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Kapitel 6

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Einen Tag später

Rizzardi saß allein in seinem Büro in Wien und sprach über eine sichere Bildtelefonleitung mit seinem Vorgesetzten im ESS-Hauptquartier in Stockholm.

„Es war so leicht zu durchschauen und doch genial geplant. Mitten in der Nacht kommt ein Telefax. Alle Beteiligten stürzen sich schlaftrunken auf die Warnung und tun genau das, was sie für solche Fälle eingeübt haben ohne nachzudenken.“ Rizzardi war sauer.

„Beruhigen Sie sich!“, sagte der Vize-Sekretär in Stockholm. „Sie haben hervorragende Arbeit geleistet. Ich weiß, dass Sie mit Ihren Ermittlungen noch nicht weit gekommen sind. Der Ständige Ausschuss für Sicherheit der Europäischen Regierung hat Verständnis dafür. Was sie aber sofort von uns wollen, sind Empfehlungen, wie Europa sich und den Rest der Welt vor neuen Anschlägen schützen kann!“

„Ich stelle Ihnen eine Liste zusammen. Geben Sie mir einen Tag.“ Rizzardi wusste, dass die Regierung die Empfehlungen so schnell wie möglich verlangte. Natürlich durfte in der Aufzählung nichts fehlen. Vor allem nichts, was schief gehen könnte. Er verabschiedete sich von Stockholm und machte sich zu einer weiteren Besprechung mit seinen Teamleitern auf.

Er begann wie immer mit einem, seinem Wort: „Okay! Die Regierung will von uns eine Empfehlungsliste, wie man sich vor neuen Anschlägen schützen kann. Bevor wir ein Brainstorming machen, will ich aber erst einmal Eure bisherigen Ergebnisse hören.“

Die Dänin, welche seit Gründung der Ermittlungsgruppe in einem Kellergeschoss mit Hilfe eines Dutzend Rechner die Datennetze und Datenbanken der Welt durchforstete, meldete sich zuerst zu Wort: „Hasselbach, der Museumswächter aus Amsterdam, hat vor sechs Jahren auf der Insel Teneriffa als Tierpfleger gearbeitet, bevor er eine Stelle im Amsterdamer Zoo annahm. Isabelle Daou, die Altenpflegerin aus Paris, betreute über sieben Jahre hinweg eine Privatpatientin, mit der sie zwei Mal im Jahr nach Teneriffa reiste. Und der Bildhauer hielt sich vor drei Jahren für zwei Monate auf La Gomera, einer Nachbarinsel von Teneriffa auf!“

„Gibt es noch andere Orte, an denen sie sich aufhielten? Vielleicht nicht immer alle!“ Rizzardi bewunderte die ruhige, unscheinbare Dänin, die nie viel sprach und sich eher abweisend verhielt. Sie spürte in den entlegendsten Bereichen von Netzwerken Daten auf, die dort niemand vermutete.

„Jensen-Mendez hielt sich bis vor vier Jahren jährlich mindestens drei Mal in Paris auf. Für Teneriffa spricht aber auch, dass sich dieser Ägypter dort vor ziemlich genau einem Jahr aufhielt. Weitere Informationen über das Europäische Festland habe ich nicht. Die Passagierlisten der Fluggesellschaften sind einfach zu überprüfen. Wenn aber Hasselbach von Amsterdam nach Paris mit dem Auto gefahren ist und überall bar bezahlt hatte, nicht wegen eines Verkehrsverstoßes oder anderweitig aufgefallen ist, dann gibt es keinen Nachweis für ein Treffen in Paris.“

Rizzardi war froh über eine erste Spur. Begeistert war er erst, wenn die Spur weiterführte. Er wollte gerade ein paar Worte der Anerkennung aussprechen, als die Dänin ihn lächelnd stoppte: „Das ist noch nicht alles. Es kommt noch besser: Ich konnte den ehemaligen Arbeitgeber von Hasselbach ermitteln. Die Mutter dieses Mannes ist eine ehemalige, inzwischen verstorbene Privatpatientin von Isabelle Daou. Ibrahim Ezz, unser Verdächtiger aus Ägypten bezahlte ausschließlich mit Kreditkarte auf Teneriffa. Unter anderem auch drei Mal in einem Ort, welcher in der Nähe des Wohnsitzes dieses Arbeitgebers lag. Nur dem Bildhauer konnte ich keinen Aufenthalt auf Teneriffa nachweisen, außer bei Ankunft und Abflug auf dem Flughafen der Stadt Santa Cruz.“

Dr. Martin schaltete sich ein: „Wir haben inzwischen herausgefunden, dass er stets ein dickes Bündel Geldscheine mit sich führte und damit demonstrativ bar zahlte, weil er damit Frauen beeindrucken wollte.“

„Alle sind Mischlinge!“

Fragend sahen Rizzardi und alle anderen ESS-Agenten einen Norweger an, der seit vergangener Woche in der 23-14 mitarbeitete. Dieser begann zu erklären: „Alle vier uns bekannten Täter sind die Kinder von Elternteilen, welche unterschiedlicher ethnischer Herkunft sind! Hasselbach ist der Sohn eines Deutschen und einer Indonesierin. Daou ist die Tochter eines Franzosen und einer Frau aus Nigeria. Der Bildhauer hat einen chilenischen Vater und eine deutsche Mutter. Die interessanteste Herkunft aber hat der Ägypter: Er hat einen ägyptischen Moslem als Vater und eine jüdische Mutter!“

Rizzardi machte eine Denkpause. „Okay. Brown soll von Kairo aus nach Teneriffa fliegen und dort Nachforschungen anstellen. Der deutsche ESS-Agent soll den Fall Archäologisches Museum als Teamleiter übernehmen.“

„Olaf!“ Damit wandte er sich an den Norweger. „Sie stellen ein Team zusammen und überwachen diesen mysteriösen Arbeitgeber. Ich will alles wissen: Telefonate, elektronischer Datenaustausch, wohin er geht, mit wem er sich trifft. Das ganze Programm!“

Der Italiener war wieder in seinem Element. Die geschmolzenen Kunstwerke in Kairo hatten ihn frustriert. Jetzt sah er ein Licht am Ende des Tunnels. Eine heiße Spur. Er würde diesen Fall aufklären. So wie er es immer getan hatte. Immer hatte er es geschafft.

„Okay. Machen wir das Brainstorming. Was fällt uns zu den vier Anschlägen ein?“

Die versammelten Agenten überlegten leise, um ihre Kollegen nicht zu stören. Einige machten sich Notizen oder Skizzen auf Papier. Grundsätzlich war jede noch so absurde Idee oder abwegige Theorie erwünscht. Jeder notierte sich das, was ihm einfiel.

Dr. Martin stand auf, ergriff einen Filzstift und erklärte sich mit einem Schritt zu einer großen abwischbaren Tafel stillschweigend dazu bereit, die Gedankenblitze seiner Kollegen in Stichworten aufzuschreiben.

„Die Attentatsorte bewegen sich auf der Weltkarte von Nord nach Süd!“

„Es handelt sich nur um öffentliche Einrichtungen, nie um private Sammlungen!“

„Jeder Anschlag wurde komplett anders ausgeführt!“

„Vor allem in Paris und Kairo war die Reaktion der Sicherheitskräfte vorhergesehen und einkalkuliert worden.“

„Die Täter lassen sich nicht fassen!“

„Es soll niemand getötet oder verletzt werden!“

„Die zerstörten Kunstwerke sind der ganzen Welt bekannt!“

Rizzardi unterbrach hier das Brainstorming: „Das ist für mich der interessanteste Aspekt. Van Gogh war ein sehr bekannter Maler des Impressionismus, der jahrzehntelang die Hitliste der teuersten Gemälde anführte. Mona Lisa ist das bekannteste gemalte Gesicht auf unserem Planeten. Das Museum in Bilbao birgt seit ungefähr zehn Jahren die bedeutendste Picasso-Sammlung der Welt. Und wer kennt nicht die sagenhaften Schätze aus der Grabkammer des Tutenchamun, welche stellvertretend für eine der ersten Hochkulturen der Menschheit stehen?“

Er machte eine kurze Pause: „Okay. Neues Brainstorming. Welche Kunstwerke sind noch weltbekannt?“

Zwei Minuten später fragte er die Ergebnisse ab. Mehr Zeit wollte er nicht geben. Er wollte das hören, was jedem zuerst einfiel ohne lange nachdenken zu müssen.

„Rubens. Der Goldene Helm.“

„Der David von Michelangelo in Florenz.“

„Die Sixtinische Kapelle in Rom.“

„Die Kronjuwelen im Londoner Tower.“

„Die tönerne Armee in China.“

„Das Goldmuseum in Peru.“

„Das Guggenheim-Museum in New York.“

„Die Sphinx.“

„Die Uffizien in Florenz.“

„Der Schatz des Priamos.“

„Die Fabergé-Eier-Sammlung in Moskau.“

„Okay. Irina.“ Damit wandte er sich für einen Auftrag an seine rumänische Stellvertreterin. „Stell die Liste zusammen und schick sie nach Stockholm. Nimm den Zusatz in die Liste mit auf, dass alles, was einen außergewöhnlichen Bekanntheitsgrad hat, gefährdet ist. Ich empfehle außerdem die Museen geschlossen zu halten, bis das Personal abschließend überprüft und ausgewechselt wurde. Jedes Museum soll jeden Mitarbeiter, der innerhalb der vergangenen zwölf Monate; nein sagen wir fünfzehn Monate, neu eingestellt wurde, in unbedenklichen Positionen einsetzen. Oder, wenn sie verdächtig sind, vorläufig vom Dienst freistellen. Die örtlichen Polizeidienststellen sollen die Überprüfungen vornehmen und uns die Ergebnisse zuschicken. Außerdem sollen sich die betroffenen, freigestellten Wachleute im Abstand von 48 Stunden persönlich auf einer Polizeidienststelle melden.“

Irina nickte, während sie sich eilig Notizen machten. Rizzardi beendete das Treffen und schickte sein mittlerweile euphorisches Team an die Arbeit. Endlich hatten sie Spuren, die sie verfolgen konnten. Bisher waren alle Aktivitäten, die in direktem Zusammenhang mit den Anschlägen standen, in keinem Fall älter als zwölf Monate.

In Stockholm wurde die Empfehlungsliste des Gruppenleiters 23-14 gelesen und mit einem Eilvermerk weiter an die Europäische Regierung übermittelt. Zwei Stunden später wurde mit der Umsetzung der empfohlenen Maßnahmen begonnen.

„Lassen Sie mich raten: Er hat vor Monaten damit begonnen sein Vermögen zu verkaufen und das Geld in die Unsichere Zone verschoben.“ Rizzardi sprach über die Bildtelefonleitung unmittelbar nach der Teamleiter-Besprechung mit seinen Agenten in Ägypten. Anthony Brown lieferte zusammen mit seinem deutschen Kollegen eine erste Zusammenfassung ihrer Untersuchungen. Sie berichteten davon, dass der von der Gruppe 23-14 nur noch `der Ägypter´ genannte Ibrahim Ezz sein Firmenimperium in eine Aktiengesellschaft umgewandelt hatte und Schritt für Schritt seine Anteile bis auf 7 Prozent verkauft hatte.

Ibrahim Ezz hatte Ende der Neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts als Sohn eines Analphabeten und einer fürsorglichen Mutter sein Leben selbst in die Hand genommen und sich zuerst als Handlanger einer Tauchschule am Roten Meer verdingt. Er sparte eisern, um sich eine Ausbildung als Tauchlehrer leisten zu können. Nebenbei besuchte er als 16jähriger eine Schule, um die elementarsten Dinge des Lebens zu lernen, einschließlich Lesen und Schreiben. Ein paar Jahre später eröffnete er seine eigene Tauchschule, die er aufgrund einer straffen Organisation und eines beneidenswerten Gespürs für die Auswahl und Führung seines Personals erfolgreich führte. Der Schritt zu einer an die Tauchschule angelehnten Pension war nicht weit. Er war so erfolgreich, dass er im Abstand von jeweils zwei Jahren je ein Hotel baute und eröffnete. Als in Folge einer der vielen Krisen im Nahen Osten viele Hotels kurz vor der Pleite standen, baute er sein Imperium aus. Dank seines guten Rufes schaffte er in dieser touristenarmen Zeit eine der höchsten Bettenbelegungsquoten zu erzielen.

Dreißig Jahre später war aus dem Sohn bettelarmer Eltern ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Sein Imperium bestand aus dem mit Abstand größten in ägyptischer Hand befindlichen Hotelkonzern, dazu einem kleinen Schifffahrtsunternehmen, einer Fluggesellschaft, einem Autoverleih, großflächigen Gemüseerzeugungsflächen, welche die Touristenzentren belieferten.

Brown setzte seinen Bericht fort: „Am Vorabend des Anschlags auf das Ägyptische Museum, befand er sich noch auf einem Wohltätigkeitsdinner zugunsten von Waisen in Kairo. Danach ist er mit seiner Privatmaschine in den Süden geflogen, in die Unsichere Zone. Er verfügt dort über einen großen, schwer bewachten Landsitz und einige Handwerksbetriebe, in denen hauptsächlich Souvenirs für Touristen hergestellt werden.“

„Was sagen die Satellitenaufnahmen, welche Sie angefordert haben?“ Rizzardi musste die Anforderung der Bilder authorisieren. Sie waren von europäischen Spionagesatelliten aufgenommen worden, die mit einer faszinierenden Schärfe und unter der Zusammenschaltung mehrerer Satelliten die Möglichkeit hatten, Objekte auch von der Seite zu betrachten, in der 3D-Technik.

„Seine Maschine ist auf dem Flughafen in der Nähe seines Landsitzes gelandet und befindet sich seitdem dort. Nach der Landung fuhr ein Konvoi mit sechs großen Fahrzeugen zu seiner Villa. Die Satellitenbilder zeigen mehrere Befestigungsringe um die Gebäude sowie Wachtürme und Stellungen für Flugabwehrgeschütze.“

„Wir werden wohl ein Spezialkommando entsenden müssen, um ihn gefangen zu nehmen.“ Rizzardi wusste, dass es in diesem Fall keine leichte Aufgabe war. Möglicherweise gab es Tote auf beiden Seiten. Die Wachen dieser Festung verfügten sicherlich über eine ähnlich gute Schutzausrüstung wie die Europäischen Spezialkommandos.

„Bei den verwendeten „Goldschmelzen auf vier Rädern“ handelt es sich um modifizierte mobile Kleinkrematorien, in Nordamerika hergestellt, welche seit fast zehn Jahren zur Seuchenbekämpfung in Zentralafrika verwendet werden. Der Scheich hat sie mit einer speziellen Panzerung versehen lassen, damit sie Panzerfaustangriffen standhalten. Die Ägyptische Armee hat dazu einen vierten LKW beschießen lassen. Erst der Beschuss aus Kampfpanzern und von Kampfflugzeugen aus zerstörte den Aufbau. Ganz nebenbei war auch ein kompliziertes Filtersystem eingebaut, damit kein Rauch nach draußen gelangte. Zusätzlich stiftete der Scheich noch zwanzig weitere von außen gleich aussehende Lastkraftwagen ohne den aufwendigen Innenausbau.“

„Gibt es ein Motiv?“ Rizzardi hoffte endlich Licht ins Dunkel zu bringen.

„Dieser Ägypter ist oder war als Sammler schöner Sachen bekannt. Er finanzierte ein, der Öffentlichkeit zugängliches Altertumsmuseum in Hurghada. Seine in ganz Ägypten verteilten prächtig gebauten und kunstvoll verzierten Wohnsitze sind von riesigen Gärten umgeben, welche Fata Morganen in der Wüste gleichkommen. Seine Villa am Roten Meer hat keinen Pool, sondern ein fußballfeldgrosses zwanzig Meter tiefes Meerwasserbecken, in welches er ein tropisches Korallenriff gepflanzt hat.“

„Kann mir ein Mensch erklären, warum jemand diesen sagenhaften Besitz im Stich lässt, um ein paar antike Kunstwerke einzuschmelzen und um nun vor dem Hass der ganzen zivilisierten Welt auf der Flucht zu sein?“ Rizzardi stellte die Frage mehr sich selbst.

Anthony Brown konnte es genauso wenig wie jeder andere beantworten. Stattdessen fragte er, auch vorsichtig hinsichtlich seines Ansehens bei Rizzardi, nachdem er seinen neuen Auftrag erhalten hatte: „Was erwartet mich auf Teneriffa?“

„Ich weiß es nicht. Dieser Mann kennt aber möglicherweise alle bisher bekannten Täter. Ich möchte noch nicht von ihm als Hintermann sprechen, aber vielleicht kann er uns wenigstens weiterhelfen.“ Rizzardi hatte keinen einzigen Beweis für eine mögliche Verstrickung in die Anschlagsserie. Deshalb wollte er auch nicht, dass ihn einer der ermittelnden ESS-Agenten als Verdächtigen behandelte.

„Haben wir Informationen über ihn?“ Natürlich wusste Brown, dass es Informationen gab. Über jeden Bewohner der Sicheren Länder gab es Informationen. Mehr als genug. Die meisten waren belanglos. Datenmüll.

„Unser Büro auf Gran Canaria schickt Ihnen die wichtigsten Daten auf Ihr Laptop. Damit können Sie sich während des Fluges befassen. Auf Teneriffa werden Sie von einer unserer Agenten abgeholt und erhalten dort aktuelle Informationen, insbesondere wann für Sie ein Besuch arrangiert worden ist.“ Rizzardi fasste sich kurz. Er wusste, dass Brown neugierig war. Seine Neugier sollte er durch die Dossiers befriedigen, welche er erhielt.

„Wann ein Termin arrangiert worden ist? Wer zum Teufel ist das?“ Brown verstand Rizzardi so, als könnte es Tage dauern, bis er gnädigerweise empfangen werden würde. So meinte es aber auch sein Gruppenleiter. Genau so.

Dr. Martin gönnte sich währenddessen seine Tea-Time. Nebenbei sah er sogenannte Boulevardsendungen an. Neben vielen anderen Themen des Tages befasste sich die Sendung auch mit der jüngsten Kunstvernichtung. Ausschnitte aus einer Meinungsumfrage unter Passanten in verschiedenen europäischen Großstädten wurden gezeigt. In der Terminologie der Kleinen Leute von der Strasse äußerten diese ihre Betroffenheit über die Anschläge. Außerdem forderten sie, „dass etwas dagegen getan werden müsste und die Täter schwer bestraft werden müssten“. Viele Menschen sprachen davon, dass ihnen mit der Zerstörung dieses kostbaren Weltkulturerbes auch etwas Vertrautes und Persönliches genommen wurde. Manche Menschen sprachen davon, dass die Zerstörung der Mona Lisa oder der Goldmaske von Tutenchamun wie der Verlust eines besonderen Erbstückes vorkam. Experten nannten die bedeutenden Kunstgegenstände auch „gemeinschaftliche Erbstücke aus der kollektiven Vergangenheit der Menschheit“.

Anstößig fanden einige der Befragten auch die Geschmacklosigkeit von Werbespots. Allen voran die Werbung eines Pauschalreisekonzerns. „Unser Spitzenangebot für Sie: 10x10x10! Werden Sie einer der letzten Augenzeugen des Britischen Museums, der Sixtinischen Kapelle, von Venedig, Michelangelo in Florenz… Zehn von der Vernichtung bedrohte Kunstwerke in zehn Europäischen Städten in zehn Tagen!“

Der englische Agent trank seine Teetasse aus, stellte sie im Aufstehen ab und eilte schnellen Schrittes zum Büro seines Gruppenleiters. Während er nach einem kurzen: „Ich muss Ihnen etwas zeigen!“ an einem Rechner über das Internet die gerade gesehene Sendung aufrief, sprach er weiter: „Wir hätten uns das Brainstorming sparen können. Die `Strasse´ hat es viel besser hingekriegt.“

Als die acht Minuten Berichterstattung zum Thema Kunstvernichtung zu Ende waren, legte der Psychologe seinen Plan offen: „Wir brauchen eine eigene Werbekampagne. Wenn wir schon nicht die Terrororganisation und ihre Hintermänner jagen können, dann sollten wir wenigstens die Öffentlichkeit mobilisieren und vor allem an das Gewissen der Terroristen appellieren! Wir brauchen Werbespots im Fernsehen, ganze Hochglanzseiten in allen möglichen Zeitungen und Zeitschriften. Die Terroristen müssen auf sämtlichen Ebenen der Psyche angegriffen werden.“

Rizzardi zeigte sich begeistert. Während er dem enthusiastischen Dr. Martin zuhörte, der immer neue Ideen für den Werbefeldzug hatte, stellte er eine Verbindung nach Stockholm her. Fünfzehn Minuten später hatten sie ihren Vorgesetzten im ESS-Hauptquartier von ihrer Idee begeistert. Eine Stunde und eine Telefonkonferenz zwischen ESS-Hauptquartier und dem Ständigen Ausschuss für Sicherheit der Europäischen Regierung später, wurde Dr. Martin nach Frankfurt in ein Flugzeug gesetzt. Dort sollte er mit der besten Werbeagentur in ganz Europa seine Pläne umsetzen.

Anthony Brown flog in der Nacht von Kairo nach Rom und von dort weiter nach Teneriffa. Als er in einem Nieselschauer landete, dämmerte es gerade. Am Flughafen wurde der müde Agent, der die Nacht außer mit dem Betreten und Verlassen von Flugzeugen, mit dem intensiven Studium der Unterlagen über diesen Mann auf Teneriffa verbrachte, von einer spanischen Agentin empfangen.

„Ich bringe Sie in Ihr Hotel nach Puerto de la Cruz. Sie haben heute Nachmittag um fünf Uhr einen Besuchstermin. Um fünfzehn Uhr haben Sie sich bei Capitan Garcia von der Guardia Civil einzufinden. Er wird Sie vorher einnorden.“ Sie sprach in fließendem Englisch, einer der vielen Voraussetzungen, die zu einem ESS-Agenten qualifizierten.

„Er will mich einnorden? Wozu denn das? Bin ich vom ESS oder von einer Staubsaugerfirma?“ Anthony Brown reagierte auf diese offensichtliche Anmaßung eines einfachen Guardia-Civil-Offiziers verwundert. Viele andere Menschen hätten aggressiv reagiert, zumal sie unter den verrückten Eindrücken der unglaublichen Vorgänge in Ägypten und einer schlaflosen Nacht gestanden hätten. Brown reagierte fast cool. Es gehörte zu seinem Job. Lange war er noch nicht dabei. Er hatte als Polizist angefangen und sich an der Terrorbekämpfung in Nordirland beteiligt. Seine Vorgesetzten schlugen ihn schließlich dem ESS vor. Er hatte seine Lehrgänge absolviert und fing jetzt mit einfachen Beobachtungs- und Ermittlungsarbeiten an.

„Der Mann, den Sie heute Nachmittag aufsuchen, verfügt auf Teneriffa - wie in ganz Spanien - über ein außergewöhnlich hohes Ansehen. Er engagiert sich seit fast einem Jahrzehnt für Sozial Schwache, für den Erhalt von Traditionen, für Denkmäler und Naturräume. Er erhielt in den vergangenen Jahren eine Vielzahl regionaler, nationaler und internationaler Ehrungen. Und seit dem Mordanschlag auf seine Familie steht er unter dem besonderen Schutz der Spanischen Regierung.“ Selbst die abgeklärte ESS-Agentin konnte ihre Bewunderung für diesen Mann nicht gänzlich unterdrücken.

„Jedenfalls Zeit genug, um sich noch hinzulegen!“, bemerkte Brown, der sich seinem Hotelbett entgegen sehnte. Während er aus den Wagenfenstern die Landschaft der immergrünen Insel betrachtete, stellte er seiner Kollegin weitere Fragen: „Wurden die Täter nie gefasst?“

„Vertraulichen Informationen aus der Guardia Civil und der Spanischen Regierung nach vermutet man die Bestechung hochgestellter Persönlichkeiten. Es konnte aber bisher nichts bewiesen werden. Die Täter gingen äußerst brutal und effektiv vor und hinterließen keine Spuren. Keine Hautschuppen, Haare, brauchbare Aufzeichnungen durch Überwachungskameras. Selbst die Auswertung von Satellitenbildern brachte keine Ergebnisse. Und auch die gestohlene Beute tauchte nie wieder auf.“

Das Gespräch mit dem Vertreter der Guardia Civil verlief weitaus besser als es sich der ESS-Agent vorgestellt hatte. Er wurde von Capitan Garcia in die besonderen Schutzvorkehrungen für die vom Schicksal so hart getroffene Persönlichkeit eingewiesen. Außerdem zeigte er Brown die Niederschrift einer Befragung. Von Vernehmung wollte der Spanier nicht sprechen, in welcher er Angaben über seine Kontakte und Erinnerungen zu den Tätern der Anschläge in Amsterdam, Paris, Bilbao und Kairo machte. Er hatte deswegen selbst Verbindung mit der Guardia Civil aufgenommen, bereits wenige Stunden nachdem er die Bilder des Amsterdamer Bilderverbrenners Gustav Hasselbach über die Bildschirme der Welt liefen.

Der spanische Offizier begleitete Brown sogar zu seiner Villa. Von Puerto de la Cruz aus fuhren sie die Küstenstraße entlang, bis der stark motorisierte Geländewagen der Guardia Civil in eine Seitenstraße einbog, welche in Serpentinen das Küstengebirge der vulkanischen Insel hinaufführte. Mittlerweile hatten sich die nächtlichen Regenwolken aufgelöst. Immer wieder konnte man von der Straße, die hinauf zu einem Dorf führte, den Pico de Teide erblicken, den höchsten Berg der Kanarischen Insel.

In zügigem Tempo durchquerten sie den Ort. Ein paar Einheimische blickten auf, als der Geländewagen der ihnen längst als Teil des Alltags vertrauten Guardia Civil, den Marktplatz passierte. Dreihundert Meter nach dem Ortsausgang hielten sie an einer Straßensperre. Hier wurde unweigerlich jeder Passant, Rad- oder Kraftfahrer nicht nur angehalten und zurückgeschickt, sondern auch für die Dauer einer genauen Überprüfung festgehalten. Selbst das Dienstfahrzeug des ihnen vertrauten Offiziers wurde überprüft: Der Kofferraum musste geöffnet werden, mit Spiegeln wurde der Unterboden des Fahrzeugs gemustert.

Das Tor des Anwesens öffnete sich automatisch. Zwei schwer bewaffnete Wachposten salutierten, als der Wagen an ihnen vorbei die kurze Auffahrt bis vor die Treppe des Haupteingangs fuhren. Der Mann, der hier wohnte, wurde scharf bewacht. Brown vermutete, dass sich im Hintergrund unsichtbar mindestens noch ein halbes Dutzend Guardia-Civil-Beamten in Bereitschaft hielt. Jeder Winkel des Geländes um die Gebäude wurde mehrmals, überschneidend von Videokameras überwacht und konnte von Fluchtlichtanlagen nachts ausgeleuchtet werden.

Zehn Minuten nach dem Fund einer Bombe im Petersdom in Rom musste Stefano Rizzardi in Wien in einer Bildschirmtelefonkonferenz Auskunft über den Stand der Ermittlungen des ESS geben. Außer seinem Vorgesetzten im Stockholmer ESS-Hauptquartier waren noch Mitglieder des Ständigen Ausschusses für Sicherheit der Europäischen Regierung zugeschaltet.

„Agent Rizzardi,“ begann der griechische Vorsitzende des Ausschusses, „wie können wir endlich diesen Wahnsinn stoppen? Im Durchschnitt geht in jeder Stunde eine ernst zu nehmende Bombendrohung bei einer Sicherheitsbehörde ein. Vier der bedeutendsten Museen der Welt waren betroffen und wir haben weder einen lebendigen Täter noch einen verdächtigen Hintermann.“

Nein, Rizzardi liebte diese Fragen nicht. Er konnte nichts vorweisen. Er hatte keinen Verdächtigen, keine Motive, keine heiße Spur. Seine Ermittlungsgruppe wies mittlerweile 79 Agenten und Experten auf. Allein europaweit waren in den verschiedensten Polizeiorganen mindestens 900 Beamte hauptsächlich oder zeitweise mit den Ermittlungen der `Kunstvernichtung´ beschäftigt. Seit der flächendeckenden Einführung von eyescanningfähigen Überwachungskameras in Europas Städten und auf Europas Straßen, zusammen mit Spionagesatelliten der sogenannten „Inch-Generation“ und Rechnern, welche die 400fache Leistung im Vergleich zu Computern der Jahrtausendwende hatten, war die Kriminalitätsrate in Europa um über 80 % gesunken. Die Aufklärungsrate bei Delikten wie Ladendiebstahl oder Diebstahl privaten Eigentums bewegte sich bei 98 %.

„Ich komme mir vor als würde ich vor Tausenden von Puzzleteilen sitzen und habe keine Ahnung, was für ein Puzzle es ist. Die Bombe in Rom ist unserer Einschätzung nach die Tat eines Trittbrettfahrers.“ Rizzardi ließ sich nicht anmerken, dass er wenig zu bieten hatte. Zumindest glaubte er das.

„Wir können aber nicht warten, bis Sie noch mehr Puzzleteile, sprich zerstörte Kunst in den Händen halten. Was macht Sie so sicher, dass Rom nicht Nr. 5 ist?“ Der griechische Politiker war im Vergleich zu dem ESS-Agenten forsch, um nicht zu sagen aufbrausend.

„Es hat bisher immer eine Warnung gegeben. Außerdem wird jeder Anschlag immer anders und raffinierter ausgeführt. Die Bombe im Petersdom war zu klein, um außer der Zerstörung von einem Altar etwas auszurichten. Sie galt der Verunsicherung der Menschen, vielleicht sogar mit einem religiösen Hintergrund.“ Als der Italiener keine Antwort erhielt, führte er weiter aus: „Ich halte es mittlerweile durchaus für möglich, dass es gar nicht um Kunst geht. Möglicherweise will jemand kräftig Kapital aus der derzeitigen unsicheren Lage ziehen. Was passiert, wenn die Menschen sich heute nicht mehr in ein Museum trauen, morgen nicht mehr in eine Kirche und übermorgen nicht mehr aus dem Haus? Die Umsätze der Wirtschaft gehen zurück, unter Umständen machen Firmen pleite. Aber wenn der Spuk vorbei ist, geben die Menschen ihr gehortetes Geld wieder aus. Und die Erfahrungen aus ähnlichen Krisen hat gezeigt, dass sie es in ihrer ersten Erleichterung geradezu hemmungslos ausgeben.“

Die Regierungsvertreter Europas nickten. Die Theorie als eine von vielen möglichen leuchtete ihnen ein. Einer der Politiker richtete das Wort an Rizzardi: „Haben Sie die Börsen beobachtet? Gibt es dort Auffälligkeiten?“ Eine Folge der vier Anschläge und der bisher immer noch ergebnislosen Ermittlungsarbeiten der Polizei war ein vorübergehender Kurssturz von durchschnittlich 7 % an den europäischen Börsen und 4 % an der Wall Street in New York. Vorübergehend. Die Spekulanten hatten nach dem Schock des Terrors erkannt, dass die fehlenden Kunstwerke keinen spürbaren Einfluß auf das Konsum- und Investitionsklima haben. Warum sollte jemand deswegen kein neues Auto, keine neue Kleidung, keinen neuen PC mehr kaufen?

„Eines meiner Teams beobachtet den internationalen Kunstmarkt, und zusammen mit nationalen und europäischen Wertpapieraufsichtsämtern werden auch die Börsen beobachtet.“

Rizzardi hatte gegenüber dem Ausschuss absolute Auskunftspflicht. Die Konferenzleitung war eine abhör- und manipuliersichere Bildtelefonleitung.

Er wollte noch hinzufügen, dass er nicht glaubt, dass mit den Anschlägen ein Einfluss auf die Börsenkurse beabsichtigt sein sollte. Aber `sein Glauben´ war an dieser Stelle fehl am Platz. Es wäre unprofessionell gewesen. „Ich befürchte, dass es für einen potentiellen Täter und Profiteur noch zu früh für ein umfangreiches Aktieninvestment ist. Ich halte es in diesem Fall für sicher, dass die Kurse noch mindestens um die Hälfte fallen müssen. Es sei denn, er setzt auf fallende Kurse.“

„Agent Rizzardi!“ Der Grieche schaltete sich wieder ein. Der Politiker war von Theorie der Einflussnahme auf Börsenkurse überzeugt. Obwohl es dafür keine Beweise gab. „Ihnen ist hoffentlich bewusst, was das bedeutet! Wir müssen einen solchen Kurssturz auf jeden Fall verhindern. Wenn Sie vernünftige Gründe vorweisen können, bin ich auch bereit eine Erweiterung Ihrer Befugnisse abzusegnen. Wir können nicht abwarten, bis nahezu alle einzigartigen und vor allem bedeutendsten Originale unserer kulturellen Vergangenheit ein Häuflein Asche geworden sind!“

Anthony Brown stieg zusammen mit Capitan Garcia die Treppen hinauf. Im Flur hinter der für die Größe der Fassade eher zu kleinen Eingangstür wurden sie von einem drahtigen Mann in Empfang genommen, der bis auf sein sportliches Äußeres fast ganz dem Klischee eines englischen Butlers bester Schule entsprach. Während er den ESS-Agenten zum Hausherrn führte, blieb der spanische Offizier auf dem ziegelroten Fliesenboden mit den grauen Fugen zurück, um auf einen seiner Leute zu warten, der Streife im Haus lief.

Der Butler führte Brown zum Ende des Flurs, durchquerte einen sehr aufwendig gestalteten Innenhof und trat an der Stirnseite des Hofes in einen weiteren Gang ein. Die Räume des Gebäudes kamen ihm seltsam vertraut vor, obwohl er noch nie hier war. Während des Fluges hatte er das Anwesen in einem virtuellen Rundgang besichtigt. Die Villa, in welcher er sich befand, galt als das schönste Privathaus Europas. Im Einfallsreichtum seiner Architektur, der geschmackvollen Ausstattung, des Abwechslungsreichtums seiner Lebens- und Wohnräume, seines Erholungswertes, der Kombination aus Prestigeobjekt und Zurückgezogenheit, nicht zuletzt auch wegen der Einbettung in den steilen Vulkanhang und der Anlage der Gärten und Gewächshäuser galt es als ein modernes Schloss, ein Palast des 21. Jahrhunderts.

Brown wusste, dass er auf dem kürzesten Weg zu seinem Gesprächspartner geführt wurde. Dennoch dauerte es vier Minuten, bevor er Erik Lang vorgestellt wurde.

Als der Hausherr sich aus seinem Stuhl erhob, zog sich der Butler unauffällig und ohne ein Wort zurück. Erik Lang reichte Anthony Brown die Hand und schüttelte sie kurz mit einem festen Händedruck. Mit einer Geste bedeutete er dem Agenten sich zu setzen. „Bei diesem Wetter und in dieser Jahreszeit ist dies der schönste Platz in meinem Haus!“, begann Erik Lang das Gespräch. Brown sah sich in dem Gewächshaus um, das sie durch zwei Schleusen betreten hatten. Die Vegetation entsprach einer Halbwüste. Meterhohe Kakteen, teilweise mit großen Blüten von verschwenderischer Schönheit wechselten sich ab mit kleinen Büschen, die dicke dunkelgrüne Wachsblätter in den unterschiedlichsten Formen und Größen hatten. Auf kleinen Felsen sonnten sich bunte und erdfarbene Eidechsen. Ein paar bunte Vögel sammelten trockene Grashalme auf dem sandigen, trockenen Boden und flogen sie zu den Ästen eines knorrigen Baumes mit dickem Stamm, in welchem sie mit Artgenossen kunstvolle Nester flochten. Der gläserne Raum, in dem sie sich befanden, hatte die Ausmaße einer Tennishalle. Sowohl in der Fläche als auch in der Höhe. Sanfte Hügel und liebevoll angelegte Kieswege durchzogen die gläserne Halle. Sie selbst befanden sich auf einer leicht erhöhten Terrasse, mit Natursteinplatten belegt. Es war angenehm warm. Trockenwarm. Nicht so tropisch-schwül wie in einem Gewächshaus einer Gärtnerei.

Ungefragt schenkte der Hausherr eine orangefarbene Flüssigkeit in zwei Gläser ein und deutete ihm an, dass er trinken sollte. Bei dem Getränk handelte es sich um eine Art Limonade, aus Orangen und Zitronen in der Küche gemacht. Das Getränk schmeckte fantastisch. Etwas Besonderes. Vermutlich wie alles in diesem Haus.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, begann Erik Lang.

Anthony Brown verfuhr so wie er es sich vorgenommen hatte. Ohne lang und breit um den heißen Brei herumzureden, legte er den Grund seines Besuches dar: „Der Attentäter des Van-Gogh-Museums hat für Sie gearbeitet, die Attentäterin von Da Vincis Mona Lisa hat ihre Mutter lange Zeit gepflegt. Schließlich kannten Sie den Bildhauer Jensen-Mendez persönlich. Und auch Ibrahim Ezz besuchte Sie in Ihrem Haus. Herr Lang, wir verdächtigen Sie nicht. Aber Sie könnten uns helfen, die Anschläge aufzuklären. Und möglicherweise könnten Sie dazu beitragen neue Attentate zu verhindern!“

„Ich kann nichts Schlechtes über diese Menschen sagen. Ich habe Sie alle als engagierte und in ihrer Tätigkeit sehr erfolgreiche Menschen kennen gelernt. Gustav Hasselbach zum Beispiel hat sehr lange für mich gearbeitet. Nie hätte ich damals gedacht, dass er diese schönen Bilder zerstören könnte.“

„Welche Art von Arbeit hat er für Sie verrichtet?“ Brown begann routinemäßig seine Befragung. Einen Teil der Fragen ließ er allerdings weg, da er sie dem Protokoll der Guardia Civil beantwortet entnehmen konnte.

„Hasselbach arbeitete für mich in der Haltung und Nachzucht meiner Vögel, hauptsächlich der asiatischen Edelpapageien. Er verbrachte einen Teil seiner Jugend in der Heimat seiner Mutter, welche auch die Heimat dieser Vögel ist. Er kümmerte sich Tag und Nacht um die Tiere. Sehr erfolgreich übrigens. Leider hielt er es ihn nie lange an ein und demselben Ort aus und so nahm er eine Stelle in einem Zuchtprogramm für Nashornvögel im Amsterdamer Zoo an. Er hat uns dennoch jedes Jahr einmal besucht. Oder besser gesagt: Die Edelpapageien.“ Erik Lang goss die Gläser noch einmal voll. Die Limonade schmeckte nur leicht süß, und in dem trockenen Klima besonders gut.

„Warum hat er seine Stelle im Amsterdamer Zoo aufgegeben und ist in das Van-Gogh-Museum gewechselt?“

„Vor ungefähr zwei Jahren brachen Jugendliche nachts in den Zoo ein. Ob als Mutprobe oder um Tiere zu stehlen, weiß ich nicht. Auf jedem Fall entwickelte sich aus dem Einbruch Vandalismus. Sie zerstörten große Teile des Glashauses. Ein Teil der aufgeschreckten Vögel floh hinaus in die Winternacht und kam draußen um. Die Jugendlichen machten sich auch an den Nestern zu schaffen. Sie quälten und erschlugen schließlich die brütenden Elterntiere und lieferten sich eine Art Baseballspiel mit den Eiern. Als Folge der nächtlichen Zerstörung musste der Zoo das Zuchtprogramm mit den Nashornvögeln und einigen anderen Vogelarten aufgeben. Hasselbach besuchte mich vor seinem Wechsel in das Museum noch einmal. Danach riss der Kontakt ab.“

„Warum glauben Sie, hat er die Bilder zerstört? Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Ende der Vogelzucht und dem Brandanschlag auf die Van-Gogh-Bilder?“ Brown deutete eine interessante Theorie an:

„Es liegt nahe. Aber wo besteht der Zusammenhang? Warum sollte er das tun?“ Erik Lang machte den Anschein, als würde er nicht das erste Mal darüber nachdenken.

Der ESS-Agent fragte ihn nach den Anderen aus. Erik Lang kannte sie alle, konnte sich an sie als liebe, gefühlvolle, intelligente Menschen erinnern. Aber genauso wie bei Gustav Hasselbach hatte er sie über ein Jahr nicht mehr persönlich getroffen.

Ungefragt begründete Erik Lang seine eigene Zurückgezogenheit: „Im Frühling vor eineinhalb Jahren wurden die Menschen, die mir am meisten bedeutet haben, ermordet. Ich selbst habe nur sehr schwer verletzt überlebt. Tagelang kämpften die Ärzte um mein Leben. Sogar der spanische König hat mir seinen Leibarzt geschickt."

Erik Lang zögerte. Brown spürte, dass er unter der Erinnerung immer noch stark litt. "Es gibt Tage, an denen wünschte ich, man hätte mich später gefunden. Oder die Ärzte wären nicht so gut gewesen.“

Er machte eine Pause, in der es Brown für richtig hielt, nichts zu sagen.

„Ich habe mich danach wieder sehr schnell erholt. Körperlich zumindest. Ein halbes Jahr danach konnte ich wieder laufen. Meine Organe funktionieren alle so wie sie es für mein Alter tun sollten. Seit jenem Frühlingstag habe ich die Insel nie mehr verlassen. Ich war ein paar Mal in der Inselhauptstadt Santa Cruz. Offizielle Anlässe, zu denen ich mich verpflichtet fühlte. Sehr viele Menschen haben sich um mich gekümmert. Hin und wieder gehe ich hinunter in das Dorf. Am Anfang war es mir oft zu viel, dass sie meine Hände lang gedrückt haben und ihr Beileid ausgesprochen haben. Mittlerweile gehen sie wieder normaler mit mir um.“

„Warum wurden Sie überfallen?“ Brown fragte, obwohl er die nüchternen Zahlen in dem Vorläufigen Untersuchungsbericht des Raubmordes längst gelesen hatte.

Lang machte es nichts aus: „Sie haben insgesamt fünf Hyazinth-Aras und vier befruchtete Eier dieser Art gestohlen.“

Für Brown, der schon vieles gewohnt war, war es unvorstellbar, dass jemand so viele Menschen tötete, nur um sich in den Besitz einiger Vögel zu bringen. Noch dazu waren es nicht irgendwelche Menschen.

Lang schien seine Gedanken zu erraten: „In Anlehnung an die blaue Mauritius, eine sehr seltene und wertvolle Briefmarke, wurden die kobaltblauen Hyazinth-Aras in den vergangenen Jahren nur noch `Die Blauen´ genannt. Die Hyazinth-Aras sind die größte Papageienart unseres Planeten. Seit ungefähr fünf Jahren wurden diese wunderschönen Vögel nicht mehr in ihrem natürlichen Lebensraum, dem Regenwald Amazoniens, beobachtet. Der Marktpreis eines lebenden Vogels lag vor zwei Jahren bei 10 Millionen Dollar das Stück. Ein befruchtetes Ei wurde für 2 - 3 Millionen Dollar gehandelt.“

„Wer kann sich so etwas leisten?“, fragte Brown, der damit sowohl den Kaufpreis meinte, als auch die Tatsache, dass man die Vögel verstecken musste, weil sie so bekannt waren wie ein berühmtes Gemälde!

Erik Lang ließ sich Zeit mit der Antwort. Es war nicht das Zögern eines Menschen, der es nicht wusste und nun versuchte, eine Erklärung zu finden. Das Verstreichen der Zeit glich mehr dem Magma eines Vulkanes, das immer höher im Schlot aus der Tiefe der Erde emporstieg. „Sehr reiche Leute, die sich mit ihrem Geld alles kaufen können. Alles. Und die nicht davor zurückschrecken ihr Geld für ihre Ziele und Wünsche einzusetzen.“

Brown stand auf, um sich zu verabschieden. Er wollte den Mann nicht weiter befragen, sondern erst einmal seine Eindrücke verarbeiten. Er war hier in einer anderen Welt. „Eine letzte Frage noch, bevor ich gehe,“ sagte er. „Spekulieren Sie noch an der Börse?“

„Nein. Ich habe genug Geld und es reicht für alles, was ich brauche. Ich brauche wirklich nicht mehr. Von keinem Geld der Welt kann ich meine Frau, meine Tochter, meinen Freund Franco und die Bodyguards, die uns beschützen wollten, wieder lebendig machen.“

Der ESS-Agent glaubte ihm die Antwort. Daran hatte er keinen Zweifel.

Am nächsten Nachmittag wurde Anthony Brown wieder von seiner hübschen spanischen Kollegin abgeholt und zum Flughafen gebracht. Rizzardi hatte ihn angewiesen, nach Wien zurückzukommen. Brown hatte noch viele Fragen, die er Erik Lang stellen wollte. Er fand den Mann faszinierend. Trotz seines schlimmen Schicksals hatte er eine besondere Ausstrahlung. Der ESS-Agent war sich sicher, dass Lang vielleicht doch den einen oder anderen Hinweis geben konnte, warum aus den Menschen, mit denen er zu tun hatte, Terroristen wurden.

Brown wusste nicht, dass Rizzardi längst ein Team zur Überwachung des Anwesens eingesetzt hatte. Sie hatten längst unauffällig ihre Arbeit aufgenommen und auch den Besuch von ihrem eigenen Agenten in Wort und Bild aufgenommen. Teilweise zumindest. Denn das einzige, was sie nicht konnten, waren drahtlose Abhöranlagen im Gebäude selbst zu verwenden. Der Eigentümer hatte offiziell aufgrund der empfindlichen Vogelzucht eine Sondergenehmigung erhalten, um mit Hilfe einer komplizierten technischen Einrichtung das Eindringen von Funkwellen in seinen palastartigen Komplex zu verhindern. Der wahre inoffizielle Grund war jedoch die Bereitschaft von Erik Lang, sein Gebäude für erneute geheime, politisch sensible Konferenzen zur Verfügung zu stellen.

Als die Linienmaschine gerade die Pyrenäen überquerte, tippte Brown auf seinem Laptop eine Liste mit Fragen, die er Erik Lang noch stellen wollte. Oder zumindest, was er über ihn in Erfahrung bringen wollte. Zehntausend Meter unter ihm türmte sich das Gebirge zwischen Frankreich und Spanien auf, das jedoch im Dunkel der Nacht lag. Seit über einer halben Stunde wurde das Flugzeug bereits von Turbulenzen durchgerüttelt. Der erste große Herbststurm Europas gewann über dem Europäischen Festland an Stärke.

„Meine Damen und Herren. Hier spricht der Kapitän. Aufgrund des Herbststurmes mit orkanartigen Geschwindigkeiten über Mitteleuropa und dem Alpenraum müssen wir notgedrungen in Mailand landen. Wir bitten um Ihr Verständnis. Selbstverständlich wird für Ihren umgehenden Weitertransport zum ursprünglichen Zielflughafen Wien gesorgt. Im Namen der Fluggesellschaft danke ich für Ihr Verständnis!“ Wie als Bestätigung wurde das Flugzeug besonders heftig durchgerüttelt. Spätestens jetzt schloss jeder Passagier seinen Sicherheitsgurt und zog ihn straffer an.

Brown beendete seine Liste und nahm sich eine der Tageszeitungen vor, welche ihm die Flugbegleiterin nach dem Abendessen gereicht hatte. Als er die erste Seite aufschlug, fiel ihm sofort die bunte Anti-Terror-Anzeige der Europäischen Regierung auf: Das Bild zeigte ein süßes, etwa achtjähriges Mädchen, welches offensichtlich gerade ein paar Bilder für ihre Mutter gemalt hatte. Jedenfalls hatte es sich im Eifer der kindlichen Kunst seine Hände und Arme mit bunten Filzstiftstrichen bemalt. In großen Buchstaben prangte über dem Bild die Frage des Mädchens, klagte regelrecht an: „Mami, warum kann ich die Mona Lisa nicht mehr sehen?“

Am Nordrand der Alpen fuhren unterdessen zwei Lastkraftwagen an einem großen Stausee vorbei. Die großen Fahrzeuge wurden immer wieder von heftigen Windböen erfasst, so dass die Fahrer ihr Lenkrad fest umklammern mussten, damit die schweren Wagen nicht von der Strasse geblasen wurden. Zehn Minuten später erreichten sie ein kleines vom Tourismus lebendes malerisches Städtchen am Nordrand des Gebirges. Hier begann eine Privatstrasse, die tagsüber nur von Pferdekutschen und kleinen Elektrobussen benutzt wurde, welche sich durch einen Fichtenwald zum Ziel der Touristen aus aller Welt hinauf schlängelte. Die Bäume schwankten heftig unter der Wucht des Sturmes. Der dichte Regen peitschte seitlich an die Häuser des Ortes, die Wälder und die Lastkraftwagen, die in der stockdunklen Nacht ihr Ziel ansteuerten.

Als sie an dem großen, weißen Märchenschloss angekommen waren, saßen acht schwarz gekleidete Männer von der Ladefläche des ersten LKW ab. Ihr Anführer stellte sich dem Führer der Wachmannschaft als Kommandant einer Spezialeinheit zur Terrorbekämpfung vor und erhielt nach einem Rückruf der Wache mit seiner vorgesetzten Dienststelle Eintritt in das Schloss. Bereitwillig gab er den `Kommandos´ Auskunft über Stärke und Aufgaben der Wache. Als er sich umdrehte, um den nächtlichen Besuchern Kaffee zu holen, überwältigten sie ihn genauso wie seine drei Kollegen. Die Wachmänner wurden betäubt und gefesselt.

Der Anführer der falschen Anti-Terroreinheit machte das O.K.-Zeichen vor einer Überwachungskamera und rief seinen Kameraden ein „Los geht´s!“ zu.

Zwei Stunden später begannen zwei Telefaxgeräte zu piepsen. Ein Telefaxgerät piepste in der Deutschen Zentrale des Überwachungsdienstes in Berlin. Das andere Telefaxgerät hatte einen streng geheimen Anschluss, der nur dem ESS selbst bekannt war. Es landete direkt in der Wiener Kommunikationsabteilung des European Security Service.

In Wien wurde das Telefax sofort an Rizzardis Stellvertreterin weitergeleitet. Als sie zu lesen begann, blickte sie auf die Uhr, welche in einem roten Display 02.17 Uhr anzeigte: „Schloss Neuschwanstein. Explosion um 02.45 Uhr. Bestätigungscode: ZWER0§&4DL830. Neuer Code: 37SLH1O§$oo7sj0003.“

Am Ende

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