammergriff gelegt hatte. Sie trug immer noch ihr rosafarbenes Ballettkleid mit den Rüschen. Sonst hatte sie nichts mehr ähnlich mit dem kleinen fröhlichen Mädchen, das eine halbe Stunde zuvor noch ausgelassen getanzt hatte.

Sie folgten ihm hinaus auf den Flur, vorbei an dem Nachbarraum, dessen Scheibe zerschossen worden war. Am Ende des Flurs mussten sie durch eine Schleuse, bestehend aus zwei Türen. Dann durch einen langen fensterlosen Flur, auf dessen rechter Seite Werkbänke, und auf dessen linker Seite Regale mit Säcken, Kartonen und allerlei Arbeitsgeräten standen. Alles sehr sauber und ordentlich eingeräumt. Am Ende des Flures wieder eine Schleuse. Sie traten ein in ein kleines Treibhaus. Die Tische voll mit kleinen Pflänzchen. Danach befanden sie sich in einem großen gekachelten Raum, mit Spinden und Fußduschen. Auf jeder Seite befand sich eine Tür.

Er wollte nicht, aber er musste durch diese Tür. Die Tür geradeaus. Nicht, dass er lieber durch die linke oder rechte Tür hätte gehen wollen. Er konnte nicht anders. Warum war es nur soweit gekommen?

Sie folgten ihm in einen langen breiten Flur, der links entlang einer Glaswand und rechts entlang einer fast endlosen Reihe von Schränken verlief. Hinter der Glaswand war die Sammlung. Die Blauen waren am hinteren Ende. Hinter den anderen, deren Farben aus Rot, Gelb, Grün, Blau und Weiß in ihren besonderen Variationen und Kombinationen bestanden.

„Ist in den Schränken etwas von den Blauen?“ Die Frage des Radfahrers war eindeutig.

„Ja, aber die bringen Ihnen nichts.“ Es war sein letzter Versuch. Sein letzter Kampf. Sein hilfloser Kampf. Konnte er mit Vernunft, mit Taktik, mit Psychologie etwas erreichen?

Der Radfahrer kannte keine Gnade. Er richtete seine Waffe auf Franco und drückte ab. Drei Mal. Franco fiel zu Boden. Ohne einen Schrei, ein Stöhnen, einen Laut. Er war tot, bevor sein Kopf dumpf auf die Fliesen prallte.

Das kleine Mädchen begann zu weinen. Fassungslos blickte er den auf dem Boden liegenden Franco an. Seine Frau wollte sich losreißen, zu Franco laufen. Aber der Radfahrer zog sie grob mit einem Ruck am Arm zurück. „Wo sind sie?“

„Dort! Hier in diesem Schrank!“ Er zeigte ihnen zwei Schränke. Er war wie benommen. Er war bereit, ihnen alles zu zeigen. Alles, was sie wollten. Alles, wenn nur dieser Albtraum aufhören würde. Wie absurd, Franco zu töten.

Am oberen Rand eines der beiden Schränke leuchteten grüne Zahlen. Sie blinkten auf, als der Radfahrer die Tür öffnete, eine Schale aus Schaumstoff entnahm und sich den Inhalt betrachtete.

„Ja, das sind sie“, rief er seinem Komplizen zu. Anstatt sich aber des Inhalts zu bemächtigen hob er seine Waffe. Er richtete ohne zu Zögern das schwarze, kalte, glänzende Rohr auf die Frau, die von seiner anderen Hand gefangen war und drückte ab. Drei Mal.

Das Mädchen konnte nicht mehr schreien. Der Finger am Abzug zog kurz an. Die Waffe in der Hand machte einen kleinen Ruck nach hinten. Das Weinen verstummte. Bevor das Mädchen im Ballettkostüm zu Boden ging, wie eine Puppe, die man am Arm trug und plötzlich los gelassen wurde, verspürte er den Schmerz.

Welcher Schmerz schlimmer war, für das Nachdenken war keine Zeit mehr. Der Schmerz über den erschossenen Franco, über seine Frau, die in einer größer werdenden Blutlache lag, die Gliedmassen unnatürlich von sich gestreckt, geradezu verbogen. Der Schmerz über seine Tochter, die leblos wie eine Puppe in ihrer eigenen blutroten Lache lag. Welcher Schmerz war der Schlimmere? Welcher betäubte ihn so sehr, dass er den anderen Schmerz nicht mehr spürte? Das letzte was er sah, waren drei tote Menschen, die er alle auf eine besondere Art und Weise liebte und schätzte und brauchte.

Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.

Der Radfahrer schoss sein Magazin noch leer. Am anderen Ende des Flurs stand ein großer Schaltkasten. Funken sprühten nach den Einschlägen der Projektile. Die grünen Zahlen über den Schränken erloschen. Ebenso die Lichter in den Schränken und das Licht der Decke. Hinter der Glaswand blieb alles unverändert. Hier gab es nur Tageslicht.

Der Komplize steckte seine Waffe weg, nachdem er das Magazin gewechselt hatte. Dann holte er seinen Rucksack vom Rücken und entnahm ihm zwei kleine Kartone und Klebeband, sowie vier Stoffbeutel. Er übergab die Kartone dem Radfahrer, nachdem dieser ebenfalls sein Magazin gewechselt und die Waffe wieder in das Holster unter seiner Jacke gesteckt hatte. Dieser ließ seinen Komplizen warten, zog schnell ein Paar dünner schwarzer Lederhandschuhe an und nahm ihm dann die Kartone ab.

Dann füllte er den ersten Karton mit den Kostbarkeiten aus dem Schrank, den er bereits inspiziert hatte. Der zweite Karton wurde mit dem Inhalt des linken Nachbarschranks gefüllt. Sorgfältig, Stück für Stück. Der Komplize half ihm die Kartone im Rucksack zu verstauen, den sie neben der Tür abstellten. Das Klebeband nahmen sie mit in den Raum hinter der Glaswand, den sie durch eine Schiebetür betraten. Wie ungezogene Kinder in einem Museum schritten sie die langen schmalen Räume hinter Gittern ab. Beachteten die Kostbarkeiten aus Rot, Gelb und Grün nicht.

Blau! Blau suchten sie. Nur Blau. Sie fanden die Blauen in den letzten beiden Räumen. Die Gittertüren waren nicht verschlossen, einfach zu öffnen. Sie stiegen in den ersten Raum mit den Blauen. Es war nicht schwer sie in den zwei Meter hohen Käfigen zu ergreifen. Sie wehrten sich, hatten aber keine Chance. Fachmännisch verbanden sie ihre Beute und steckten sie einzeln in die Stoffsäcke. Im Nachbarraum das Gleiche.

Schnellen Schrittes verließen sie den Ort ihrer Tat. Auf dem gleichen Weg, wie sie gekommen waren. Der Komplize trug den Rucksack und in jeder Hand eines der Bündel. Der Radfahrer trug seine zwei Bündel in der linken Hand. In der rechten Hand steckte wieder seine Waffe, die er schon einmal aus der Höhe seiner Hüfte gezogen hatte. Er war bereit, die Pistole wieder zu benutzen. So oft es nötig war.

Als sie im Labor vorbeikamen, entdeckten sie den Blauen, den Neuzugang.

„Wir haben keine Zeit mehr!“, sagte der Komplize schnell. Aber der Radfahrer zeigte sich an dieser Information desinteressiert. Er legte seine beiden Stoffbündel auf einen Tisch und schlug mit einem Stuhl die Scheibe ein, hinter der sich der letzte Blaue aufhielt. Es dauerte nicht lang, bis auch dieser sorgfältig verbunden war. Der Radfahrer klemmte ihn sich unter den Arm, nahm die beiden anderen Stoffbündel wieder auf und setzte seinen Weg fort. Jederzeit bereit sich den Weg frei zu schießen.

Als sie die Haustüre öffneten war alles noch unverändert. Der Fahrer lag immer noch auf der Treppe, hinter dem Auto, so dass man von der Strasse nur einen Wagen sah, der vor der Haustür geparkt war. Der Radfahrer legte den Schalter für das Tor um, das sich gleich darauf öffnete. Dann suchte er den elektronischen Schlüssel für die Limousine, welchen er dem Fahrer zuvor abgenommen hatte. Per Knopfdruck öffnete sich der Kofferraum. Sorgfältig legten sie ihre Beute hinein. Dann stiegen sie so schnell es ging in das Auto. Der Radfahrer brachte das Gefährt so schnell in Gang, dass der Komplize die Beifahrertür erst während der Fahrt schließen konnte.

Nach dem Tor bogen sie nach links ein, in die Strasse, die zum Dorf führte. Sie brausten vorbei an der Piazza, auf der wenige Menschen zu erkennen versuchten, wer im Wagen saß. Die beiden Fahrer kannten sie nicht. Hinten konnten sie niemanden erkennen.

Unterhalb der Serpentinen bogen sie mit dem gestohlenen Wagen in einen Feldweg ein, hielten an einem verfallenen Haus. Davor stand ein unscheinbarer weißer Lieferwagen. Nur das Nummernschild und ein Aufkleber deuteten auf einen Mietwagen hin. Per Knopfdruck entriegelte der Komplize die Türen, öffnete die hintere Ladetür mit seinen schwarz behandschuhten Händen. Die Stoffbündel legten sie sauber in mit Stoff ausgelegten Körben ab. Der Radfahrer entnahm dem Rucksack die Kartone, und legte seine kostbare Beute Stück für Stück und mit größter Sorgfalt in einen Schrank, der den Schränken in dem Anwesen hoch oben sehr ähnlich sah. Die roten Ziffern am oberen Rand des Schrankes begannen genauso zu blinken, als er geöffnet wurde. Es waren die gleichen Ziffern, die kurz zuvor in dem Anwesen erloschen waren.

Am Ende

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